FORUM - INTEGRIERTE VERSORGUNG - ÜBERWINDEN WIR ENDLICH DIE SEKTORENGRENZEN? 2 2022 - ix-media
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Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e. V. FORUM Gesundheitspolitik in der Diskussion Institut für Gesundheitssystem-Entwicklung 2 • 2022 INTEGRIERTE VERSORGUNG – ÜBERWINDEN WIR ENDLICH DIE SEKTORENGRENZEN?
MEDIA Jenseits von Paragraphen und Verträgen lebt unser Gesundheitssystem vom Gespräch und vom Austausch der Akteu- re. Vor allem Weiterentwicklungen unseres Gesundheitssystems finden nicht am Reißbrett statt, sondern im Diskurs der Akteure miteinander. Mit iX-Media wird diesem Austausch eine Plattform gegeben. Wir laden „auf allen Kanälen“ zum Dialog ein: Print, Audio und Video stehen Ihnen zur Verfügung, um Ihre Positionen, Ihre Ideen, Ihre Erkenntnisse der gesundheitspolitischen Community mitzuteilen. Mit Dr. Albrecht Kloepfer, Dr. Jutta Visarius, Dr. Martina Kloepfer und dem übrigen iX-Media-Team stehen langjährige Systemexperten hinter dem Projekt, die wissen wie gesundheitspolitisch der Hase läuft (und zukünftig laufen wird), die der Komplexität des Themas auch mit einfachen Worten gerecht werden können und denen auch die technischen As- pekte medialer Umsetzungen vertraut sind. Wenden Sie sich an uns – wir sind für Sie da! HIGHLIGHTS GESUNDHEITSPOLITISCHER WOCHENRÜCKBLICK Die iX-Highlights informieren immer montags über aktuelle gesundheitspolitische Entwicklungen und liefern relevante Hintergrundinformationen. In seinem gesundheitspolitischen Editorial bewertet Dr. Albrecht Kloepfer ein herausragen- des Wochenthema. In der Rubrik „Mondphasen“ kommen einmal im Monat Vertreter aus Politik oder Selbstverwaltung zu Wort. Aktuelle Dateien der Woche (Bundestagsdrucksachen, Studien etc.) können als Service zusätzlich kostenlos abgerufen werden. FORUM GESUNDHEITSPOLITIK IN DER DISKUSSION Die Zeitschriften-Reihe iX-Forum greift die großen gesundheitspolitischen Themen des Gesundheitswesens auf und bietet Ihnen die Möglichkeit, mit ausreichend Platz und in ansprechendem Rahmen Ihre Positionen, Ihre Ideen, Ihre Erkenntnisse der gesundheitspolitischen Szene mitzuteilen. Der Clou an der Sache: Die Hefte werden bundesweit an mehr als 2.500 gesundheitspolitische Entscheider und Meinungsführer versandt. – Wir sorgen dafür, dass Ihre Gedan- ken Beachtung finden! RADIO GESUNDHEITSPOLITIK ZUM HÖREN In monatlicher Folge widmet sich iX-Radio einem aktuellen gesundheitspolitischen Thema und lässt dazu die wichtigs- ten Entscheider zu Wort kommen. Erläuternde Moderationen beleuchten die Hintergründe und stellen das jeweilige Thema in den Kontext der unterschiedlichen Interessen. Ziel dabei ist, dass nicht nur die Szene sich selbst bespiegelt, sondern dass unser komplexes Gesundheitssystem auch Außenstehenden nahe gebracht wird. SPOTLIGHT VISUELLE PRÄSENZ IM GESUNDHEITSWESEN iX-Spotlight ist die Video-Plattform für Ihre bildstarke Kommentierung des aktuellen Zeitgeschehens im Gesundheits- system. Denn um überzeugende Statements sichtbar in Szene zu setzen, sind nicht nur eindrucksvolle Bilder aus- schlaggebend, sondern vor allem auch fundierte Kenntnisse des Systems. Mit Dr. Martina Kloepfer haben wir eine büh- nen- und filmerfahrene Expertin im Team, die auch Sie medienwirksam „in Szene setzen“ kann.
Inhalt Integrierte Versorgung – Überwinden wir endlich die Sektorengrenzen? AUSGABE 2 · 2022 4 Editorial und Grußwort Dr. Albrecht Kloepfer Herausgeber Prof. Dr. mult. Eckhard Nagel Vorstandsvorsitzender DGIV e.V. 6 Versorgung aus einer Hand Ulrike Elsner Vorstandsvorsitzende Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek) 11 Neuausrichtung der (regionalen) patientenzentrierten Versorgung und die Rolle der Kassen Dr. Gertrud Demmler Vorständin Dr. Eva Scherwitz Stabsleiterin Politik Dr. Stefan Weber Bereichsleiter Siemens Betriebskrankenkasse 17 Neue Impulse für sektorenübergreifende Versorgung Bettina am Orde Geschäftsführerin Timo Mundt Leiter des Fachbereichs Kunde & Versorgung Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See / KNAPPSCHAFT 20 Ökosysteme als Zukunft der Integrierten Versorgung Dr. Karsten Neumann Partner und Leiter GKV Dr. Verena Reichl Senior Manager Digital Health Roland Berger 25 Vernetzung, Digitalisierung, Umbruch – Quo vadis Wundversorgung? Marc Heilfort National Key Account Manager Healthcare & Speciality URGO GmbH 28 Neue Perspektiven auf alte Probleme Dipl.-Kfm. Kai Swoboda, MBA Stellvertretender Vorstandsvorsitzender Dr. Dr. Christoph Homann, MBA Referent Versorgungsmanagement IKK classic 34 Integrierte Gesundheitsversorgung – den Aufbruch wagen Daniela Teichert Vorsitzende des Vorstands AOK Nordost 37 Praxiskliniken – Effiziente intersektorale Versorgung mit Fokus auf den Patienten Jascha Rinke Mitglied des Vorstands Deutsche Praxisklinikesellschaft e.V. 41 „Die Gesundheitsversorgung der Zukunft ist vernetzt und regional“ Dr. h. c. Helmut Hildebrandt Vorstandsvorsitzender OptiMedis AG 46 Von sektorübergreifend nach sektorunabhängig: Welchen Nutzen Patientenlotsen bringen Dr. Michael Brinkmeier Vorstandsvorsitzender Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe 50 Intersektorale Versorgung braucht Ideen aber auch Mut und Ausdauer Thomas Ballast Stellvertretender Vorsitzender des Vorstands Techniker Krankenkasse 54 Im Ganzen denken Thomas Bublitz Hauptgeschäftsführer Bundesverband Deutscher Privatklinken e.V. (BDPK) 3
Editorial & Grußwort Liebe Leserinnen, liebe Leser, SAPV) weiter zu entwickeln und größeren Versorgungs- und Indikationsbereichen (vor allem in der Chronikerver- der Koalitionsvertrag gibt Hoffnung: Es ist nicht mehr nur sorgung) zugänglich zu machen. sehr allgemein von einer Verzahnung (oder Verklamme- Das vorliegend iX-Forum zeigt an konkreten Projekten, rung) von ambulant und stationär die Rede, es wird nicht wie die Wege dorthin aussehen könnten (und – leider auch mehr nur abstrakt von der wünschenswerten Überwin- dies – wie weit die Strecke noch zu gehen ist). Als Koope- dung der Sektorengrenze gesprochen, sondern der Koa- rationspartner für dieses Projekt konnten wir die Deut- litionsvertrag nennt erstmals ganz konkrete Ideen, wie wir sche Gesellschaft für Integrierte Versorgung (DGIV) ge- an dieser Dauerbaustelle des deutschen Gesundheitssys- winnen, deren Mitglieder sich unserer Beispielssammlung tems substanziell vorankommen: Hybrid-DRGs, ambulant/ augenscheinlich gerne zur Verfügung gestellt haben, um stationäre Versorgungs- und Vergütungskonzept, sekto- aufzuzeigen, wie die Wege in ein echtes ambulant/stati- renübergreifende Planungsbereiche, Lotsen- und Com- onäres Versorgungskontinuum sich abzeichnen könnten munitiy-Nurse-Modelle und dergleichen mehr. Bei all die- – und welche Hindernisse dabei auf der Strecke liegen. sen Ansätzen wird eine gemeinsame, vermittelnden Ver- Diesem Aufruf in die DGIV-Mitgliedschaft haben sich wei- sorgungsverantwortung zwischen ambulant und stationär tere, nicht in der DGIV organisierte Gesundheitsakteure erkennbar, die nach und nach eine Kooperation zwischen angeschlossen, um ihre Ansätze ebenfalls im vorliegen- Krankenhaus und Vertragsärzteschaft zunächst ermög- den Heft zu präsentieren. licht, um hoffentlich in weiteren Schritten und in der wei- Ihnen allen und der DGIV als Kooperationspartner danken teren Entwicklung diese beide Versorgungs-Welten ver- wir herzlich für ihre Einblicke in der Werkstatt und hoffen, schwinden und zu einer gemeinsamen zusammenschmel- dass das knappe Dutzend unserer Beispiele der nun (hof- zen zu lassen. Denn das muss am Ende das Ziel sein – und fentlich) Fahrt aufnehmenden Gesetzgebung Anregungen zwar über das gesamte Versorgungsspektrum hinweg. gibt, endlich einmal wirklich nachhaltig ein ambulant/sta- Tatsächlich macht bisher noch das SGB V selbst die Ver- tionäres Versorgungskontinuum für alle Versicherten in sorgungs-„Partner“ im Krankenhaus und in der Vertrags- allen Regionen aufzubauen. Nicht nur die Patientinnen ärzteschaft letztlich zu Gegnern und vertieft damit die und Patienten brauchen und wollen es, sondern letztlich Gräben, die es mit einer Vielzahl von Ausnahme- und Son- auch alle Beschäftigten im Gesundheitswesen. Die Inte- derregelungen zuzuschütten vorgibt. Doch die Paragra- grierte Versorgung ist die Baustelle des Deutschen Ge- phen 140a und 73b (um nur die wichtigsten zu nennen) sundheitswesens der nächsten Jahre und Jahrzehnte! können nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine grund- sätzliche Teilung der Versorgungsbereiche den Rechts- Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern bei diesen rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung und auch Werkstatt-Einblicken anregende Lektüre! seine nachgelagerten Institutionen (allen voran den Ge- meinsamen Bundesausschuss) durchzieht. Es ist daher richtig und konsequent, mit aller Energie Versorgungsbe- reiche aufzubauen, in denen ambulant/stationäre Versor- gung die Regel wird und nicht die Ausnahme. Die ersten Versuche hierzu – allen voran die Ambulante Spezialfach- ärztliche Versorgung (ASV) – sollten uns in ihrem bishe- rigen begrenzten Niederschlag in der tatsächlichen Ver- sorgungsrealität nicht entmutigen, sondern Ansporn sein, das grundsätzlich Richtige dieser Ansätze (so z.B. auch in der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung, Dr. Albrecht Kloepfer 4
Integrierte Versorgung – Überwinden wir endlich die Sektorengrenzen? AUSGABE 2 · 2022 Grußwort des ten Versorgungsprinzip entwickeln: Nicht nur, aber gera- DGIV-Vorsitzenden de chronische Patienten brauchen in ihrem Behandlungs- kontinuum einen buchstäblich „integrierten“ Versor- Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung gungsansatz, der intersektoral, interdisziplinär und inter- (DGIV) wurde im Jahr 2003 gegründet. Wie das Grün- professionell gedacht und organisiert werden muss, um dungsjahr deutlich macht, ist sie als Interessenverband den unterschiedlichsten Versorgungsherausforderungen zur Förderung von Selektivverträgen nach dem damali- der Patientenbiographie weitgehend bruchlos folgen zu gen Paragraphen 140a-d SGB V gestartet. Das lief, wie können. Diese Überlegungen haben wir in unserem Posi- wir heute feststellen müssen, ganz gut, solange es die tionspapier zur Bundestagswahl 2021 „Das Deutsche Ge- Anschubfinanzierung der Anfangsjahre gab. Nach deren sundheitssystem im Aufbruch“ niedergelegt – und wir Ende im Jahr 2009 ging es allerdings auch mit den freuen uns, dass sich im Koalitionsvertrag tatsächlich ei- sogenannten IV-Verträgen wieder deutlich zurück. Hier nige originäre DGIV-Positionen wiederfinden. wurde erstmals erkennbar: Ohne „freies Geld“ für die Wenn aber ein integriertes Versorgungskontinuum der Re- Entwicklung von Struktur-Innovationen war und ist es gelfall werden soll, dann hat das deutsche Gesundheits- kaum möglich, komplexe Versorgungsverträge über die system noch eine lange Wegstrecke vor sich. Denn noch Sektorengrenzen hinweg zu entwickeln und dann auch immer zeichnet sich die sogenannte „Regelversorgung“ konkret zu „leben“. (die eben nicht die Regel bleiben darf), durch die zahlrei- Nach dieser ersten Ernüchterung setzte eine zweite chen skizzierten Versorgungsbrüche aus. Wir sind daher ein: Mit dem Inkrafttreten des sogenannten „Versor- der Einladung des Herausgebers der Edition iX-Forum gungsstärkungsgesetzes“ im Juli 2015 wurde die bishe- sehr gerne gefolgt, mit einer Reihe von DGIV-Mitgliedern rige Integrierte Versorgung in „Besondere Versorgung“ (und einigen Gästen) den Status Quo der aktuellen Über- umbenannt. Die DGIV hat damals vehement gegen legungen und konkreten Ansätze zur Überwindung der diese Umbenennung protestiert, denn tatsächlich ist Sektorengrenzen im vorliegenden Heft abzubilden und aus unserer Sicht, die deutsche Eigenart der strikten zur Diskussion zu stellen. Sektorentrennung zwischen ambulant und stationär in Wir freuen uns, mit Ihnen über diese unterschiedlichen der Patientenversorgung sehr „besonders“. Eine Ver- Praxisprojekte und den sich daraus ergebenden politi- sorgung, die eine Trennung zwischen den Sektoren (und schen Forderungen ins Gespräch zu kommen, und laden letztlich auch zwischen den Professionen, den Diszipli- Sie nun nicht nur herzlich zur Lektüre ein, sondern auch nen und auch den einzelnen Sozialgesetzbüchern) nicht zum direkten Dialog im Rahmen das 19. DGIV-Bundes- kennt, sollte stattdessen nicht mehr „besonders“, son- kongresses am 29. November 2022 in Berlin. dern der Regelfall sein. Schließlich wollen diese ver- schiedenen Trennungen auch vor Patientinnen und Pati- Prof. Dr. mult. enten in komplexen Behandlungssituationen nicht erlebt Eckhard Nagel werden. Mehr noch: Bürgerinnen und Bürger merken Vorstandsvorsitzender zumeist erst, dass vielfache Grenzen und Mauern unsere der Deutschen Gesundheitssystem durchziehen, wenn sie im konkreten Gesellschaft für Versorgungsfall damit konfrontiert werden. Integrierte Versorgung Für die DGIV war es daher ein logischer Schritt, ihren ers- (DGIV) ten Gründungsimpuls zu erweitern und sich im Laufe der Jahre neu zu definieren: Integrierte Versorgung muss vom ursprünglichen Rechtsrahmen des § 140a-d deutlich wei- ter gedacht werden und sich zu einem umfassend geleb- FORUM 5
Versorgung Die demografische Entwicklung in der Bevölkerung, der zunehmende Fachkräftemangel und Versorgungsunter- aus einer Hand schiede zwischen Stadt und Land sind erhebliche Heraus- forderungen für das deutsche Gesundheitssystem. In der letzten Legislaturperiode hat die damalige Bundesregie- rung mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz ver- sucht, mit verschiedenen Neuregelungen gegenzusteu- ern. Neben der Ausweitung der Mindestsprechstunden- zeiten auf 25 Stunden und der Erweiterung der Termin- servicestellen hat der Gesetzgeber auch die Honorare der Vertragsärzt:innen erheblich gesteigert. Damit sollten Anreize geschaffen werden, vermehrt Neupatient:innen zu behandeln, offene Sprechstunden für Akutfälle zu schaffen und mehr freie Termine an die Kassenärztlichen Vereinigungen zu melden. Für dieses Maßnahmenpaket müssen die Krankenkassen jährlich ca. eine halbe Milli- arde Euro an Mehrkosten einplanen. Leider sind positive Effekte bisher nicht erkennbar: Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag des vdek aus dem Dezember 2021 ist zwar die Zufriedenheit mit der medizinischen Behandlung hoch, große Kritik gibt es aber weiterhin an langen Wartezeiten, besonders auf Facharzttermine. So verging bei 41% der Versicherten in ländlichen Regionen mehr als ein Monat zwischen Terminvergabe und Behandlung, bei fast jedem © vdek/Georg Lopata fünften lag die Wartezeit bei mehr als drei Monaten. Hin- zu kommen abseits der Ballungsräume häufig Fahrtzeiten Ulrike Elsner zur Arztpraxis von 30 Minuten und mehr. Vorstandsvorsitzende Während in vielen Großstädten heute noch eine Überver- Verband der Ersatzkassen e.V. sorgung besteht, müssen die Versorgungsstrukturen im (vdek) ländlichen Raum neu überdacht werden. Dabei geht es vor allem um die Beantwortung dieser Fragen: Wie können die Arbeitsbedingungen für junge Ärzt:innen Die Gründung multiprofessioneller Zentren zur so verändert werden, dass auch eine Tätigkeit auf dem Stärkung der medizinischen Versorgung in Land für sie interessant wird? ländlichen Regionen wird derzeit stark diskutiert. Mit den „Regionalen Gesund- Wie können Behandlungsabläufe effizienter gestaltet wer- heitszentren“ (RGZ) hat der vdek ein Modell den, weg vom Fokus auf die ärztliche Tätigkeit und hin zu zur konkreten Umsetzung entwickelt. den weiteren Gesundheitsfachberufen? 6
Integrierte Versorgung – Überwinden wir endlich die Sektorengrenzen? AUSGABE 2 · 2022 Wie können bei möglichen Lösungsansätzen auch die an- sich Medizinische Versorgungszentren als Niederlas- deren Sektoren des Gesundheitswesens wie Krankenhaus sungsform in den letzten Jahren etabliert haben, so und Pflege stärker mitgedacht werden? konnten sie das Versprechen einer stärker integrierten Behandlung häufig nicht einlösen. Nach aktuellen Zahlen Aus Sicht der Ersatzkassen muss die Sicherstellung einer der KBV befinden sich nur 15% von ihnen in ländlichen flächendeckenden Versorgung zukünftig ganzheitlich er- Regionen und abgesehen von einzelnen Leuchttürmen folgen – das heißt konkret: Mehr Behandlungsangebote arbeiten in MVZ nur wenige unterschiedliche Facharzt- aus einer Hand und zentral an einem Ort. Denn so sehr gruppen zusammen. FORUM 7
Integrierte Versorgung – Überwinden wir endlich die Sektorengrenzen? Das vdek-Konzept „Regionales Gesundheitszentrum“ Digitale Angebote als wichtiger (RGZ) geht erheblich über diesen Ansatz hinaus. In einem Baustein der Behandlung RGZ soll die Mehrheit aller Behandlungsanlässe im am- Während der Corona-Pandemie hat die Bedeutung tele- bulanten Bereich versorgt werden können und außerdem medizinischer Angebote wie Videosprechstunden erheb- zusätzliche Ambulantisierungspotenziale erschlossen lich zugenommen. Es zeigt sich allerdings, dass gerade werden. kleinere Praxen diese Angebote nur unter erheblichem Aufwand bereitstellen können. In regionalen Gesund- Primärversorgung als Grundpfeiler heitszentren stehen hierfür sowohl technisch als auch Eine flächendeckende, gute hausärztliche Versorgung ist personell größere Ressourcen bereit. Gleichzeitig ist es Mindestvoraussetzung für ein funktionierendes Gesund- wichtig, dass neben digitalen Behandlungsoptionen auch heitssystem. Hausärzt:innen bleiben auch in Zukunft häu- weiterhin ein persönlicher Arzt-Patientenkontakt möglich fig erste Ansprechpartner:innen der Versicherten bei ist, z. B. bei notwendigen Untersuchungen. Diese unter- medizinischen Fragestellungen. Deshalb müssen sie in schiedlichen Zugangswege können im RGZ effizient ver- jedem RGZ vertreten sein. Eine Besetzung mit vier knüpft werden. Hausärzt:innen oder mehr je Zentrum garantiert eine Erreichbarkeit auch über die heute üblichen Sprechstun- Von der Arztzentrierung zum denzeiten hinaus und entlastet damit außerdem die multiprofessionellen Ansatz bestehenden Strukturen zur Notfallversorgung. Bei vielen Erkrankungen ist die ärztliche Therapie nur ein Baustein der Behandlung. Daher sind auch mindestens Mehr Unterstützung durch Delegation zwei Angehörige weiterer medizinischer Fachberufe wie und Substitution Physiotherapeut:innen, Logopäd:innen, Hebammen und Die Rolle der medizinischen Fachangestellten muss sich Pflegekräfte in jedem RGZ beschäftigt. Auf diese Weise in einem digitalen Gesundheitssystem verändern – weg kann der fachliche Austausch zwischen Ärzt:innen und von Verwaltungstätigkeiten, hin zur Übernahme vormals anderen medizinischen Berufen endlich gestärkt werden. ärztlicher Tätigkeiten. In einem RGZ werden daher neue Je nach Bedarf sollten die Gesundheitszentren um kom- Standards gesetzt: Auf jeden vollen Hausarztsitz kommt munale Angebote (z. B. um eine Gemeindeschwester) mindestens ein:e besonders qualifizierte:r nichtärztliche:r erweitert werden. Auf diese Weise kann der öffentliche Praxisassistent:in. Zukünftig können dort auch neu aus- Gesundheitsdienst besser mit der Regelversorgung ver- gebildete Physician Assistants selbstständig Anamnesen knüpft werden. und Behandlungen durchführen. Abbau von Sektorengrenzen durch Vernetzte Strukturen zwischen hybride Versorgungsangebote Haus- und Fachärzt:innen Eine sektorenübergreifende Gesundheitsversorgung ist Fachübergreifende Behandlungskonzepte funktionieren insbesondere vor dem Hintergrund einer Zunahme chro- nur durch eine Verknüpfung von hausärztlicher und fach- nischer Erkrankungen und komplexer Krankheitsverläufe ärztlicher Grundversorgung. Im Regelfall sind daher auch wichtig. In vielen Fällen könnten Untersuchungen und bestimmte Facharztgruppen wie Internist:innen, Eingriffe im ambulanten Setting stattfinden, wenn bei Orthopäd:innen und (konservativ tätige) Augenärzt:innen Bedarf die Möglichkeit einer anschließenden Überwa- oder Psychotherapeut:innen im RGZ aktiv. Ergänzt wer- chung der Patient:innen bestünde, auch über Nacht. In den können sie durch spezialisierte Fachärzt:innen oder bestimmten Konstellationen wie bei Anbindung eines OP- auch ambulante OP-Zentren. Zentrums sollten daher begrenzte Bettenkapazitäten 8
AUSGABE 2 · 2022 regelhaft vorgehalten werden, z. B. durch eine Koopera- und chronisch kranke Patient:innen benötigen häufig Hil- tion mit einem Krankenhaus im nahen räumlichen Umfeld. fe bei der Koordination ihrer medizinischen Behandlung. Darüber hinaus ist auch eine vollständige oder teilweise Im Sinne eines übergreifenden Managed Care-Ansatzes Umwandlung von kleinen, derzeit nicht wirtschaftlichen sollten Case Manager:innen der Krankenkassen daher mit Krankenhäusern zu regionalen Gesundheitszentren denk- speziell ausgebildeten Case Manager:innen des RGZ ko- bar. Durch ein hybrides Angebot aus stationären und am- operieren. Gemeinsam agieren diese als Lots:innen, ent- bulanten Leistungen können Ärzt:innen und Angehörige lasten vor allem Ärzt:innen und sorgen für effizientere Ab- anderer Gesundheitsfachberufe die vorhandene Technik läufe. effizienter einsetzen und damit gleichzeitig die Versor- gungssituation in der Fläche stärken. Auch eine Anbin- Patient:innen sollen sich darauf verlassen können, dass dung von Angeboten zur Kurzzeitpflege kann in Abhän- in jedem Regionalen Gesundheitszentrum ein definiertes gigkeit von den regionalen Gegebenheiten erfolgen. Angebot an Leistungen vorgehalten wird. Entsprechende, bundesweit einheitliche Mindestanforderungen sowohl Gemeinsames Case Management als zur konkreten Organisation und Besetzung als auch zu integraler Bestandteil Behandlungsangeboten sollten daher durch den Gemein- Der Ansatz „Versorgung unter einem Dach“ schafft ideale samen Bundesausschuss (G-BA) definiert werden. Hierzu Voraussetzungen für eine strukturierte Behandlung ent- gehören auch Mindestöffnungszeiten an sechs Wochen- lang evidenzbasierter Versorgungspfade. Gerade ältere tagen, eine telefonische Erreichbarkeit an 65 Wochen- FORUM 9
Integrierte Versorgung – Überwinden wir endlich die Sektorengrenzen? stunden und die Vorhaltung eines regelhaften Angebots an Videosprechstunden. In Abhängigkeit von den regio- nalen Gegebenheiten sollen auch die Kommunen weitere Vorgaben an Struktur und Angebot machen können. Auch beim Roll-out der RGZ sollte der G-BA eine wichtige Rolle spielen: Das Modell soll nämlich zunächst in den Regionen umgesetzt werden, in denen bereits heute eine Unterversorgung im hausärztlichen Bereich besteht. Das sind etwa 50–100 Standorte bundesweit. Die Festlegung der genauen Standortkriterien würde durch den Gemein- samen Bundesausschuss erfolgen, die jeweilige Aus- schreibung der konkreten Versorgungsaufträge – mit regionaler Expertise - durch die Selbstverwaltungsgremi- en vor Ort. Dort würde auch der Betreiber oder die Betrei- berin des neu zu gründenden RGZ ausgewählt. Die Vorteile des vdek-Konzepts „Regionale Gesund- heitszentren“ liegen auf der Hand: ■ Es wird eine strukturierte Versorgung der Versicherten über Leistungsbereiche hinweg an einem Ort etabliert. ■ Dieses niedrigschwellige Versorgungsangebot steht für alle Versicherten ohne bürokratische Einschreibe- verfahren zur Verfügung. ■ Bundesweite Vorgaben des G-BA garantieren die ver- lässliche Struktur und Leistungsangebote im RGZ. ■ Gleichzeitig werden regionale Versorgungsbedarfe durch die Einbindung der regionalen Selbstverwal- tungspartner berücksichtigt. Regionale Gesundheitszentren sind damit der richtige Weg, gerade im ländlichen Raum effiziente neue Versorgungs- strukturen zu schaffen und fügen sich dabei als weiteres Element in die bestehende Versorgungslandschaft ein. 10
AUSGABE 2 · 2022 Neuausrichtung der (regionalen) Welcher Neuausrichtung bedarf es, um eine integrierte und patientenzentrierte Versorgung zu erreichen? Es ist patientenzentrierten notwendig, zwischen der systemischen Ebene und der individuellen Integrationsrolle, in der die Krankenkassen Versorgung und die in der Versichertenberatung und -begleitung eine zentra- le Rolle spielen (können), zu unterscheiden. Rolle der Kassen Zahlreiche Herausforderungen im Gesundheitswesen Über die vielfältigen Zukunftsherausforderungen im Gesundheitswesen gibt es weitgehend Konsens. Die de- mografische Entwicklung wird zu einer veränderten Dr. Krankheitslast führen, Multimorbidität und Pflegebedürf- Gertrud Demmler tigkeit werden zunehmen. Gleichzeitig wird sich das Krankheitsspektrum durch den Klimawandel verschieben. Vorständin Bei den Gesundheitsberufen wird sich der schon heute eklatante Fachkräftemangel weiter verschärfen, auch durch systemische Ineffizienzen. Der Zugang zu medizi- Dr. nischer Versorgung ist heute schon sehr ungleich: Wäh- rend sich in manchen strukturschwachen Räumen kaum Eva Scherwitz noch Ärzte und Gesundheitsberufe finden lassen, sind in Stabsleiterin Politik Verdichtungsräumen die Angebotsstrukturen z.T. so über- dimensioniert, dass Patienten mangels Transparenz über Leistungsspektrum und Qualität der Leistungserbringer ineffiziente Suchprozesse starten müssen.1 Aber nicht nur Dr. regionalspezifisch, auch bezogen auf geschlechtsspezifi- Stefan Weber sche, sozioökonomische und sprachliche Faktoren gibt es zahlreiche zugangsbezogene Hürden. Schließlich werden Bereichsleiter die technologischen Möglichkeiten nur unzureichend Siemens-Betriebskrankenkasse genutzt, um echte Werte zu schaffen, weil die Vernetzung und digitale Transformation immer noch in den Anfängen stecken.2 Verzahnung und Integration der Wir stehen vor einem fundamentalen Trans- Versorgungssektoren – seit formationsprozess: Eine patientenorientierte Jahrzehnten im Fokus, aber ungelöst Versorgung erfordert ein Neudenken der Die mangelnde Verzahnung und Integration der Versor- Gesetzgebung weg von einer Sektorenregulierung gungssektoren ist ein bekanntes Problem, das bislang hin zu einer versicherten- und patientenzentrierten nicht befriedigend gelöst werden konnte. Gerade auch Versorgungsgestaltung. deshalb hat die wissenschaftliche und politische Diskus- sion hier in der letzten Zeit wieder an Fahrt aufgenom- men. Dabei rückt neben dem Aspekt der Integration, die 11 11
Integrierte Versorgung – Überwinden wir endlich die Sektorengrenzen? regionale Perspektive in den Fokus. Auch der Koalitions- Der Beitrag der Krankenkasse für eine vertrag zwischen der SPD, BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN vernetzte, ganzheitliche Versorgungs- und FDP greift die Handlungsfelder Integration, sektoren- begleitung im Sinne der Versicherten übergreifende Planung sowie regionale Versorgung auf, Versichertenberatung und -begleitung bilden neben der ohne dass sich hieraus schon ablesen ließe, wie entspre- Funktion, die Kosten zu übernehmen, den Kern des chende Regelungen konkret aussehen könnten. gesetzlichen Kassenauftrags. Krankenkassen haben als Einzige den Überblick über die gesamte individuelle Ver- Bei vielen Diskussionsbeiträgen fällt auf, dass die Kran- sorgungssituation aufgrund ihres Datenschatzes, da bei kenkassen als Akteure einer integrativen Versorgungsge- ihnen die Leistungs- und Abrechnungsdaten zusammen- staltung kaum noch eine Rolle spielen. Als Krankenkasse, laufen. Sie liefern wichtige Hinweise, wie Versicherte bei der seit Jahr(zehnt)en die Bedürfnisse ihrer gesunden unterstützt werden können. Hinzu kommen vielfältige In- und kranken Versicherten im Fokus der gesamten Unter- formationen, die die Krankenkassen im Beratungsalltag nehmensausrichtung stehen, halten wir dies für den fal- von den Versicherten über deren Bedarfe und ihren spe- schen Weg. Krankenkassen sind u. E. bis heute qua zifischen Kontext erhalten. So übernehmen Krankenkas- Unternehmenszweck und in ihrer Innovationsrolle Inte- sen schon heute im Rahmen der individuellen Beratung grationstreiber und sollten dies auch zukünftig sein. Im Koordinations- und Integrationsaufgaben. Folgenden legen wir deshalb dar, welche Rolle Kranken- kassen heute und zukünftig bei der Versorgungsgestal- Durch eine wünschenswerte Erweiterung des Zugangs zu tung spielen bzw. spielen können. qualifizierten Daten aus der ePA könnten zusätzliche Wer- te für Versicherte und die Qualität in der Gesundheitsver- Dabei ist zwischen zwei eng miteinander verbundenen sorgung durch Kassen geschaffen werden. Die aktuelle Ebenen zu unterscheiden: Zum einen geht es um die Rol- Diskussion um das Impfregister zeigt die bisherigen De- le der Krankenkasse auf der Ebene des einzelnen Versi- fizite in der versichertenbezogenen Leistungstransparenz. cherten bzw. Patienten, zum anderen auf der Ebene der Durch eine Stärkung des Austauschs zwischen Kassen (vertraglichen) Versorgungsgestaltung. und Leistungserbringern entlang der Versorgungspfade könnte dieses Potential weiter ausgeschöpft und sinnvoll Die Rolle der Krankenkassen im für eine weitere Sektorenvernetzung und bessere Patien- Patientenalltag tenversorgung eingesetzt werden. Wichtig ist hierbei, dass Auf individueller Ebene stellen sich für Patienten im Ver- die Kasse Impulse gibt und Aufklärung betreibt, Kontak- sorgungsalltag vielfältige Fragen: Patienten benötigen te herstellt etc., jedoch selbstverständlich nicht in die me- Informationen, Beratung und Unterstützung, um mündi- dizinische Behandlung selbst eingreift. ge Entscheidungen treffen und insbesondere bei längeren oder chronischen Erkrankungen ihren Lebensalltag Die zukunftsorientierte Versichertenbegleitung durch die gestalten zu können. Krankenkassen kann allerdings nur gelingen, wenn es zu einer konsequenten Vernetzung und Datennutzung Dass hier insbesondere in der Versorgung vor Ort noch kommt. Damit Krankenkassen ihre Versicherten beraten Handlungsbedarfe bestehen, ist auch im Koalitionsvertrag können, sind derzeit noch viele komplexe Einzeleinwilli- adressiert und durch eine Vielzahl an teils neu zu etablie- gungen notwendig. Dies sollte durch eine Generaleinwil- renden, teils zu stärkenden Institutionen und Akteuren ligung (oder Opt-Out-Lösung analog der aktuell disku- für diese Aufgaben vorgesehen (z.B. Gesundheitslotsen, tierten ePA-Lösung) zur Beratung vereinfacht werden. Gesundheitskioske, Gemeindeschwestern). Die Versorgungs- und Leistungstransparenz muss durch 12
AUSGABE 2 · 2022 eine taggleiche Datenübermittlung endlich in Echtzeit die z.B. über Änderungen des § 140a SGB V.3 Und tatsächlich Datenlage für eine qualifizierte Beratung ermöglichen. haben sich in der Praxis zahlreiche Modelle entwickelt, Die TI bietet dazu schon heute eine technologische bei denen Kooperation und Integration tatsächlich gelebt Basis. wird.4 Befördert worden ist diese Entwicklung auch durch die Einführung des Innovationsfonds. Wie können die Akteure in der Versichertenbegleitung bestmöglich Trotzdem ist eine integrative Versorgung tendenziell eher zusammenwirken? die Ausnahme als die Regel. Als Ursachen sind – ohne Es stellt sich vor dem Hintergrund der im Koalitionsver- Anspruch auf Vollständigkeit – folgende zu nennen5: trag vorgesehenen neuen „Lotsen-Akteure“ die Frage, wie diese mit den Kassen vor Ort bestmöglich vernetzt zum ■ Auf der systemischen Ebene, d.h. im gemeinsamen Wohle der Versicherten agieren können. Sinnvoll er- Bundesausschuss, auf den Planungsebenen sowie im scheint, dass jeder Akteur sich in dem Bereich einbringt, Vertragsrecht dominiert die sektorale Versorgung als in welchem er oder sie Kompetenzen und Expertise be- Regel. sitzt. So können Gemeindeschwestern vor Ort die Pflege ■ Im Verhältnis von Kollektiv- zu Selektivverträgen und Ärzte in der Region entlasten. Kassen hingegen soll- bleibt vieles ungeklärt, wie z.B. beim Thema Budget- ten ihre funktionierende Beratungspraxis weiterentwi- bereinigung. Insgesamt wird die Umsetzung von In- ckeln und voll ausschöpfen. Zu vermeiden ist jedenfalls tegration mittels Selektivverträgen eher gebremst als ein ressourcenträchtiger Aufbau von alternativen Bera- gefördert. tungsstrukturen auf verschiedene Player verteilt. Hier gilt ■ So ist die sektorale Versorgung auch im Versorgungs- es, pragmatische Lösungen entlang des Versorgungspro- alltag der Regelfall bzw. – wie der Name schon sagt – zesses in einer Region zu etablieren, bei der die Akteure die „Regelversorgung“. Eine Integrationsversorgung untergehakt in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich bedeutet damit für die einzelnen Leistungserbringer abgestimmt agieren und ihre Erkenntnisse untereinander immer eine „Ausnahme“, verbunden mit aufwendigen teilen. administrativen Prozessen. ■ Die Finanzverfassung der gesetzlichen Krankenkassen Die Rolle der Krankenkassen in der bietet wenig Anreiz für langfristige Investitionen in (in- regionalen Versorgung tegrierte) Versorgungen. Hier dominiert die Kurzfrist- Die zuvor skizzierte Rolle von Krankenkassen mit ihren perspektive – vor allem mit dem Fokus auf die Erhö- umfassenden Informationen zur individuellen Versor- hung der Einnahmen aus dem Gesundheitsfonds. gungssituation und der Datenübersicht macht sie zu wich- tigen Beteiligten für eine Versorgungsgestaltung, insbe- Was ist also zu tun, damit wir dem Ziel einer patienten- sondere über Versorgungsverträge. orientierten und damit einer intergiert organisierten Ver- sorgung näherkommen? Die unvollendete Geschichte der Integration Gesetzgebung neu denken und Deutschland hat ein nach Sektoren organisiertes Leis- weiterentwickeln – Regelversorgung tungserbringersystem. Es hat in den letzten Jahrzehnten neu definieren6 eine Vielzahl von Versuchen gegeben, die Sektorengren- Wichtig erscheint uns, dass das gesamte System der Ge- zen durch die Schaffung vertraglicher Möglichkeiten für sundheitsversorgung einer grundlegenden Neuausrich- Krankenkassen und Leistungserbringer zu überwinden, tung bedarf. FORUM 13
Integrierte Versorgung – Überwinden wir endlich die Sektorengrenzen? Insbesondere Themenfelder wie Wegfall der Sektoren- Sie muss beides sein und ist beides, wenn sie sich an den grenzen und Zusammenarbeit der Akteure, Digitalisierung, Patientenbedürfnissen orientiert. Die Grade der Integra- Datenübermittlung und Datennutzung, Qualität und Qua- tion werden ganz unterschiedlich sein. Zum Teil wird inte- litätstransparenz sowie Governance der Akteure (Aufsicht, griertes Handeln über Datentransparenz und darauf beru- Wettbewerb und Marktmacht etc.) sind grundlegend neu hender Kommunikation zu erreichen sein, zum Teil wird es zu denken. Eine inkrementelle Weiterentwicklung der in- vertraglicher Strukturen und finanzieller Anreize brauchen. tersektoralen Versorgung wird nicht die transformatori- Auch daraus folgt, dass die Lösungsräume für Kranken- sche Kraft entfalten, die es braucht, um zu einer patien- kasse und Leistungserbringer groß sein müssen und nicht tenzentrierten Versorgung zu kommen. durch etablierte Strukturen behindert werden dürfen. Ziel muss die Weiterentwicklung des Sozialgesetzbuches Bestimmte Themenkomplexe sind hingegen zwingend V zu einem modernen, flexiblen Rahmen rund um Präven- bundesweit einheitlich zu regeln: Neben den rechtlichen tion und Vorsorge sowie Versorgung, Begleitung und Pfle- Ansprüchen der Versicherten gehören dazu Themen wie ge sein. Das Gesetz sollte aus einer versicherten- und die TI-Infrastruktur, Standards für die Datenerhebung und nutzerzentrierten Gesamtschau heraus neu entwickelt -nutzung und das Thema Interoperabilität. Ein sicheres werden. Wir brauchen ein SGB V 4.0, das sich von der Sek- Versichertenidentifikationssystem gehört in die Treuhän- torenlogik löst und eine Versicherten- und patientenzen- derschaft der Kassen. Hier ist regionales Klein-Klein nicht trierte Versorgung als gestaltungsleitend definiert. angezeigt. Gleiches gilt bei Qualitätsstandards und Quali- tätstransparenz. Der Rechtsrahmen sollte dabei der Komplexität und Dy- namik des „sozialen Systems Gesundheitswesen“ gerecht Zurück in die Region – Was ist werden. Es bedarf deshalb differenzierter Steuerungsme- notwendig? chanismen und -ebenen.7 Ziel muss es sein, auf allen Im ersten Schritt wird man nicht umhinkommen, bei der Ebenen angemessene Lösungen zu ermöglichen – und Weiterentwicklung der regionalen Versorgungsgestaltung nicht durch den Gesetzgeber detailliert vorzugeben. auf dem jetzigen System aufzusetzen. Folgende Punkte sind hierfür wichtig: Steuerungsebenen unterscheiden Wichtig ist dabei, jeweils genau die Steuerungsebenen zu Kooperation auf regionaler Ebene stärken8 – welche An- unterscheiden. Da sich die Versorgungslandschaften in forderungen bestehen für eine geeignete Bedarfsplanung? der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die Kern der Lösung sollte eine klare Definition der Koopera- Anbieterstrukturen in den letzten Jahren stark unter- tionsziele aus Bürgersicht sein. In jeder Region müssen schiedlich entwickelt haben, ist die Versorgung zwingend die Bedarfe und Angebote vor Ort ermittelt und daraus regional zu gestalten. Weiterentwicklungsbedarfe abgeleitet werden. Zu diesem Zweck müssen alle Akteure einschließlich Krankenkassen Des Weiteren sind bei der Versorgungsgestaltung auch die und kommunale Akteure zusammenwirken. jeweiligen Erkrankungen und die sich daraus ergebenden Versorgungsbedarfe der Patienten zu berücksichtigen: Die Entwicklungskooperation neu aufsetzen – wer kümmert neue Regelversorgung sollte weder standardmäßig sek- sich nach welchen Regeln um die Umsetzung des erkann- toral noch standardmäßig integriert sein. ten Bedarfs? 14
AUSGABE 2 · 2022 Im nächsten Schritt geht es dann darum, konkrete Finanzierung der neuen regionalen Lösungsperspektiven für die in der Region gefundenen Versorgungsprojekte Kooperationsziele zu erarbeiten. Im Zusammenspiel der Ziel ist es, Anforderungen für eine flexible regionale Ver- Leistungserbringer mit den Krankenkassen sollten dann, sorgung aus Versichertensicht zu definieren. Das bedarf ähnlich einer Projektstruktur, die erkannten Bedarfe einer Veränderung des Systems von unten, also durch organisiert und umgesetzt werden. Eine derartige Projekt- Ausprobieren neuer Lösungen im konkreten Versorgungs- struktur bedarf entsprechender Rahmenbedingungen. Zu alltag.11 Dieses Vorgehen bedarf der Flexibilität der Finan- denken ist dabei an Themen wie: zierung. Beispielsweise könnte an einen Investitionstopf, ■ Für den Start einer Entwicklungspartnerschaft (-Pro- einen Angebotsentwicklungsfonds, gedacht werden, der jekt) zu einem bestimmten Regional-Thema könnte mit Raum für flexible Angebote in der regionalen Versor- z.B. ein bestimmtes Quorum für das Zustandekommen gung ausgestaltet ist. Wichtig ist es dabei, die Blickwinkel eines Projektes vor Ort maßgeblich sein. Wichtig ist: 9 unterschiedlicher Akteure zusammenzubringen und eine Aus Versicherten- und Patientensicht muss unbedingt institutionelle Einzelsicht auf relevante Investitionen zu gesichert sein, dass am Krankenbett und in der Praxis vermeiden. Eine nachhaltige Ressourcennutzung wird da- selbst kein Wettbewerb stattfindet. zu führen, dass es zu Ressourcenverschiebungen kommen ■ Zu klären ist, wer konkret nach welchen Regeln, in wird, die nicht immer mit mehr Geld zugedeckt werden welchen Strukturen und mit welchen Verpflichtungen können. an der Projektarbeit beteiligt ist. Hier scheint es sinn- voll, die Betroffenen zu Beteiligten zu machen und Fazit praktikable, breit getragene Lösungen von innen her- Die großen Herausforderungen der Zukunft verlangen aus, aus der Kenntnis der Struktur der Region und der neue Anreize: Bedarfe der Versicherten, von den Leistungserbrin- ■ Für mehr Kooperationsfähigkeit und Innovations- und gern und Krankenkassen zu erarbeiten. Zwischen qualitätsverbessernde Entwicklungsprozesse, -projek- Beteiligung an einer Zielformulierung und der konkre- te (Koopetition) ten Projektumsetzung sind hier völlig unterschiedliche ■ Für kompetenzgetriebene Rollenwahrnehmung. Gestaltungsformate nötig. Die Mitwirkung Externer, nicht an der Umsetzung unmittelbar Beteiligter ist Kassen nehmen als individuelle Versichertenbegleiter dann hinfällig. 10 dabei die wichtige Rolle als Integratoren zwischen unter- ■ Die aktuellen sektoralen Verfahren müssten abgelöst schiedlichen Akteuren rund um die Versorgung der Pati- werden durch neue Möglichkeiten der Zusammenar- enten sowie als Navigatoren ihrer Versicherten wahr. Die- beit und Kooperationen. Auch in der Vergütung der se Rolle sollte ermöglicht und weiter gestärkt werden. Auf Leistungserbringer sollten Anreize zur Zusammenar- der systemischen Ebene kann die konkrete Ausgestaltung beit als Ziel formuliert und entwickelt werden. Eine der regionalen Versorgung über Entwicklungspartner- Abwendung bzw. Modifizierung der praktizierten ver- schaften zwischen Kassen und Leistungserbringern nur richtungs- oder einzelfallorientierten häufig rein men- mit einem aus Versicherten- und Patientensicht neu ge- genorientierten Vergütung ist notwendig. staltetem SGB V 4.0 gelingen. Wir befinden uns in einer Zeit der Zumutungen, und es ist an der Zeit, dass sich alle Akteure in der GKV diesen Zu- mutungen stellen. FORUM 15
Integrierte Versorgung – Überwinden wir endlich die Sektorengrenzen? Das erfordert, eingetretene Pfade zu verlassen und sich an dem Sinn der GKV-Versicherten neu auszurichten: einer qualitätsorientierten und nachhaltigen Gesundheits- versorgung, die den Versicherten und Patienten in den Mittelpunkt stellt. Wichtig ist, das Engagement und die Zukunftsbegeiste- rung der am Versicherten und Menschen Arbeitenden im Gesundheitswesen (wieder-)zuerlangen und dafür brau- chen wir einen echten Aufbruch! 1. Vgl. Weisse Liste / Bertelsmann Stiftung Qualitätstransparenz 2020; Gomez/Lambertz/Meynhardt, Verantwortungsvoll führen in braucht einen großen Wurf, 15 Jahre Public Reporting in Deutsch- einer komplexen Welt, Bern 2019. Verweise auf Systemtheorie und land – ein kritisches Resümee, 2022. Kybernetik auch bei Piwernetz/Neugebauer, Strategiewechsel jetzt! 2. Siehe zuletzt Expertenkommission Forschung und Innovation, Gut- Corona-Pandemie als Chance für die Neuausrichtung unseres Ge- achten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfä- sundheitswesens, Berlin/Boston 2021, insbesondere auch S. 312ff. higkeit Deutschlands, Gutachten 2022, 96ff. 8. Zur Bedeutung von Kooperation vgl. auch Bundesverband Managed 3. Vgl. dazu und zu anderen Gesetzesvorhaben Brandhorst, Koopera- Care, A-non-managerail perspective on healthcare, Gespräch mit tion und Integration als Zielstellung der gesundheitspolitischen Ge- Henry Mintzberg. setzgebung – Darstellung und Analyse der Reformmaßnahmen seit 9. Z.B. 1/3-Quorum auf Kassen und LE Seite mit zusätzlichen Quali- 1989, in: Brandhorst/Hildebrandt/Luthe (Hrsg.): Kooperation und fizierungen abhängig von der Marktsituation (z.B: mindestens Kas- Integration – das unvollendete Projekt des Gesundheitswesens, sen von drei Kassenarten; LE mindestens Krankenhaus und Ärzte Wiesbaden, 2017, S. 13ff. bzw. weitere Gesund-heitsberufe). Wird dieses Quorum erreicht, 4. Vgl. Hahn/Kurscheid (Hrsg.), Intersektorale Versorgung, Wiesbaden, sind alle weiteren Kassen zur Finanzierungsbeteiligung verpflich- 2020; tet. So bleibt einerseits ein regionaler Wettbewerb bestehen, an- 5. Vgl. Knieps, Kooperation und Integration – eine unendliche Geschich- dererseits wird Wettbewerb am Krankenbett und in der Arztpraxis te, in: Hildebrandt/Stuppardt (Hrsg.): Zukunft Gesundheit – regional, vermieden. vernetzt, patientenorientiert, Heidelberg 2021, S. 179ff., insbeson- 10. Viele Lösungen setzen heute immer noch auf externes Management dere 184ff. (siehe Hildebrandt), das seit Beginn der integrierten Versorgung das 6. Vgl. auch Knieps, Kooperation und Integration – eine unendliche Ge- Integrations- und Entwicklungsthema lösen soll. Externes Manage- schichte, in: Hildebrandt/Stuppardt (Hrsg.): Zukunft Gesundheit – ment ersetzt niemals die Kooperationsfähigkeit und Bereitschaft der regional, vernetzt, patientenorientiert, Heidelberg 2021, S. 179ff., Stakeholder und ist deshalb ineffizient. In Entwicklungspartner- insbesondere 188ff.; Fischer, Hauptsache gesund, Welt der Kran- schaften muss immer geklärt werden, wer die Management- und kenversicherung, 1-2/2022, S. 4ff. Projektkompetenz übernehmen soll und kann. Wichtig ist, dass Teil 7. Als Modell, das sich hier als Referenzrahmen für die Gestaltung der der Entwicklungspartnerschaft ist, diese Kompetenz in der Partner- Steuerungssysteme eignet, bietet sich das Viable System Modell von schaft zu halten und oder zu entwickeln. Alles andere ist nicht nach- Stafford Beers an. Es bietet Antworten darauf, wie durch die Gestal- haltig. tung einer Organisation, insbesondere der Gestaltung der Steuerung- 11. Auf Bundesebene sind über den oben beschriebenen Gesetzge- und Kommunikationsstrukturen mit Unsicherheit, Komplexität und bungsprozess zuvor die übergeordneten Anforderungen festzule- Dynamik umgegangen werden kann Vgl. Pfiffner, Die dritte Dimensi- gen, die bei der Versorgungsfinanzierung vor Ort zu berücksichtigen on des Organisierens – Steuerung und Kommunikation, Wiesbaden sind. 16
AUSGABE 2 · 2022 Neue Impulse für sektorenübergreifende Versorgung Allen Akteuren im deutschen Gesundheitswesen ist bekannt, dass es an den Schnittstellen zwischen den Ver- sorgungssektoren zu Versorgungsbrüchen kommt. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die Umstellung der Medika- tion nach einem Krankenhausaufenthalt durch die behan- delnde Ärztin oder den Arzt im niedergelassenen Bereich. Eine zwischen den Sektoren abgestimmte Arzneimittel- therapie würde dazu beitragen, die Compliance der Pati- entinnen und Patienten zu erhöhen. Aufgrund dieser mangelnden Verzahnung der Sektoren © KBS/Melanie Garbas im Gesundheitssystem leidet die Qualität der medizini- schen Versorgung. Wirtschaftlichkeitspotentiale bleiben unausgeschöpft. Das Zauberwort, um diesen Mangel zu Bettina am Orde beheben, lautet Integrierte Versorgung. Vorsitzende der Geschäftsführung Deutsche Rentenversicherung Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz aus dem Jahr 2004 und das Wettbewerbsstärkungsgesetz aus dem Jahr Knappschaft-Bahn-See 2007 räumten den Krankenkassen Gestaltungsmöglich- keiten ein, um mit sektorübergreifenden Verträgen auf Geschäftsführerin das Defizit an den Übergängen zwischen den Sektoren zu KNAPPSCHAFT reagieren. Mit der sogenannten Anschubfinanzierung, die bis zu einem Prozent der vertragsärztlichen Gesamtver- gütung und der Krankenhausvergütung betrug, wollte der Timo Mundt Gesetzgeber den Vertragswettbewerb in Gang setzen. Leiter des Fachbereichs Kunde & Faktisch aber wurden der Registrierungsstelle der Bun- Versorgung desgeschäftsstelle Qualitätssicherung, welche die gemel- deten Vertragsdaten der Krankenkassen erfasste und die KNAPPSCHAFT Leistungserbringer über die Abzüge der Gesamtvergütung beziehungsweise Krankenhausvergütung informierte, nach Ablauf der Anschubfinanzierung 6.407 Verträge zur Der Innovationswettbewerb unter den Krankenkas- Integrierten Versorgung gemeldet. Diese umfassten 1,68 sen zu neuen Versorgungsformen ist ins Stocken Milliarden Euro, was ca. 45 Prozent des möglichen Maxi- geraten. Dabei müsste genau hier mehr investiert malvolumens (3,7 Milliarden Euro) ausmachte. Überwie- werden. Mit der populationsbezogenen Integrierten gend handelte es sich nicht um populationsbezogene In- Versorgung prosper/proGesund erbringt die tegrierte Versorgungsmodelle, sondern eher um Verträge, KNAPPSCHAFT seit über zwei Jahrzehnten den die die Behandlung einer spezifischen Diagnose sekto- Beweis, dass es sich lohnt, in entsprechende renübergreifend in den Blick nahmen. Nach dem Wegfall Versorgungsansätze zu investieren. Mit einem der Anschubfinanzierung Ende des Jahres 2008 fuhren Innovationsbudget könnte der Gesetzgeber einen die Krankenkassen ihre Aktivitäten zurück. wichtigen Impuls setzen, um den Weg für neue Versorgungsansätze zu ebnen. 17
Integrierte Versorgung – Überwinden wir endlich die Sektorengrenzen? Einen Wiederbelebungsversuch unternahm die Politik mit Ausgleichssystematik des Risikostrukturausgleichs wird der Einführung des Innovationsfonds im Jahr 2016. Mit diese Entwicklung nur unzureichend abgefedert. Eine von einem jährlichen Finanzvolumen von 300 Millionen Euro mehreren Reaktionen hierauf war der Aufbau der popu- in den Jahren 2016 bis 2019 und einem reduzierten lationsbezogenen Integrierten Versorgung prosper/pro- Volumen in Höhe von 200 Millionen Euro in den Jahren Gesund. 2020 bis 2024 sollen Projekte zu neuen Versorgungsfor- men sowie Projekte zur Versorgungsforschung gefördert Im Herbst 1999 startete die KNAPPSCHAFT nach einer werden. Es geht vor allem um Projekte, die das Potenzial längeren Vorbereitungsphase prosper als Pilotprojekt in haben, in die Regelversorgung übernommen zu werden. der Region Bottrop. Weitere Netzgründungen im Saarland, Im Zeitraum von 2016 bis 2021 wurden insgesamt 507 in Regionen des Ruhrgebietes und in der Lausitz folgten. Projekte mit einem Projektvolumen von ca. 1,4 Milliarden Derzeit sind ca. 230.000 Versicherte der KNAPPSCHAFT Euro gefördert; davon 194 neue Versorgungsformen und in die Verträge eingeschrieben. An prosper/proGesund 313 Vorhaben der Versorgungsforschung. Der Innovati- beteiligen sich ca. 1.000 Hausärzt*innen, 1.000 onsfonds wird also durchaus genutzt, um neue Versor- Fachärzt*innen, 20 Krankenhäuser und 2 Rehakliniken. gungsansätze zu erproben. Das ist zu begrüßen. Das Ver- hältnis zwischen Projekten der Versorgungsforschung und Der Aufbau dieser Netze erforderte eine hohe Investiti- solchen zu neuen Versorgungsformen macht allerdings onsbereitschaft auf Seiten der KNAPPSCHAFT. Die Netze deutlich, wo der Schwerpunkt liegt. Zudem liegt auf Basis leben seit Beginn von der Kommunikation zwischen den der ersten Evaluationsergebnisse die Vermutung nahe, Akteur*innen der verschiedenen Sektoren und Fachdis- dass nicht viele Ansätze in die Regelversorgung übernom- ziplinen. Diese kann nur dann erfolgreich gestaltet wer- men werden. den, wenn die Kommunikation kassenseitig intensiv be- gleitet, strukturiert und die Erfolge des abgestimmten Dieser überschaubare Erfolg könnte den Schluss nahele- Handelns allen Akteur*innen durch ein regelmäßiges Be- gen, dass das Schnittstellenproblem überschätzt ist. Ist richtswesen vor Augen geführt wird. Das stringente Ma- die Regelversorgung eventuell schon so gut, dass über nagement von Versorgungsnetzen ist keine Einmal- son- eine Intergierte Versorgung keine Wirtschaftlichkeitspo- dern Daueraufgabe. Zudem bedarf es einer gewissen tentiale gehoben werden können? Unserer Ansicht nach Überzeugungsarbeit, dass Integrierte Versorgung für Nie- ist dies nicht der Fall. Die KNAPPSCHAFT erbringt seit dergelassene, Krankenhäuser sowie Patient*innen einen mehr als zwei Jahrzehnten in ihrer populationsbezogenen Mehrwert erzeugt. Bei der KNAPPSCHAFT wurden zu- Integrierten Versorgung den Beweis, dass dadurch die nächst entsprechende personelle Strukturen geschaffen. Versorgung sowohl in ökonomischer als auch in qualita- Heute wissen wir, dass dies eine lohnende Investition war. tiver Sicht verbessert werden kann. Die Gesundheitsnetze prosper/proGesund ermöglichen nicht nur nachweislich eine qualitativ bessere Versorgung, Beispiel prosper/proGesund sie machen auch Einsparungen möglich, die im Mittel sta- Die KNAPPSCHAFT besitzt ein im Durchschnitt 12 Jahre bil bei rund 115 Euro je Teilnehmenden und Jahr liegen. älteres Versichertenklientel als die Gesetzliche Kranken- versicherung (GKV). Zudem weisen die Knappschaftsver- Aber hätte die KNAPPSCHAFT die notwendigen Investi- sicherten eine im Mittel höhere und andere Morbiditäts- tionen getätigt, wenn die damalige Situation anders ge- struktur auf. Beide Sachverhalte verdeutlichen, dass die wesen wäre? Wahrscheinlich nicht. Die Logik längerfris- KNAPPSCHAFT die Auswirkungen demographischer Ver- tiger Investitionen – auf der Basis wirklicher Veränderun- änderungen seit Langem zu spüren bekommt. Durch die gen – steht im Widerspruch zum Grundsatz der (kurzfris- 18
AUSGABE 2 · 2022 tigen) Beitragssatzstabilität. Dies ist auch der ausschlag- Um den Krankenkassen einen Anreiz für einen Innovati- gebende Grund dafür, dass Krankenkassen die Investition onswettbewerb zu setzen, könnte ein Vorschlag des Sach- in sektorübergreifende Versorgungsmodelle seit Ablauf verständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirt- der Anschubfinanzierung eher scheuen. schaftlichen Entwicklung aus dem Jahr 2018 aufgegriffen werden. Dr. Martin Albrecht, Geschäftsführer des Bereichs Investitionsbereitschaft erhöhen Gesundheitspolitik am IGES Institut, hat mit dem Gutach- durch die Einführung eines ten „Potenziale für mehr Wettbewerb im Gesundheitswe- Innovationsbudgets sen“ die Idee eines eigenständigen Krankenkassenbud- Selbstverständlich ist es der Anspruch der GKV, Versor- gets für Forschung und Entwicklung innovativer Versor- gung aktiv zu gestalten. Doch jeder, der neue, auch sek- gungsprozesse eingebracht, das den Innovationsfonds torübergreifende Ansätze erprobt hat, weiß, dass nicht ersetzt. Die Mittel würden krankenkassenindividuell und jeder Ansatz auf Anhieb funktioniert. Auch Verträge der morbiditätsorientiert reserviert. Krankenkassen, deren Integrierten Versorgung haben viele Sollbruchstellen. Ob Versicherte eine nach den Kriterien des Morbi-RSA durch- die mit den Verträgen implementierten Versorgungsan- schnittlich höhere Morbidität aufweisen, erhielten so ent- sätze den gedachten Erfolg erzielen, kann immer erst sprechend höhere Ansprüche auf finanzielle Mittel je Ver- nach einer gewissen Vertragslaufzeit beurteilt werden. sicherten. Einsatz und Verwendung der Mittel würden in Nicht selten kommt es vor, dass die vertragsschließende einem dezentralen Prozess durch die einzelne Kranken- Krankenkasse Verwaltungsaufwand und finanzielle Mittel kasse gesteuert. Technisch würde ein solches Innovati- in einen Versorgungsansatz investiert hat, der nicht den onsbudget durch eine Kürzung der Summe der Alters- und erhofften qualitativen und/oder finanziellen Erfolg erwirt- Geschlechtszuweisungen in einer Größenordnung finan- schaftet; ein ganz normaler Vorgang in anderen Wirt- ziert, die 0,05 Prozent des gesamten Beitragseinkommens schaftsbereichen. Der regulatorische Rahmen der GKV entspricht. Die Mittel würden dann den einzelnen Kran- sowie deren aktuelle Finanzsituation erschweren eine in- kenkassen über die Morbiditätszuweisungen nach Maß- vestitionsbezogene Risikobereitschaft der Krankenkas- gabe der hierarchisierten Morbiditätsgruppen zugeordnet. sen. Stillstand aber ist gefährlich – für die Versorgung, die Ob ein solches Innovationsbudget alternativ oder als Teil Strukturen, die Effizienz. des Innovationsfonds angelegt wäre, ist zu diskutieren. Um dieser Gefahr zu entgehen, sollte der Gesetzgeber Fazit effektive Anreize setzen. Der Innovationsfonds konnte die Nach dem Auslaufen der Anschubfinanzierung für die Anschubfinanzierung nicht adäquat ersetzen. Das zeigt Integrierte Versorgung ist der Innovationswettbewerb schon die im Vergleich relativ überschaubare Anzahl unter den Krankenkassen für sektorenübergreifende Ver- geförderter Projekte zu neuen Versorgungsformen. Ein sorgung ins Stocken geraten. Der Innovationsfonds bildet Grund hierfür wird der bürokratische Aufwand sein, der keinen adäquaten Ersatz. Dabei erbringt die KNAPP- mit der Antragstellung, der Mittelanforderung und der SCHAFT mit ihren populationsbezogenen Integrierten zwingend erforderlichen Evaluation verbunden ist. Wenn Versorgungsnetzen prosper/proGesund seit über 20 Jah- man das Fördervolumen ins Verhältnis zur Anzahl der ge- ren den Beweis, dass es sich qualitativ wie ökonomisch förderten Projekte setzt, liegt die Vermutung nahe, dass lohnt, in sektorübergreifende Versorgungsansätze zu der Aufwand von Krankenkassen nur für Großprojekte investieren. Mit einem Innovationsbudget – statt oder betrieben wird. Kleinere, regionale Projekte, die letztlich neben dem Innovationsfonds – könnte gesetzgeberisch die Keimzelle für eine echte Versorgungsentwicklung sein ein neuer Impuls für einen Innovationswettbewerb unter können, fallen hinten runter. den Krankenkassen gesetzt werden. FORUM 19
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