Spezial 2020 Das Potsdamer Universitätsmagazin - Universität Potsdam
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Blick zurück Auf Instagram nehmen wir Sie am #throwbackthursday regelmäßig mit in vergangene Zeiten an der Uni Potsdam. Ende April mussten wir gar nicht so weit zurückgehen, um in eine ganz ande- re Welt einzutauchen. Eigentlich sehen die Bilder, die vor knapp zwei Jahren an allen drei Standorten der Uni Potsdam entstanden sind, ganz normal aus. Sind sie auch: Campus, Menschen, schönes Wetter. Surreal ist das hier und heute – und die verwaisten Uni-Areale. Die – wie wir – auf Euch warten. Bis wir uns hier wieder sehen, schicken wir Euch ein paar Schnappschüsse aus alten und neuen Tagen. Auf ein gutes Semester! (mz) www.instagram.com/unipotsdam Impressum Fotos: © Fritze, Karla (obere 3); Hopfgarten, Tobias (untere 3) Portal – Das Potsdamer Universitätsmagazin Online-Ausgabe: Druck: ISSN 1618 6893 www.uni-potsdam.de/de/up-entdecken/upaktuell/ Buch- und Offsetdruckerei universitaetsmagazine H. Heenemann GmbH & Co. KG Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Layout/Gestaltung: unicom-berlin.de Auflage: 4.000 Exemplare Redaktion: Dr. Silke Engel (verantwortlich), Titelillustration: Matthias Zimmermann Andreas Töpfer Nachdruck gegen Belegexemplar bei Mitarbeit: Dr. Silke Engel, Antje Horn-Conrad, Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: Quellen- und Autorenangabe frei. Dr. Jana Scholz 31. September 2020 Die Redaktion behält sich die sinnwahrende Anschrift der Redaktion: Formatanzeigen: Kürzung e ingereichter Artikel, einschließlich der Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam unicom MediaService Leserbriefe, vor. Tel.: (0331) 977-113 198, -1474, -1496 Tel.: (030) 509 69 89 -15, Fax: -20 Fax: (0331) 977-1130 Gültige Anzeigenpreisliste: Nr. 2 Viele Artikel in diesem Heft finden Sie in einer längeren E-Mail: presse@uni-potsdam.de www.hochschulmedia.de Fassung online unter: www.uni-potsdam.de/nachrichten
Liebe Portal | Spezial 2020 Leserinnen und Leser. Corona. Schon mal gehört? Noch Weihnachten funktioniert eine Universität unter den besonde- 2019 hätten viele ahnungslos geantwortet: „Nö.“ ren Umständen? Wie wird gearbeitet, studiert, Besser Informierte hätten zurückgefragt: „Meinst geforscht? Wie verlagert man ein ganzes Semes- du die Korona – den Hof um die Sonne?“ Und ter in den Online-Betrieb? Auf der Suche nach ganz Schlaue hätten gesagt: „Klar, trink ich gern.“ Antworten auf diese und viele weitere Fragen ist Doch spätestens seit Februar beherrscht das Virus eine Vielzahl von Texten entstanden, die wir nach die Nachrichten, seit März auch unser Leben. und nach auf der Webseite der UP veröffentlicht Nach und nach mussten wir alle lernen, uns (wie- haben als „Beiträge aus der Universität Potsdam der) richtig die Hände zu waschen und die „Nies- zur Corona-Pandemie“.* Eine gekürzte Auswahl etikette“ zu befolgen, Abstand zu halten, zu Hause dieser Texte haben wir für diese „Portal Spezial“ zu arbeiten oder zu lernen, Masken zu tragen oder zusammengestellt. Nicht, weil wir über nichts gar zu nähen – und überhaupt: uns mit dem Aus- anderes als den Corona-Virus mehr reden wollen, nahmezustand, der zum Dauerzustand zu werden sondern weil wir dokumentieren wollen, dass die droht, zu arrangieren. Aber wie macht das eine Universität Potsdam durch die Pandemie keines- ganze Universität – mit 21.000 Studierenden, mehr wegs in einen Dornröschenschlaf versetzt wurde. als 4.500 Beschäftigten, Tausenden Kursen, Prakti- Vielmehr entstanden durch das Engagement vieler ka, Prüfungen und Forschungsprojekten? Wie hält Forschender, Studierender und Beschäftigter zahl- man einen Tanker an – in voller Fahrt – und rüstet reiche Initiativen, Ideen, Projekte, Strukturen und ihn um für einen pandemiesicheren Betrieb? Die Neuerungen, die zeigen: Die Universität Potsdam zurückliegenden Wochen haben gezeigt: Es geht. lässt sich nicht unterkriegen! Deshalb hoffen wir, Inzwischen läuft mit dem Sommersemester 2020 dass die Lektüre des Heftes Ihnen trotz der weiter- das erste Online-Semester der Hochschulgeschich- hin herausfordernden Umstände Freude und Mut te. Auch das hätte Ende 2019 niemand für möglich macht. (Die Texte entstanden alle im März/April gehalten, schon gar nicht so bald. 2020, als viele Entwicklungen noch am Anfang standen und ihr Verlauf nicht absehbar war. Wir Das Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit haben sie dennoch unverändert aufgenommen, musste wie alle Unibereiche lernen, mit den um diese Phase und die Reaktion der Wissen- ungewöhnlichen Umständen umzugehen, die mal schaft darauf zu dokumentieren.) bedrohlich, mal lästig, mal ermüdend und mal eben einfach nur umständlich wirkten. Wir haben Bleiben Sie gesund – uns bemüht, so gut es ging, zu informieren – dar- wir freuen uns auf ein Wiedersehen! über was sich tat, was getan werden musste und Matthias Zimmermann konnte. Und was kommt. Doch wir wollten noch mehr wissen: Was sagen die Potsdamer Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler zur Corona- * Alle „Beiträge aus der Universität Potsdam zur Corona-Pandemie“ sind Pandemie, ihren Auswirkungen und Folgen, aber weiterhin online in voller Länge verfügbar unter: https://www.uni-potsdam.de/ auch dazu, was sich dagegen tun lässt? Wie genau de/presse/aktuelles/coronavirus/beitraege-zur-corona-pandemie 3
Inhalt 16 TITEL „Mich begeistert die Offenheit, mit der digitale Medien ausprobiert werden“ Informatikerin Ulrike Lucke über die Möglichkeiten des E-Learning 18 TITEL Ein Test der Wandlungsfähigkeit Der Wirtschaftsinformatiker Norbert Gronau über die Digitalisierung 06 im Schnelldurchlauf EXPER TE NA NFRA G E „Ohne hätte, wenn und aber“ Was zu tun ist und was sich künftig ändern muss, um Pandemien wirksam einzudämmen. Fragen an den Virologen Prof. Dr. Frank T. Hufert 20 TITEL Auf einmal digital Warum Deutschland seine Verwaltung jetzt neu erfindet 08 TI TEL Kontrollverlust und Unvorhersehbarkeit Prof. Dr. Barbara Krahé über die psychosozialen Folgen der 22 TITEL Corona-Pandemie Wege aus der Krise Prof. Dr. Maik Heinemann über die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie 09 TI TEL Es ist das Unerklärliche, das die 24 TITEL Innehalten und hinterfragen Angst erzeugt Der Erziehungswissenschaftler Wilfried Schubarth sieht in der Entwicklungspsychologin Birgit Elsner erklärt, wie Eltern ihren Kindern Krise die Chance, zentrale Bildungsfragen neu zu stellen helfen können, die Ausnahmesituation zu meistern 10 TI TEL Recht im Ausnahmezustand 26 U N I I N C O R O N A-Z E I T E N „Auf die ungewohnten Umstände Wie sich die Corona-Krise auf die Menschenrechte auswirkt besonnen reagieren“ Uni-Präsident Prof. Oliver Günther über das Krisenmanagement 11 TI TEL Den Rechtsstaat bewahren Der Jurist Prof. Dr. Thorsten Ingo Schmidt über Freizügigkeit, 28 U N I I N C O R O N A-Z E I T E N Was kommt? Uni-Kanzler Karsten Gerlof über die derzeitige Corona-Phase und das Infektionsschutzgesetz und langfristige Folgen langsame Schritte zur Normalisierung 12 TI TEL Sport in Corona-Zeiten Der Trainingswissenschaftler Urs Granacher über die richtige Bewegung 30 U N I I N C O R O N A-Z E I T E N Zwischen Neuland und Routine Einblicke in das Krisenzentrum der Universität Potsdam 18 für jedermann, auch ohne Wettkampf, Fitnessstudio oder Sportunterricht 14 TI TEL „Wir sollten die Schwächsten am besten schützen“ Wie die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft beeinflusst und wie sie diese verändern sollte 12 4
42 31 UNI I N C ORONA-ZE I T E N Kein Ort, allein zu sein 26 52 Von der Arbeit einer Pressestelle im Ausnahmezustand 32 UNI I N C ORONA-ZE I T E N Digitalisierung im Schnellverfahren Online-Lehre in Zeiten von Corona 34 UNI I N C ORONA-ZE I T E N 46 U N I I N C O R O N A-Z E I T E N „Der Gesprächsbedarf ist hoch“ Wie das Welcome Center in der Corona-Krise für Forschende Nicht sprachlos aus aller Welt da ist Wie das Zentrum für Sprachen und Schlüsselkompetenzen (Zessko) das digitale Sommersemester meistert 36 UNI I N C ORONA-ZE I T E N 48 I N T E R N AT I O N A L „Peppina in Quarantena“ Ein Auslandssemester in Italien Online über Nacht Wie das ZIM das digitale Semester möglich macht 38 UNI I N C ORONA-ZE I T E N 50 I N T E R N AT I O N A L Im stillen Kämmerlein Von der Schwierigkeit, mitten in der Krise eine Doktorarbeit Tierökologie im Homeoffice zu schreiben Wie die Pandemie die Wissenschaft durcheinanderwirbelt 39 UNI I N C ORONA-ZE I T E N Vom jähen Ende einer Forschungsreise 52 F O R S C HU N G Corona-Pandemie berechnen Potsdamer Forscher entwickeln Modellierungsansatz, der regionale Corona durchkreuzt Projekt in Namibia Prognosen des Infektionsgeschehens ermöglicht 40 UNI I N C ORONA-ZE I T E N Ideenreich Studierende engagieren sich gegen das Coronavirus 54 F O R S C HU N G „Jedes Virus entwickelt eigene Überlebensstrategien“ Die Biochemikerin Prof. Katja Hanack erklärt, was die Entwicklung von 42 UNI I N C ORONA-ZE I T E N Zwischen Homeschooling Impfstoffen gegen Viren so schwierig macht und Homeoffice Über den veränderten Arbeitsalltag berufstätiger Eltern und aufbrechende Ungerechtigkeiten 56 F O R S C HU N G Gut für Körper und Seele! Internationale Studie zu Sport und Bewegung in Zeiten der Krise 44 UNI I N C ORONA-ZE I T E N Studieren im Homeoffice Fotowettbewerb von eLiS zum heimischen Arbeitsplatz 58 Ins Bild gesetzt Der Gestalter Andreas Töpfer hat die Corona-Pandemie grafisch kommen- tiert und die Portal illustriert 5
? Portal | Spezial 2020 EXPERTENANFRAGE „Ohne hätte, wenn und aber“ Was zu tun ist und was sich künftig ändern muss, um Pandemien wirksam einzudämmen. Fragen an den Virologen Prof. Dr. Frank T. Hufert Herr Prof. Hufert, sie gelten als Experte ✍ für Schnelldiagnostik. Welche Testverfah- ren können dazu beitragen, die Corona- dell war diese chimäre Lebendvakzine sehr gut immunogen. Aus diesem Grund halte ich diese ANTJE HORN-CONRAD Variante für den besten Impfstoffansatz, der auch Pandemie wirkungsvoll einzudämmen? sehr schnell hergestellt werden könnte und für Ein breites Testen zum molekularen Virusdi- den schon eine Zulassung für ein anderes Virus rektnachweis mittels PCR (Polymerase Ketten- besteht. reaktion) oder RPA (Rekombinase Polymerase Amplifikationstechnik) sowie die Antikörperbe- Weltweit haben Fachleute beständig stimmung zum Nachweis durchgemachter Infek- darauf hingewiesen, dass die wirt- tionen. Letzteres besonders beim medizinischen schaftliche Globalisierung, die damit Personal und bei allen im Gesundheits- und Pfle- einhergehenden ökologischen und gedienst tätigen Menschen sowie bei Personen, sozialen Verwerfungen und der rasche deren Tätigkeit für die Aufrechterhaltung der Bevölkerungsanstieg das Auftreten neuer gesellschaftlichen Grundfunktionen notwendig Infektionskrankheiten und deren rasante ist. Immune könnten dann gefahrlos in ihrem Verbreitung begünstigen. Was müsste Beruf tätig sein. aus medizinischer und epidemiologischer Sicht getan werden, um diese Gefahr zu Die Entwicklung und Zulassung eines bannen? Impfstoffes werden noch bis zu einem Es müssen Sentinel-Systeme aufgebaut werden, Jahr dauern. Steht zu befürchten, dass stichprobenartige Erhebungen, die sehr rasch das Virus bis dahin bereits mutiert ist? neue Ausbrüche von Infektionserkrankungen Mutationen treten bei RNA-Viren stetig auf, aufzeigen können. Dazu gehört auch die Möglich- dennoch haben die Coronaviren ein sehr gro- keit, in entlegenen Regionen eine valide mobile ßes RNA-Genom mit einer sehr exakt arbeiten- Diagnostik zur Verfügung zu haben, die dann von den RNA-Polymerase, die allein zwei Drittel des Ausbruchteams angewendet wird. Trotz der Ver- Foto: © Medizinische Hochschule Brandenburg Genoms ausmacht, sodass die genetischen Vari- flechtung des Welthandels muss die Produktion ationsmöglichkeiten nicht so groß sind wie bei von Medikamenten, medizinischen Gerätschaf- Influenzaviren. Der beste Impfstoffansatz besteht ten und persönlicher Schutzausrüstung im eige- nach meiner Ansicht in der Herstellung einer nen Land stets zur Verfügung stehen. Wir müs- Virus-Chimäre, die auf der Basis des Vesikulosto- sen auch ohne China u.a. in der Lage sein, autark matitis-Virus (VSV) das Virushüllprotein-S des zu produzieren. Staaten, die keine eigene Produk- SARS-CoV-2 trägt. Eine solche Impfstoffvariante tion haben, wie etwa viele Länder in Afrika, müss- ist für das Ebolavirus bereits zugelassen und sehr ten über die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erfolgreich. Auch für das dem SARS-CoV-2 sehr versorgt werden. Zudem müssen Impfstoffe auch verwandte MERS-CoV konnte in Tiermodellen für seltene Erreger entwickelt werden und Impf- schon Schutz gezeigt werden und im Affenmo- kampagnen durchgeführt werden. So gibt es noch 6
Portal | Spezial 2020 immer z.B. eine steigende Zahl von Masern- und tur geschaffen werden, denn im Verteidigungsfall Gelbfieberfällen, trotz der Verfügbarkeit lebens- der Bundesrepublik greifen wir ja auch nicht auf lang schützender Impfstoffe. die einzelnen Armeen der Bundesländer zurück. Nicht zuletzt müssen Staaten in der Lage sein, Und im Gesundheitswesen? die Grenzen zu schließen. Ein zentraler Feh- Ein Ausbruch, ler Europas und Deutschlands war es, trotz der Der öffentliche Gesundheitsdienst muss wieder Bedrohung durch den Ausbruch in China keine aufgestockt werden. Und unsere Krankenhäu- wie wir ihn jetzt strikten Einreiseverbote auszusprechen, sodass ser müssen ausreichend finanziert werden. Hier erleben, ist ein dem Virusimport Tür und Tor geöffnet waren. liegt vieles im Argen, vom kleinen Krankenhaus Naturphänomen. im ländlichen Bereich bis hin zu den großen Universitätskliniken. Überall fehlt es seit Jahren Was muss sich hierzulande ändern? an finanziellen Mitteln, die der Staat nicht bereit Das öffentliche Bewusstsein für Infektionser- war zu investieren. Hier müssen sich u.a. auch krankungen und für Ausbrüche muss gestärkt die Vergütungsmodalitäten ändern. Trotz jahre- und in die Bildungssysteme integriert werden. langer doch so hoher Steuereinnahmen wurden Ein Ausbruch, wie wir ihn jetzt erleben, ist ein diese schon lange bestehenden Missstände von Naturphänomen und erfordert frühes und unver- der Politik stets ignoriert. Hier sehe ich auch drin- zügliches zielgerichtetes Handeln der Regierung genden Handlungsbedarf, um uns fit zu machen zum Schutz der Bevölkerung, ohne stetige pro- für eine Gesundheitsversorgung, die auch globa- trahierte Diskussionen mit hätte, wenn und aber. le Großschadenslagen, wie wir sie jetzt erleben, Naturphänomene nehmen keine Rücksicht auf abfedern kann. menschliche Belange und Fantasiewelten unter- Illustration: © Töpfer, Andreas schiedlicher Couleur. Dieses frühzeitige Handeln ist leider versäumt worden. Vorhandene Pande- Prof. Dr. med. Frank T. Hufert ist Facharzt für Mikrobiologie und Virologie an der gemein- miepläne müssen zur Anwendung kommen und samen Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Potsdam, der Medizinischen stets aktualisiert werden. Eine Verbesserung unse- Hochschule Brandenburg „Theodor Fontane“ (MHB) und der Brandenburgischen Techni- res Systems sehe ich auch in der Abschaffung der Bundesländerkompetenz in Seuchenfragen. Hier schen Universität Cottbus-Senftenberg. Er ist Ärztlicher Direktor des Instituts für Mikrobiolo- muss eine einheitliche, zentral gesteuerte Struk- gie und Virologie der MHB am Standort Senftenberg. 7
Portal | Spezial 2020 TITEL Kontrollverlust und Unvorhersehbarkeit Prof. Dr. Barbara Krahé über die psychosozialen Folgen der Corona-Pandemie D ✍ as Corona-Virus bedroht nicht nur die physische Gesundheit ein Gefühl der Vorhersehbarkeit und Kontrolle über die Ereignisse in unserem Leben zu haben. Kon- DR. JANA SCHOLZ der Menschen. Die Sozialpsy- trollverlust, insbesondere das Gefühl, dass negati- chologin Barbara spricht über ve Konsequenzen völlig unabhängig von unseren die die große Herausforderung, Bemühungen auftreten, sie zu vermeiden, führt persönliche Kontakte zu meiden und die persön- zu Hilflosigkeit. Diese Hilflosigkeit schlägt sich liche Lebensplanung zumindest vorübergehend in negativen Gefühlen wie Trauer und Verzweif- zurückzustellen. lung nieder und in einer geringen Motivation und Anstrengung, die Dinge zum Besseren zu beein- flussen. Menschen fühlen sich Entwicklungen aus- Warum fällt uns das so schwer? geliefert, die sie nicht verhindern können und von Vor allem zwei Gründe sind hier zu nennen: Zum denen sie nicht wissen, wie lange sie sie aushalten einen hängt für Menschen als soziale Wesen das müssen. Das können sie schlecht verkraften. psychische Wohlbefinden ganz entscheidend davon ab, ihr Bedürfnis nach Nähe, Austausch Was bedeutet diese enorme Unsicherheit und Unterstützung befriedigen zu können. Das in Bezug auf die persönliche Lebenspla- ist momentan nur noch sehr eingeschränkt und nung? reduziert auf medial vermittelte Kontakte mög- lich. Der zweite Grund ist, dass Menschen sehr Für uns alle ist es schwierig, aber wir haben kei- empfindlich auf Einschränkungen ihrer persönli- ne Wahl, denn das Leben kann ja nicht einfach chen Entscheidungsfreiheit reagieren, und zwar auf Pause gestellt werden. Es hilft, dass diese Kri- damit, dass sie die Optionen, die ihnen nicht se jeden betrifft, anders als es bei vielen anderen mehr zur Verfügung stehen, stark aufwerten. Das, negativen Lebensereignissen der Fall ist, und man Illustration / Foto: © Töpfer, Andreas (o.); Fritze, Karla (u.) was wir nicht (mehr) haben können und machen sie deshalb auf äußere Umstände zurückführen dürfen, erscheint uns besonders erstrebenswert, kann, die man nicht selbst zu verantworten hat. und wir setzen alles daran, die Entscheidungsfrei- Die Auswirkungen auf die eigene Lebensplanung heit wiederherzustellen. sind massiv, vor allem für diejenigen, die mit der Möglichkeit rechnen müssen, am Ende der Krise in ihrer Existenz ruiniert zu sein, wichtige Prü- Wie lange halten die Menschen eine sol- fungen nicht abgelegt zu haben oder lange vor- che Ausnahmesituation durch? bereitete Pläne nicht realisieren zu können. Das Das Problem ist hier nicht so sehr die Zeitspanne bedeutet, schon jetzt geht es nicht nur darum, an sich, in der wir unter diesen Einschränkungen die aktuelle Unsicherheit und Einschränkung und Bedrohungen leben müssen, sondern die zu bewältigen, sondern mit den Befürchtungen Unvorhersehbarkeit ihres Endes. Unser psychi- darüber umzugehen, wie es nach dem Ende der sches Wohlbefinden hängt entscheidend davon ab, Pandemie mit dem Leben weitergeht. 8
Portal | Spezial 2020 TITEL Es ist das Unerklärliche, das die Angst erzeugt Entwicklungspsychologin Birgit Elsner erklärt, wie Eltern ihren Kindern helfen können, die Ausnahmesituation zu meistern W ✍ ichtig ist, den Kindern die schlechte Stimmung um. Dann ist es wichtig, das Epidemie altersgerecht zu offen anzusprechen. Die Kinder kriegen ja mit, erklären. Wenn ich Dinge dass etwas nicht stimmt, dass das Leben nicht so PROF. DR. BIRGIT ELSNER erklärt bekomme, dann läuft wie gewohnt, dass vielleicht auch die Eltern machen sie mir weniger besorgt sind. Es kommt darauf an, gegenseitig zu Angst. Auch können wir Verbote und Einschrän- verstehen, wo der Grund für die schlechte Stim- kungen besser annehmen, wenn wir den Grund mung liegt. Das ist etwas, woran man gemeinsam dafür kennen. Bereits ab dem Kitaalter, also ab arbeiten und dabei feststellen kann: Ich bin jetzt drei, vier Jahren, haben Kinder ein Grundver- zwar böse, weil mein Kind sich nicht so verhält, ständnis von Gesundheit und Krankheit. Sie wie ich das gerne möchte. Und die Kinder sind haben schon etwas von Keimen und Erregern genervt, weil sie Dinge nicht tun dürfen, die sie gehört und auch eine allgemeine Vorstellung sonst tun. Aber gleichzeitig sind weder die Eltern davon, wie diese wirken. Dass man krank werden noch die Kinder daran schuld. Der Grund für die kann, wenn man etwas isst, wo diese Erreger drin Frustration liegt außerhalb der Familie, das soll- sind. Bei jüngeren Kindern kann man versuchen, te man sich immer wieder bewusst machen. Und das Phänomen der Ansteckung begreifbar zu wenn man in der Familie zusammenhält, kann machen, indem man sich zum Beispiel die Hände man auch gemeinsam schauen, wie sich diese Her- Illustration / Foto: © Töpfer, Andreas (o.); privat (u.) mit Fingerfarbe bestreicht und einer anderen Per- ausforderung meistern lässt. Zum Beispiel, indem son die Hand gibt. Fasst man sich dann noch ins man nicht nur die täglichen Pflichten erfüllt, son- Gesicht, sieht man, dass die Farbe auch zu Mund dern gemeinsam etwas Schönes erlebt, um etwas und Nase kommt und so in den Körper eindrin- Belohnendes zu haben. Vielleicht auch die Kinder gen kann. Solche einfachen Erklärungen zu fin- für sich allein und die Eltern für sich allein. Oder den, hilft vielleicht auch den Eltern sich klar zu mal die Energie rauslassen, gemeinsam aktiv sein, machen, wo die Gefahren entstehen. Dinge tun, für die sonst keine Zeit ist. Man kann Wenn Kinder Angst haben, sollte man nicht anderen etwas Gutes tun, älteren Menschen helfen, darüber hinweggehen und sagen „Es ist alles in oder den Großeltern, die nicht besucht werden dür- Ordnung“. Es ist eben im Moment nicht alles in fen, einen Gruß zuschicken. Wenn wir uns sinnvoll Ordnung! Manche Kinder ziehen sich zurück, beschäftigen, lässt sich aus dieser ungewöhnlichen andere setzen ihre Angst in Frustration und Zeit auch etwas Positives herausziehen. 9
Portal | Spezial 2020 TITEL Recht im Ausnahmezustand Wie sich die Corona-Krise auf die Menschenrechte auswirkt V ✍ iele Länder weltweit haben im Bemühen, die Ausbreitung des Regierungen, auch zum Teil in Europa, durch ihre Parlamente die Befugnis einräumen lassen, MATTHIAS Corona-Virus zu verlangsamen, durch Regierungsdekrete zu handeln und so die ZIMMERMANN drastische Maßnahmen ergriffen. parlamentarische Kontrolle der Regierung einzu- Einige davon, wie Ausgangssper- schränken oder ganz außer Kraft zu setzen. ren, schränkten sogar fundamentale Menschen- rechte ein. Prof. Dr. Andreas Zimmermann, der Derzeit werden etliche Rechte beschränkt, Direktor des Potsdamer MenschenRechtsZent- um ein anderes – das Recht auf Gesund- rums (MRZ), und Prof. Dr. Norman Weiß, der seit heit – zu schützen. Ist das zulässig? vielen Jahren am MRZ tätig ist, sprechen über die Menschenrechte im Ausnahmezustand. Andreas Zimmermann: Gegenwärtig ist die Fra- ge mit Blick auf die Maßnahmen in Deutschland zu bejahen. Die Einschränkungen erfolgen auf Derzeit ist weltweit kaum etwas noch so gesetzlicher Grundlage, dem Infektionsschutzge- wie vor fünf Monaten. Gilt das auch für setz, und dienen dem Schutz der Gesundheit und die Menschenrechte? des Lebens anderer, verfolgen also ein anerkann- Andreas Zimmermann: Menschenrechte, wie sie tes Gemeinwohlziel. Sie sind überdies auch ver- durch das Grundgesetz, aber auch durch völker- hältnismäßig, da die Einschränkungen Ausnah- rechtliche Verträge wie der Europäischen Men- men zulassen und nur befristet gelten. schenrechtskonvention (EMRK) garantiert wer- den, gelten nicht schrankenlos; sie enden dort, wo NORMAN Was halten Sie noch für möglich, wenn die Freiheit des Anderen beginnt. Darüber hinaus Illustration / Foto: © Töpfer, Andreas (o.); Hopfgarten, Tobias (2, u.) WEISS die derzeitige Ausnahmesituation länger sind sie in der Regel und bis auf bestimmte Kern- anhält? garantien wie etwa das Folterverbot beschränkbar, wenn dies aus übergeordneten Gemeinwohlinter- Norman Weiß: Wie erwähnt ist bereits jetzt vieles essen notwendig ist. ohne Abgabe einer Notstandserklärung zulässig. Sollte sich die Lage, wovon eigentlich nicht auszu- gehen sein dürfte, weiter verschärfen, könnte man, Amnesty International warnt, dass „die gegebenenfalls nach Abgabe einer Notstandserklä- Corona-Krise auch eine Gefahr für die rung nach Art. 15 EMRK, an Einschränkungen der Menschenrechte ist“. Stimmt das? Privatsphäre denken, um den Aufenthaltsort von Norman Weiß: Die Gefahr besteht darin, dass Personen etwa über deren Handy zu bestimmen, Regierungen versucht sein können, die Pande- oder an weitergehende Beschränkungen. Grund- miesituation auszunutzen, um Einschränkungen sätzlich möglich wären auch Freiheitsbeschrän- von Grund- und Menschenrechten in Kraft zu kungen infizierter Personen, so wie dies Art. 5 ANDREAS setzen, für die es sonst keine politischen Mehr- EMRK bereits für die „Normallage“, also ohne vor- ZIMMERMANN heiten gäbe. Zudem besteht die Gefahr, dass sich herige Notstanderklärung, ermöglicht. 10
Portal | Spezial 2020 TITEL Den Rechtsstaat bewahren Der Jurist Prof. Dr. Thorsten Ingo Schmidt über Freizügigkeit, das Infektionsschutzgesetz und langfristige Folgen D as Coronavirus bescherte den Bürgerinnen und Bürgern eine beschränkt werden. Dafür bedarf es aber immer einer parlamentsgesetzlichen Grundlage, die der ✍ DR. JANA SCHOLZ lange Liste mit Verboten. Unter Bundestag mit den Änderungen des Infektions- anderem durften sie nur aus schutzgesetzes geschaffen hat. Solche weitrei- „triftigen Gründen“ das Haus chenden Einschränkungen sind stets nur unter verlassen, sich nur noch zu zweit treffen und strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrund- müssen untereinander einen Mindestabstand satzes zulässig und müssen nach Beendigung der einhalten. Prof. Dr. Thorsten Ingo Schmidt ist Gefahr umgehend aufgehoben werden. Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Staatsrecht, Verwaltungs- und Kommunalrecht Der Bund hat den Ländern und Kommu- und erklärt, was es mit den Einschränkungen nen sehr viel Freiheit gelassen, wie sie der Grundrechte auf sich hat – und ob diese hin- mit der Pandemie umgehen. Funktioniert nehmbar sind. das aus Ihrer Sicht gut? Nach anfänglichen Schwierigkeiten scheint dies In diesem Frühjahr haben wir in sehr ganz gut zu funktionieren. Die Länder koordinie- kurzer Zeit große rechtliche Einschnitte ren sich untereinander und tauschen Erfahrun- erlebt. Wie blicken Sie als Jurist auf diese gen aus. Wichtig ist, dass die Länder nicht aus Entwicklungen? rein politischen Gründen in einen gegenseitigen Grundrechte wurden in einem erheblichen Maße Überbietungswettbewerb mit immer schärferen eingeschränkt und binnen kürzester Zeit verwan- Maßnahmen eintreten, wonach es eine Zeitlang delte sich unser Gemeinwesen in einen Hygi- aussah. Im Übrigen wäre es keineswegs ausge- enestaat. Das ist einerseits sehr erschreckend, macht, dass der Bund die Maßnahmen besser andererseits zeigt es aber, dass auch eine Demo- als die verwaltungserfahrenen Länder vollziehen kratie angesichts einer solchen nie dagewesenen könnte. Illustration / Foto: © Töpfer, Andreas (o.); privat (u.) Krise handlungsfähig ist. Jetzt geht es darum, den demokratischen Rechtsstaat in und nach der Kri- Was erwartet uns nach Corona? se zu bewahren. Zwar sieht die beschlossene Neufassung des Infektionsschutzgesetzes bereits Befristungen Auf welcher juristischen Grundlage einzelner Regelungen vor, diese betreffen aber konnten Grundrechte derart beschränkt nur einzelne Entschädigungsklauseln und erwei- werden? terte Kompetenzen für medizinisches Hilfsper- Grundrechte wie die Freizügigkeit gelten nicht sonal. Die zentralen Vorschriften über die Fest- schrankenlos, sondern können zum Schutz stellung einer epidemischen Lage von nationaler anderer Grundrechte, insbesondere der Rech- Tragweite und die dann weiterreichenden Kompe- te auf Leben und körperliche Unversehrtheit, tenzen werden bleiben. 11
Portal | Spezial 2020 TITEL Sport in Corona-Zeiten Der Trainingswissenschaftler Urs Granacher über die richtige Bewegung für jedermann, auch ohne Wettkampf, Fitnessstudio oder Sportunterricht D ✍ ie Maßnahmen zur Eindäm- mung der Corona-Pandemie Einschnitte besonders schmerzhaft sind und wel- ches Training trotzdem möglich ist – für Profis, MATTHIAS haben auch die Sportwelt zum Freizeitsportler und Kinder! ZIMMERMANN Stillstand gebracht. Profiligen wurden unterbrochen, Großver- Die Corona-Pandemie beeinträchtigt anstaltungen abgesagt oder verschoben – sogar Sportler aller Art hart. Sind Profisportler die Olympischen Spiele 2020. Aber auch Frei- dennoch besonders betroffen? Sie dürfen zeitsportler waren lange auf Sport in ihren vier ja nicht einfach pausieren … Wänden beschränkt oder müssen sich mit einer Runde Joggen im Park oder Radfahren begnü- Ein unmittelbarer Abbruch des Trainings wäre gen. Urs Granacher, Professor für Trainings- und problematisch, da dies gesundheitliche Folgen Bewegungswissenschaft, spricht darüber, wo die für Athleten haben kann. Schwankungen in Trai- ningsumfang und -intensität sind jedoch nichts Außergewöhnliches im Laufe eines Trainingsjah- res. Das wird sogar bewusst angestrebt, um die sportliche Leistung über die Zeit zu entwickeln. Gleichzeitig ist ihr Training meist viel aufwendiger. Wie können sie wei- tertrainieren? Über einen Zeitraum von zwei bis drei Wochen kann der Fitness- zustand auch mit geringeren Umfängen, dafür aber mit hohen Trainingsintensitäten erhalten werden. Danach muss die Form wieder neu aufgebaut werden. Haben Trainer für Phasen, wo Illustration: © Töpfer, Andreas Trainingspläne unterbrochen werden müssen, einen Plan in der Schublade oder fangen jetzt alle hek- tisch an umzuplanen? Das Trainingsjahr ist durch unterschiedliche Trai- ningsperioden gekennzeichnet, die in Abhängig- 12
Portal | Spezial 2020 keit von den Wettkämpfen bzw. Saisonhöhepunk- ten ein-, zwei- oder gar dreimal durchlaufen wer- den. Hintergrund ist, dass sportliche Höchstleis- tungen nur über einen kurzen Zeitraum hinweg erbracht werden können. Entsprechend wird das Trainingsjahr in allgemeine und spezifische Vorbe- reitungs-, Wettkampf- und Übergangsperioden ein- geteilt. Während der Übergangsperioden wird ganz bewusst die Form abgebaut, um sie nachfolgend wieder neu zu entwickeln. Für diese Übergangs- perioden haben die Trainer normalerweise Heim- trainingspläne erarbeitet, um eine Minimaldosis an Training zu gewährleisten. Die Trainer sind also gut vorbereitet und sollten nicht in Hektik verfallen. Ist die Sportwissenschaft in der gegen- wärtigen Situation gefragt – und auch in der Lage zu helfen? Von einem Kontaktverbot ist natürlich auch Eine Gruppe, die bei solchen Diskussio- ganz stark die sportwissenschaftliche Forschung nen schnell vergessen wird, sind Kinder. betroffen. Im Leistungs- und Spitzensport führen Ihr Bewegungsdrang braucht jetzt natür- wir sehr häufig feldbasierte Messungen mit Ath- lich ganz besondere Beachtung. Was kön- letengruppen durch, um den zeitlichen Aufwand nen Eltern mit ihren Kindern tun? für Athleten und Trainer möglichst gering zu hal- ten. Das ist derzeit nicht möglich. Gerade für Kinder ist Bewegung ganz wichtig, Aktuell können wir Forschung z.B. über sys- sowohl für die motorische als auch die kogniti- tematische Literaturanalysen realisieren. Dabei ve Entwicklung. Ohne Sportunterricht geht ein werden bereits publizierte Originalarbeiten zu wichtiger Bestandteil der wöchentlichen körperli- einem eingegrenzten Themengebiet ausgewertet chen Aktivitätszeit verloren. Eltern sollten daher – und die Ergebnisse meta-analytisch aggregiert. am besten fest in den Tagesablauf verankert – ein Hierbei sind wir aktuell sehr rege. In Bezug auf Bewegungsprogramm mit ihren Kindern durch- die Covid-19-Situation schauen wir uns die vor- führen. handene Evidenz zu den Wirkungen von heimba- An der Professur für Trainings- und Bewe- siertem Training bei unterschiedlichen Zielgrup- gungswissenschaft der Universität Potsdam haben pen an, um daraus konkrete Ableitungen für das wir ein solches Programm zusammen mit unse- Training zu Hause zu treffen. ren Partnern der AOK Nordost, dem Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Land Brandenburg sowie dem Landessportbund Brandenburg erarbei- Wie halten sich Freizeitsportler angesichts tet. Es handelt sich dabei um das Programm mit der Einschränkungen am besten fit? dem Titel „Henriettas bewegte Schule“. Die Wir- Illustration / Foto: © Töpfer, Andreas (o.); Fritze, Karla (u.) Glücklicherweise haben viele Fitnessstudios auf kungen des Programms wurden in der sogenann- Online-Angebote umgestellt. Darüber hinaus gibt ten SMaRTER-Studie evaluiert. Das Programm Gerade für Kinder es auch frei zugängliche, nach Zielgruppen geord- ist auf Youtube verfügbar und kann einen kleinen nete Online-Angebote. Die Deutsche Gesellschaft Beitrag für mehr Bewegung im Alltag von Kindern ist Bewegung ganz für Sportmedizin (DGSP) liefert hier eine schöne und Eltern in der Corona-Krise leisten. wichtig. Übersicht. Wer gerne selber tätig werden möchte, kann auch ein Krafttraining in den eigenen vier Wän- den durchführen. 10 bis 15 Minuten pro Tag sind bereits effektiv. Übungen mit Kleinmaterialien, wie z.B. Pezzi-Bällen oder Thera-Bändern, oder „Henriettas bewegte Schule“: einfach nur mit der eigenen Körpermasse lassen sich in jedem Wohnzimmer umsetzen. https://www.youtube.com/watch?v=zoy_rCYgWmI 13
Portal | Spezial 2020 TITEL „Wir sollten die Schwächsten am besten schützen“ Wie die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft beeinflusst und wie sie diese verändern sollte ✍ M an könnte meinen, Gesund- heitskrisen wie die Corona- DR. JANA SCHOLZ & Pandemie machten vor MATTHIAS niemandem halt. Doch die ZIMMERMANN existenzielle Bedrohung durch Jobverlust und finanzielle Einbußen, aber auch die Belastungen durch Kinderbetreuung und Einsamkeit trifft manche Menschen sehr viel härter als andere. Prof. Dr. Roland Verwiebe, Professor für Sozialstrukturanalyse und sozia- le Ungleichheit, und der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Fabian Schuppert sprechen über die Auswirkungen für Menschen, die sozial schlech- ter dastehen, und die Frage, was sich aus der Kri- Trifft die Krise also die Schwächsten am se lernen lässt. stärksten? Schuppert: Ja, das ist ein Riesenproblem. Vor Wer ist von der Krise aus gesellschaftli- allem, weil wir es anscheinend nicht gut schaf- cher Perspektive besonders betroffen? fen, die Schwächsten in der Gesellschaft adäquat Verwiebe: Das sind verschiedene Gruppen. Dazu zu schützen. Wir schützen vielleicht die, die am zählen Familien mit Kindern, im Besonderen anfälligsten sind für das Virus, aber nicht jene, Alleinerziehende. Letztere können die Betreu- die durch die damit einhergehende Krise kalt ung von Kindern und gleichzeitiges Arbeiten erwischt werden. Das lässt sich beispielsweise nicht oder nur sehr schwer schaffen. Es trifft an den Maßnahmen erkennen, die auf den Weg aber besonders auch alte Menschen in den Hei- gebracht wurden. Dort hieß es gleich als Erstes: men und zu Hause, die schon jetzt und in den Wir unterstützen die Unternehmen, es gibt Kredi- kommenden Wochen und Monaten wenig oder te bis zum geht nicht mehr. Über wen wurde nicht gar keinen sozialen Kontakt mit ihren Familien gesprochen: Arbeitnehmer, Selbstständige, prekär haben werden. Das ist extrem schwer für diese Beschäftigte. Die hatten keine Priorität. Das ist Menschen, denn die Gesundheit der Hochalt- ein Problem der Solidargemeinschaft. Das gab – Illustration: © Töpfer, Andreas rigen hängt in sehr großem Maße von sozialen zurecht – Gegenwind und zum Glück wurde an Interaktionen ab. Außerdem sind kleine Unter- dieser Stelle nachgebessert. Ob das konkret aber nehmen und Selbstständige durch die Bank weg ausreichen wird, muss man sehen. Da bin ich ehr- in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht. Aber lich gesagt eher skeptisch. Vielen, die nicht sicht- auch größere Unternehmen werden schnell in bar sind, wird nicht im gleichen Maße geholfen. Schieflage geraten können, weil Lieferketten und Wie bei der Finanzkrise 2008. Daraus zu lernen, Absatzmärkte zusammenbrechen. es besser zu machen, muss unser Anspruch sein. 14
Portal | Spezial 2020 Wie geht es jetzt weiter? zester Zeit Millionen Menschen arbeitslos wur- Verwiebe: Die Situation der sozial Schwachen den. Gleichzeitig wurden in dieser Phase auch wird sich ggf. weiter verschlechtern, denken Sie sehr viele Lebensbereiche völlig neu organisiert. an Obdachlose, Hartz-IV-Empfänger, Geflüchtete Dies betraf die Verwaltung, den öffentlichen Nah- usw. Besonders problematisch finde ich die Situ- verkehr, die Frage, was Menschen wie konsumie- ation der berufstätigen Alleinerziehenden. Der ren, bis hin zu dem Verhältnis der Generationen Wegfall der Schulen und Kinderbetreuung trifft untereinander und wie Familien in Krisenzeiten diese sehr hart. Diese Gruppe sollte man speziell funktionieren können und müssen. All das fin- unterstützen – finanziell und sozial, durch Sozial- den wir aktuell wieder. Vielleicht hilft es Deutsch- arbeiterinnen und -arbeiter, aber auch Nachbarn, land auch, dass wir den Transformationsschock Freunde und Bekannte können helfen. Der Staat der 1990er Jahre noch erinnern können. Momen- ROLAND kann nicht alles leisten. Die Menschen sind in der tan wird zum Beispiel viel massiver die Wirtschaft VERWIEBE aktuellen Situation auch aufgefordert, sich gegen- unterstützt, als das damals der Fall war. Aber der seitig zu unterstützen. Auslöser ist natürlich ein ganz anderer – jetzt ist es eine globale Gesundheitskrise und damals war es der Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Was ließe sich besser machen? Schuppert: Es gilt dafür zu sorgen, dass die Mit- Werden die Krise und ihre Folgen tel bei denen ankommen, die sie unbedingt brau- Ungleichheiten verstärken oder sehen Sie chen. Jetzt allen Unternehmen Steuervorauszah- auch Chancen auf positive Veränderungen? lungen zu stunden, bringt nichts. Es stehen nicht alle Unternehmen ohne Rücklagen da; gleichzeitig Schuppert: Der Optimist in mir würde gern sagen, gibt es unglaublich viele kleine und mittelständi- dass diese Krise auch dazu führt, dass sich etwas sche Unternehmen, denen es richtig dreckig geht. ändert. Aber ich glaube es nicht. Die Chance, dass FABIAN Da müssen wir einen Weg finden gegenzusteu- sich etwas ändert, war meines Erachtens bei der SCHUPPERT ern. Und das ist eine Frage des politischen Wil- Finanzkrise größer. Damals konnte alle Welt sehen, lens, nicht der Machbarkeit. Es ist nicht so, dass wie schädlich die Sparpolitik der Austerität war, wir da keinerlei Mittel haben. Zumindest kurzzei- wie katastrophal der Umgang der Europäischen tig könnte man Menschen, die es brauchen, eine Union mit den südeuropäischen Staaten wie Grie- Grundsicherung bereitstellen – also ihnen unbü- chenland und Spanien. Wenn das kein Umdenken rokratisch helfen und sie auffangen. Man muss erreicht hat, kann ich mir kaum vorstellen, dass die die Menschen sehen, die hinter den Unterneh- derzeitige Krise viel ändert. Außerdem wird, je län- men stehen. Diesen ist der Staat verpflichtet! ger die Pandemie dauert, der Fokus nicht auf den Ungleichheiten liegen, die mit Krise und bestehen- Verwiebe: Die aktuelle Krise erinnert mich per- Illustration / Foto: © Töpfer, Andreas (u.); Hopfgarten, Tobias (M.); Neutzer, Kaya (o.) den Ungleichheiten zusammenhängen, sondern sönlich an die Zeit kurz vor und nach der Wie- eher auf den Kranken und dervereinigung, in der in Ostdeutschland und in der wirtschaftlichen den osteuropäischen Staaten innerhalb kür- Gesamtlage. 15
Portal | Spezial 2020 TITEL „Mich begeistert die Offenheit, mit der digitale Medien ausprobiert werden“ Informatikerin Ulrike Lucke über die Möglichkeiten des E-Learning S ✍ eit Mitte März sind Bildungseinrich- tungen geschlossen, Schüler und oder den Buchwissenschaften – schon seit Jahren ganz selbstverständlich digitale Datenformate MATTHIAS Studierende zu Hause. Quasi über und Werkzeuge an. Der bislang fehlende Mut, ZIMMERMANN Nacht muss jetzt funktionieren, was diese Methoden auch auf die Lehre zu übertragen, vielerorts erst in den Kinderschuhen scheint nun zu wachsen. steckt: digitales Lernen. Ulrike Lucke ist Profes- sorin für Komplexe Multimediale Anwendungsar- Was klappt noch nicht so gut? chitekturen und seit Jahren im E-Learning enga- giert. Sie spricht über Versäumnisse der Vergan- Mich erschreckt ein wenig der bei vielen Arbeits- genheit, Herausforderungen der Gegenwart und gruppen reflexhafte Griff in die eigene Kasse, um Chancen für die Zukunft. eigene Online-Plattformen aufzubauen. Nicht nur fehlen diese Mittel später in der Gruppe und für den Aufbau leistungsfähiger zentraler Diens- Seit Wochen lernen Schüler, aber auch te, es wird auch wertvolle Techniker-Kapazität Studierende von zu Hause. Soweit Sie unnötig gebunden. Viel schwerer haben es man- das selbst vom Homeoffice aus beurteilen che Schulen, in denen es bislang keine Online- können: Funktioniert die Totalumstellung Angebote gab. Wenn da von oben nichts kommt auf digitales und Online-Lernen? und die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer auf Wie jede radikale Veränderung birgt auch die sich gestellt sind, wird es schwer. derzeit in aller Eile erfolgende Umstellung auf mediengestützte Lehre ihre Tücken. Ich beob- Wie unterscheidet sich das E-Learning achte viele spannende Ideen und Entwicklungen, von herkömmlichen Lernmethoden, und schüttle aber auch bisweilen den Kopf, wenn ver- welche Herausforderungen kommen meidbare Fehler begangen werden. dabei auf die Lehrkräfte zu? Zunächst einmal fallen die andersartigen Ressour- Was überrascht sie an der zwangsweise cen auf, die zum Einsatz kommen: Hardware und spontanen E-Learning-Wende positiv? Foto: © Kaczynski, Ernst Software. Auch Zeit ist eine Ressource, die schnell Mich begeistert die Offenheit, mit der ringsum aus dem Blick gerät. Im Klassenraum ist alles ein- digitale Medien ausprobiert werden; ob in der gespielt: Es gibt einen Stundenplan, der uns sagt, Schule oder an der Uni, für das Lernen oder die wann wir wo sein sollen. Eine Schulklingel, die uns Arbeit. In der Forschung wenden wir – mit weni- ermahnt, falls wir in Verzug kommen. Und ein gen Ausnahmen in den experimentellen Fächern breites Materiallager im Klassenraum für all die 16
Portal | Spezial 2020 dort zu erledigenden Aufgaben. So gut ausgestat- Rechenaufgaben zu lösen. Mit der Vereinfachung tet sind wir in der heimischen Arbeitsumgebung von Werkzeugen zur Medienproduktion kamen nicht. Wir sitzen allein vor dem Rechner, schnell zunehmend auch gestalterische Aufgaben hinzu, stellt sich ein Gefühl von Alleinsein ein, wir ver- die höhere Kompetenzlevel abdecken. Ein Schwer- missen Hilfe und Zuversicht. Das begünstigt punkt liegt derzeit auf der mediengestützten Leis- Motivationsprobleme und somit Leistungsabfall. tungserfassung, dem sogenannten E-Assessment. Im Online-Lernen Es erfordert von den Lehrkräften eine genaue- Bei all diesen Entwicklungen ist immer wieder müssen soziale re Planung; sie müssen das Geschehen vorweg die Herausforderung, die große Erfahrung und Komponenten ahnen, können kaum improvisieren. Im Online- das unbewusste Handeln von Lehrkräften digi- Lernen fehlen soziale Komponenten zunächst, das tal abzubilden. Schwierig ist z.B., eine gerechte bewusst nachgebildet heißt, sie müssen bewusst nachgebildet werden. und dennoch motivierende Notenvergabe unter werden. Berücksichtigung individueller Besonderheiten. Der Computer ist hier akkurat, aber gnadenlos – Ist die Krise für die Entwicklung des er drückt kein Auge zu. E-Learning ein echter Beschleuniger? Ich gehe fest davon aus, dass wir nach der Pande- Wo gibt es noch am meisten zu tun? mie wieder mit neuer Freude in Präsenz mitein- ander lehren und lernen werden. Doch bis dahin Ich möchte drei Handlungsfelder herausgreifen. werden wir – und viele von uns zum ersten Mal Für Studierende ist das Gebot der Stunde, nicht so intensiv – Erfahrungen mit digitalen Medien nur eine taugliche Arbeitsumgebung, sondern sammeln können. Darauf können wir aufbauen, auch ein realistisches Bild der eigenen Digital- um künftig noch gezielter unsere Lehr- und Lern- kompetenz aufzubauen; hier begegnet mir noch prozesse mit digitalen Medien zu unterstützen. allzu oft eine deutliche Selbstüberschätzung. Für Denn Digitalisierung kann nicht das Ziel, sondern die Lehrerbildung ist es nun dringend geboten, bestenfalls ein Mittel sein. Digitale Medien sind bei Medienbildung systematisch im Studium und in Weitem nicht der einzig wahre Weg zu guter Lehre. der Weiterbildung zu verankern; hier können wir Illustration: © Töpfer, Andreas uns keinen weiteren Verzug leisten. Und nicht zuletzt wünsche ich mir ein gestiegenes Bewusst- Welche Bildungstechnologien bestehen sein in der Politik dafür, dass E-Learning kein bereits? An welchen wird geforscht? Mittel ist, um Investitionen in die Bildung einzu- Es gibt seit Jahrzehnten interaktive Lernsysteme. sparen, sondern vielmehr ein Mittel, um – richtig Anfangs lagen die Schwerpunkte auf der Abfra- umgesetzt – die Qualität von Bildung zu erhöhen. ge von Wissen, z.B. um Vokabeln zu lernen oder Und das kostet. 17
Portal | Spezial 2020 TITEL Ein Test der Wandlungsfähigkeit Der Wirtschaftsinformatiker Norbert Gronau über die Digitalisierung im Schnelldurchlauf S ✍ eit Mitte März war das öffentliche Leben, aber auch die wirtschaftli- Arbeitsmittel sind, keine Probleme mit der Band- breite. MATTHIAS che Tätigkeit in Deutschland stark ZIMMERMANN eingeschränkt. Was jetzt nicht digi- Wo sehen Sie am meisten Nachholbe- tal und online funktionierte, stand darf? still. Norbert Gronau ist spezialisiert auf Prozesse und Systeme, vor allem im Bereich Industrie 4.0. Wir sind als Wirtschaftsinformatik-Lehrstuhl sehr Der Professor für Wirtschaftsinformatik erklärt, gut aufgestellt, was unsere Online-Werkzeuge für wo die Wirtschaftswelt im Sog der Corona-Krise die verteilte Zusammenarbeit betrifft. Jetzt zeigt zwangsdigitalisiert wurde und wo sie wohltuend sich auch, dass veraltete Papierabläufe, z.B. mit analog bleiben sollte. mehreren Originalunterschriften, überhaupt nicht mehr funktionieren. Lösungen dafür gibt es seit 15 Jahren für Organisationen aller Größen, aber Ist die Corona-Krise ein schmerzhafter bisher war bei einigen Verantwortlichen die Ein- Schnelltest dafür, wie digital die Welt stellung dazu eher negativ. Hier muss – um die (schon) ist? Abläufe später dauerhaft zu verbessern – dringend Ja. Auch wenn es eine gewisse Anlaufphase gab, in Abhilfe geschaffen werden. Dazu gehört auch das der die persönlichen Kontaktmöglichkeiten lang- kleine Einmaleins der IT-Sicherheit. Wer z.B. weiß, sam eingeschränkt wurden. So fällt jetzt gnaden- dass die Absenderadressen von E-Mails beliebig los auf, wer problemlos auf Homeoffice umstei- gefälscht werden können, beharrt nicht darauf. Fax gen kann und wer nicht. Leider gibt es nach wie ist übrigens relativ sicher, E-Mail über VPN mit vor Organisationen, die ihren Mitarbeitern bisher Verschlüsselung auch, wie mein Lehrstuhl es seit die Möglichkeit, zu Hause zu arbeiten, nur ein- vielen Jahren mit HCL Domino praktiziert. geschränkt zur Verfügung gestellt haben. Auch Illustration / Foto: © Töpfer, Andreas (o.); Fritze, Karla (u.) haben, z.B. im öffentlichen Sektor, überhaupt Lässt sich schon sagen, welche Wirt- nicht alle Mitarbeiter der Verwaltung ein Note- schaftsbereiche, die nicht wie die Veran- book. staltungsbranche und die Gastronomie auf Publikumsverkehr angewiesen sind, Was klappt gut? in Sachen Digitalisierung gut aufgestellt sind – und welche nicht? Die Infrastrukturen funktionieren nach wie vor bestens, sei es Strom, Gas oder Wasser, aber auch Zellstoffwerke, wäre meine spontane Antwort. Post und Telekommunikation. Meine Zeitungen Spaß beiseite, alle Anbieter digitaler Lösungen liegen jeden Morgen im Briefkasten und mein profitieren jetzt, teilweise sehr stark. Unterneh- Bäcker hat auch geöffnet – wenngleich ohne men, die auf physisches Zusammentreffen von Café. Zum Glück haben wir auch in den meisten Menschen angewiesen sind, verlieren gegenwär- Videokonferenzen, die jetzt das vorherrschende tig fast alles. 18
Portal | Spezial 2020 Plötzlich gibt es massenhaft Telefonkon- ferenzen statt Manager, die in Jets um die Welt düsen, Mails statt Geschäftses- sen, Mobile Office statt Großraumbüros, Heimarbeit statt Millionen von Pend- lern – offenbart die Krise, was die Wirt- schaft eigentlich gar nicht braucht? Unsere Forschung hat gezeigt, dass Wissensaus- tausch sehr oft über Sozialisierung erfolgt. Das kann am Wasserspender oder an der Kaffeema- schine erfolgen, aber nicht über Videokonferen- zen. Zudem leiden alle kreativen und wissensin- tensiven Prozesse sehr stark. Diese sind nicht voll- ständig durch Online-Meetings ersetzbar. Zudem vermisse ich die Reisezeit zwischen Terminen, um ein wenig „die Batterien wieder aufzuladen“. Im Home Office folgt eine Videokonferenz der anderen, ohne Pause zum Luftholen. Diese Pau- sen sind aber unbedingt notwendig! Überall werden jetzt fieberhaft digita- le Prozesse geschaffen, um die Wirt- schaftstätigkeit aufrechterhalten zu kön- nen. Wird die Krise auf diese Weise zum Starthelfer der Digitalisierung? Ja, das kann man genau so sehen. Überall wird jetzt überprüft, wo auf bisherige analoge Abläufe verzichtet werden kann. Was kann die Forschung in dieser Situati- on beitragen? Wir forschen sehr intensiv daran, wie wir die Wei- terbildung jetzt noch individueller machen kön- nen, wie wir Bedarfe besser erkennen, die Lern- zielorientierung erhöhen und das Lernen zuhau- se noch prozessnäher machen können. In welchen Bereichen wird die Corona- Pandemie unsere Wirtschaft dauerhaft verändern? Die gegenwärtige Krise ist ein Test dafür, wie Illustration: © Töpfer, Andreas wandlungsfähig unsere Organisationen und Unternehmen sind. Diejenigen, die sich selbst schnell und effizient anpassen können, werden gestärkt aus dieser Pandemie hervorgehen. Ande- re Akteure, die sich darauf verlassen haben, dass bisher immer alles gut gegangen sei, werden möglicherweise vom Markt verschwinden. 19
Portal | Spezial 2020 TITEL Auf einmal digital Warum Deutschland seine Verwaltung jetzt neu erfindet D Die Corona-Pandemie hat das wirtschaft- ✍ ie Corona-Pandemie hat von einem Tag auf den anderen das liche und öffentliche Leben Europas zu großen Teilen zum Erliegen gebracht. MATTHIAS öffentliche Leben in einen Dorn- ZIMMERMANN Auch die Verwaltung? röschenschlaf versetzt. Dabei muss – hinter den Kulissen – Ich denke, in einigen Bereichen kann sie flexibel eigentlich sogar noch viel mehr funktionieren agieren und ins Homeoffice wechseln. Aber das als bislang. In der Verwaltung etwa. Damit die hat Grenzen. Zum einen fehlt es an der techni- auch hier geltenden Hygienevorschriften und schen Ausrüstung. Andere Aufgaben können von Abstandsregeln eingehalten werden können, ver- den Verwaltungsmitarbeitern gar nicht im Home- suchen sich Verwaltungs- und andere staatliche office erledigt werden, auch rechtlich. Da gibt es Behörden im digitalen Kaltstart. Die Verwaltungs- Barrieren, die in den vergangenen Jahren nicht wissenschaftlerin Prof. Dr. Sabine Kuhlmann abgebaut wurden, und nun ist man darauf nicht spricht darüber, wie gut Deutschland auf diese vorbereitet. Digitalisierung im Schnelldurchlauf vorbereitet ist – und ob sie gelingt. Alle Welt versucht derzeit, so viele Arbeitsprozesse wie möglich zu digita- lisieren und ins Internet zu verlagern. Trifft das auch auf die Verwaltung zu? Man bemüht sich tatsächlich – an vielen Stellen, nicht zuletzt in der Verwaltung der Universität Potsdam. Es ist absolut erstaunlich, wie pragma- tisch und flexibel die Verwaltung plötzlich in der Krise mit digitalen Lösungen umgeht, auch sol- chen, die vor der Corona-Zeit als nicht möglich und nicht rechtsfest galten. Jetzt nimmt man sich diese Flexibilität, wohl wissend, dass sonst vieles zusammenbricht. Das sollte uns zu denken geben. Wir sollten es als Gelegenheitsfenster betrachten und nach dem Ende der Krise zurückschauen und Illustration: © Töpfer, Andreas die Rahmenbedingungen ändern – weil es geht! Wie gut arbeiten die deutschen Verwal- tungen im Ausnahmezustand? Ich habe nicht den Eindruck, dass alles chaotisch läuft. Natürlich gibt es Bereiche, die überlastet 20
Portal | Spezial 2020 sind. Gesundheitsämter, Jobcenter, Wirtschafts- förderung. Aber es ist auch gut, zu sehen, wo es Bedarfe gibt und wo wir was vorhalten müssen, etwa in der Pflege, im Risiko- und Katastrophen- management, in bestimmten Präventionsberei- chen. Langfristig sollten daraus entsprechende Lehren gezogen werden. Wo sehen Sie bei der Digitalisierung Nachholbedarf? Zum einen müssen wir dort anfangen, wo Verwal- tung Millionen von Bürger erreicht: Bürgeräm- ter, Standesamtswesen, Kindergeld, Elterngeld, Bafög, Kfz-Stellen, Baugenehmigungen, Jobcen- ter usw. Dort sollte es eine medienbruchfreie Abwicklung geben. Das Onlinezugangsgesetz (OZG) schreibt ja schon bis Ende 2022 die Digita- lisierung der 575 wichtigsten Verwaltungsleistun- gen vor. Die Frage ist, ob das bis dahin zu schaffen ist. Zum anderen muss sich dort etwas tun, wo Verwaltung intern kommuniziert, etwa in Sachen Datenaustausch. immer angemessen ist, mag man hinterfragen, da auch das dezentrale Management gar nicht Was hat Sie positiv überrascht? so schlecht funktioniert. Aber die Frage der Auf- Das flexible Handeln und die Kreativität, aber gabenverteilung zwischen Ebenen und Verwal- auch der Mut, wenn es darum ging, Probleme tungsbereichen, gerade in Krisenzeiten und im zu lösen – auch unter Nutzung von Grauzonen Zusammenhang mit der Digitalisierung, wird an Es ist erstaunlich, des Rechts. Das zeigt, dass in den Verwaltungen Bedeutung gewinnen. wie pragmatisch die durchaus kreative Köpfe sitzen, die keineswegs Verwaltung in der behäbig sind, sondern Lösungen finden wollen. Kann die Verwaltungswissenschaft dabei Krise mit digitalen helfen, diese Veränderungen aktiv zu Lösungen umgeht. Wie steht Deutschland in Sachen digitaler begleiten? Verwaltung im weltweiten Vergleich da? Man sieht derzeit täglich, wie wichtig die Wis- Die Ausgangslage ist eher schlecht. Das zeigen senschaft ist. „Die Virologen regieren“, hieß es die Indizes, in denen sich Deutschland im letz- im Spiegel. Das wird auch in anderen Diszipli- ten Drittel wiederfindet. Immerhin ging es im nen eine Rolle spielen. Im Zusammenhang mit vergangenen Jahr leicht aufwärts. Doch leider der Lockdown-Problematik sind zunehmend hat sich gleichzeitig der Abstand zu den anderen Sozialpsychologen, Pädagogen, Juristen zu Wort Illustration / Foto: © Töpfer, Andreas (o.); Fritze, Karla (u.) europäischen Ländern vergrößert. Das bedeutet: gekommen. In der Verwaltungswissenschaft gibt Deutschland kommt voran, aber die anderen sind es inzwischen internationale Initiativen, die sich noch schneller. mit dem Krisenmanagement in verschiedenen Ländern befassen und welche Lehren man für die Zukunft – auch im Ländervergleich – daraus zie- Wird die Krise auch das Arbeiten der Ver- hen kann. Da geht es um Fragen der Kompetenz- waltung nachhaltig verändern? verteilung, der Maßnahmenauswahl in der Krise, Ja, ich bin mir recht sicher, dass es in vielen Berei- der Kapazitäten und Resilienz von Verwaltungen, chen Verschiebungen geben wird. Wie sehr, wird der Wissensnutzung bei Politikentscheidungen, sich erst noch zeigen. Es gibt schon jetzt einen aber auch um die Rolle von Medien. Ich denke, Ruf nach Zentralisierung, etwa im Katastro- dass wir dazu beitragen können, die Evidenzba- phenmanagement und Gesundheitsschutz; siehe sis von Politik- und Verwaltungsentscheidungen Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Ob das gerade in Krisenzeiten zu verbessern. 21
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