WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor
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Impressum Herausgeber WeltRisikoBericht 2022 Bündnis Entwicklung Hilft Ruhr-Universität Bochum – Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) Konzeption, Redaktion und Gestaltung Peter Mucke, Bündnis Entwicklung Hilft, Projektleitung Dr. Katrin Radtke, IFHV, wissenschaftliche Leitung Lotte Kirch, Bündnis Entwicklung Hilft, Redaktionsleitung Noémie Hamilius, Media Company, Redaktion Lars Jeschonnek, Media Company, Redaktion Naldo Gruden, Media Company, grafische Gestaltung und Infografik Autor:innen Impressum Franziska Atwii, Welthungerhilfe Dr. Kristin Bergtora Sandvik, PRIO, Universität Oslo Lotte Kirch, Bündnis Entwicklung Hilft Dr. Beáta Paragi, Corvinus-Universität Budapest Dr. Katrin Radtke, IFHV Sören Schneider, IFHV Daniel Weller, IFHV Unter Mitarbeit von Julia Burakowski, Welthungerhilfe Lennart Bade, Bündnis Entwicklung Hilft Ami Carstensen, Bündnis Entwicklung Hilft Kristin Garling, Bündnis Entwicklung Hilft Paul Scherer, Christoffel-Blindenmission Dominik Semet, Welthungerhilfe Jan-Hinnerk Voss, terre des hommes Übersetzung Lisa Cohen, IFHV Druck Spree Druck Berlin, gedruckt auf 100 Prozent Recycling-Papier, CO2-kompensiert ISBN 978-3-946785-13-2 Der WeltRisikoBericht wird seit 2011 jährlich vom Bündnis Entwicklung Hilft publiziert. Verantwortlich: Peter Mucke
Vorwort Der bewaffnete Konflikt in der Ukraine prägt neue Modell des WeltRisikoIndex einen wichti- das Jahr 2022 wie keine andere Krise. Millio- gen Baustein für die langfristige Analyse gegen- nen Menschen verloren ihr Leben oder sind auf wärtiger Katastrophenrisiken bereit. der Flucht. Die langfristigen Folgen des Kon- fliktes für das internationale System weit über Wie jedes Jahr wird der WeltRisikoIndex die Ukraine hinaus sind gravierend; überall auf durch ein Fokusthema ergänzt. Dieses Jahr be- der Welt leiden Menschen unter explodieren- schäftigen wir uns mit der Digitalisierung. Die den Nahrungsmittel- und Energiepreisen. Vor Autor:innen analysieren auf der Basis qualita- allem in den Ländern am Horn von Afrika über- tiver Forschung die große Bedeutung digitaler lagern sich derzeit multiple Krisen zu einem Lösungen für die Katastrophenrisikoreduzie- toxischen Gemisch, das vor allem die Ärmsten rung und die vorausschauende humanitäre und Verletzlichsten existenziell bedroht. Vier Hilfe, etwa im Rahmen der Frühwarnung, bei ausbleibende Regenzeiten führten zu einer der Verarbeitung komplexer Datensätze zur verheerenden Dürre und der Dezimierung des Bedarfsermittlung und der Übermittlung von Viehbestands um bis zu 70 Prozent. Viele Fa- „Cash Transfers“. Sie machen aber auch deut- milien verloren so ihre einzige Einnahmequelle lich, dass mit der Digitalisierung viele noch und konnten es sich nicht mehr leisten, auf den ungelöste Probleme einhergehen, auf die Ant- Märkten Lebensmittel zu kaufen, zumal diese worten gefunden werden müssen. Aus der Per- infolge der Corona-Pandemie ohnehin knapper spektive von Wissenschaft und Praxis erarbei- und damit teurer geworden sind. Der Zusam- tet der Bericht Forderungen an die nationale menbruch der Landwirtschaft in der Ukraine, und internationale Politik für eine nachhaltige die als die „Kornkammer der Welt“ gilt, setzt und sozial gerechte Digitalisierung. diesen Trend nun fort. Inzwischen hungern in Ostafrika rund 17 Millionen Menschen. Die Komplexität und Überlagerung von Kri- sensituationen, wie wir sie in den vergangenen Jahren beobachten können, haben auch Aus- Wolf-Christian Ramm wirkungen auf die Art und Weise, wie wir Ka- Vorstandsvorsitzender tastrophenrisiken berechnen. Auch deshalb ha- Bündnis Entwicklung Hilft ben wir uns dazu entschlossen, das Konzept des WeltRisikoIndex grundlegend zu überarbeiten. Dieses Jahr ist es nun so weit: mit dem Welt- RisikoIndex 2022 stellen wir ein präziseres, dif- ferenzierteres und transparenteres Modell vor, das eine höhere Flexibilität bei der Integration Prof. Dr. Pierre Thielbörger neuer Faktoren ermöglicht. Damit stellt das Geschäftsführender Direktor IFHV Bündnis Entwicklung Hilft bildet sich aus den Hilfswerken Brot für Das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völker die Welt, Christoffel-Blindenmission, DAHW, Kindernothilfe, medico recht der Ruhr-Universität Bochum ist eine der führenden Einrichtungen international, Misereor, Plan International, terre des hommes und in Europa in der Forschung und Lehre zu humanitären Krisen. Aufbauend Welthungerhilfe sowie den assoziierten Mitgliedern German Doctors auf einer langen Tradition der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Oxfam. In Katastrophen- und Krisengebieten leisten die Bündnis mit humanitärem Völkerrecht und den Menschenrechten verbindet das Mitglieder sowohl akute Nothilfe als auch langfristige Unterstützung, um Institut heute interdisziplinäre Forschung aus den Fachrichtungen der Not nachhaltig zu überwinden und neuen Krisen vorzubeugen. Rechts-, Sozial-, Geo- und Gesundheitswissenschaft.
Weiterführende Informationen Wissenschaftliche Angaben zur Methodik und Tabellen sowie weitere Materialien sind unter www.WeltRisikoBericht.de eingestellt. Dort stehen auch die Berichte 2011 bis 2021 zum Download zur Verfügung. Ein interaktiver Reader zu den WeltRisikoBerichten, der auch für den Einsatz im Schulunterricht geeignet ist, ist unter www.WeltRisikoBericht.de/#epaper abrufbar. „Katastrophen weltweit“ Unterrichtsimpulse für die Sekundarstufen I und II “ – Die vorherrschende Sicht des Globalen Nordens auf die Länder des Globalen Südens ist oftmals von Katastrophen und Konflikten geprägt. Aktuelle humanitäre Krisen wie Hunger, Erdbeben und Überschwemmungen sind daher Themen, an die schulischer Unterricht anknüpfen sollte. Das Unterrichtsmaterial auf Basis des WeltRisikoBerichts bietet eine Grundlage, den Zusammenhang zwischen extremen Naturereignissen und gesellschaftlichen Faktoren wie wirtschaftlicher Stabilität, Gesundheitsversorgung und guter Regierungsführung zu vermitteln. Das Unterrichtsmaterial setzt sich zusammen aus einer Aufgabenübersicht für Lehrer:innen und interaktiven Arbeitsblättern für Schüler:innen rund um das Themenfeld Katastrophenrisiken mit vielen weiterführenden Informationen. Es richtet sich an Schüler:innen der Sekundarstufe 1 und 2 und ist zur Nutzung im Präsenz-, Hybrid- und Fernunterricht geeignet. Das Online-PDF des Unterrichtsmaterials steht zum Download bereit: www.WeltRisikoBericht.de/#unterrichtsmaterialien WorldRiskReport Der englischsprachige WorldRiskReport ist unter www.WorldRiskReport.org verfügbar.
Inhalt Zentrale Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1. Digitalisierung und Katastrophenmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Lotte Kirch 2. Fokus: Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1 Trends der Digitalisierung in der Katastrophenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Franziska Atwii 2.2 Digitale Risiken in Katastrophensituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Beáta Paragi, Kristin Bergtora Sandvik 2.3 Der Digital Divide im Katastrophenkontext: Herausforderungen und Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Sören Schneider 3. Der WeltRisikoIndex 2022 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Daniel Weller 4. Anforderungen und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Bündnis Entwicklung Hilft, IFHV Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Abbildung 1: WeltRisikoIndex 2022 Zentrale Ergebnisse WeltRisikoIndex 2022 + Deutschland bewegt sich in der Gesamtwer- tung im globalen Mittelfeld und belegt mit Der WeltRisikoIndex 2022 bewertet das Katastro- einem Wert von 3,92 Rang 101 im WeltRisiko- phenrisiko für 193 Länder. Damit sind alle Mit- Index. Infolge der Neukonzipierung des Welt- gliedsstaaten der Vereinten Nationen und über RisikoIndex liegt Deutschland 2022 also nicht 99 Prozent der Weltbevölkerung erfasst. Der Welt- mehr wie in der Vergangenheit in der niedrigs- RisikoIndex wird auch in Zukunft stetig erweitert ten Risikoklasse. und aktualisiert. + Die Beispiele Südkorea, Italien und Griechen- + Die Länder mit dem höchsten Katastrophen- land verdeutlichen den Grundsatz, dass sich risiko weltweit sind die Philippinen (WRI 46,82), durch eine geringe oder sehr geringe Vulne- Indien (WRI 42,31) und Indonesien (WRI 41,46). rabilität das Katastrophenrisiko auch bei sehr hoher Exposition reduzieren lässt. Auf der an- + Neun der 15 Länder mit dem höchsten Katastro- deren Seite zeigen die Beispiele DR Kongo, phenrisiko gehören zu den 15 bevölkerungs- Nigeria, Sudan und Irak, dass eine sehr hohe reichsten Ländern der Welt. Vulnerabilität selbst bei mittlerer Exposition zu einem hohen Katastrophenrisiko führen kann. + Viele Inselstaaten liegen aufgrund der Neube- rechnung des WeltRisikoIndex in diesem Jahr + Amerika ist der Kontinent mit dem höchsten nicht mehr an der Spitze des Risikorankings, Katastrophenrisiko. Auf dem zweiten Platz unter anderem weil nun sowohl absolute als steht Asien, gefolgt von Afrika und dicht dahin- auch prozentuale Zahlen der gefährdeten Be- ter Ozeanien. Europa hat das mit Abstand nied- völkerung in die Berechnung mit einfließen. rigste Risiko im globalen Vergleich. Dadurch wird eine Verzerrung durch die Bevöl- kerungsgröße vermieden. + Der Kontinent mit der insgesamt höchsten Vul- nerabilität ist Afrika. 13 der 15 vulnerabelsten + Die höchste Exposition hat China, gefolgt von Länder der Welt liegen dort. Mexiko und Japan. Das vulnerabelste Land der Welt ist Somalia, gefolgt vom Tschad und Südsudan.
Fokus: Digitalisierung Rang Land Risiko Abbildung 2: 1. Philippinen 46,82 Auszug aus dem WeltRisikoIndex 2022 + Die Digitalisierung hat die Katastrophenvorsor- 2. Indien 42,31 ge und -bewältigung maßgeblich verändert. In- 3. Indonesien 41,46 formations- und Kommunikationstechnologien 4. Kolumbien 38,37 (IKT) werden in allen Phasen des Katastrophen- 5. Mexiko 37,55 managements zum Wissenserwerb, zur Infor- 6. Myanmar 35,49 mationsverbreitung, Kommunikation, sowie 7. Mosambik 34,37 Steuerung genutzt. Beispiele sind die Nutzung 8. China 28,70 globaler Datenbanken zur Risikoanalyse, digita- 9. Bangladesch 27,90 le Frühwarnsysteme, Anwendungen zur Scha- 10. Pakistan 26,75 denserfassung oder die Kommunikation mit 11. Russische Föderation 26,54 Betroffenen über Social-Media-Plattformen. 12. Vietnam 25,85 13. Peru 25,41 + Voraussetzungen für die Anwendung von IKT im Katastrophenkontext sind der Zugang zu 14. Somalia 25,07 einer IKT-Infrastruktur, digitale Kompetenzen, 15. Jemen 24,26 ... ... einheitliche Richtlinien hinsichtlich Daten- 101. Deutschland 3,92 schutz und Rechenschaftspflicht insbesondere ... ... in Zusammenarbeit mit Tech-Unternehmen, die 179. Malediven 1,02 Bereitstellung frei zugänglicher Daten und an- 180. Nauru 1,00 passbarer digitaler Anwendungen, sowie eine 180. Slowakei 1,00 Ausrichtung auf die Bedarfe der Betroffenen, 180. Tschechische Republik 1,00 denen die Anwendungen dienen sollen. 183. Ungarn 0,97 + Digitale Risiken, die im Zuge der Digitalisierung 184. Bahrain 0,95 des Katastrophenmanagements entstehen, 185. Malta 0,94 sind vielfältig. Sie können in Verbindung mit 186. Belarus 0,83 dem Design, der Nutzung und dem regulato- 187. Singapur 0,81 rischen Umfeld von Technologien entstehen. 188. Liechtenstein 0,79 Entscheidend ist bei den Risiken das Zusam- 189. Luxemburg 0,52 menspiel zwischen Technologie, Politik und 190. São Tomé and Príncipe 0,48 menschlichem Faktor. Während einige Risi- 191. San Marino 0,38 ken in der Technologie selbst liegen, wie die 192. Andorra 0,26 Anfälligkeit digitaler Infrastruktur gegenüber 192. Monaco 0,26 extremen Naturereignissen, entstehen ande- re Risiken erst durch den Faktor Mensch, wie etwa Datenmissbrauch oder Desinformation. Alle diese Risiken können die Nutzung und + Mit der rapiden Digitalisierung des Katas- Wirksamkeit digitaler Anwendungen im Katast- trophenmanagements entstehen zwangs- rophenmanagement erheblich beeinträchtigen. läufig neue Schwachstellen und einherge- hend Vulnerabilität. Um dieser Vulnerabilität + Abhängig von Alter, Gender, sozialer und geo- entgegenzuwirken, sowie die Integrität der grafischer Herkunft sind IKT nicht für alle Men- Katastrophenvorsorge und -bewältigung auf- schen gleich zugänglich, nutzbar oder produ- rechtzuerhalten, sind proaktive Führung, zierbar. Dieser „Digital Divide“ birgt auch im digitale Sicherheitsschulungen, technische Katastrophenkontext die Gefahr, globale und Rechtskenntnisse und Investitionen in die lokale Machtstrukturen zu reproduzieren oder Cybersicherheit unabdingbar. Besonders zu verschärfen und damit vulnerable Gruppen Themen rund um Datenschutz, Rechen- weiter zu marginalisieren, wenn seine Auswir- schaftspflicht und Ethik stehen derzeit im kungen von Hilfsorganisationen außer Acht ge- Vordergrund. lassen werden.
1 igitalisierung und D Katastrophenmanagement Der Klimawandel und seine Folgen haben die Anforderungen an das Katastrophen- Lotte Kirch management verändert. Angepasst an die sich verändernden Gegebenheiten enthält Referentin Themen & Information, Bündnis der WeltRisikoBericht 2022 den WeltRisikoIndex erstmalig seit seinem Erscheinen Entwicklung Hilft im Jahr 2011 mit einem überarbeiteten Konzept, das weiterhin auf der Wechselwir- kung zwischen Exposition und Vulnerabilität basiert. Mit dem diesjährigen Fokus Digitalisierung beleuchtet der Bericht Veränderungen durch digitale Techniken in der Katastrophenvorsorge und -bewältigung sowie einhergehende Risiken. Die Folgen des Klimawandels sind auch in sich verändernde Risikoprofile besser zu erfas- diesem Jahr deutlich spürbar. Der Klimawandel sen, haben wir das Konzept des WeltRisiko- beeinflusst nicht nur, mit welcher Häufigkeit Index umfassend überarbeitet. Digitalisierung und Intensität extreme Naturereignisse auftre- – das diesjährige Fokusthema des Berichts – ist ten und wirken, sondern auch, wie wir diese eine wesentliche Triebfeder für die Bereitstel- wahrnehmen und bewerten. Einhergehend lung der Datengrundlage. Gleichzeitig bietet hat das Katastrophenmanagement heute einen die Digitalisierung Potenziale für das Handeln anderen Stellenwert als noch vor zehn Jahren. von Staaten und humanitären Organisationen Um sowohl diese Weiterentwicklungen als auch im Katastrophenmanagement. Neuer WeltRisikoIndex Der im WeltRisikoBericht 2011 erstmals veröf- Neuerungen im WeltRisikoIndex (mehr dazu fentlichte WeltRisikoIndex ergänzte mit seinem siehe Kapitel 3): Fokus auf der Interaktion von Exposition und Vulnerabilität für das Katastrophenrisiko die + Es werden nur noch Daten verwendet, die zum damaligen Zeitpunkt veröffentlichten nicht nur aus wissenschaftlich anerkann- wissenschaftlichen Arbeiten zu Indexmodellen ten Quellen stammen, sondern zudem ohne in der Katastrophenforschung (Cardona 2005, Einschränkung öffentlich und transparent Peduzzi et al. 2009). Das von Bündnis Entwick- zugänglich sind und kontinuierlich bereit- lung Hilft und dem damaligen Kooperations- gestellt werden. Einhergehend wurden Indi- partner Institute for Environment and Human zes wie der Fragile States Index oder der Security der United Nations University in Bonn Corruption Perception Index durch mehre- konzipierte Risikomodell gilt heute als grundle- re Einzelindikatoren ersetzt. Insgesamt gend und diente als Vorbild für viele Modelle, umfasst der WeltRisikoIndex nun 100 statt wie zum Beispiel den Index for Risk Manage- zuvor 27 Indikatoren. ment (INFORM), der durch weitere Schwer- punkte sowie Indikatoren ergänzt wurde. + In der Sphäre der Exposition werden neben Erdbeben, Wirbelstürmen, Überschwem- Der WeltRisikoIndex 2022 stellt basierend auf mungen, Dürren und Meeresspiegelanstieg den vorherigen Arbeiten den nächsten großen nun Tsunamis berücksichtigt und es wird Entwicklungsschritt dar. Es ist das Ergebnis zwischen Küsten- und Flussüberschwem- von mehreren Jahren intensiver konzeptio mungen unterschieden. Für alle Expositi- neller und methodischer wissenschaft- onsarten fließen nun sowohl die absolute licher Arbeit. Dies sind die wesentlichen Anzahl exponierter Personen als auch ihr
Anteil an der Bevölkerung ein, um verzer- die Einflüsse von Migration und Krisen auf rende Effekte auf die Expositionseinschät- die Vulnerabilität besser abzubilden. zung durch die Bevölkerungsgröße zu vermeiden. Durch die reine Betrachtung des + Wenn für ein Land in einem Indikator Daten prozentualen Bevölkerungsanteils wurden fehlen, nutzt der neue WeltRisikoIndex ein Länder mit geringerer Bevölkerungsgrö- komplexes Verfahren, um die fehlenden ße bisher tendenziell schlechter eingestuft, Werte zu schätzen. Dies ermöglicht, dass obwohl die absolute Anzahl der exponierten der Index nun alle 193 Mitgliedsstaaten der Personen in bevölkerungsreichen Ländern Vereinten Nationen abbildet. um ein Vielfaches höher sein kann. Ein Beispiel: In Vanuatu, im bisherigen Welt- Insgesamt bewirken diese konzeptionellen und RisikoIndex stets auf Rang 1, sind 25,56 methodischen Anpassungen auch, dass sich Prozent der Bevölkerung vom Meeresspie- die Bewertung des Risikos einiger Länder sehr gelanstieg bedroht. Absolut sind dies knapp deutlich gegenüber den Ergebnissen früherer 65.000 Menschen. In China bedroht der Ausgaben verändert haben. So hat beispiels- Meeresspiegelanstieg nur 0,56 Prozent der weise die USA anstatt wie bisher ein geringes Bevölkerung. Doch absolut sind dies fast im neuen Index ein sehr hohes Risiko. Die acht Millionen Menschen. unterschiedlichen Bewertungen machen auch die Grenzen deutlich: Jedes Indexmodell ist + Zudem gehen pro Expositionsart neuer- nur eine Modellierung der Realität, kann nicht dings drei Intensitätsstufen in die Berech- alle Einflussgrößen ganzheitlich erfassen und nung ein. Auf diese Weise ist es möglich, ist abhängig von den zur Verfügung stehenden Regionen, die häufiger von schwächeren Daten. Mit den Überarbeitungen haben wir Ereignissen betroffen sind, mit Regionen nun ein Modell geschaffen, das präzisere und zu vergleichen, die seltener, aber dafür mit ausdifferenziertere Risikoanalysen erlaubt und stärkerer Intensität getroffen werden. einfach erweitert und angepasst werden kann. So ist es unser Ziel zukünftig, zum Beispiel + In der Sphäre der Vulnerabilität werden nun Hitze- und Kältewellen in der Exposition sowie Indikatoren zu Geflüchteten, Vertriebenen und materielle Absicherung in der Vulnerabilität zu Asylsuchenden sowie zu den durch Konflikte integrieren, die bisher aufgrund fehlender Indi- und Naturereignisse betroffenen Menschen katoren noch nicht miteinfließen. Die Digitali- in den letzten fünf Jahren berücksichtigt, um sierung kann hoffentlich dazu beitragen, diese die Lebensrealitäten in vielen Ländern und Lücken künftig zu schließen. Digitalisierung im Fokus Digitalisierung hat täglich Einfluss auf unser Informationen in maschinenlesbare Daten Leben: Sie prägt unser Zusammenleben, unse- umsetzt, speichert, verarbeitet und kombiniert re Kommunikation, unsere Arbeit, unseren und in erfassbare Formate wie Schrift, Sprache Konsum. Wie im Alltag ist sie auch aus der oder Bild umwandelt. Durch Computer und Katastrophenvorsorge und -bewältigung nicht Internet finden diese Prozesse automatisiert mehr wegzudenken. Digitale Elemente haben und vernetzt statt. Die gesellschaftliche Ebene Eingang in jegliche Prozesse des Katastrophen- beschreibt das Zusammenspiel dieser Tech- managements gefunden und bringen neben nologien mit den Menschen, die sie gestalten, Chancen auch neue Risiken mit sich, die unter- steuern, weiterentwickeln, nutzen und damit sucht und verstanden werden müssen. ihre Wirkung entfalten (Müller-Brehm et al. 2020, 4). Zentraler Teil davon sind Informa- Um Digitalisierung aufzuschlüsseln, müssen tions- und Kommunikationstechnologien (IKT). zwei Ebenen beachtet werden: die technolo- gische und die gesellschaftliche. Die techno- Seit den 1990er-Jahren auf dem rasanten logische Ebene beschreibt den Prozess, der Vormarsch, stehen die Digitalisierung und
Digitales Digitales im im Katastrophenmanagement Katastrophenmanagement Frühwarnung Extremes Naturereignis / akute Krise Soforthilfe Datenbanken zum Austausch zwischen humanitären Akteuren Digitale Registrierung Katastrophenvorsorge von Betroffenen Push- Geldtransfers in Form von Notifications eCash & eVoucher Satellitendaten in Apps Drohnen Sensoren Massen-SMS Datengewinnung und -auswertung Digitale Steuerung, Dokumentation und Soziale Medien Nachverfolgung von Hilfsmaßnahmen Katastrophenbewältigung Shared-Economy Apps für Beratung-Apps Bereiche wie: Mess- und Evaluations-Apps Bildung Gesundheit Landwirtschaft Big Data und künstliche Intelligenz Risikoanalyse Wiederaufbau und Vorbeugung und Erholung Abbildung 3: Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien zur Analyse, Bewertung, Koordination und Durchführung in den Phasen des Katastrophenmanagements ihre Weiterentwicklung häufig als Symbol und Grundlage für Innovationen und wirtschaftli- gleichzeitig Voraussetzung für (wirtschaftli- chen Aufstieg diverser Geschäftsmodellen, auf chen) Fortschritt. Während die Digitalisierung der anderen dominieren riesige Tech-Konzer- zunächst vor allem Freude über neue techni- ne überwiegend aus dem Globalen Norden den sche Möglichkeiten mit sich brachte, schnell Markt, setzen eigene Maßstäbe und drohen für viele Menschen zugänglich wurde und von staatlicher Kontrolle zu entfliehen. Digitale einer besseren, gerechteren Welt träumen ließ, Techniken zur schnellen und genauen Erfas- haben sich inzwischen auch die Risiken deut- sung von Umweltzuständen erlauben präzise lich hervorgetan. Einerseits ermöglichen digi- Vorhersagen zu drohenden Naturereignissen tale Technologien mehr Menschen an gesell- und ihren Auswirkungen und bilden die Basis schaftlichen Prozessen teilzunehmen, sich für neue Schutzmaßnahmen wie beispiels- politisch zu organisieren oder ihre Meinung weise von Algorithmen gesteuerte Gewich- zu äußern, andererseits werden sie für Hass- te auf Dächern zum Schutz vor Erdbeben rede, Überwachung, Manipulationen und den (Sauer 2022). Weniger Autofahrten und Flüge autoritären Machterhalt missbraucht. Sie durch digitales Arbeiten tragen außerdem zu bieten jederzeit frei verfügbare Informatio- einer geringeren CO2-Bilanz bei. Auf der ande- nen und erlauben es, Wissen einfach aufzube- ren Seite kostet die Digitalisierung massiv reiten und zu teilen. Der Zugang dazu jedoch Energie sowie Rohstoffe und macht weltweit erfordert die nötige Infrastruktur sowie die rund vier Prozent der CO2-Emissionen aus Fähigkeiten, Wissen zu konsumieren, zu – Tendenz steigend. Oftmals kurzlebige tech- verarbeiten und zu kommunizieren. Ungleiche nische Geräte benötigen Mengen an Rohstof- Teilhabe an der Digitalisierung droht existie- fen, Produktionsstätten verbrauchen Energie rende Machtungleichheiten zu verfestigen. und belasten die Umwelt mit Schadstoffen Auf der einen Seite bilden digitale Techniken (Grefe 2020).
Diese Beispiele zeigen: Die Digitalisierung ist Die folgenden Artikel zum Fokusthema konzen- weder ein vollkommener Wegbereiter für Gleich- trieren sich auf ebendiese Veränderungen. Sie heit, Teilhabe, Wohlstand oder Klimaneutralität erläutern, welche Techniken in der Katastro- noch ein überflüssiger Modernisierungsprozess phenvorsorge und -hilfe bereits verwendet ohne Potenzial für gesellschaftlichen Wandel. werden, beleuchten bestehende Herausforde- Ihre ambivalente Wirkung muss aus verschie- rungen sowie neu entstehende Risiken in der denen Blickwinkeln betrachtet werden. Eine Nutzung und zeigen Handlungsbedarfe auf. aktive (politische) Gestaltung der Digitalisie- Während Atwii (Artikel 2.1) schildert, welche rung ist unabdingbar, um sie und ihre positiven Arten von IKT – von Daten zur Nutzung in der wie negativen Auswirkungen zu steuern. Dabei Landwirtschaft über digitale Registrierungs- muss es zentral auch um die Fragen gehen, systeme für Geflüchtete bis zu gesundheitli- welchen Nutzen die Digitalisierung hat, wer von chen Beratungs-Apps – in der Praxis bereits ihr profitiert und zu welchem Preis. eingesetzt werden, bieten Paragi und Sandvik (Artikel 2.2) einen ganzheitlichen Überblick Digitalisierung im Kontext von Katastrophen über die Risiken der Digitalisierung im Kata- strophenmanagement und mahnen aufgrund Was für digitale Technologien allgemein gilt, „unendlicher neuer Vulnerabilität“ ein besse- zeigt sich auch im Kontext von Katastrophen: res Verständnis der Risiken an. Schneider (Art. Die Digitalisierung hat in allen Phasen des 2.3) analysiert die ungleichen Zugänge zu IKT Katastrophenmanagements neue Möglichkei- und veranschaulicht, wie Digital Divide(s) die ten geschaffen – aber nicht ohne Kehrseiten. Potenziale der Digitalisierung für eine Loka- Von Menschen genutzte IKT liefern wichtige lisierung der Katastrophenhilfe einschränken Daten für die Risikoanalyse, stellen im Ernstfall und stattdessen bestehende Machtungleichhei- essenzielle Informationen bereit und beschleu- ten verfestigen. nigen den Beginn von Hilfsmaßnahmen. Zudem dienen sie als wichtige Instrumente im Kampf Und weiter? gegen Hunger, Armut und soziale Ungleichheit sowie für verbesserte Gesundheitsversorgung Digitale Techniken sind nicht per se von Nutzen und Bildungsmöglichkeiten, folglich auch für und tragen nicht automatisch zu einer Senkung nachhaltige Entwicklung und eine geringere der Vulnerabilität bei, sondern bringen Heraus- Vulnerabilität. Gleichzeitig bringt der zuneh- forderungen und Risiken mit sich, denen mende Einsatz und damit auch die wachsende begegnet werden muss. IKT sollten gezielt Abhängigkeit von digitalen Techniken Heraus- dort eingesetzt werden, wo sie einen Mehrwert forderungen und Risiken mit sich. Die digita- bringen, und nicht aus reinem Druck zur Digi- le Infrastruktur ist anfällig für Schäden durch talisierung und Innovation. Wir können davon extreme Naturereignisse, digitalisierte Daten ausgehen, dass sich der Einsatz von IKT auch über Hilfsempfänger:innen können leichter im Katastrophenmanagement weiter ausdeh- missbraucht werden oder digitale Desinforma- nen wird. Insbesondere für humanitäre Organi- tion können im Katastrophenfall Schutzmaß- sationen gilt daher: Sie müssen die Gestaltung nahmen untergraben. Im Zuge der Digitali- und den Einsatz nach den Interessen Betroffe- sierung haben sich auch die Kommunikation, ner ausrichten. Solch eine Digitalisierung kann Projektdurchführung und Zusammenarbeit nur lokaler, sozial gerechter und nachhalti- humanitärer Akteure verändert. Die Digitali- ger– und möglicherweise auch sachter– sein. sierung des Katastrophenmanagements bezieht Ob eine neue digitale Weltordnung, die vorran- sich daher auf Veränderungen durch erstens die gig im Kreis der G7 verhandelt wird, dafür der Einbindung von IKT in den operativen Alltag richtige Weg ist, ist mindestens fragwürdig humanitärer Akteure, zweitens die massive (Hilbig 2022). Handlungsbedarf – das wird in Datafizierung von Katastrophen, das heißt die den folgenden Artikeln deutlich – gibt es dafür Übertragung von Informationen zu Katastro- reichlich und einhergehend bleibt der Auftrag phen und -hilfe in maschinenlesbare Formate, als Zivilgesellschaft, den Prozess kritisch zu und drittens die Bereitstellung digitaler Tech- begleiten, sich den ethischen Debatten zu stel- nologien, wie Drohnen und digitales Geld. len und entsprechend zu handeln.
Das Konzept des WeltRisikoBerichts Exposition Anzahl und Anteil Stark der Bevölkerung Schwer in Bezug auf Extrem Intensitäten Erdbeben Tsunamis Wirbelstürme Küstenüber- Flussüber- Dürren Meeresspiegel- schwemmungen schwemmungen anstieg WeltRisikoIndex = Exposition × Vulnerabilität Mangel an Mangel an Vulnerabilität Anfälligkeit Bewältigungskapazitäten Anpassungskapazitäten setzt sich zusammen aus Abbildung 4: Der WeltRisikoIndex und seine Sphären Risikobegriff und Ansatz + Exposition gegenüber Erdbeben, Tsu- Naturgefahren sehr wichtig, aber es liegen namis, Wirbelstürmen, Küstenüber- hierzu bislang keine hinreichenden Daten Die Risikobewertung im WeltRisikoBericht schwemmungen, Flussüberschwem- vor. Außerdem kann es Abweichungen in beruht auf dem grundsätzlichen Verständ- mungen, Dürren und Meeresspiegel der Datenqualität zwischen verschiedenen nis, dass für die Entstehung einer Kata- anstieg Ländern geben, wenn die Datenerhebung strophe nicht allein entscheidend ist, wie nur durch nationale Autoritäten und nicht hart die Gewalten der Natur die Menschen + Anfälligkeit in Abhängigkeit vom sozio- durch eine unabhängige internationale treffen, sondern auch, wie verwundbar ökonomischen Entwicklungsniveau, Institution erfolgt. die Gesellschaft ist, auf die ein extremes von gesellschaftlichen Disparitäten Naturereignis trifft (Bündnis Entwicklung und Benachteiligungen sowie von der Neben dem WeltRisikoIndex enthält Hilft 2011). Schwächung der Bevölkerung durch der Bericht immer auch ein Fokuskapi- Gewalt, Katastrophen und Krankheiten tel mit qualitativer Herangehensweise, Risikobewertung das Hintergründe und Zusammenhänge + Mangel an Bewältigungskapazitäten beleuchtet – in diesem Jahr zum Thema Der WeltRisikoBericht beinhaltet den Welt- bezogen auf gesellschaftliche Schocks, „Digitalisierung“. RisikoIndex, den das Bündnis Entwicklung politische Stabilität, Gesundheitsver- Hilft gemeinsam mit der United Nations sorgung, Infrastruktur und materielle Ziel des Berichts University Bonn entwickelt und erstmals Absicherung 2011 veröffentlicht hat. In diesem Jahr Die Darstellung des Katastrophenrisikos präsentieren das Bündnis und das Institut + Mangel an Anpassungskapazitäten im mithilfe des Index und seiner zwei Sphä- für Friedenssicherungsrecht und Humani- Hinblick auf Entwicklungen in Bildung ren zeigt die weltweiten Hotspots des täres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universi- und Forschung, Abbau von Disparitä- Katastrophenrisikos und die Handlungs- tät Bochum, seit 2018 Mitherausgeber des ten, Investitionen und Katastrophen- felder für die erforderliche Risikoreduzie- WeltRisikoBerichts, den WeltRisikoIndex prävention. rung auf quantitativer Basis. Auf dieser in einer fundamental überarbeiteten Form Grundlage, ergänzt durch die qualitativen (mehr dazu in Kapitel 1 und 3). Die Berech- Im WeltRisikoIndex können – wie in jedem Analysen, können Handlungsempfeh- nung des Katastrophenrisikos erfolgt für Index – nur Indikatoren berücksichtigt lungen für nationale und internationa- 193 Staaten weltweit und basiert auf der werden, für die nachvollziehbare, quantifi- le, staatliche und zivilgesellschaftliche Wechselwirkung zwischen den Sphären zierbare Daten verfügbar sind. Beispielswei- Akteure formuliert werden. der Exposition und der Vulnerabilität (vgl. se ist die Wohnsituation der Menschen mit auch Abbildung oben): Blick auf ihre Verwundbarkeit gegenüber
2 Digitalisierung 2.1 Trends der Digitalisierung in der Katastrophenhilfe Digitalisierung ist inzwischen ein fester Bestandteil der Katastrophenhilfe: Satel- Franziska Atwii liten liefern Daten zu extremen Wetterereignissen, Warnungen vor Katastrophen Teamleiterin Abteilung Innovation, Welthungerhilfe werden in Apps integriert und Informationen zum Katastrophenschutz per Massen- SMS und sozialen Medien bereitgestellt. Aufbauend auf Erfahrungen aus der Praxis gibt der Artikel einen Überblick über eine Vielzahl digitaler Techniken, die in der Katastrophenhilfe bereits zum Einsatz kommen, und zeigt anhand von Trends in der Datensammlung, der Interaktion mit Betroffenen und der Kooperation mit anderen Akteuren auf, wie sich die Katastrophenhilfe durch diese digitalen Techniken verän- dert hat und welche Herausforderungen in der Nutzung bestehen. Neben Auswer- tungen der Welthungerhilfe und Fachgesprächen mit Mitarbeitenden, sind durch Einzelinterviews auch Perspektiven von Betroffenen in diesen Artikel eingeflossen. Zunehmende Digitalisierung verändert die Art wie Sensoren, um Umwelteinflüsse automatisch und Weise, wie Katastrophenhilfe weltweit zu überwachen, offen zugängliche Datensamm- geleistet wird (Akhmatova et al. 2020, 1). Sie lungen und neue Big-Data-Analysetechniken verspricht Effizienz- und Effektivitätssteige- mit künstlicher Intelligenz eröffnen weitrei- rung. Katastrophen nehmen zu – insbesonde- chende Möglichkeiten in der Vorhersage von re solche, die vom Klimawandel ausgelöst bzw. Katastrophen (Bettini et al. 2020, 8-11; Veron verstärkt werden. Die Kluft zwischen benötig- 2022, 2). Potenzielle Schwachstellen im Kata- ten und verfügbaren finanziellen Ressourcen strophenfall und Bedürfnisse von Gemein- für Katastrophenhilfe wächst und macht eine schaften können bewertet werden und erlauben Optimierung der Hilfsleistungen unabding- frühes Gegensteuern mit präventiven Maßnah- bar, ohne dabei jedoch den Zugang zu Hilfe für men, sodass die Auswirkungen auf Betroffe- betroffene Menschen zu komplex zu gestalten ne reduziert werden können (Veron 2022, 2). (Veron 2022, 1). Aktuell lassen sich drei Digi- Entscheidungsträger:innen werden mit verläss- talisierungstrends im Sektor erkennen, auf licheren Prognosen ausgestattet, um entspre- die im Folgenden näher eingegangen wird: (1) chende Ressourcen bereitzustellen (Ranasinghe verbesserte Datensammlung und -analyse für 2019, 149). Vorhersagen und für den Katastrophenfall, (2) Digitalisierung in der Interaktion mit den Eine große Herausforderung für die Entwick- Betroffenen und (3) die unabdingbare Auswei- lung zuverlässigerer Prognosemodelle ist das tung der Kooperationen im digitalen Bereich Sammeln und Speichern qualitativ hochwer- mit bekannten, aber auch neuen Akteuren. tiger Daten über längere Zeiträume. Oftmals reicht eine Informationsquelle, wie Satel- Verbesserte Datensammlung und -analyse litendaten, allein nicht aus, sondern muss beispielsweise mit Bodendaten kombiniert Das exponentielle Wachstum von Informa- werden (Cheney 2021). Hier kommen staatli- tions- und Kommunikationstechnologien (IKT) che und nicht-staatliche Akteure vielfach an
ihre technischen Grenzen. Datenwissenschaft Neben der Verwendung von Daten für Prog- ist ein hoch spezialisiertes Feld und viele Fach- nosen kommen verschiedene digitale Daten- kräfte bevorzugen die oft besser dotierten Stel- sammlungen auch im konkreten Katastro- len im Privatsektor. Ein Beispiel: Im Jahr 2016 phenfall zum Einsatz. Um sich nach einem verlor das kambodschanische Katastrophen- extremen Naturereignis einen Überblick zu managementkomitee 70 Prozent aller zwischen verschaffen, werden zum Beispiel zunehmend 1996 und 2013 gesammelten Daten in ihrem bis Drohnen eingesetzt (Akhmatova et al. 2020, dahin als Vorreiter geltenden Katastrophen- 3). Mobilfunkdaten werden immer häufiger zur informationssystem CamDI. Die Daten waren Modellierung von Migrationsströmen genutzt. aufgrund begrenzter Kenntnissen der Mitarbei- Jeder Anruf über das Funknetz von Personen tenden während einer technischen Umstellung im Gefahrengebiet generiert einen Datensatz nicht ausreichend gesichert worden (Bettini et mit Telefonnummer, Zeitstempel und Mobil- al. 2020, 8; NSTC 2016). funkmast. Während solche Daten derzeit meist nach einer Krise analysiert werden, werden Große Potenziale für die Bereitstellung benötig- in Zukunft Echtzeitanalysen sowie auf Algo- ter Daten für Vorhersagemodelle zur Nutzung rithmen basierende Vorhersagen vorliegen in der Landwirtschaft liegen in IKT, bei denen (Bettini et al. 2020, 11f). Darüber hinaus geben das Internet der Dinge, biotechnologische Inno- von Google generierte Mobilitätsberichte seit vationen, Cloud Computing, Drohnen, Sensoren Beginn der Corona-Pandemie einen Überblick und Robotik genutzt werden. Diese IKT gene- zur Kontrolle der von Regierungen umgesetz- rieren täglich enorm wertvolle Daten, die für ten Maßnahmen (Google 2022). Da Mobilfunk- Vorhersagemodelle genutzt werden könnten. muster jedoch kulturell sehr unterschiedlich Auch wenn es Anzeichen dafür gibt, dass deren sind, können Daten mitunter unspezifisch sein. Nutzung für die Landwirtschaft global weiter Beispielsweise dadurch, dass ein Mobilfunkge- zunimmt, können die Technologien derzeit rät von mehreren Personen genutzt wird, Gerä- aufgrund der hohen Kosten noch nicht flächen- te über lange Zeiträume ausgeschaltet sind oder deckend eingesetzt werden, insbesondere nicht bestimmte Funktionen wie GPS oder mobile von landwirtschaftlichen Kleinbetrieben vor Datennutzung deaktiviert werden. Generell ist allem in Afrika (Jellason et al. 2021, 1-7). In die Mobilfunkdatennutzung in der humanitä- der vorhersagebasierten humanitären Hilfe, ren Hilfe sehr umstritten, insbesondere dort, die kontinuierlich zunimmt, kommen solche wo Anonymität für schutzbedürftige Gruppen Geodaten bereits zum Einsatz, um frühzeitig wichtig ist (Bettini et al. 2020, 11-16; siehe auch zielgerichtete Maßnahmen zur Bekämpfung von Artikel 2.2). Schäden durch extreme Naturereignisse einzu- leiten (siehe Box Seite 21). Ein weiterer Trend der Datenerfassung in Kata- strophenfällen ist Crowd-Sourcing. Dabei stel- Ein weiterbestehendes Problem ist, dass durch len Menschen im betroffenen Gebiet bewusst IKT generierte Daten oftmals nicht öffentlich selbst Daten bereit, meist über soziale Medien bereitgestellt werden. Zugriff besteht allein für und Micro Blogs, die anschließend in Analysen Entwickler:innen und Nutzer:innen der Tech- verwendet werden. Nach dem Erdbeben in Haiti nologien (Grain 2021). Positiv zu beobachten 2020 beispielsweise wurden von Nutzer:innen ist, dass innovative Wege eingeleitet wurden, bereitgestellte Informationen über das Ausmaß um Datenlücken zu schließen. Ein Beispiel ist der Schäden und bereits erhaltene Hilfe zur das NASA Harvests „Helmets Labeling Crops“- Koordinierung von Hilfsmaßnahmen genutzt. Projekt, das mit auf Fahrzeugen montierten Im selben Jahr wurde in Jakarta eine Echt- Kameras Geodaten zum Zustand von Nutzpflan- zeitkartierung von Überschwemmungen auf zen erfasst. Solche Geodaten sind jedoch nur Grundlage von Twitter-Feeds erstellt. Eine so wertvoll wie die begleitenden Maßnahmen, Herausforderung bei Crowd-Sourcing im Kata- die zur Nutzung ihrer Erkenntnisse ergriffen strophenmanagement stellen technische Fähig- werden. Oft fehlen leistungsfähige Computer und keiten dar, die in den meisten Hilfsorganisati- Datenwissenschaftler:innen, die Daten in Hand- onen noch nicht ausreichend vorhanden sind lungsempfehlungen übersetzen (Cheney 2021). (Bettini et al. 2020, 8f).
Digitalisierung in der Interaktion mit den mit weiteren digitalen Anwendungen werden Betroffenen die Wirkung von Hilfsleistungen verbessern. Die Welthungerhilfe entwickelt zum Beispiel Getrieben vor allem von Finanzgebern setzen den Child Growth Monitor, der es ermöglicht, Hilfsorganisationen häufiger die digitale Regist- den Ernährungszustand von Kindern per Foto rierung von Betroffenen ein, da dies mehr Trans- zu bewerten. Verbunden mit Registrierungs- parenz und Rechenschaft verspricht. Damit und Abwicklungssystemen kann eine solche wird die digitale Registrierung immer mehr zur Anwendung in der Katastrophensituation dazu Voraussetzung für den Zugang zu Hilfsleistun- beitragen, dass Kinder, deren Ernährungszu- gen. Registrierungssoftwares sind zunehmend stand kritisch ist, schon bei der Erstregistrie- mit e-Cash oder e-Voucher Systemen verbun- rung identifiziert werden. den und erlauben die effiziente Abwicklung von Hilfsmaßnahmen. Hilfsorganisationen nutzen Statt Softwares einzeln für bestimmte Projek- dafür oft mehrere digitale Systeme (Akhmato- te, Geldgeber oder Kontexte hausintern neu zu va et al. 2020, 2). Gründe sind Präferenzen der entwickeln, sollte langfristig mehr Wert darauf Finanzgeber oder dass ein System allein oft nicht gelegt werden, Funktionen modular zu stan- alle Formen von Hilfsmaßnahmen abwickeln dardisieren. Hier muss eine Balance zwischen kann. Die Welthungerhilfe nutzt zum Beispiel der digitalen Abbildung aller Prozesse und der die Abwicklungssysteme SCOPE, RedRoses Skalierbarkeit der Software gefunden werden. und GenTag, die Registrierung, Bargeldtrans- Es sollte möglich sein, zwischen verschiedenen fers und Gutscheinabwicklung ermöglichen. Preismodellen zu wählen, denn nicht jede Orga- Für Geflüchteten-Projekte in der Türkei wurde nisation kann sich biometrische Datenerfassung darüber hinaus hausintern eine eigene Daten- leisten oder hat dafür Fachpersonal zur Verfü- bank entwickelt, die aber von einem neuen gung. Zudem machen es Anforderungen an Standard Monitoring System abgelöst wird, da Datenschutzbedingungen – die sich innerhalb die Instandhaltung der Software zu kostspielig eines Landes abrupt ändern können – schwie- wird und sie auf ein einziges Projekt ausgelegt rig, verschiedene Softwareprodukte inner- war und somit schwer skalierbar ist (Interview halb einer Organisation gleichzeitig zu nutzen mit Ausama Almorei). (Veron 2022, 5; Interview mit Sherinah Ngabo). Deshalb werden sich in den nächsten Jahren Neben Abwicklungssystemen nutzen Hilfsor- voraussichtlich einige wenige Softwareanbieter ganisationen digitale Softwares für das Moni- für den humanitären Sektor durchsetzen, die toring von Hilfsmaßnahmen. Mit Programmen die Anforderungen des internen und externen wie Field Buzz, AkvoFlow und Kobo Toolbox Datenaustauschs, der Datensicherung sowie der werden geleistete Maßnahmen, zum Beispiel modularen Anpassbarkeit durch Drittanbieter die Verteilung von Hilfsgütern, direkt über ein umzusetzen verstehen. Smartphone registriert und können zentral über ein Dashboard nachverfolgt werden. Darüber Darüber hinaus hat sich auch die Bereitstel- hinaus können Wirkung und Zufriedenheit mit lung der Hilfe durch digitale Techniken verän- geleisteten Hilfsmaßnahmen evaluiert werden, dert. So wird die Sachleistungsunterstützung indem die Ergebnisse von Umfragen mit Betrof- in Form von Hilfsgütern zunehmend von fenen in einer App erfasst werden. Die digita- Gutschein- oder Bargeld-basierten Hilfsmaß- le Erfassung von Personen ermöglicht auch nahmen abgelöst. Solche Zahlungen sind effizi- Personen Zugang zu einer digitalen Identität, enter und stärken Handlungskompetenzen von die keine Ausweispapiere haben. Verknüpft mit Betroffenen ebenso wie lokale Märkte (Burton biometrischen Informationen erhöhen diese 2020; Cohen / Salaun 2017, 158f). Um sowohl digitalen Ausweismöglichkeiten die Verarbei- die Inklusion aller Betroffenen als auch den tungsgeschwindigkeit und reduzieren Betrug. Datenschutz sicherzustellen, sind Agilität in der Umsetzung sowie kontinuierliche Anpassun- In den nächsten Jahren sind erhebliche Opti- gen der Maßnahmen nötig. Zusätzlich müssen mierungen in den Registrierungs- und Abwick- neue Kompetenzen im Team zur Verwaltung lungssystemen zu erwarten, und Verankerungen der Finanzströme aufgebaut werden (Burton
Digitale Registrierung Identifizierung Datenerfassung von Datenverarbeitung Berechtigungsnachweis von Betroffenen Name, Alter, Geschlecht, Ort Abbildung 5: Registrierung von Betroffenen in digitalen Systemen für den Zugang zu Hilfsleistungen 2020; Cohen / Salaun 2017, 158ff). Die Zusam- erreicht und über WhatsApp Audiobotschaf- menarbeit mit Akteuren aus dem Privatsektor ten mit Informationen zum Virus und zur im Finanz- und Technologiebereich für die Prävention versendet werden (Interview mit Weiterentwicklung der Anwendungen erfordert Nigel Gambanga). Dies ermöglichten bereits Anpassungen von Organisationsprozessen in etablierte Telefonlisten und WhatsApp-Grup- den Hilfsorganisationen, die die interne Macht- pen des Landesteams der Welthungerhil- verteilung, Ressourcenallokation und Leis- fe. Um in Krisenzeiten digitale Ansätze zur tungsbewertung verändern. Gleichzeitig wird Kommunikation zu nutzen, muss die dafür die traditionelle Sachleistungsunterstützung erforderliche digitale Kompetenzentwicklung für Betroffene weiterhin dort gebraucht, wo bereits in Präventionsprogramme mit Betrof- lokale Märkte nicht ausreichend Güter bieten fenen eingebunden werden. oder die technologische Infrastruktur nicht funktioniert. Auch die Sachleistungsunterstüt- In Uganda, Malawi und Simbabwe verwen- zung wird durch digitale Innovationen – insbe- det die Welthungerhilfe drei Landwirtschafts- sondere in der Überwachung von Lieferketten beratungs-Apps, die zusammen über 100.000 (zum Beispiel TraceRX) und durch den Ausbau Nutzer:innen haben, und versucht sie mit Früh- von Sharing-Economy-Optionen – optimiert warnsystemen in den Ländern zu verbinden, (Cohen / Salaun 2017, 170ff). So bietet zum um im Notfall direkt Warnungen aussenden Beispiel die AgriShare-App der Welthungerhilfe zu können. Die Belange von Geflüchteten in in Simbabwe, Uganda und Malawi die Möglich- solche Apps zu integrieren, indem die Inhalte in keit, Transporte durch lokal registrierte Lkw- verschiedene Sprachen übersetzt werden, zeigt Fahrer:innen zu buchen, die auch im Katastro- in Uganda erste Erfolge. Das ist besonders im phenfall schnell mobilisiert werden können. Falle langfristiger Krisen sinnvoll, wenn Anpas- sungsstrategien entwickelt werden müssen. Digitale Kommunikationskanäle erweitern und verändern zudem den Informations- Kooperation und neue Technologiepartner austausch und die Interaktionsformen mit Betroffenen. Während der Corona-Pande- Koordination und Kooperation sind für mie konnten in Simbabwe per Massen-SMS das Katastrophenmanagement essenzi- in kürzester Zeit über 30.000 Haushalte ell. Mangelnde Kommunikation zwischen
Via Mobiltelefon Erhalt von digitalem Geld Geldinstitute Verteilungspunkt Erhalt von Gütern Via Mobiltelefon Erhalt von digitalem Gutschein Geschäfte humanitären Akteuren kann zu Hindernissen gelistet werden, wenn verschiedene Registrie- führen. Da im Katastrophenfall das Fachwis- rungssysteme nicht miteinander abgestimmt sen von Expert:innen, Praktiker:innen und werden (Veron 2022, 5). Datenaustausch- Forscher:innen aus verschiedenen Diszipli- Plattformen wie HDX, auf denen Statusberich- nen erforderlich wird (Badarudin/Ibrahim te, Analysen und Datensätze zu humanitären 2021, 13), sind gemeinsame Informationssys- Einsätzen frei für alle Akteure bereitgestellt teme und Wissensmanagement unabdingbar. werden, müssen gefördert und weiterentwickelt Aufwendige Organisationsprozesse können die werden, um das Material organisationsüber- Soforthilfe allerdings verkomplizieren. Auch für greifend nutzbar zu machen. digitale Prozesse in einem Projekt gilt jedoch, dass sie am Wohl der betroffenen Menschen Versuche der Akteure der Katastrophenhilfe, ausgerichtet sind und den „Do no harm“-Prin- Datenschutzauflagen zu vereinheitlichen, führ- zipien unterliegen (Badarudin/ Ibrahim 2021, ten zur Gründung verschiedener Initiativen 13; Steinacker et al. 2021, 107; Veron 2022, wie der Humanitarian Data and Trust Initiati- 5). Dafür müssen digitalisierte Systeme über ve, DigitHarum, der ID 2020 Alliance und der interne Kontrollmechanismen verfügen, die Harvard Humanitarian Initiative. Doch statt die Folgen der Nutzung kontinuierlich evalu- zu vereinheitlichen, steht aktuell eine Viel- ieren und bei möglichen (unbeabsichtigten) zahl nicht ineinandergreifender Leitlinien mit negativen Folgen eingreifen, und ein Recht zur teils unterschiedlichen Angaben bereit. Auch Beschwerde für Betroffene beinhalten (Stein in Bezug auf die Zusammenarbeit mit Part- acker et al. 2021, 107). nern wie Microsoft und Amazon mit exter- nen neuen Technologien, auf die humanitäre In der Kooperation mit anderen Akteuren kann Organisationen zunehmend angewiesen sind, die Nutzung digitaler Technik zu Ineffizienzen wären vereinheitlichte Datenschutzstandards führen, zum Beispiel wenn Datensätze nicht mit im humanitären Sektor ein wichtiger Schritt. dem verwendeten System einer Organisation Ohne sektorübergreifende und auf die Bedarfe kompatibel sind und einhergehend gesammelte der Betroffenen ausgerichtete Datenschutzstan- Daten einer Organisation nicht von einer ande- dards besteht die Gefahr, dass Technologierie- ren genutzt werden können. So können zum sen in Partnerschaften Daten unangemessen Beispiel Betroffene einer Katastrophe doppelt nutzen (Veron 2022, 7; Akhmatova et al. 2020, 1;
Von der Autorin durch Grain 2021). Gleichzeitig können humanitäre Software von Organisationseinheiten, die die geführte Interviews Organisationen ohne eine Zusammenarbeit mit Daten eingeben, und Betroffenen erforderlich. (Reihenfolge wie im Text): solchen Technologiepartnern die Potenziale, Die Software muss auf die Bedarfe derer ausge- Online-Interviews mit Ausama die durch ihre Bereitstellung von Daten und richtet werden, denen die Software am Ende Almorei, IT-Leitung Welt- die Errechnung von Prognosen entstehen, nicht nutzen soll, und nicht allein auf den benötig- hungerhilfe Türkei, 19. und ausreichend nutzen (Grain 2021; Veron 2022, ten Informationen aus Sicht der Hilfsorgani- 25.04.2022. 8). Daher ist es wichtig, dass sich der Sektor sationen basieren (Bettini et al. 2020, 9; Grain Online-Interview mit schnellstmöglich auf einen Datenschutzstan- 2021). Erkenntnisse darüber, welche digitalen Sherinah Ngabo, ICT4D dard einigt und diesen konsequent durchsetzt. Techniken in welchem Kontext funktionieren, Beraterin Welthungerhilfe müssen systematisch dokumentiert werden, Uganda, 19.04.2022. Fazit damit sie weiterhin und gegebenenfalls zielori- Online-Interview mit Nigel entierter zum Einsatz kommen können (Veron Gambanga, ICT4D Kommunika- Für die (Weiter-)Entwicklung von Frühwarn- 2022, 8). Insbesondere Finanzgebern kommt tionsberater Welthungerhilfe systemen und Katastrophenmanagement hier eine entscheidende Rolle zu. Sie müssen die Simbabwe, 29.03.2022. braucht es mehr Open Data (Grain 2021). Statt Ressourcen bereitstellen, um den Ausbau digi- Online-Interview mit Dominik organisationsintern nach digitalen Lösungen zu taler Techniken und deren Anwendung für eine Semet, Programmkoordinator suchen, sollten Hilfsorganisationen auf geteilte schnelle und wirkungsvolle Katastrophenhilfe Forecast-based Action Welt Systeme setzen, die von kompetenten Technolo- voranzutreiben (Veron 2022, 1; Interview mit hungerhilfe, 29.03.2022. giepartnern gemanagt werden (Veron 2022, 7). Dominik Semet). Dafür wird in Zukunft mehr Die Nutzbarkeit generierter Informationen ist Flexibilität bei der Finanzierung von Hilfsmit- abhängig von der Datenqualität bei der Einspei- teln benötigt, die vermehrt auf Prognosen und sung. Daher ist eine agile Ko-Entwicklung der vor Ort generierten Daten basiert.
Open Data für vorhersagebasierte humanitäre Hilfe Bei der vorhersagebasierten humanitären Indikator ist der Wasserbedarfssättigungs- bei deren Erreichen ein Dürreereignis und Hilfe werden durch detaillierte Gefahren- index (Water Requirements Satisfaction folgend durch den Wassermangel beding- und Risikoanalysen Extremwetterereignis- Index, WRSI). Der WRSI gibt den boden- te Schädigungen der Grundnahrungs- se wie Dürren rechtzeitig erkannt und so abhängigen Wasserversorgungsgrad von pflanzen und Ernteverluste zu erwar- den bedrohten Menschen mit frühzeitiger Nutzpflanzen im Verlauf der Wachstums ten sind. Diese Schwellenwerte finden Hilfe ermöglicht, auf bevorstehende Krisen periode an. Die Berechnung des WRSI Eingang in die jeweilige aktuelle Dürre- zu reagieren. Die Finanzierung der Hilfe ist erfolgt mithilfe der Software GeoWRSI beobachtung. Sie dienen als Warnung und durch die Geldgeber bereits vor Eintre- des Climate Hazards Center der UC Santa führen zur Aktivierung und Umsetzung ten der Krise garantiert. In sogenannten Barbara, welche unter Verwendung von der EAP, inklusive der dafür bereitgestell- Early-Action-Protokollen (EAP) werden Satellitendaten eine nutzpflanzenspe- ten finanziellen Ressourcen. Im Rahmen die Verwendung der Hilfsgelder sowie zifische Wasserhaushaltsmodellierung der Entwicklung der EAP werden Vulne- die Zuständigkeiten der Beteiligten gere- durchführt. Die Software GeoWRSI mit rabilitätsuntersuchungen vorgenommen, gelt. Damit wird eine schnelle und effizi- den Satellitendaten steht frei zur Verfü- um zu analysieren, wie sich Ernteschäden ente Hilfe gewährleistet, bevor aus einer gung. Hilfsorganisationen können so und Ernteverluste auf die Bevölkerung drohenden Gefahr eine Katastrophe mit die Möglichkeit von Open Data für sich vor Ort auswirken würden. In Madagas- hohen Schäden und Verlusten entsteht. nutzen und selbst Langzeitdatensätze kar beispielsweise wurden bei Erreichen Die Welthungerhilfe engagiert sich seit für eine Verlaufsanalyse vergangener des Dürre-Schwellenwerts im Frühjahr 2015 in diesem Bereich. Mit finanzieller Dürren erstellen. Ergänzend zu den satel- 2021 Bargeldhilfen an besonders vulne- Unterstützung durch das Auswärtige Amt litengestützten WRSI-Daten werden von rable Haushalte ausgezahlt, noch bevor und in Zusammenarbeit mit lokalen Part- den lokalen meteorologischen Diens- Ernteausfälle zu Ernährungsunsicher- nern verfolgt sie diesen Ansatz für Dürren ten öffentlich zur Verfügung gestellte heit führten. Die Bargeldhilfen erfolgten mittlerweile in mehreren Projekten in Daten der Niederschlagsbeobachtungen digital auf Mobiltelefone, die bedürfti- Kenia, Madagaskar und Simbabwe. verwendet. Die kombinierte Nutzung der ge Haushalte vorab mit entsprechenden Datensätze trägt zu einer Absicherung der Nutzungshinweisen erhalten hatten. Das Datengrundlage und Datenzugang GeoWRSI-Ergebnisse bei. digitale Guthaben kann gegen Bargeld eingetauscht oder als Bezahlmittel in Für eine vorhersagebasierte humanitä- Datenauswertung und Maßnahmen Geschäften verwendet werden. Nach re Hilfe bei Dürren ist es erforderlich, Abschluss dieser vorhersagebasierten die verschiedenen Dürrerisiken in den Auf der Grundlage des WRSI ermittelt Dürrehilfe in Madagaskar verblieben die betroffenen Regionen zu verstehen. Auf die Welthungerhilfe in den Projektlän- Mobiltelefone zur weiteren Nutzung in Basis von Open Data aus globalen Lang- dern, welche Gebiete besonders häufig den Familien und Gemeinden. zeitbeobachtungen von Indikatoren – zu von Dürreereignissen betroffen waren Niederschlagsmengen, Bodentrockenheit und wie sich die WRSI-Werte der vor Ort Dominik Semet Programmkoordinator Forecast-based Action, und Wasserverfügbarkeit von Pflanzen verwendeten Grundnahrungspflanzen Welthungerhilfe – werden vergangene Dürreereignisse über die Dekaden (zehntägige Messin- analysiert und hieraus Erkenntnisse für tervalle) entlang der Vegetationsperiode Julia Burakowski die aktuelle Dürrebeobachtung gezogen. entwickelt haben. Aus diesen Analysen Referentin Forecast-based Action, Welthunger- hilfe Der von der Welthungerhilfe verwendete werden WRSI-Schwellenwerte definiert, Erdbeobachtungssysteme Kritische Eine Warnung wird Geldmittel Angepasst an die Negative Verluste können und Wissenschaftler:innen Grenzwerte ausgegeben und der werden jeweilige Situation Auswirkungen minimiert oder überwachen werden Auslösemechanismus bereitgestellt werden frühzeitige einer Dürre sogar verhindert Dürreindikatoren erreicht aktiviert Hilfsmaßnahmen werden werden getroffen abgeschwächt Abb. 6: Von der klassischen humanitären Hilfe hin zur vorausschauenden humanitären Hilfe
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