WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor

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WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor
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                          WeltRisik

WeltRisikoBericht 2022
Fokus: Digitalisierung
WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor
WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor
WeltRisikoBericht 2022
WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor
Impressum
Herausgeber WeltRisikoBericht 2022

Bündnis Entwicklung Hilft
Ruhr-Universität Bochum – Institut für Friedenssicherungsrecht und
Humanitäres Völkerrecht (IFHV)

Konzeption, Redaktion und Gestaltung

Peter Mucke, Bündnis Entwicklung Hilft, Projektleitung
Dr. Katrin Radtke, IFHV, wissenschaftliche Leitung
Lotte Kirch, Bündnis Entwicklung Hilft, Redaktionsleitung

Noémie Hamilius, Media Company, Redaktion
Lars Jeschonnek, Media Company, Redaktion
Naldo Gruden, Media Company, grafische Gestaltung und Infografik

Autor:innen

Impressum
Franziska Atwii, Welthungerhilfe
Dr. Kristin Bergtora Sandvik, PRIO, Universität Oslo
Lotte Kirch, Bündnis Entwicklung Hilft
Dr. Beáta Paragi, Corvinus-Universität Budapest
Dr. Katrin Radtke, IFHV
Sören Schneider, IFHV
Daniel Weller, IFHV

Unter Mitarbeit von

Julia Burakowski, Welthungerhilfe
Lennart Bade, Bündnis Entwicklung Hilft
Ami Carstensen, Bündnis Entwicklung Hilft
Kristin Garling, Bündnis Entwicklung Hilft
Paul Scherer, Christoffel-Blindenmission
Dominik Semet, Welthungerhilfe
Jan-Hinnerk Voss, terre des hommes

Übersetzung

Lisa Cohen, IFHV

Druck

Spree Druck Berlin,
gedruckt auf 100 Prozent Recycling-Papier,
CO2-kompensiert

ISBN 978-3-946785-13-2

Der WeltRisikoBericht wird seit 2011 jährlich vom
Bündnis Entwicklung Hilft publiziert.
Verantwortlich: Peter Mucke
WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor
Vorwort
                           Der bewaffnete Konflikt in der Ukraine prägt                 neue Modell des WeltRisikoIndex einen wichti-
                           das Jahr 2022 wie keine andere Krise. Millio-                gen Baustein für die langfristige Analyse gegen-
                           nen Menschen verloren ihr Leben oder sind auf                wärtiger Katastrophenrisiken bereit.
                           der Flucht. Die langfristigen Folgen des Kon-
                           fliktes für das internationale System weit über              Wie jedes Jahr wird der WeltRisikoIndex
                           die Ukraine hinaus sind gravierend; überall auf              durch ein Fokusthema ergänzt. Dieses Jahr be-
                           der Welt leiden Menschen unter explodieren-                  schäftigen wir uns mit der Digitalisierung. Die
                           den Nahrungsmittel- und Energiepreisen. Vor                  Autor:innen analysieren auf der Basis qualita-
                           allem in den Ländern am Horn von Afrika über-                tiver Forschung die große Bedeutung digitaler
                           lagern sich derzeit multiple Krisen zu einem                 Lösungen für die Katastrophenrisikoreduzie-
                           toxischen Gemisch, das vor allem die Ärmsten                 rung und die vorausschauende humanitäre
                           und Verletzlichsten existenziell bedroht. Vier               Hilfe, etwa im Rahmen der Frühwarnung, bei
                           ausbleibende Regenzeiten führten zu einer                    der Verarbeitung komplexer Datensätze zur
                           verheerenden Dürre und der Dezimierung des                   Bedarfsermittlung und der Übermittlung von
                           Viehbestands um bis zu 70 Prozent. Viele Fa-                 „Cash Transfers“. Sie machen aber auch deut-
                           milien verloren so ihre einzige Einnahmequelle               lich, dass mit der Digitalisierung viele noch
                           und konnten es sich nicht mehr leisten, auf den              ungelöste Probleme einhergehen, auf die Ant-
                           Märkten Lebensmittel zu kaufen, zumal diese                  worten gefunden werden müssen. Aus der Per-
                           infolge der Corona-Pandemie ohnehin knapper                  spektive von Wissenschaft und Praxis erarbei-
                           und damit teurer geworden sind. Der Zusam-                   tet der Bericht Forderungen an die nationale
                           menbruch der Landwirtschaft in der Ukraine,                  und internationale Politik für eine nachhaltige
                           die als die „Kornkammer der Welt“ gilt, setzt                und sozial gerechte Digitalisierung.
                           diesen Trend nun fort. Inzwischen hungern in
                           Ostafrika rund 17 Millionen Menschen.

                           Die Komplexität und Überlagerung von Kri-
                           sensituationen, wie wir sie in den vergangenen
                           Jahren beobachten können, haben auch Aus-                    Wolf-Christian Ramm
                           wirkungen auf die Art und Weise, wie wir Ka-                 Vorstandsvorsitzender
                           tastrophenrisiken berechnen. Auch deshalb ha-                Bündnis Entwicklung Hilft
                           ben wir uns dazu entschlossen, das Konzept des
                           WeltRisikoIndex grundlegend zu überarbeiten.
                           Dieses Jahr ist es nun so weit: mit dem Welt-
                           RisikoIndex 2022 stellen wir ein präziseres, dif-
                           ferenzierteres und transparenteres Modell vor,
                           das eine höhere Flexibilität bei der Integration             Prof. Dr. Pierre Thielbörger
                           neuer Faktoren ermöglicht. Damit stellt das                  Geschäftsführender Direktor IFHV

Bündnis Entwicklung Hilft bildet sich aus den Hilfswerken Brot für         Das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völker­
die Welt, Christoffel-Blindenmission, DAHW, Kindernothilfe, ­     medico   recht der Ruhr-Universität Bochum ist eine der führenden Einrichtungen
international, Misereor, Plan International, terre des hommes und
­                                                                          in Europa in der Forschung und Lehre zu humanitären Krisen. Aufbauend
Welthungerhilfe sowie den assoziierten Mitgliedern German Doctors          auf einer langen Tradition der wissenschaftlichen Auseinandersetzung
und Oxfam. In Katastrophen- und Krisengebieten leisten die Bündnis­        mit humanitärem Völkerrecht und den Menschenrechten verbindet das
Mitglieder sowohl akute Nothilfe als auch langfristige Unterstützung, um   Institut heute interdisziplinäre Forschung aus den Fachrichtungen der
Not nachhaltig zu überwinden und neuen Krisen vorzubeugen.                 Rechts-, Sozial-, Geo- und Gesundheitswissenschaft.
WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor
Weiterführende Informationen

Wissenschaftliche Angaben zur Methodik
und Tabellen sowie weitere Materialien sind
unter www.WeltRisikoBericht.de eingestellt.
Dort stehen auch die Berichte 2011 bis 2021
zum Download zur Verfügung.

Ein interaktiver Reader zu den WeltRisikoBerichten, der auch für
den Einsatz im Schulunterricht geeignet ist, ist unter
www.WeltRisikoBericht.de/#epaper abrufbar.

„Katastrophen weltweit“
Unterrichtsimpulse für die Sekundarstufen I und II “ –

Die vorherrschende Sicht des Globalen Nordens auf die
Länder des Globalen Südens ist oftmals von Katastrophen und
Konflikten geprägt. Aktuelle humanitäre Krisen wie Hunger,
Erdbeben und Überschwemmungen sind daher Themen, an die
schulischer Unterricht anknüpfen sollte. Das Unterrichtsmaterial
auf Basis des WeltRisikoBerichts bietet eine Grundlage, den
Zusammenhang zwischen extremen Naturereignissen und
gesellschaftlichen Faktoren wie wirtschaftlicher Stabilität,
Gesundheitsversorgung und guter Regierungsführung zu
vermitteln.

Das Unterrichtsmaterial setzt sich zusammen aus einer
Aufgabenübersicht für Lehrer:innen und interaktiven
Arbeitsblättern für Schüler:innen rund um das Themenfeld
Katastrophenrisiken mit vielen weiterführenden Informationen.
Es richtet sich an Schüler:innen der Sekundarstufe 1 und 2 und ist
zur Nutzung im Präsenz-, Hybrid- und Fernunterricht geeignet.

Das Online-PDF des Unterrichtsmaterials steht zum Download
bereit: www.WeltRisikoBericht.de/#unterrichtsmaterialien

WorldRiskReport

Der englischsprachige WorldRiskReport ist unter
www.WorldRiskReport.org verfügbar.
WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor
Inhalt

Zentrale Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

1. Digitalisierung und Katastrophenmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
   Lotte Kirch

2. Fokus: Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

      2.1 Trends der Digitalisierung in der Katastrophenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
          Franziska Atwii

      2.2 Digitale Risiken in Katastrophensituationen                                                                  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   24
          Beáta Paragi, Kristin Bergtora Sandvik

      2.3 Der Digital Divide im Katastrophenkontext:
          Herausforderungen und Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
          Sören Schneider

3. Der WeltRisikoIndex 2022 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39
    Daniel Weller

4. Anforderungen und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
    Bündnis Entwicklung Hilft, IFHV

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  60
WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor
Abbildung 1: WeltRisikoIndex 2022

                                    Zentrale Ergebnisse
                                    WeltRisikoIndex 2022                                  + Deutschland bewegt sich in der Gesamtwer-
                                                                                            tung im globalen Mittelfeld und belegt mit
                                    Der WeltRisikoIndex 2022 bewertet das Katastro-         einem Wert von 3,92 Rang 101 im WeltRisiko-
                                    phenrisiko für 193 Länder. Damit sind alle Mit-         Index. Infolge der Neukonzipierung des Welt-
                                    gliedsstaaten der Vereinten Nationen und über           RisikoIndex liegt Deutschland 2022 also nicht
                                    99 Prozent der Weltbevölkerung erfasst. Der Welt-       mehr wie in der Vergangenheit in der niedrigs-
                                    RisikoIndex wird auch in Zukunft stetig erweitert       ten Risikoklasse.
                                    und aktualisiert.
                                                                                          + Die Beispiele Südkorea, Italien und Griechen-
                                    + Die Länder mit dem höchsten Katastrophen-             land verdeutlichen den Grundsatz, dass sich
                                      risiko weltweit sind die Philippinen (WRI 46,82),     durch eine geringe oder sehr geringe Vulne-
                                      Indien (WRI 42,31) und Indonesien (WRI 41,46).        rabilität das Katastrophenrisiko auch bei sehr
                                                                                            hoher Exposition reduzieren lässt. Auf der an-
                                    + Neun der 15 Länder mit dem höchsten Katastro-         deren Seite zeigen die Beispiele DR Kongo,
                                      phenrisiko gehören zu den 15 bevölkerungs-            Nigeria, Sudan und Irak, dass eine sehr hohe
                                      reichsten Ländern der Welt.                           Vulnerabilität selbst bei mittlerer Exposition zu
                                                                                            einem hohen Katastrophenrisiko führen kann.
                                    + Viele Inselstaaten liegen aufgrund der Neube-
                                      rechnung des WeltRisikoIndex in diesem Jahr         + Amerika ist der Kontinent mit dem höchsten
                                      nicht mehr an der Spitze des Risikorankings,          Katastrophenrisiko. Auf dem zweiten Platz
                                      unter anderem weil nun sowohl absolute als            steht Asien, gefolgt von Afrika und dicht dahin-
                                      auch prozentuale Zahlen der gefährdeten Be-           ter Ozeanien. Europa hat das mit Abstand nied-
                                      völkerung in die Berechnung mit einfließen.           rigste Risiko im globalen Vergleich.
                                      Dadurch wird eine Verzerrung durch die Bevöl-
                                      kerungsgröße vermieden.                             + Der Kontinent mit der insgesamt höchsten Vul-
                                                                                            nerabilität ist Afrika. 13 der 15 vulnerabelsten
                                    + Die höchste Exposition hat China, gefolgt von         Länder der Welt liegen dort.
                                      Mexiko und Japan. Das vulnerabelste Land
                                      der Welt ist Somalia, gefolgt vom Tschad und
                                      Südsudan.
WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor
Fokus: Digitalisierung                                    Rang    Land                        Risiko      Abbildung 2:
                                                            1.    Philippinen                 46,82       Auszug aus dem
                                                                                                          WeltRisikoIndex 2022
+ Die Digitalisierung hat die Katastrophenvorsor-           2.    Indien                      42,31
  ge und -bewältigung maßgeblich verändert. In-             3.    Indonesien                  41,46
  formations- und Kommunikationstechnologien                4.    Kolumbien                   38,37
  (IKT) werden in allen Phasen des Katastrophen-            5.    Mexiko                      37,55
  managements zum Wissenserwerb, zur Infor-                 6.    Myanmar                     35,49
  mationsverbreitung, Kommunikation, sowie                  7.    Mosambik                    34,37
  Steuerung genutzt. Beispiele sind die Nutzung             8.    China                       28,70
  globaler Datenbanken zur Risikoanalyse, digita-           9.    Bangladesch                 27,90
  le Frühwarnsysteme, Anwendungen zur Scha-                10.    Pakistan                    26,75
  denserfassung oder die Kommunikation mit                 11.    Russische Föderation        26,54
  Betroffenen über Social-Media-Plattformen.
                                                           12.    Vietnam                     25,85
                                                           13.    Peru                        25,41
+ Voraussetzungen für die Anwendung von IKT
  im Katastrophenkontext sind der Zugang zu                14.    Somalia                     25,07
  einer IKT-Infrastruktur, digitale Kompetenzen,           15.    Jemen                       24,26
                                                            ...                                   ...
  einheitliche Richtlinien hinsichtlich Daten-
                                                          101.    Deutschland                  3,92
  schutz und Rechenschaftspflicht insbesondere              ...                                   ...
  in Zusammenarbeit mit Tech-Unternehmen, die             179.    Malediven                    1,02
  Bereitstellung frei zugänglicher Daten und an-
                                                          180.    Nauru                        1,00
  passbarer digitaler Anwendungen, sowie eine
                                                          180.    Slowakei                     1,00
  Ausrichtung auf die Bedarfe der Betroffenen,
                                                          180.    Tschechische Republik        1,00
  denen die Anwendungen dienen sollen.
                                                          183.    Ungarn                       0,97

+ Digitale Risiken, die im Zuge der Digitalisierung       184.    Bahrain                      0,95
  des Katastrophenmanagements entstehen,                  185.    Malta                        0,94
  sind vielfältig. Sie können in Verbindung mit           186.    Belarus                      0,83
  dem Design, der Nutzung und dem regulato-               187.    Singapur                     0,81
  rischen Umfeld von Technologien entstehen.              188.    Liechtenstein                0,79
  Entscheidend ist bei den Risiken das Zusam-             189.    Luxemburg                    0,52
  menspiel zwischen Technologie, Politik und              190.    São Tomé and Príncipe        0,48
  menschlichem Faktor. Während einige Risi-               191.    San Marino                   0,38
  ken in der Technologie selbst liegen, wie die           192.    Andorra                      0,26
  Anfälligkeit digitaler Infrastruktur gegenüber          192.    Monaco                       0,26
  extremen Naturereignissen, entstehen ande-
  re Risiken erst durch den Faktor Mensch, wie
  etwa Datenmissbrauch oder Desinformation.
  Alle diese Risiken können die Nutzung und           +   Mit der rapiden Digitalisierung des Katas-
  Wirksamkeit digitaler Anwendungen im Katast-            trophenmanagements entstehen zwangs-
  rophenmanagement erheblich beeinträchtigen.             läufig neue Schwachstellen und einherge-
                                                          hend Vulnerabilität. Um dieser Vulnerabilität
+ Abhängig von Alter, Gender, sozialer und geo-           entgegenzuwirken, sowie die Integrität der
  grafischer Herkunft sind IKT nicht für alle Men-        Katastrophenvorsorge und -bewältigung auf-
  schen gleich zugänglich, nutzbar oder produ-            rechtzuerhalten, sind proaktive Führung,
  zierbar. Dieser „Digital Divide“ birgt auch im          digitale Sicherheitsschulungen, technische
  Katastrophenkontext die Gefahr, globale und             Rechtskenntnisse und Investitionen in die
  lokale Machtstrukturen zu reproduzieren oder            Cybersicherheit unabdingbar. Besonders
  zu verschärfen und damit vulnerable Gruppen             Themen rund um Datenschutz, Rechen-
  weiter zu marginalisieren, wenn seine Auswir-           schaftspflicht und Ethik stehen derzeit im
  kungen von Hilfsorganisationen außer Acht ge-           Vordergrund.
  lassen werden.
WeltRisikoBericht 2022 Fokus: Digitalisierung - Misereor
1          igitalisierung und
                                  D
                                  Katastrophenmanagement
                        Der Klimawandel und seine Folgen haben die Anforderungen an das Katastrophen-
Lotte Kirch             management verändert. Angepasst an die sich verändernden Gegebenheiten enthält
Referentin Themen &
­Information, Bündnis   der WeltRisikoBericht 2022 den WeltRisikoIndex erstmalig seit seinem Erscheinen
 Entwicklung Hilft      im Jahr 2011 mit einem überarbeiteten Konzept, das weiterhin auf der Wechselwir-
                        kung zwischen Exposition und Vulnerabilität basiert. Mit dem diesjährigen Fokus
                        Digitalisierung beleuchtet der Bericht Veränderungen durch digitale Techniken in
                        der Katastrophenvorsorge und -bewältigung sowie einhergehende Risiken.

                        Die Folgen des Klimawandels sind auch in           sich verändernde Risikoprofile besser zu erfas-
                        diesem Jahr deutlich spürbar. Der Klimawandel      sen, haben wir das Konzept des WeltRisiko-
                        beeinflusst nicht nur, mit welcher Häufigkeit      Index umfassend überarbeitet. Digitalisierung
                        und Intensität extreme Naturereignisse auftre-     – das diesjährige Fokusthema des Berichts – ist
                        ten und wirken, sondern auch, wie wir diese        eine wesentliche Triebfeder für die Bereitstel-
                        wahrnehmen und bewerten. Einhergehend              lung der Datengrundlage. Gleichzeitig bietet
                        hat das Katastrophenmanagement heute einen         die Digitalisierung Potenziale für das Handeln
                        anderen Stellenwert als noch vor zehn Jahren.      von Staaten und humanitären Organisationen
                        Um sowohl diese Weiterentwicklungen als auch       im Katastrophenmanagement.

                        Neuer WeltRisikoIndex
                        Der im WeltRisikoBericht 2011 erstmals veröf-      Neuerungen im WeltRisikoIndex (mehr dazu
                        fentlichte WeltRisikoIndex ergänzte mit seinem     siehe Kapitel 3):
                        Fokus auf der Interaktion von Exposition und
                        Vulnerabilität für das Katastrophenrisiko die      +   Es werden nur noch Daten verwendet, die
                        zum damaligen Zeitpunkt veröffentlichten               nicht nur aus wissenschaftlich anerkann-
                        wissenschaftlichen Arbeiten zu Indexmodellen           ten Quellen stammen, sondern zudem ohne
                        in der Katastrophenforschung (Cardona 2005,            Einschränkung öffentlich und transparent
                        Peduzzi et al. 2009). Das von Bündnis Entwick-         zugänglich sind und kontinuierlich bereit-
                        lung Hilft und dem damaligen Kooperations-             gestellt werden. Einhergehend wurden Indi-
                        partner Institute for Environment and Human            zes wie der Fragile States Index oder der
                        Security der United Nations University in Bonn         Corruption Perception Index durch mehre-
                        konzipierte Risikomodell gilt heute als grundle-       re Einzelindikatoren ersetzt. Insgesamt
                        gend und diente als Vorbild für viele Modelle,         umfasst der WeltRisikoIndex nun 100 statt
                        wie zum Beispiel den Index for Risk Manage-            zuvor 27 Indikatoren.
                        ment (INFORM), der durch weitere Schwer-
                        punkte sowie Indikatoren ergänzt wurde.            +   In der Sphäre der Exposition werden neben
                                                                               Erdbeben, Wirbelstürmen, Überschwem-
                        Der WeltRisikoIndex 2022 stellt basierend auf          mungen, Dürren und Meeresspiegelanstieg
                        den vorherigen Arbeiten den nächsten großen            nun Tsunamis berücksichtigt und es wird
                        Entwicklungsschritt dar. Es ist das Er­gebnis          zwischen Küsten- und Flussüberschwem-
                        von mehreren Jahren intensiver konzeptio­              mungen unterschieden. Für alle Expositi-
                        neller und methodischer wissenschaft-                  onsarten fließen nun sowohl die absolute
                        licher Arbeit. Dies sind die wesentlichen              Anzahl exponierter Personen als auch ihr
Anteil an der Bevölkerung ein, um verzer-           die Einflüsse von Migration und Krisen auf
    rende Effekte auf die Expositionseinschät-          die Vulnerabilität besser abzubilden.
    zung durch die Bevölkerungsgröße zu
    vermeiden. Durch die reine Betrachtung des      +   Wenn für ein Land in einem Indikator Daten
    prozentualen Bevölkerungsanteils wurden             fehlen, nutzt der neue WeltRisikoIndex ein
    Länder mit geringerer Bevölkerungsgrö-              komplexes Verfahren, um die fehlenden
    ße bisher tendenziell schlechter eingestuft,        Werte zu schätzen. Dies ermöglicht, dass
    obwohl die absolute Anzahl der exponierten          der Index nun alle 193 Mitgliedsstaaten der
    Personen in bevölkerungsreichen Ländern             Vereinten Nationen abbildet.
    um ein Vielfaches höher sein kann. Ein
    Beispiel: In Vanuatu, im bisherigen Welt-       Insgesamt bewirken diese konzeptionellen und
    RisikoIndex stets auf Rang 1, sind 25,56        methodischen Anpassungen auch, dass sich
    Prozent der Bevölkerung vom Meeresspie-         die Bewertung des Risikos einiger Länder sehr
    gelanstieg bedroht. Absolut sind dies knapp     deutlich gegenüber den Ergebnissen früherer
    65.000 Menschen. In China bedroht der           Ausgaben verändert haben. So hat beispiels-
    Meeresspiegelanstieg nur 0,56 Prozent der       weise die USA anstatt wie bisher ein geringes
    Bevölkerung. Doch absolut sind dies fast        im neuen Index ein sehr hohes Risiko. Die
    acht Millionen Menschen.                        unterschiedlichen Bewertungen machen auch
                                                    die Grenzen deutlich: Jedes Indexmodell ist
+   Zudem gehen pro Expositionsart neuer-           nur eine Modellierung der Realität, kann nicht
    dings drei Intensitätsstufen in die Berech-     alle Einflussgrößen ganzheitlich erfassen und
    nung ein. Auf diese Weise ist es möglich,       ist abhängig von den zur Verfügung stehenden
    Regionen, die häufiger von schwächeren          Daten. Mit den Überarbeitungen haben wir
    Ereignissen betroffen sind, mit Regionen        nun ein Modell geschaffen, das präzisere und
    zu vergleichen, die seltener, aber dafür mit    ausdifferenziertere Risikoanalysen erlaubt und
    stärkerer Intensität getroffen werden.          einfach erweitert und angepasst werden kann.
                                                    So ist es unser Ziel zukünftig, zum Beispiel
+   In der Sphäre der Vulnerabilität werden nun     Hitze- und Kältewellen in der Exposition sowie
    Indikatoren zu Geflüchteten, Vertriebenen und   materielle Absicherung in der Vulnerabilität zu
    Asylsuchenden sowie zu den durch Konflikte      integrieren, die bisher aufgrund fehlender Indi-
    und Naturereignisse betroffenen Menschen        katoren noch nicht miteinfließen. Die Digitali-
    in den letzten fünf Jahren berücksichtigt, um   sierung kann hoffentlich dazu beitragen, diese
    die Lebensrealitäten in vielen Ländern und      Lücken künftig zu schließen.

Digitalisierung im Fokus
Digitalisierung hat täglich Einfluss auf unser      Informationen in maschinenlesbare Daten
Leben: Sie prägt unser Zusammenleben, unse-         umsetzt, speichert, verarbeitet und kombiniert
re Kommunikation, unsere Arbeit, unseren            und in erfassbare Formate wie Schrift, Sprache
Konsum. Wie im Alltag ist sie auch aus der          oder Bild umwandelt. Durch Computer und
Katastrophenvorsorge und -bewältigung nicht         Internet finden diese Prozesse automatisiert
mehr wegzudenken. Digitale Elemente haben           und vernetzt statt. Die gesellschaftliche Ebene
Eingang in jegliche Prozesse des Katastrophen-      beschreibt das Zusammenspiel dieser Tech-
managements gefunden und bringen neben              nologien mit den Menschen, die sie gestalten,
Chancen auch neue Risiken mit sich, die unter-      steuern, weiterentwickeln, nutzen und damit
sucht und verstanden werden müssen.                 ihre Wirkung entfalten (Müller-Brehm et al.
                                                    2020, 4). Zentraler Teil davon sind Informa-
Um Digitalisierung aufzuschlüsseln, müssen          tions- und Kommunikationstechnologien (IKT).
zwei Ebenen beachtet werden: die technolo-
gische und die gesellschaftliche. Die techno-       Seit den 1990er-Jahren auf dem rasanten
logische Ebene beschreibt den Prozess, der          Vormarsch, stehen die Digitalisierung und
Digitales
                                          Digitales im im Katastrophenmanagement
                                                       Katastrophenmanagement

                       Frühwarnung                                Extremes Naturereignis / akute Krise                                Soforthilfe

                                 Datenbanken zum Austausch zwischen humanitären Akteuren                               Digitale Registrierung
Katastrophenvorsorge

                                                                                                                       von Betroffenen

                                                                        Push-                                          Geldtransfers in Form von
                                                                        Notifications                                  eCash & eVoucher
                              Satellitendaten
                                                                        in Apps
                                                                                                                       Drohnen
                                                    Sensoren                              Massen-SMS
                              Datengewinnung
                              und -auswertung                                                             Digitale Steuerung, Dokumentation und
                                                                         Soziale Medien
                                                                                                          Nachverfolgung von Hilfsmaßnahmen

                                                                                                                                                            Katastrophenbewältigung
                                                                           Shared-Economy
                                                                           Apps                für
                                                                           Beratung-Apps       Bereiche
                                                                                               wie:
                                                                           Mess- und
                                                                           Evaluations-Apps                Bildung    Gesundheit       Landwirtschaft
                       Big Data und künstliche Intelligenz

                       Risikoanalyse                                                                                             Wiederaufbau
                       und Vorbeugung                                                                                            und Erholung

                                           Abbildung 3: Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien zur Analyse, Bewertung, Koordination und
                                           Durchführung in den Phasen des Katastrophenmanagements

                                           ihre Weiterentwicklung häufig als Symbol und                  Grundlage für Innovationen und wirtschaftli-
                                           gleichzeitig Voraussetzung für (wirtschaftli-                 chen Aufstieg diverser Geschäftsmodellen, auf
                                           chen) Fortschritt. Während die Digitalisierung                der an­deren dominieren riesige Tech-Konzer-
                                           zunächst vor allem Freude über neue techni-                   ne überwiegend aus dem Globalen Norden den
                                           sche Möglichkeiten mit sich brachte, schnell                  Markt, setzen eigene Maßstäbe und drohen
                                           für viele Menschen zugänglich wurde und von                   staat­licher Kontrolle zu entfliehen. Digitale
                                           einer besseren, gerechteren Welt träumen ließ,                Techniken zur schnellen und genauen Erfas-
                                           haben sich inzwischen auch die Risiken deut-                  sung von Umweltzuständen erlauben präzise
                                           lich hervorgetan. Einerseits ermöglichen digi-                Vorhersagen zu drohenden Naturereignissen
                                           tale Technologien mehr Menschen an gesell-                    und ihren Auswirkungen und bilden die Basis
                                           schaftlichen Prozessen teil­zunehmen, sich                    für neue Schutzmaßnahmen wie beispiels-
                                           politisch zu organisieren oder ihre Meinung                   weise von Algorithmen gesteuerte Gewich-
                                           zu äußern, andererseits werden sie für Hass-                  te auf Dächern zum Schutz vor Erd­beben
                                           rede, Überwachung, Manipulationen und den                     (Sauer 2022). Weniger Autofahrten und Flüge
                                           autoritären Machterhalt missbraucht. Sie                      durch digitales Arbeiten tragen außerdem zu
                                           bieten jederzeit frei verfügbare Informatio-                  einer geringeren CO2-Bilanz bei. Auf der ande-
                                           nen und erlauben es, Wissen einfach aufzube-                  ren Seite kostet die Digitalisierung massiv
                                           reiten und zu teilen. Der Zugang dazu jedoch                  Energie sowie Rohstoffe und macht weltweit
                                           erfordert die nötige Infrastruktur sowie die                  rund vier Prozent der CO2-Emissionen aus
                                           Fähigkeiten, Wissen zu konsumieren, zu                        – Tendenz steigend. Oftmals kurzlebige tech-
                                           verarbeiten und zu kommunizieren. Ungleiche                   nische Geräte benötigen Mengen an Rohstof-
                                           Teilhabe an der Digitalisierung droht existie-                fen, Pro­­duktionsstätten verbrauchen Energie
                                           rende Macht­ungleichheiten zu verfestigen.                    und belasten die Umwelt mit ­Schadstoffen
                                           Auf der einen Seite bilden digitale Techniken                 (Grefe 2020).
Diese Beispiele zeigen: Die Digitalisierung ist     Die folgenden Artikel zum Fokusthema konzen-
weder ein vollkommener Wegbereiter für Gleich-      trieren sich auf ebendiese Veränderungen. Sie
heit, Teilhabe, Wohlstand oder Klimaneutralität     erläutern, welche Techniken in der Katastro-
noch ein überflüssiger Modernisierungsprozess       phenvorsorge und -hilfe bereits verwendet
ohne Potenzial für gesellschaftlichen Wandel.       werden, beleuchten bestehende Herausforde-
Ihre ambivalente Wirkung muss aus verschie-         rungen sowie neu entstehende Risiken in der
denen Blickwinkeln betrachtet werden. Eine          Nutzung und zeigen Handlungsbedarfe auf.
aktive (politische) Gestaltung der Digitalisie-     Während Atwii (Artikel 2.1) schildert, welche
rung ist unabdingbar, um sie und ihre positiven     Arten von IKT – von Daten zur Nutzung in der
wie negativen Auswirkungen zu steuern. Dabei        Landwirtschaft über digitale Registrierungs-
muss es zentral auch um die Fragen gehen,           systeme für Geflüchtete bis zu gesundheitli-
welchen Nutzen die Digitalisierung hat, wer von     chen Beratungs-Apps – in der Praxis bereits
ihr profitiert und zu welchem Preis.                eingesetzt werden, bieten Paragi und Sandvik
                                                    (Artikel 2.2) einen ganzheitlichen Überblick
Digitalisierung im Kontext von Katastrophen         über die Risiken der Digitalisierung im Kata-
                                                    strophenmanagement und mahnen aufgrund
Was für digitale Technologien allgemein gilt,       „unendlicher neuer Vulnerabilität“ ein besse-
zeigt sich auch im Kontext von Katastrophen:        res Verständnis der Risiken an. Schneider (Art.
Die Digitalisierung hat in allen Phasen des         2.3) analysiert die ungleichen Zugänge zu IKT
Katastrophenmanagements neue Möglichkei-            und veranschaulicht, wie Digital Divide(s) die
ten geschaffen – aber nicht ohne Kehrseiten.        Potenziale der Digitalisierung für eine Loka-
Von Menschen genutzte IKT liefern wichtige          lisierung der Katastrophenhilfe einschränken
Daten für die Risikoanalyse, stellen im Ernstfall   und stattdessen bestehende Machtungleichhei-
essenzielle Informationen bereit und beschleu-      ten verfestigen.
nigen den Beginn von Hilfsmaßnahmen. Zudem
dienen sie als wichtige Instrumente im Kampf        Und weiter?
gegen Hunger, Armut und soziale Ungleichheit
sowie für verbesserte Gesundheitsversorgung         Digitale Techniken sind nicht per se von Nutzen
und Bildungsmöglichkeiten, folglich auch für        und tragen nicht automatisch zu einer Senkung
nachhaltige Entwicklung und eine geringere          der Vulnerabilität bei, sondern bringen Heraus-
Vulnerabilität. Gleichzeitig bringt der zuneh-      forderungen und Risiken mit sich, denen
mende Einsatz und damit auch die wachsende          begegnet werden muss. IKT sollten gezielt
Abhängigkeit von digitalen Techniken Heraus-        dort eingesetzt werden, wo sie einen Mehrwert
forderungen und Risiken mit sich. Die digita-       bringen, und nicht aus reinem Druck zur Digi-
le Infrastruktur ist anfällig für Schäden durch     talisierung und Innovation. Wir können davon
extreme Naturereignisse, digitalisierte Daten       ausgehen, dass sich der Einsatz von IKT auch
über Hilfsempfänger:innen können leichter           im Katastrophenmanagement weiter ausdeh-
missbraucht werden oder digitale Desinforma-        nen wird. Insbesondere für humanitäre Organi-
tion können im Katastrophenfall Schutzmaß-          sationen gilt daher: Sie müssen die Gestaltung
nahmen untergraben. Im Zuge der Digitali-           und den Einsatz nach den Interessen Betroffe-
sierung haben sich auch die Kommunikation,          ner ausrichten. Solch eine Digitalisierung kann
Projektdurchführung und Zusammenarbeit              nur lokaler, sozial gerechter und nachhalti-
humanitärer Akteure verändert. Die Digitali-        ger– und möglicherweise auch sachter– sein.
sierung des Katastrophenmanagements bezieht         Ob eine neue digitale Weltordnung, die vorran-
sich daher auf Veränderungen durch erstens die      gig im Kreis der G7 verhandelt wird, dafür der
Einbindung von IKT in den operativen Alltag         richtige Weg ist, ist mindestens fragwürdig
humanitärer Akteure, zweitens die massive           (Hilbig 2022). Handlungsbedarf – das wird in
Datafizierung von Katastrophen, das heißt die       den folgenden Artikeln deutlich – gibt es dafür
Übertragung von Informationen zu Katastro-          reichlich und einhergehend bleibt der Auftrag
phen und -hilfe in maschinenlesbare Formate,        als Zivilgesellschaft, den Prozess kritisch zu
und drittens die Bereitstellung digitaler Tech-     begleiten, sich den ethischen Debatten zu stel-
nologien, wie Drohnen und digitales Geld.           len und entsprechend zu handeln.
Das Konzept des WeltRisikoBerichts

       Exposition

                    Anzahl und Anteil     Stark
                    der Bevölkerung       Schwer
                    in Bezug auf          Extrem
                                          Intensitäten    Erdbeben          Tsunamis     Wirbelstürme     Küstenüber-   Flussüber-       Dürren      Meeresspiegel-
                                                                                                        schwemmungen schwemmungen                       anstieg

                                          WeltRisikoIndex =                            Exposition ×              Vulnerabilität

                                                                                                          Mangel an                       Mangel an
     Vulnerabilität                                                  Anfälligkeit                  Bewältigungskapazitäten           Anpassungskapazitäten

                           setzt sich zusammen aus

Abbildung 4: Der WeltRisikoIndex und seine Sphären

Risikobegriff und Ansatz                                 + Exposition gegenüber Erdbeben, Tsu-                    Naturgefahren sehr wichtig, aber es liegen
                                                            namis, Wirbelstürmen, Küstenüber-                     hierzu bislang keine hinreichenden Daten
Die Risikobewertung im WeltRisikoBericht                    schwemmungen, Flussüberschwem-                        vor. Außerdem kann es Abweichungen in
beruht auf dem grundsätzlichen Verständ-                    mungen, Dürren und Meeresspiegel­                     der Datenqualität zwischen verschiedenen
nis, dass für die Entstehung einer Kata-                    anstieg                                               Ländern geben, wenn die Datenerhebung
strophe nicht allein entscheidend ist, wie                                                                        nur durch nationale Autoritäten und nicht
hart die Gewalten der Natur die Menschen                 + Anfälligkeit in Abhängigkeit vom sozio-                durch eine unabhängige internationale
treffen, sondern auch, wie verwundbar                       ökonomischen      Entwicklungsniveau,                 Institution erfolgt.
die Gesellschaft ist, auf die ein extremes                  von gesellschaftlichen Disparitäten
Naturereignis trifft (Bündnis Entwicklung                   und Benachteiligungen sowie von der                   Neben dem WeltRisikoIndex enthält
Hilft 2011).                                                Schwächung der Bevölkerung durch                      der Bericht immer auch ein Fokuskapi-
                                                            Gewalt, Katastrophen und Krankheiten                  tel mit qualitativer Herangehensweise,
Risikobewertung                                                                                                   das Hintergründe und Zusammenhänge
                                                         + Mangel an Bewältigungskapazitäten                      beleuchtet – in diesem Jahr zum Thema
Der WeltRisikoBericht beinhaltet den Welt-                  bezogen auf gesellschaftliche Schocks,                „Digitalisierung“.
RisikoIndex, den das Bündnis Entwicklung                    politische Stabilität, Gesundheitsver-
Hilft gemeinsam mit der United Nations                      sorgung, Infrastruktur und materielle                 Ziel des Berichts
University Bonn entwickelt und erstmals                     Absicherung
2011 veröffentlicht hat. In diesem Jahr                                                                           Die Darstellung des Katastrophenrisikos
präsentieren das Bündnis und das Institut                + Mangel an Anpassungskapazitäten im                     mithilfe des Index und seiner zwei Sphä-
für Friedenssicherungsrecht und Humani-                     Hinblick auf Entwicklungen in Bildung                 ren zeigt die weltweiten Hotspots des
täres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universi-                 und Forschung, Abbau von Disparitä-                   Katastrophenrisikos und die Handlungs-
tät Bochum, seit 2018 Mitherausgeber des                    ten, Investitionen und Katastrophen-                  felder für die erforderliche Risikoreduzie-
WeltRisikoBerichts, den WeltRisikoIndex                     prävention.                                           rung auf quantitativer Basis. Auf dieser
in einer fundamental überarbeiteten Form                                                                          Grundlage, ergänzt durch die qualitativen
(mehr dazu in Kapitel 1 und 3). Die Berech-              Im WeltRisikoIndex können – wie in jedem                 Analysen, können Handlungsempfeh-
nung des Katastrophenrisikos erfolgt für                 Index – nur Indikatoren berücksichtigt                   lungen für nationale und internationa-
193 Staaten weltweit und basiert auf der                 werden, für die nachvollziehbare, quantifi-              le, staatliche und zivilgesellschaftliche
Wechselwirkung zwischen den Sphären                      zierbare Daten verfügbar sind. Beispielswei-             Akteure formuliert werden.
der Exposition und der Vulnerabilität (vgl.              se ist die Wohnsituation der Menschen mit
auch Abbildung oben):                                    Blick auf ihre Verwundbarkeit gegenüber
2         Digitalisierung
                               2.1 Trends der Digitalisierung
                               in der Katastrophenhilfe

                               Digitalisierung ist inzwischen ein fester Bestandteil der Katastrophenhilfe: Satel-
Franziska Atwii                liten liefern Daten zu extremen Wetterereignissen, Warnungen vor Katastrophen
Teamleiterin Abteilung
­Innovation, Welthungerhilfe
                               werden in Apps integriert und Informationen zum Katastrophenschutz per Massen-
                               SMS und sozialen Medien bereitgestellt. Aufbauend auf Erfahrungen aus der Praxis
                               gibt der Artikel einen Überblick über eine Vielzahl digitaler Techniken, die in der
                               Katastrophenhilfe bereits zum Einsatz kommen, und zeigt anhand von Trends in der
                               Datensammlung, der Interaktion mit Betroffenen und der Kooperation mit anderen
                               Akteuren auf, wie sich die Katastrophenhilfe durch diese digitalen Techniken verän-
                               dert hat und welche Herausforderungen in der Nutzung bestehen. Neben Auswer-
                               tungen der Welthungerhilfe und Fachgesprächen mit Mitarbeitenden, sind durch
                               Einzelinterviews auch Perspektiven von Betroffenen in diesen Artikel eingeflossen.

                               Zunehmende Digitalisierung verändert die Art      wie Sensoren, um Umwelteinflüsse automatisch
                               und Weise, wie Katastrophenhilfe weltweit         zu überwachen, offen zugängliche Datensamm-
                               geleistet wird (Akhmatova et al. 2020, 1). Sie    lungen und neue Big-Data-Analysetechniken
                               verspricht Effizienz- und Effektivitätssteige-    mit künstlicher Intelligenz eröffnen weitrei-
                               rung. Katastrophen nehmen zu – insbesonde-        chende Möglichkeiten in der Vorhersage von
                               re solche, die vom Klimawandel ausgelöst bzw.     Katastrophen (Bettini et al. 2020, 8-11; Veron
                               verstärkt werden. Die Kluft zwischen benötig-     2022, 2). Potenzielle Schwachstellen im Kata-
                               ten und verfügbaren finanziellen Ressourcen       strophenfall und Bedürfnisse von Gemein-
                               für Katastrophenhilfe wächst und macht eine       schaften können bewertet werden und erlauben
                               Optimierung der Hilfsleistungen unabding-         frühes Gegensteuern mit präventiven Maßnah-
                               bar, ohne dabei jedoch den Zugang zu Hilfe für    men, sodass die Auswirkungen auf Betroffe-
                               betroffene Menschen zu komplex zu gestalten       ne reduziert werden können (Veron 2022, 2).
                               (Veron 2022, 1). Aktuell lassen sich drei Digi-   Entscheidungsträger:innen werden mit verläss-
                               talisierungstrends im Sektor erkennen, auf        licheren Prognosen ausgestattet, um entspre-
                               die im Folgenden näher eingegangen wird: (1)      chende Ressourcen bereitzustellen (Ranasinghe
                               verbesserte Datensammlung und -analyse für        2019, 149).
                               Vorhersagen und für den Katastrophenfall,
                               (2) Digitalisierung in der Interaktion mit den    Eine große Herausforderung für die Entwick-
                               Betroffenen und (3) die unabdingbare Auswei-      lung zuverlässigerer Prognosemodelle ist das
                               tung der Kooperationen im digitalen Bereich       Sammeln und Speichern qualitativ hochwer-
                               mit bekannten, aber auch neuen Akteuren.          tiger Daten über längere Zeiträume. Oftmals
                                                                                 reicht eine Informationsquelle, wie Satel-
                               Verbesserte Datensammlung und -analyse            litendaten, allein nicht aus, sondern muss
                                                                                 beispielsweise mit Bodendaten kombiniert
                               Das exponentielle Wachstum von Informa-           werden (Cheney 2021). Hier kommen staatli-
                               tions- und Kommunikationstechnologien (IKT)       che und nicht-staatliche Akteure vielfach an
ihre technischen Grenzen. Datenwissenschaft         Neben der Verwendung von Daten für Prog-
ist ein hoch spezialisiertes Feld und viele Fach-   nosen kommen verschiedene digitale Daten-
kräfte bevorzugen die oft besser dotierten Stel-    sammlungen auch im konkreten Katastro-
len im Privatsektor. Ein Beispiel: Im Jahr 2016     phenfall zum Einsatz. Um sich nach einem
verlor das kambodschanische Katastrophen-           extremen Naturereignis einen Überblick zu
managementkomitee 70 Prozent aller zwischen         verschaffen, werden zum Beispiel zunehmend
1996 und 2013 gesammelten Daten in ihrem bis        Drohnen eingesetzt (Akhmatova et al. 2020,
dahin als Vorreiter geltenden Katastrophen-         3). Mobilfunkdaten werden immer häufiger zur
informationssystem CamDI. Die Daten waren           Modellierung von Migrationsströmen genutzt.
aufgrund begrenzter Kenntnissen der Mitarbei-       Jeder Anruf über das Funknetz von Personen
tenden während einer technischen Umstellung         im Gefahrengebiet generiert einen Datensatz
nicht ausreichend gesichert worden (Bettini et      mit Telefonnummer, Zeitstempel und Mobil-
al. 2020, 8; NSTC 2016).                            funkmast. Während solche Daten derzeit meist
                                                    nach einer Krise analysiert werden, werden
Große Potenziale für die Bereitstellung benötig-    in Zukunft Echtzeitanalysen sowie auf Algo-
ter Daten für Vorhersagemodelle zur Nutzung         rithmen basierende Vorhersagen vorliegen
in der Landwirtschaft liegen in IKT, bei denen      (Bettini et al. 2020, 11f). Darüber hinaus geben
das Internet der Dinge, biotechnologische Inno-     von Google generierte Mobilitätsberichte seit
vationen, Cloud Computing, Drohnen, Sensoren        Beginn der Corona-Pandemie einen Überblick
und Robotik genutzt werden. Diese IKT gene-         zur Kontrolle der von Regierungen umgesetz-
rieren täglich enorm wertvolle Daten, die für       ten Maßnahmen (Google 2022). Da Mobilfunk-
Vorhersagemodelle genutzt werden könnten.           muster jedoch kulturell sehr unterschiedlich
Auch wenn es Anzeichen dafür gibt, dass deren       sind, können Daten mitunter unspezifisch sein.
Nutzung für die Landwirtschaft global weiter        Beispielsweise dadurch, dass ein Mobilfunkge-
zunimmt, können die Technologien derzeit            rät von mehreren Personen genutzt wird, Gerä-
aufgrund der hohen Kosten noch nicht flächen-       te über lange Zeiträume ausgeschaltet sind oder
deckend eingesetzt werden, insbesondere nicht       bestimmte Funktionen wie GPS oder mobile
von landwirtschaftlichen Kleinbetrieben vor         Datennutzung deaktiviert werden. Generell ist
allem in Afrika (Jellason et al. 2021, 1-7). In     die Mobilfunkdatennutzung in der humanitä-
der vorhersagebasierten humanitären Hilfe,          ren Hilfe sehr umstritten, insbesondere dort,
die kontinuierlich zunimmt, kommen solche           wo Anonymität für schutzbedürftige Gruppen
Geodaten bereits zum Einsatz, um frühzeitig         wichtig ist (Bettini et al. 2020, 11-16; siehe auch
zielgerichtete Maßnahmen zur Bekämpfung von         Artikel 2.2).
Schäden durch extreme Naturereignisse einzu-
leiten (siehe Box Seite 21).                        Ein weiterer Trend der Datenerfassung in Kata-
                                                    strophenfällen ist Crowd-Sourcing. Dabei stel-
Ein weiterbestehendes Problem ist, dass durch       len Menschen im betroffenen Gebiet bewusst
IKT generierte Daten oftmals nicht öffentlich       selbst Daten bereit, meist über soziale Medien
bereitgestellt werden. Zugriff besteht allein für   und Micro Blogs, die anschließend in Analysen
Entwickler:innen und Nutzer:innen der Tech-         verwendet werden. Nach dem Erdbeben in Haiti
nologien (Grain 2021). Positiv zu beobachten        2020 beispielsweise wurden von Nutzer:innen
ist, dass innovative Wege eingeleitet wurden,       bereitgestellte Informationen über das Ausmaß
um Datenlücken zu schließen. Ein Beispiel ist       der Schäden und bereits erhaltene Hilfe zur
das NASA Harvests „Helmets Labeling Crops“-         Koordinierung von Hilfsmaßnahmen genutzt.
Projekt, das mit auf Fahrzeugen montierten          Im selben Jahr wurde in Jakarta eine Echt-
Kameras Geodaten zum Zustand von Nutzpflan-         zeitkartierung von Überschwemmungen auf
zen erfasst. Solche Geodaten sind jedoch nur        Grundlage von Twitter-Feeds erstellt. Eine
so wertvoll wie die begleitenden Maßnahmen,         Herausforderung bei Crowd-Sourcing im Kata-
die zur Nutzung ihrer Erkenntnisse ergriffen        strophenmanagement stellen technische Fähig-
werden. Oft fehlen leistungsfähige Computer und     keiten dar, die in den meisten Hilfsorganisati-
Datenwissenschaftler:innen, die Daten in Hand-      onen noch nicht ausreichend vorhanden sind
lungsempfehlungen übersetzen (Cheney 2021).         (Bettini et al. 2020, 8f).
Digitalisierung in der Interaktion mit den          mit weiteren digitalen Anwendungen werden
Betroffenen                                         die Wirkung von Hilfsleistungen verbessern.
                                                    Die Welthungerhilfe entwickelt zum Beispiel
Getrieben vor allem von Finanzgebern setzen         den Child Growth Monitor, der es ermöglicht,
Hilfsorganisationen häufiger die digitale Regist-   den Ernährungszustand von Kindern per Foto
rierung von Betroffenen ein, da dies mehr Trans-    zu bewerten. Verbunden mit Registrierungs-
parenz und Rechenschaft verspricht. Damit           und Abwicklungssystemen kann eine solche
wird die digitale Registrierung immer mehr zur      Anwendung in der Katastrophensituation dazu
Voraussetzung für den Zugang zu Hilfsleistun-       beitragen, dass Kinder, deren Ernährungszu-
gen. Registrierungssoftwares sind zunehmend         stand kritisch ist, schon bei der Erstregistrie-
mit e-Cash oder e-Voucher Systemen verbun-          rung identifiziert werden.
den und erlauben die effiziente Abwicklung von
Hilfsmaßnahmen. Hilfsorganisationen nutzen          Statt Softwares einzeln für bestimmte Projek-
dafür oft mehrere digitale Systeme (Akhmato-        te, Geldgeber oder Kontexte hausintern neu zu
va et al. 2020, 2). Gründe sind Präferenzen der     entwickeln, sollte langfristig mehr Wert darauf
Finanzgeber oder dass ein System allein oft nicht   gelegt werden, Funktionen modular zu stan-
alle Formen von Hilfsmaßnahmen abwickeln            dardisieren. Hier muss eine Balance zwischen
kann. Die Welthungerhilfe nutzt zum Beispiel        der digitalen Abbildung aller Prozesse und der
die Abwicklungssysteme SCOPE, RedRoses              Skalierbarkeit der Software gefunden werden.
und GenTag, die Registrierung, Bargeldtrans-        Es sollte möglich sein, zwischen verschiedenen
fers und Gutscheinabwicklung ermöglichen.           Preismodellen zu wählen, denn nicht jede Orga-
Für Geflüchteten-Projekte in der Türkei wurde       nisation kann sich biometrische Datenerfassung
darüber hinaus hausintern eine eigene Daten-        leisten oder hat dafür Fachpersonal zur Verfü-
bank entwickelt, die aber von einem neuen           gung. Zudem machen es Anforderungen an
Standard Monitoring System abgelöst wird, da        Datenschutzbedingungen – die sich innerhalb
die Instandhaltung der Software zu kostspielig      eines Landes abrupt ändern können – schwie-
wird und sie auf ein einziges Projekt ausgelegt     rig, verschiedene Softwareprodukte inner-
war und somit schwer skalierbar ist (Interview      halb einer Organisation gleichzeitig zu nutzen
mit Ausama Almorei).                                (Veron 2022, 5; Interview mit Sherinah Ngabo).
                                                    Deshalb werden sich in den nächsten Jahren
Neben Abwicklungssystemen nutzen Hilfsor-           voraussichtlich einige wenige Softwareanbieter
ganisationen digitale Softwares für das Moni-       für den humanitären Sektor durchsetzen, die
toring von Hilfsmaßnahmen. Mit Programmen           die Anforderungen des internen und externen
wie Field Buzz, AkvoFlow und Kobo Toolbox           Datenaustauschs, der Datensicherung sowie der
werden geleistete Maßnahmen, zum Beispiel           modularen Anpassbarkeit durch Drittanbieter
die Verteilung von Hilfsgütern, direkt über ein     umzusetzen verstehen.
Smartphone registriert und können zentral über
ein Dashboard nachverfolgt werden. Darüber          Darüber hinaus hat sich auch die Bereitstel-
hinaus können Wirkung und Zufriedenheit mit         lung der Hilfe durch digitale Techniken verän-
geleisteten Hilfsmaßnahmen evaluiert werden,        dert. So wird die Sachleistungsunterstützung
indem die Ergebnisse von Umfragen mit Betrof-       in Form von Hilfsgütern zunehmend von
fenen in einer App erfasst werden. Die digita-      Gutschein- oder Bargeld-basierten Hilfsmaß-
le Erfassung von Personen ermöglicht auch           nahmen abgelöst. Solche Zahlungen sind effizi-
Personen Zugang zu einer digitalen Identität,       enter und stärken Handlungskompetenzen von
die keine Ausweispapiere haben. Verknüpft mit       Betroffenen ebenso wie lokale Märkte (Burton
biometrischen Informationen erhöhen diese           2020; Cohen / Salaun 2017, 158f). Um sowohl
digitalen Ausweismöglichkeiten die Verarbei-        die Inklusion aller Betroffenen als auch den
tungsgeschwindigkeit und reduzieren Betrug.         Datenschutz sicherzustellen, sind Agilität in der
                                                    Umsetzung sowie kontinuierliche Anpassun-
In den nächsten Jahren sind erhebliche Opti-        gen der Maßnahmen nötig. Zusätzlich müssen
mierungen in den Registrierungs- und Abwick-        neue Kompetenzen im Team zur Verwaltung
lungssystemen zu erwarten, und Verankerungen        der Finanzströme aufgebaut werden (Burton
Digitale Registrierung

  Identifizierung                             Datenerfassung von                          Datenverarbeitung                   Berechtigungsnachweis
  von Betroffenen                             Name, Alter,
                                              Geschlecht, Ort

Abbildung 5: Registrierung von Betroffenen in digitalen Systemen für den Zugang zu Hilfsleistungen

                                2020; Cohen / Salaun 2017, 158ff). Die Zusam-                        erreicht und über WhatsApp Audiobotschaf-
                                menarbeit mit Akteuren aus dem Privatsektor                          ten mit Informationen zum Virus und zur
                                im Finanz- und Technologiebereich für die                            Prävention versendet werden (Interview mit
                                Weiterentwicklung der Anwendungen erfordert                          Nigel Gambanga). Dies ermöglichten bereits
                                Anpassungen von Organisationsprozessen in                            etablierte Telefonlisten und WhatsApp-Grup-
                                den Hilfsorganisationen, die die interne Macht-                      pen des Landesteams der Welthungerhil-
                                verteilung, Ressourcenallokation und Leis-                           fe. Um in Krisenzeiten digitale Ansätze zur
                                tungsbewertung verändern. Gleichzeitig wird                          Kommunikation zu nutzen, muss die dafür
                                die traditionelle Sachleistungsunterstützung                         erforderliche digitale Kompetenzentwicklung
                                für Betroffene weiterhin dort gebraucht, wo                          bereits in Präventionsprogramme mit Betrof-
                                lokale Märkte nicht ausreichend Güter bieten                         fenen eingebunden werden.
                                oder die technologische Infrastruktur nicht
                                funktioniert. Auch die Sachleistungsunterstüt-                       In Uganda, Malawi und Simbabwe verwen-
                                zung wird durch digitale Innovationen – insbe-                       det die Welthungerhilfe drei Land­wirtschafts­-
                                sondere in der Überwachung von Lieferketten                          beratungs-Apps, die zusammen über 100.000
                                (zum Beispiel TraceRX) und durch den Ausbau                          Nutzer:innen haben, und versucht sie mit Früh-
                                von Sharing-Economy-Optionen – optimiert                             warnsystemen in den Ländern zu verbinden,
                                (Cohen / Salaun 2017, 170ff). So bietet zum                          um im Notfall direkt Warnungen aussenden
                                Beispiel die AgriShare-App der Welthungerhilfe                       zu können. Die Belange von Geflüchteten in
                                in Simbabwe, Uganda und Malawi die Möglich-                          solche Apps zu integrieren, indem die Inhalte in
                                keit, Transporte durch lokal registrierte Lkw-                       verschiedene Sprachen übersetzt werden, zeigt
                                Fahrer:innen zu buchen, die auch im Katastro-                        in Uganda erste Erfolge. Das ist besonders im
                                phenfall schnell mobilisiert werden können.                          Falle langfristiger Krisen sinnvoll, wenn Anpas-
                                                                                                     sungsstrategien entwickelt werden müssen.
                                Digitale Kommunikationskanäle erweitern
                                und verändern zudem den Informations-                                Kooperation und neue Technologiepartner
                                austausch und die Interaktionsformen mit
                                Betroffenen. Während der Corona-Pande-                               Koordination und Kooperation sind für
                                mie konnten in Simbabwe per Massen-SMS                               das    Katastrophenmanagement  essenzi-
                                in kürzester Zeit über 30.000 Haushalte                              ell. Mangelnde Kommunikation zwischen
Via Mobiltelefon Erhalt von digitalem Geld        Geldinstitute

Verteilungspunkt                                                                                       Erhalt von Gütern

                     Via Mobiltelefon Erhalt von digitalem Gutschein    Geschäfte

                   humanitären Akteuren kann zu Hindernissen                 gelistet werden, wenn verschiedene Registrie-
                   führen. Da im Katastrophenfall das Fachwis-               rungssysteme nicht miteinander abgestimmt
                   sen von Expert:innen, Praktiker:innen und                 werden (Veron 2022, 5). Datenaustausch-
                   Forscher:innen aus verschiedenen Diszipli-                Plattformen wie HDX, auf denen Statusberich-
                   nen erforderlich wird (Badarudin/Ibrahim                  te, Analysen und Datensätze zu humanitären
                   2021, 13), sind gemeinsame Informationssys-               Einsätzen frei für alle Akteure bereitgestellt
                   teme und Wissensmanagement unabdingbar.                   werden, müssen gefördert und weiterentwickelt
                   Aufwendige Organisationsprozesse können die               werden, um das Material organisationsüber-
                   Soforthilfe allerdings verkomplizieren. Auch für          greifend nutzbar zu machen.
                   digitale Prozesse in einem Projekt gilt jedoch,
                   dass sie am Wohl der betroffenen Menschen                 Versuche der Akteure der Katastrophenhilfe,
                   ausgerichtet sind und den „Do no harm“-Prin-              Datenschutzauflagen zu vereinheitlichen, führ-
                   zipien unterliegen (Badarudin/ Ibrahim 2021,              ten zur Gründung verschiedener Initiativen
                   13; Steinacker et al. 2021, 107; Veron 2022,              wie der Humanitarian Data and Trust Initiati-
                   5). Dafür müssen digitalisierte Systeme über              ve, DigitHarum, der ID 2020 Alliance und der
                   interne Kontrollmechanismen verfügen, die                 Harvard Humanitarian Initiative. Doch statt
                   die Folgen der Nutzung kontinuierlich evalu-              zu vereinheitlichen, steht aktuell eine Viel-
                   ieren und bei möglichen (unbeabsichtigten)                zahl nicht ineinandergreifender Leitlinien mit
                   negativen Folgen eingreifen, und ein Recht zur            teils unterschiedlichen Angaben bereit. Auch
                   Beschwerde für Betroffene beinhalten (Stein­              in Bezug auf die Zusammenarbeit mit Part-
                   acker et al. 2021, 107).                                  nern wie Microsoft und Amazon mit exter-
                                                                             nen neuen Technologien, auf die humanitäre
                   In der Kooperation mit anderen Akteuren kann              Organisationen zunehmend angewiesen sind,
                   die Nutzung digitaler Technik zu Ineffizienzen            wären vereinheitlichte Datenschutzstandards
                   führen, zum Beispiel wenn Datensätze nicht mit            im humanitären Sektor ein wichtiger Schritt.
                   dem verwendeten System einer Organisation                 Ohne sektorübergreifende und auf die Bedarfe
                   kompatibel sind und einhergehend gesammelte               der Betroffenen ausgerichtete Datenschutzstan-
                   Daten einer Organisation nicht von einer ande-            dards besteht die Gefahr, dass Technologierie-
                   ren genutzt werden können. So können zum                  sen in Partnerschaften Daten unangemessen
                   Beispiel Betroffene einer Katastrophe doppelt             nutzen (Veron 2022, 7; Akhmatova et al. 2020, 1;
Von der Autorin durch­         Grain 2021). Gleichzeitig können humanitäre        Software von Organisationseinheiten, die die
geführte Interviews
                               Organisationen ohne eine Zusammenarbeit mit        Daten eingeben, und Betroffenen erforderlich.
(Reihenfolge wie im Text):
                               solchen Technologiepartnern die Potenziale,        Die Software muss auf die Bedarfe derer ausge-
Online-Interviews mit Ausama   die durch ihre Bereitstellung von Daten und        richtet werden, denen die Software am Ende
Almorei, IT-Leitung Welt-      die Errechnung von Prognosen entstehen, nicht      nutzen soll, und nicht allein auf den benötig-
hungerhilfe Türkei, 19. und
                               ausreichend nutzen (Grain 2021; Veron 2022,        ten Informationen aus Sicht der Hilfsorgani-
25.04.2022.
                               8). Daher ist es wichtig, dass sich der Sektor     sationen basieren (Bettini et al. 2020, 9; Grain
Online-Interview mit ­         schnellstmöglich auf einen Datenschutzstan-        2021). Erkenntnisse darüber, welche digitalen
Sherinah Ngabo, ICT4D          dard einigt und diesen konsequent durchsetzt.      Techniken in welchem Kontext funktionieren,
­Beraterin Welthungerhilfe
                                                                                  müssen systematisch dokumentiert werden,
 Uganda, 19.04.2022.
                               Fazit                                              damit sie weiterhin und gegebenenfalls zielori-
Online-Interview mit Nigel                                                        entierter zum Einsatz kommen können (Veron
Gambanga, ICT4D Kommunika-     Für die (Weiter-)Entwicklung von Frühwarn-         2022, 8). Insbesondere Finanzgebern kommt
tionsberater Welthungerhilfe
                               systemen     und     Katastrophenmanagement        hier eine entscheidende Rolle zu. Sie müssen die
Simbabwe, 29.03.2022.
                               braucht es mehr Open Data (Grain 2021). Statt      Ressourcen bereitstellen, um den Ausbau digi-
Online-Interview mit Dominik   organisationsintern nach digitalen Lösungen zu     taler Techniken und deren Anwendung für eine
Semet, Programmkoordinator     suchen, sollten Hilfsorganisationen auf geteilte   schnelle und wirkungsvolle Katastrophenhilfe
Forecast-based Action Welt­
                               Systeme setzen, die von kompetenten Technolo-      voranzutreiben (Veron 2022, 1; Interview mit
hungerhilfe, 29.03.2022.
                               giepartnern gemanagt werden (Veron 2022, 7).       Dominik Semet). Dafür wird in Zukunft mehr
                               Die Nutzbarkeit generierter Informationen ist      Flexibilität bei der Finanzierung von Hilfsmit-
                               abhängig von der Datenqualität bei der Einspei-    teln benötigt, die vermehrt auf Prognosen und
                               sung. Daher ist eine agile Ko-Entwicklung der      vor Ort generierten Daten basiert.
Open Data für vorhersagebasierte humanitäre Hilfe
Bei der vorhersagebasierten humanitären             Indikator ist der Wasserbedarfssättigungs-           bei deren Erreichen ein Dürreereignis und
Hilfe werden durch detaillierte Gefahren-           index (Water Requirements Satisfaction               folgend durch den Wassermangel beding-
und Risikoanalysen Extremwetterereignis-            Index, WRSI). Der WRSI gibt den boden-               te Schädigungen der Grundnahrungs-
se wie Dürren rechtzeitig erkannt und so            abhängigen Wasserversorgungsgrad von                 pflanzen und Ernteverluste zu erwar-
den bedrohten Menschen mit frühzeitiger             Nutzpflanzen im Verlauf der Wachstums­               ten sind. Diese Schwellenwerte finden
Hilfe ermöglicht, auf bevorstehende Krisen          periode an. Die Berechnung des WRSI                  Eingang in die jeweilige aktuelle Dürre-
zu reagieren. Die Finanzierung der Hilfe ist        erfolgt mithilfe der Software GeoWRSI                beobachtung. Sie dienen als Warnung und
durch die Geldgeber bereits vor Eintre-             des Climate Hazards Center der UC Santa              führen zur Aktivierung und Umsetzung
ten der Krise garantiert. In sogenannten            Barbara, welche unter Verwendung von                 der EAP, inklusive der dafür bereitgestell-
Early-Action-Protokollen (EAP) werden               Satellitendaten eine nutzpflanzenspe-                ten finanziellen Ressourcen. Im Rahmen
die Verwendung der Hilfsgelder sowie                zifische     Wasserhaushaltsmodellierung             der Entwicklung der EAP werden Vulne-
die Zuständigkeiten der Beteiligten gere-           durchführt. Die Software GeoWRSI mit                 rabilitätsuntersuchungen vorgenommen,
gelt. Damit wird eine schnelle und effizi-          den Satellitendaten steht frei zur Verfü-            um zu analysieren, wie sich Ernteschäden
ente Hilfe gewährleistet, bevor aus einer           gung. Hilfsorganisationen können so                  und Ernteverluste auf die Bevölkerung
drohenden Gefahr eine Katastrophe mit               die Möglichkeit von Open Data für sich               vor Ort auswirken würden. In Madagas-
hohen Schäden und Verlusten entsteht.               nutzen und selbst Langzeitdatensätze                 kar beispielsweise wurden bei Erreichen
Die Welthungerhilfe engagiert sich seit             für eine Verlaufsanalyse vergangener                 des Dürre-Schwellenwerts im Frühjahr
2015 in diesem Bereich. Mit finanzieller            Dürren erstellen. Ergänzend zu den satel-            2021 Bargeldhilfen an besonders vulne-
Unterstützung durch das Auswärtige Amt              litengestützten WRSI-Daten werden von                rable Haushalte ausgezahlt, noch bevor
und in Zusammenarbeit mit lokalen Part-             den lokalen meteorologischen Diens-                  Ernteausfälle zu Ernährungsunsicher-
nern verfolgt sie diesen Ansatz für Dürren          ten öffentlich zur Verfügung gestellte               heit führten. Die Bargeldhilfen erfolgten
mittlerweile in mehreren Projekten in               Daten der Niederschlagsbeobachtungen                 digital auf Mobiltelefone, die bedürfti-
Kenia, Madagaskar und Simbabwe.                     verwendet. Die kombinierte Nutzung der               ge Haushalte vorab mit entsprechenden
                                                    Datensätze trägt zu einer Absicherung der            Nutzungshinweisen erhalten hatten. Das
Datengrundlage und Datenzugang                      GeoWRSI-Ergebnisse bei.                              digitale Guthaben kann gegen Bargeld
                                                                                                         eingetauscht oder als Bezahlmittel in
Für eine vorhersagebasierte humanitä-               Datenauswertung und Maßnahmen                        Geschäften verwendet werden. Nach
re Hilfe bei Dürren ist es erforderlich,                                                                 Abschluss dieser vorhersagebasierten
die verschiedenen Dürrerisiken in den               Auf der Grundlage des WRSI ermittelt                 Dürrehilfe in Madagaskar verblieben die
betroffenen Regionen zu verstehen. Auf              die Welthungerhilfe in den Projektlän-               Mobiltelefone zur weiteren Nutzung in
Basis von Open Data aus globalen Lang-              dern, welche Gebiete besonders häufig                den Familien und Gemeinden.
zeitbeobachtungen von Indikatoren – zu              von Dürreereignissen betroffen waren
Niederschlagsmengen, Bodentrockenheit               und wie sich die WRSI-Werte der vor Ort              Dominik Semet
                                                                                                         Programmkoordinator Forecast-based Action,
und Wasserverfügbarkeit von Pflanzen                verwendeten       Grundnahrungspflanzen
                                                                                                         Welthungerhilfe
– werden vergangene Dürreereignisse                 über die Dekaden (zehntägige Messin-
analysiert und hieraus Erkenntnisse für             tervalle) entlang der Vegetationsperiode             Julia Burakowski
die aktuelle Dürrebeobachtung gezogen.              entwickelt haben. Aus diesen Analysen                Referentin Forecast-based Action, Welthunger-
                                                                                                         hilfe
Der von der Welthungerhilfe verwendete              werden WRSI-Schwellenwerte definiert,

Erdbeobachtungssysteme      Kritische         Eine Warnung wird       Geldmittel           Angepasst an die           Negative            Verluste können
und Wissenschaftler:innen   Grenzwerte        ausgegeben und der      werden               jeweilige Situation        Auswirkungen        minimiert oder
überwachen                  werden            Auslösemechanismus      bereitgestellt       werden frühzeitige         einer Dürre         sogar verhindert
Dürreindikatoren            erreicht          aktiviert                                    Hilfsmaßnahmen             werden              werden
                                                                                           getroffen                  abgeschwächt

Abb. 6: Von der klassischen humanitären Hilfe hin zur vorausschauenden humanitären Hilfe
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