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Editorial Liebe Mitglieder der GGG, liebe Leserinnen und Leser, Hauptbahnhof Berlin. Im Zug nach Hamburg sind Kita und Schule sind herausgefordert. Zu ihrem alle Fahrgäste eingestiegen. Der Zug bleibt ste- Auftrag gehört es, allen Kindern und Jugend- hen. Dann die Durchsage: „Wegen eines Not- lichen zu ermöglichen, sich optimal zu entwi- arzteinsatzes wird unsere Abfahrt verzögert“. Ein ckeln. Kita und Schule müssen in der Lage sein, paar Plätze hinter mir höre ich die Stimme eines kompensatorisch zu wirken. In unserer Gesell- kleinen Jungen: „Was ist ein Notarzteinsatz?“ schaft besteht weitgehend Konsens darüber, Später, während der Fahrt, fragt der Junge wei- dass Chancengleichheit und Bildungsgerechtig- ter: „Was ist ein Sandwich?“ Und kurz darauf: keit fundamentale Grundlagen unseres gesell- „Was ist Vesper?“ Jedes Mal antwor- schaftlichen Zusammenlebens sind. tet der Vater im Berliner Dialekt ge- In der Vergangenheit ist oft belegt duldig erklärend. Ich vermute, dass worden, dass unser Schulsystem in dieser Junge bei Schuleintritt gut ge- dieser Hinsicht große Defizite auf- rüstet sein wird. Doch für viele Kinder weist. Und diese Defizite haben sich gilt dies nicht. Sie haben keine Eltern, in der Corona-Pandemie noch einmal die erklären können oder erklären verstärkt, ohne dass bisher gehan- wollen. Sie wachsen in Verhältnissen delt worden ist. Nutzen wir die Krise auf, die ihnen keine optimale Vorbe- als Chance, unser Schulsystem sozial reitung auf die Anforderungen von gerechter weiterzuentwickeln. Es wird Schule ermöglichen. Sie gehören oft höchste Zeit! zu denjenigen, die am ehesten schei- Dieter Zielinski tern. Sie sind nicht weniger intelligent. Vorsitzender Da sich Bildung im sozialen Raum voll- Sie haben lediglich schlechtere Aus- der GGG zieht, wird das Schulsystem allein nicht gangsbedingungen. Was daraus in der Lage sein, die festgestellten folgt, ist hinlänglich bekannt. Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Bil- dungs-, Sozial- und Finanzpolitik wer- Kinder und Jugendliche sind nicht nur durch, den eng zusammenwirken müssen. Die Bildungs- sondern werden auch wegen ihrer Herkunft be- politik wird über die strukturelle und inhaltliche nachteiligt, so z.B. bei Übergangsentscheidun- Gestaltung des Schulsystems ihren Beitrag dazu gen, aber auch im Angebot eines selektiven leisten müssen. Ob die Politik dies bei allen Be- Schulsystems. Dazu schreiben Kai Maaz und An- kenntnissen aus eigener Kraft heraus schafft, ist nabell Daniel in ihrem Artikel Bildungsgerechtig- zumindest fraglich. Lippenbekenntnisse allein rei- keit – altbekannte Herausforderungen und neue chen nicht aus. Ohne gesamtgesellschaftliches Chancen: „Eine solche Kopplung zwischen Bil- Engagement wird es nicht gehen. dungserfolg und leistungsirrelevanten Merkma- len widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz un- Die Artikel in diesem Magazin legen den Finger seres Grundgesetzes, …“ Der Gleichheitsgrund- in die Wunde und zeigen Probleme, aber auch satz ist nicht nur ethisches Gebot, sondern seine Wege zur Realisierung von mehr Bildungsgerech- Verletzung schadet dem sozialen Zusammen- tigkeit auf. halt und dem wirtschaftlichen Wohlergehen ins- gesamt. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine anre- DSfa GGG Magazin 4 2021 gende und gewinnbringende Lektüre. Besonders empörend ist, dass mit den in die Dieter Zielinski Wiege gelegten ungleichen Startchancen künf- tiger wirtschaftlicher Erfolg, gesundheitliches Wohlergehen und die Lebenserwartung von Menschen nicht unerheblich gekoppelt sind. Editorial 1
Editorial I Dieter Zielinski .......1 GGG aktiv GGG, GEW und GSV: Eine konstruktive .......4 Zusammenarbeit ! I Dieter Zielinski Ein Blick Politik Die Aufhebung von Haupt- und .......7 Realschule ... I Joachim Lohmann zum Inhalt im Fokus © Foto: Eva Giovannini Bildungsgerechtigkeit ... .......13 I Kai Maaz, Annabell Daniel Wo keine Villa ist, ist auch kein Weg – .......16 zum Abitur ? ... I Rainer Dahlhaus Private Schulen ... I Marcel Helbig .......22 Über sozialen Aufstieg ... I Ayla Çelik .......24 Einzelschulentwicklung gerecht und .......26 digital ... I Johanna Schulze Übergang Grundstufe - Sek I ... I Ulla Widmer-Rockstroh I Ursula Carle .......27 I Rixa Borns Bildungs(un)gerechtigkeit ? ... .......29 I Anne Volkmann, Christa Lohmann
Schulen im Fokus Bildungsgerechtigkeit schaffen ... .......32 I Gerd-Ulrich Franz © Foto: Monique Anselm Interventionen einer Schule ... .......35 I Martina Seifert Schule mit Anspruch ... .......38 I Claudia Bundesmann Länder Spiegel Berlin I Lothar Sack .......41 Hamburg I Barbara Riekmann .......42 Hessen I Konstanze Schneider Nordrhein-Westfalen I Behrend Heeren .......43 Schleswig-Holstein I Christa v. Rein, .......44 Dieter Zielinski Nachruf Susanne Thurn .......45 zur Debatte Ein Jahr zum Vergessen !? .......47 I Konstanze Schneider, Lothar Sack Wie Bildung gelingt – Das Gespräch geht weiter .......50 I Ursula Forstner, Harald Lesch Lernen: verlernen – umlernen – neu lernen ... .......51 I Christa Lohmann Auch lesenswert .......55 I Redaktion zur Info .......56 3
Bildungspolitische Aktivitäten Dieter Zielinski Jedes Jahr zu Himmelfahrt treffen sich Vertreter*innen der GGG, der Gewerkschaft Erziehung und Wis- senschaft (GEW) und des Grund- schulverbandes (GSV) mit Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem Bereich der Pädagogik. Sie tauschen sich über Grundlagen, GGG aktiv Perspektiven und Strategien bezüg- Dieter Zielinski lich der gemeinsamen Zielsetzung, Vorsitzender der GGG der einen Schule für alle, aus. In der Regel sind die teilnehmenden Men- schen das Programm. Dieser Link führt zum Artikel der Rubrik "GGG aktiv" Seite 5 - 6
GGG, GEW und GSV: Eine konstruktive Zusammenarbeit! 2020 musste das „Himmelfahrts-Treffen“ pande- Mit der während des Himmelfahrtstreffens er- miebedingt ausfallen. Und in diesem Jahr war arbeiteten und anschließend verbreiteten Stel- alles anders. Wieder ausfallen sollte es nicht, lungnahme (s. Fußnote) begrüßen GGG, GEW aber ein Präsenztreffen wäre auch nicht ange- und GSV grundsätzlich die Bereitstellung der sagt gewesen. Da alle gelernt haben, mit Video- Mittel für kompensatorische Fördermaßnahmen konferenzen umzugehen, war das die Lösung. und fordern, dass die Länder zusätzlich eigene Fi- Den Höhepunkt der zweitägigen Veranstaltung nanzmittel für das Programm zur Verfügung stel- gestaltete Marianne Demmer mit der Vorstel- len. Ein zentrales Ziel sehen die Verbände darin, lung ihrer Schrift „1920 – 2020 – Schulreform in dass mit dem Programm ein Abbau der beste- Deutschland – Eine (un)endliche Geschichte?!“, henden und durch die Pandemie noch einmal die als Heft 7 der Schriftenreihe „Eine für alle – verstärkten Bildungsarmut erfolgt. Die inklusive Schule für die Demokratie“ erschie- nen ist. Dafür wurde ihr uneingeschränktes Lob Weiter werden u.a. gefordert: zuteil. Die Verteilung der Mittel auf die einzelnen Die Druckversion kann bei der Geschäftsstel- Länder muss auf der Basis ihrer sozio-ökono- le der GGG bestellt werden, als pdf ist sie auf mischen Lage und nicht nach Königsteiner der GGG-Website verfügbar (https://ggg-web. Schlüssel oder gemäß ihres jeweiligen Um- de/diskurs/publikationen/ueberregional/eine- satzsteueraufkommens erfolgen. fuer-alle/1539). In den einzelnen Ländern sollen die Mittel den Schulen entsprechend ihres sozio-öko- Zentrale Themen der Veranstaltung waren die nomischen Umfeldes möglichst auf der Basis Auseinandersetzungen mit der Länderverein- eines Sozialindexes zur Verfügung gestellt barung der Kultusministerkonferenz (KMK) und werden. den darauf basierenden politischen Vorhaben, mit aktuellen Studien zum Übergang von der Für außerschulische Anbieter von Fördermaß- Grundschule zu den weiterführenden Schulen nahmen müssen verbindliche Qualitätskriteri- sowie mit der in der Corona-Pandemie auch für en vorgegeben und überprüft werden. eine breite Öffentlichkeit besonders deutlich ge- In der nächsten Legislaturperiode muss eine wordenen Bildungsbenachteiligung von Kindern verfassungsrechtliche Grundlage für eine und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Fa- Verstetigung des Förderprogramms zur weite- milien. Die Diskussionen führten spontan zur Bil- ren Bekämpfung der Bildungsarmut geschaf- dung von weiterführenden Arbeitsgruppen, aus fen werden. denen Erklärungen und Anregungen für die Ver- bände hervorgingen.1 Inzwischen hat das Schuljahr in allen Bundeslän- dern wieder begonnen. Mit schillernden Namen Worauf es uns jetzt ankommt: wie „Ankommen und Aufholen“ (NRW), „Stark Zur Milderung der durch die Pandemie verur- trotz Corona“(Berlin) und „Bridge the Gap“ (BW) sachten Lernrückstände sowie der seelischen wurden Konzepte für den Einsatz der zur Verfü- und körperlichen Beeinträchtigungen von Kin- gung gestellten Mittel entwickelt. Dabei fällt auf, DSfa GGG Magazin 4 2021 dern und Jugendlichen haben das Bundesminis- dass jedes Bundesland wieder eigene Schwer- terium für Bildung und Forschung und das Bun- punkte setzt, die den gestellten Herausforderun- desministerium für Familie, Senioren, Frauen und gen oft nicht gerecht werden. Ein gemeinsames Jugend gemeinsam den Bundesländern für die Konzept zur Beseitigung von Bildungsungleich- Jahre 2021 und 2022 im Rahmen ihres „Aktions- heit fehlt. Wenn hier nicht schnell nachgebessert programms Aufholen nach Corona“ 2 Mrd. Euro wird, werden die eingesetzten Mittel ein Trop- zur Verfügung gestellt. fen auf dem heißen Stein bleiben. Unsere oben GGG aktiv 5
angesprochenen Forderungen wurden gar nicht stärken. Bis zu 20 Projekttage, die auch über das oder nur bedingt umgesetzt. Schuljahr verteilt werden können, sollten mög- lich sein. Weiter heißt es in der Bekanntmachung: Auch die Empfehlungen der von der Kultusmi- „Um einen Schulstart zu gewährleisten, der für nisterkonferenz eingesetzten Ständigen wissen- die Schülerinnen und Schüler ohne Druck und schaftliche Kommission (StäwiKo) wurden nicht Stress verläuft, werden bis zum 24.9.21 keine Klas- ausreichend berücksichtigt. Diese hatte bereits senarbeiten oder Test geschrieben.“ Beabsich- im Juni einen ersten Expertenbericht vorgelegt, tigt ist zudem die Gesamtzahl der schriftlichen in dem sie fünf Empfehlungen für die Planung Arbeiten abzusenken und die mündlichen Leis- und Gestaltung der Fördermaßnahmen nennt: tungen stärker zu gewichten. 1. Konzentration auf besonders betroffene Gruppen, Die GGG wird den in den Ländern jeweils einge- 2. Besondere Förderung an Übergängen und leiteten Prozess kritisch begutachten, begleiten Gestaltung von Anschlüssen, und sich mit Nachdruck dafür einsetzen, dass ein 3. Konzentration auf Basiskompetenzen statt erfolgreicher Weg zur Beseitigung der Bildungs- Aufholen des Lehrplans, benachteiligung im Sinne unserer Forderungen 4. Gezielte Qualifizierung und Begleitung von eingeschlagen wird. Dabei wird sie weiter die zusätzlichem pädagogischen Personal für Zusammenarbeit mit der GEW und dem GSV Förderung, pflegen. 5. Monitoring und Evaluation von Maßnahmen. Inzwischen hat auch ein erstes Gespräch zwi- Besonders hervorzuheben ist folgende Bemer- schen Vertretern des GGG-Bundesvorstandes kung der StäwiKo: „Es muss aber nach Ansicht und der neuen GEW-Bundesvorsitzenden Maike der Kommission klar sein, dass zukünftig in den Finnern sowie dem neuen GEW-Vorstandsmit- 16 Ländern Strukturen glied für den Bereich Schule, Anja Bensinger-Stol- Nachhaltige Reduktion aufgebaut werden ze, stattgefunden. Ein entsprechendes Gespräch des Anteils der bildungs- müssen, die über das mit dem Vorstand des Grundschulverbandes ist kommende Schuljahr angebahnt. benachteiligten Kinder hinaus eine nachhalti- und Jugendlichen! ge Reduktion des An- Fußnote: .............................................................................. teils der bildungsbe- 1 Siehe dazu den Artikel" Übergang Grundstufe - Sek I - Die nachteiligten Kinder und Jugendlichen ermög- Pandemie fordert Konsequenzen" in diesem Magazin und lichen. Viele der formulierten Empfehlungen für die Stellungnahme/Forderungen von GEW, GGG und GSV zum „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona“. das kommende Schuljahr sollten dementspre- https://ggg-web.de/home/die-ggg/ggg-positionen/1601 chend dahin gehend geprüft werden, ob sie in den Schulen mit einer langfristigen Perspektive etabliert werden können.“ Nicht allein die zur Verfügung gestellten finanzi- ellen Mittel, sondern auch die Haltung hinter den Maßnahmen wird mitentscheidend für deren Er- folg sein. Wie eine am Kindeswohl orientierte Ausrichtung aussehen kann, zeigt eine Bekannt- machung des Niedersächsischen Kultusministe- riums aus dem August 2021. Danach sollten die Niedersächsischen Schulen das neue Schuljahr DSfa GGG Magazin 4 2021 mit einer einwöchigen Einstiegsphase beginnen, die auf bis zu vier Wochen ausgedehnt werden Bücherstand für das Bündnis konnte. Zielsetzung sollte ein Zusammenfinden „Eine für alle...“ bei der von Schülerinnen und Schülern und Lehrkräf- ten sein. Konkret sollte es um Orientierungstage Veranstaltung des GGG Landes- gehen, die den Klassenzusammenhalt und die verbandes Hessen zum Thema Klassengemeinschaft sowie die Persönlichkeit „Neu(e) an der IGS“ 6
2-säuliges Konkurrenzsystem EinBlick Politik Eine Reform von oben Die Gesamtschule wird die einzige Alternative zum Gymnasium. Auch wenn der Weg dahin noch lang und steinig sein wird, so sind doch entscheidende Pflöcke schon einge- schlagen. Dr. Joachim Lohmann ehem. Stadtschulrat in Kiel Staatssekretär a.D. in Schleswig-Holstein ehem. Bundesvorsitzender der GGG Dieser Link führt zum Artikel der Rubrik "Ein Blick Politik", Seite 7- 11 7
Die Aufhebung von Haupt- und Realschule istsamen ein Schritt zur gemein- Schule für alle Joachim Lohmann Fünf Bundesländer haben die Haupt- und Das so entstandene 2-säulige Konkurrenzsystem Realschule zugunsten der Gesamtschule auf- ist nicht das Ende der Schul- und Bildungsreform. gehoben.1 Es gab Vorbehalte gegen diese Das System ist nicht stabil, die verbleibenden schulorganisatorische Neuordnung aus dem Ungerechtigkeiten und sozialen Ungleichheiten Kreis der Gesamtschulanhänger. Diese befürch- führen zu Konflikten, denen sich die Politik nicht dauerhaft entziehen kann. teten, dass die neu errichteten Schulen des gemeinsamen Lernens hinter den bestehenden Statt der beabsichtigten Preisgabe wird Gesamtschulen in der Qualität zurückbleiben die Gesamtschule dominierende Kraft könnten und dass die Reform ein gesellschafts- Fünf Bundesländer - Berlin, Bremen, Hamburg, politischer Anlass sei, das Ziel der gemein- Saarland und Schleswig-Holstein - ersetzten samen Schule für alle aufzugeben. Doch die Haupt- und Realschule zugunsten der Gesamt- Reform ist ein struktureller sowie ein pädago- schule. An die Stelle des hierarchischen, selekti- gischer Erfolg. ven Schulsystems trat das 2-säulige Konkurrenz- system mit Gymnasium und Gesamtschule. Die Reorganisation ersetzt die Hierarchie des Gymnasiums gegenüber der Haupt- und Real- Die Durchsetzung des Konkurrenzsystems ist ein schule zugunsten einer Struktur der Gleichwer- Sieg. Der erwartete gesellschaftliche wie politi- tigkeit und Konkurrenz von Gesamtschule und sche Widerstand blieb fast völlig aus, und die Re- Gymnasium. form setzte sich gegen eine einmütige Verabre- dung der Kultusminister durch. Sie macht in den fünf Ländern die Gesamtschu- le zur Mehrheitsschule, die zu mehr qualifizierten Nur in Schleswig-Holstein strengte der Realschul- Schulabschlüssen führt und soziale Benachtei- lehrerverband zusammen mit der FDP ein Volks- ligungen reduziert. Erstaunlicherweise ist Wider- begehren gegen die Aufhebung von Haupt- stand fast völlig ausgeblieben. Im Gegenteil: die und Realschule an, das schon an der ersten Reorganisation findet breite gesellschaftliche Hürde scheiterte. Stattdessen wurde die Reform und politische Unterstützung. in den Ländern von der CDU mitgetragen bzw. von ihr toleriert. Noch erstaunlicher ist die Durchsetzung des Konkurrenzsystem in immerhin fünf Bundeslän- dern wenige Jahre nach einer einmütigen Ab- machung der Kultusminister. Diese hatten sich auf Grund des PISA-Schocks im Jahre 2002 auf ein Ende der Strukturreform festgelegt. Faktisch hätte diese Abmachung das längerfristige Ende der Gesamtschule bedeutet. Doch u.a. an der SPD-Parteibasis in Schleswig-Holstein und an dem Regierungsinteresse des Hamburger Bür- germeisters von Beust scheiterte die beabsich- tigte Restauration. Statt sie aufzugeben ist die Gesamtschule die Mehrheitsschule geworden. In diesen Bundes- ländern besuchen jeweils mehr Achtklässler die 8
Gesamtschule als das Gymnasium, in Bremen Das Urteil der Empiriker ist vorurteilsbeladen, sogar fast drei Viertel. Eine Aufhebung der Ge- oberflächlich und theorielos. Ob ein Schüler samtschule zugunsten einer dem Gymnasium einen Abschluss erhält, hängt einzig davon ab, untergeordneten Schulform ist vom Tisch, an ob er die Mindeststandards erfüllt. Diese Stan- der Gesamtschule wird sich niemand mehr ver- dards sind für die Schulen und Schulformen im greifen. jeweiligen Bundesland gleich. Das gilt selbst bundesweit. Denn zusätzlich zu den In Berlin fünf Ländern haben auch Baden-Württemberg erhielten an ehemaligen Hauptschulen statt und Nordrhein-Westfalen mit einer Strategie von früher knapp 2 % jetzt 30 % und unten die Gesamtschulen stark ausgebaut. Bun- an ehemaligen Realschulen statt vorher gut desweit stagniert der Besuch der 8. Klassenstu- 30 % jetzt über 40 % eine Oberstufenberech- fe der Gesamtschule nicht mehr wie jahrzehnte- tigung. lang bei gut 8 %, sondern liegt inzwischen bei fast 20 % eines Schülerjahrganges. Deutschlandweit In Bremen erreichten an den neu gebildeten ist die Gesamtschule zur zweitstärksten Schulform Oberschulen gegenüber den früheren Sekun- nach dem Gymnasium aufgestiegen, der Real- darschulen und Gesamtschulen 30 % mehr Schü- schulbesuch geht zurück, und die Hauptschule ler den mittleren Abschluss. wurde zur Restschule mit weniger als 10 % eines Jahrganges. Das ist ein beachtlicher pädagogischer Erfolg und eine deutliche Verbesserung der Leben- Der Gesamtschulausbau ist ein Erfolg schancen von Schüler*innen. Die Zahlen bele- – den Interpretationen der Empiriker gen, wie abgeschlagen, wie unterlegen sich vor zuwider allem die Hauptschule, aber auch die Realschu- Die Durchsetzung des Konkurrenzsystems ist in le gegenüber dem Gymnasium gefühlt haben, Berlin und Bremen empirisch begleitet worden. dass sie so wenige qualifizierte Abschlüsse ver- DSfa GGG Magazin 4 2021 Die Empiriker interpretieren die Reform als erfolg- geben haben. Sie zeigen andererseits, wie allein los. Sie befürchten wegen der gestiegenen Ab- eine äußere Umstellung von unterprivilegierten schlussquoten einen Niveauverlust. Für sie haben Schulen auf die Gesamtschulen die Abschluss- sich die Chancen sozial Benachteiligter nicht barrieren sprengt. verbessert und die Schulleistungen seien nicht gestiegen. Auch die soziale Bildungsbenachteiligung wird aufgebrochen. Infolge der Reform in Berlin Ein Blick Politik 9
verdoppelte sich an den Nichtgymnasien die tion geliefert – zur Konzeption von Gesamtschu- Quote der Jugendlichen mit Hauptschuleltern, len mit oder ohne Oberstufe. die eine Oberstufenberechtigung erhielten – statt früher nur gut 10 % sind es jetzt gut 20 %. Ergebnis ist, dass die Gesamtschulen ohne Ober- stufe bei den Anmeldungen deutlich geringer Auch in Bremen stieg mit der Reform die Abitu- angesehen sind. Im Verhältnis zu Gesamtschu- rientenquote. Sie erhöhte sich in der sozial pri- len mit Oberstufe vilegierten Hälfte der Stadtteile um 20 %, in der sind die Schulplätze um 40 % seltener nach- Hälfte der sozial benachteiligten Stadtteile stieg gefragt, sie dagegen um gut 40 % – ein doppelt so star- liegen die Grundschulnoten um 20 % und die ker Anstieg ist ein sozialpolitischer Durchbruch. kognitiven Fähigkeiten um gut 10 % niedriger, Diesen Durchbruch als Begleitforscher nicht zu würdigen, ist beschämend. ist der Sozialindex um über 20 % geringer und der Migrantenanteil fast doppelt so hoch. Weiterhin unterstellen die Empiriker, dass das Hauptziel der Strukturreform die Leistungssteige- Auffallend groß sind ebenso die Unterschiede rung sei und dass diese nicht erreicht wurde. Die bei den Leistungen und der Zugangsberechti- letzte Aussage offenbart deren Theorielosigkeit. gung zur Oberstufe. Die Differenzen zwischen Denn die Umwandlung einer Schule in eine an- den Gesamtschulen ohne und mit Oberstufe dere Schulform bewirkt unmittelbar noch keine entsprechen weitgehend den ehemaligen Dif- Leistungssteigerung. Eine neue Schulform führt ferenzen zwischen Haupt- und Realschule. Län- zu anderen Zielsetzungen, neuen Abschlüssen gerfristig sind die Gesamtschulen ohne Oberstu- und anderen Erwartungen von Eltern, Schüler*in- fe gegenüber dem Gymnasium kaum konkur- nen und Lehrkräften. Diese bewirken über kurz renzfähig. Die Gesamtschulen benötigen grund- oder lang eine Veränderung des Bewusstseins. sätzlich alle eine eigene Oberstufe. In deren Folge wandeln sich Einstellungen, Ver- halten und Methoden, die dann Leistungen stei- Statt integrierter Sekundarstufe II die Klas- gern. Diese Entwicklungen brauchen ihre Zeit. senstruktur der Allgemein- wie der Berufs- Leistungssteigerungen stattdessen schon in der bildung überwinden ersten Phase der Umstrukturierung zu erwarten, Die Forderung nach Oberstufen für alle Gesamt- ist theorielos. schulen ist eine konzeptionelle Veränderung. Sie bedeutet die Aufgabe des Konzepts einer Sie dagegen längerfristig zu erwarten, ist rea- Berufs- und Allgemeinbildung integrierenden listisch. Am überzeugendsten sind Vergleiche Sekundarstufe II. von Ländern, einerseits von Ländern, die wie Deutschland noch weiterhin hierarchisch-selek- Seit der Gesamtschulgründung bestand ein Wi- tiv organisiert sind, und solchen Ländern, die seit derspruch zwischen der Konzeption einer Stu- langem die Integration durchgesetzt haben. fengliederung und der Strategie, dass nur Ge- PISA liefert diese Vergleiche alle drei Jahre. Sie samtschulen mit Oberstufe gegenüber den ergeben äußerst enge Korrelationen zwischen Gymnasien konkurrenzfähig seien. Bis zur teilwei- dem Zeitpunkt der Auslese, der Anzahl von Schul- sen Durchsetzung des 2-säuligen Konkurrenzsys- formen und dem Umfang der sozialen Leistungs- tems hatte gut die Hälfte der Gesamtschulen diskriminierung. In Deutschland ist dieser Zusam- keine Oberstufe, inzwischen ist der Anteil deut- menhang äußerst krass. Mithin ist zu erwarten, lich gestiegen. dass auch die Einführung des 2-säuligen Konkur- renzsystems nach einiger Zeit zu höheren Leistun- Das Konzept einer Integration von Berufs- und DSfa GGG Magazin 4 2021 gen der sozial Benachteiligten führen wird. Allgemeinbildung innerhalb der Sekundarstufe II ist inzwischen überholt. Es ist nicht realisierbar, es Die Gesamtschulen ohne Oberstufe war zu klein gedacht, und es überwindet nicht sind kaum konkurrenzfähig die Klassenstrukturen sowohl der Allgemein- als Einen entscheidenden Beitrag hat die Berliner auch der Berufsbildung. Begleituntersuchung zur Gesamtschulorganisa- 10
Eine integrierte Sekundarstufe II bedeutet die Zu- flikten, und die Politik wird sich auf Grund des sammenlegung aller gymnasialen Oberstufen in gesellschaftlichen Druckes dazu entschließen, Oberstufenzentren. Die Abspaltung der Ober- das Konkurrenzsystem zugunsten der gemein- stufe vom grundständigen Gymnasium würde samen Schule für alle zu überwinden. Es gab in einen Protest der Gymnasialklientel auslösen, Deutschland wie in anderen Ländern viele weit- den keine Regierung überleben würde. gehend gleichwertige, miteinander konkurrie- rende Schulformen, die sich fast alle nicht ge- Zudem ist die integrierte Sekundarstufe II ein Kon- halten haben. zept der 60er Jahre. Es war damals kaum voraus- zusehen, dass sowohl die gymnasiale Oberstufe Der Zwischenschritt ist aber unvermeidbar. Denn als auch die Hochschule inzwischen die Ausbil- kein Bundesland wird wagen, die Gymnasien zu dungsstätte der Mehrheit ist. Dabei ist der Hoch- integrieren, bevor nicht die Nichtgymnasien be- schulbesuch in Deutschland unterentwickelt, er legt haben, dass sie erfolgreich sehr viele ihrer ist einer der geringsten innerhalb der OECD. Schüler*innen zum Abitur führen können. Viel- Faktisch hatte sich das Modell der integrierten mehr werden Schulen mit niederen Abschluss- Sekundarstufe II mit der Klassenstruktur bei der zielen von den Gymnasien als Beleg für die Leis- Allgemein- wie auch der Berufsbildung abgefun- tungsunterschiede von Schüler*innen herhalten, den. Doch diese ist nicht mehr hinnehmbar und die einem gemeinsamen Unterricht unüberwind- ihre Überwindung wird denkbar. lich entgegenstünden. Nur wenn die Gesamt- schule die einzige Alternative zum Gymnasium So reicht angesichts der stark gewachsenen indi- ist, lässt sich gesellschaftspolitisch der Nachweis viduellen, gesellschaftlichen und politischen He- führen, dass praktisch alle Jugendlichen qualifi- rausforderungen eine elementare Allgemeinbil- zierbar sind. dung von nur neun oder zehn Schuljahren nicht mehr aus und beeinträchtigt zugleich erheblich Das Zwischenziel des 2-säuligen Konkurrenzsys- den künftigen beruflichen und gesellschaftlichen tems ist nicht nur – wie in den fünf Bundesländern Status des Einzelnen. – durch eine Reform von oben realisierbar, son- dern im beachtlichen Umfang auch dadurch, Die elementare Berufsausbildung innerhalb der dass Schulen und Schulträger zur Umwandlung Sekundarstufe II genügt ebenfalls nicht mehr an- von Schulen zu Gesamtschulen ermutigt wer- gesichts der Globalisierung und der digitalen Re- den, wie dies in großen Maßen in Baden-Würt- volution. Die postulierte Gleichwertigkeit der be- temberg und Nordrhein-Westfalen gelungen ist. ruflichen und akademischen Bildung ist weder An den verbleibenden Ungerechtigkeiten und ökonomisch noch gesellschaftlich gegeben; sie sozialen Ungleichheiten des 2-säuligen Konkur- ist eine öffentliche Irreführung. Zugleich bildet renzsystems wird die Politik auf Dauer nicht vor- die duale Berufsausbildung nur noch einen Teil beigehen können; sie wird vielmehr schrittweise der Jugendlichen aus; denn sie schraubt die Ein- Gymnasium und Gesamtschule integrieren. stellungsvoraussetzungen in die Höhe. Insgesamt zeichnet sich der Aufstieg der Berufsausbildung Insgesamt ist das 2-säulige Konkurrenzsystem ein in den Hochschulbereich ab. bedeutender Schritt auf dem Wege zur gemein- samen Schule für alle. Mit dem Konkurrenzsystem zur gemeinsa- men Schule für alle Fußnoten: ............................................................................ Insgesamt ist das 2-säulige Konkurrenzsystem ein 1 Da für Schulen des gemeinsamen Lernens in Deutsch- unvermeidbarer Zwischenschritt zur gemeinsa- land 9 verschiedene Bezeichnungen bestehen, die in men Schule für alle. Er ist auf anderen Wegen Bundesländern teilweise noch andere Schulformen be- deuten, wird einheitlich die Bezeichnung Gesamtschule DSfa GGG Magazin 4 2021 erreichbar, er ist – wie fast alle Zwischenschritte für die Schulen des gemeinsamen Lernens gewählt. – umstritten, weil mit jeder erreichten Verbesse- rung befürchtet wird, dass Gesellschaft und Poli- 2 Eine detaillierte historisch und theoretisch fundierte Ein- tik das umfassende Ziel aufgeben könnten. schätzung der Bildungsbenachteiligung am Übergang in die Sekundarstufe I siehe: Carle, Ursula; Ogrodowski, Jana (2021): Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der Doch das Konkurrenzsystem beruht auf Unge- Grundschule in die weiterführende Schule. Reihe: Kinder rechtigkeit und Ungleichheit, es führt zu Kon- Stärken, Bd. 10. Stuttgart: Kohlhammer (im Erscheinen) Ein Blick Politik 11
Bildungsgerechtigkeit Prof. Dr. Kai Maaz Seit 2013 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. und am Leibniz-Institut für Bildungs- forschung und Bildungsinformation (DIPF), Ständiges Mitglied der StäwiKo (Ständige wiss. Kommission der KMK) Dr. Annabell Daniel Wiss. Mitarbeiterin im DIPF - Abt. Dr. Kai Maaz Dr. Annabell Daniel Struktur und Steuerung des Bildungs- Uni FfM., DIPF, StäwiKo DIPF wesens Prof. Dr. Marcel Helbig Arbeitsbereichsleiter "Strukturen und Systeme" am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBI). Senior Researcher in der Projekt- gruppe bei der Präsidentin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) Rainer Dahlhaus Dr. Marcel Helbig Ayla Çelik Ayla Çelik Redaktion WZB und LIfBi GEW NRW, Vorsitzende Fächer Deutsch und Biologie. Seit 2001 im Schuldienst. 2012 Abteilungsleiterin an der Carl- von Ossietzky-Gesamtschule Köln. Gewerkschaftliche Arbeit in ver- schiedenen Positionen, seit Juni 2021 Vorsitzende der GEW NRW. im Fokus Dr. Martin Pfafferott Uni Bonn - Institut für Politische Wissen- schaft und Soziologie, Leiter des Dr. Christa Lohmann Anne Volkmann Bereichs Bildung und Wissenschaft Dr. Martin Pfafferott der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin Redaktion Redaktion Friedrich-Ebert-Stiftung Dr. Johanna Schulze Uni Paderborn, wiss. Mitarb. im Institut für Erziehungswissen- schaft, Lehrstuhl für Schulpäda- gogik, Lehrstuhl für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik unter Berücksichtigung der Medienpädagogik Dr. Johanna Schulze Ulla Widmer-Rockstroh Universität Paderborn Berlin, Grundschullehrerin i.R., vorm. Fachreferentin Inklusion im Grundschulverband e.V. Dr. Ursula Carle Professorin für Grundschulpä- dagogik i.R. an der Universität Bremen, Lehrbeauftragte an der Freien Universität Bozen, Stellv. Bundesvorsitzende des Grund- schulverbands e.V. Ulla Widmer-Rockstroh Dr. Ursula Carle Rixa Borns Grundschullehrerin, Universität Bremen, GEW NRW, Vors. FG Rixa Borns GSV GSV - stv. Vors. Grundschulen Münster, Grundschulleiterin i.R., langjährig Vorsitzende der Fachgruppe Grundschule der Dieser Link führt zu den Artikeln GEW NRW der Rubrik "im Fokus", Seite 13- 30
Bildungsgerechtigkeit – altbekannte Herausforderungen und neue Chancen Kai Maaz Annabell Daniel Soziale Ungleichheiten in der Schule Die pandemiebedingten Schulschließungen Internationale Studien zeigen, dass die Schul- schließungen während der Pandemie zu Lern- haben zuletzt noch einmal in aller Deutlichkeit rückständen geführt haben, von denen ins- aufgezeigt, was lange bekannt ist: Der Bildungs- besondere Schülerinnen und Schüler aus so- erfolg junger Menschen hängt in hohem Maße zial benachteiligten Familien betroffen sind von der sozialen Herkunft ab. Das verleiht auch (Hammerstein et al. 2021). Über die Situation in der Diskussion über Maßnahmen zum Abbau Deutschland lassen sich aktuell noch keine fun- sozialer Ungleichheit neue Dynamik. dierten Aussagen treffen, da eine belastbare Datenbasis bislang fehlt. Es ist aber anzunehmen, Mit der Pandemie und den ersten Schulschlie- dass sich auch hierzulande beste- ßungen im Frühjahr 2020 wurde für viele Akteu- hende Ungleichheiten verschärft Das deutsche rinnen und Akteure in der Schule und Bildungs- haben. Schon lange vor der Pan- Bildungssystem hat administration eindrücklich sichtbar und damit demie haben Schulleistungsstu- auch greifbar, unter welch unterschiedlichen Be- dien dem deutschen Bildungssys- ein Gerechtigkeits- dingungen Kinder und Jugendliche lernen. Nicht tem ein Gerechtigkeitsproblem problem. alle verfügen etwa über einen eigenen Arbeits- attestiert. Es war einer der über- platz zum Lernen zu Hause oder bekommen au- raschenden Befunde aus der ersten PISA- Stu- ßerhalb der Schule die nötige Unterstützung. die, dass der Zusammenhang zwischen der so- Dabei ist das Thema der sozialen Ungleichheit zialen Herkunft und dem Kompetenzerwerb von nicht neu. Seitdem vor mehr als 20 Jahren die Jugendlichen so eng ist wie in keinem anderen Ergebnisse der ersten PISA-Studie veröffentlicht OECD-Staat. wurden, hat die Bildungsforschung immer wieder darauf hingewiesen, dass der Bildungserfolg jun- Die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern ger Menschen in erheblichem Maße von ihrer so- unterschiedlicher Herkunft unterscheiden sich zialen Herkunft abhängt. Sowohl der Zugang zu bereits beim Eintritt in die Grundschule. Ein Grund verschiedenen Bildungsgängen und -abschlüs- hierfür sind die familiären Anregungsmilieus, die sen als auch der Kompetenzerwerb sind syste- sich nach sozialer Herkunft unterscheiden und matisch mit Merkmalen der sozialen Herkunft, die Kompetenzentwicklung beeinflussen. Hinzu wie dem Bildungsniveau oder dem sozioöko- kommt, dass Kinder aus sozial begünstigten Fa- nomischen Status der Eltern, assoziiert. Eine sol- milien, noch bevor sie ihre Schullaufbahn begin- che Kopplung zwischen Bildungserfolg und leis- nen, häufiger an förderlichen Betreuungs- und tungsirrelevanten Merkmalen widerspricht dem Bildungsangeboten im frühkindlichen und vor- Gleichheitsgrundsatz, wonach niemand auf- schulischen Bereich teilgenommen haben (Au- grund seines Geschlechtes, seiner Abstammung, torengruppe Bildungsberichterstattung 2020). In seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und der Schule angekommen sind ihre Lernzuwächse Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder größer als die ihrer Mitschülerinnen und -schüler politischen Anschauungen bevorzugt oder be- aus sozial benachteiligten Familien, sodass sich nachteiligt werden soll (Art. 3 GG). Diese offen- die eingangs beobachteten Kompetenzunter- kundige Diskrepanz zwischen Anspruch und so- schiede im Verlauf der Grundschulzeit noch ver- zialer Wirklichkeit begründet die Notwendigkeit größern (Neumann et al. 2014). DSfa GGG Magazin 4 2021 einer Auseinandersetzung mit möglichen Maß- nahmen, die darauf abzielen, bestehende Un- Der anschließende Übergang von der Grund- gleichheiten im Bildungssystem abzubauen. Die schule in die weiterführenden Schulen stellt dann Entwicklung wirksamer Maßnahmen setzt je- die Weichen für die weitere Bildungsbiographie doch zunächst ein grundlegendes Verständnis (s.a. den Beitrag von U. Widmer-Rockstroh in über Ausmaß und Ursachen sozialer Bildungsun- diesem Heft – Anm. der Redaktion). Wenngleich gleichheiten voraus. unterschiedliche Schulabschlüsse inzwischen in im Fokus 13
verschiedenen Bildungsgängen (z.B. an Haupt- Entstehungsbedingungen sozialer schulen, Realschulen, Gymnasien oder integrier- Ungleichheit ten Formen wie Gesamt- oder Sekundarschulen) Für die Entstehung bzw. Veränderung von Bil- erworben werden können, gibt es nach wie vor dungsungleichheiten sind aus Perspektive der eine enge Kopplung zwischen dem besuchten empirischen Bildungsforschung insbesondere Bildungsgang und dem späteren Bildungsab- drei Bereiche relevant. schluss – und damit auch den späteren Berufs- und Erwerbschancen. Welchen Bildungsgang Erstens entstehen Ungleichheiten außerhalb von Kinder nach der Grundschule besuchen, hängt Bildungseinrichtungen in der Familie, im nach- von ihrer Herkunft ab. So ist die Wahrscheinlich- barschaftsbezogenen Wohnumfeld oder in der keit, ein Gymnasium zu besuchen, selbst bei glei- Freizeit, und führen wiederum dazu, dass sich Un- chen Leistungen für Kinder aus sozial begünstig- gleichheiten innerhalb von Bildungsinstitutionen ten Familien deutlich höher als bei Kindern aus so- intensivieren. Der Einfluss sozial unterschiedlicher zial benachteiligten Familien (Dumont et al. 2014). außerschulischer Lernbedingungen zeigt sich ins- besondere in der schulfreien Zeit, in der Kinder Jenseits der sozial ungleichen Bildungsbeteili- aus sozial begünstigten Familien von einem ko- gung lassen sich soziale Unterschiede im Kom- gnitiv anregenden häuslichen Umfeld profitie- petenzerwerb feststellen. Die PISA-Ergebnisse ren, das ihre Kompetenzentwicklung positiv be- der letzten Jahre offenbaren, dass es in Deutsch- einflusst. Aber auch das regionale Umfeld einer land eine beträchtliche Zahl von 15-Jährigen Schule kann zum Beispiel durch eine Konzentra- gibt, deren fachliche Kompetenzen sehr wahr- tion örtlicher Problemlagen Bildungsungleichhei- scheinlich nicht ausreichen, um eine Berufsaus- ten verschärfen. bildung erfolgreich zu durchlaufen. In diese so- genannte Risikogruppe fielen im Zweitens können institutionelle Merkmale des Bil- Die Risikogruppe Jahr 2018 im Bereich sowohl der dungssystems den Einfluss der sozialen Herkunft ist gleich groß wie Lesekompetenz als auch der ma- auf die Kompetenzentwicklung verstärken. Unter thematischen Kompetenz 21 Pro- der Annahme, dass Schülerinnen und Schüler in vor 20 Jahren zent aller getesteten 15-Jährigen leistungshomogenen Lerngruppen besser ge- (Weis et al. 2019; Reinhold et al. fördert werden können, werden sie bereits zu 2019). Trotz Reformbemühungen ist dieser Anteil einem frühen Zeitpunkt auf unterschiedlich an- „kompetenzarmer“ Schülerinnen und Schüler spruchsvolle Bildungsgänge verteilt. Der Über- vergleichbar hoch wie in der ersten PISA Erhe- gang in die verschiedenen Bildungsgänge ist bung vor mehr als 20 Jahren. Betrachtet man die nachweislich mit der sozialen Herkunft assoziiert: soziale Zusammensetzung dieser Risikogruppe, Je höher der Bildungsabschluss der Eltern, desto fällt auf, dass Jugendliche aus sozial benachtei- größer ist die Chance der Kinder, auf ein Gym- ligten Familien hier überproportional häufig ver- nasium zu wechseln, auch bei gleichen Leistun- treten sind (Müller & Ehmke, 2016). Inwieweit sich gen. In der Folge entstehen relativ homogene diese Gruppe „kompetenzarmer“ Schülerinnen Entwicklungsmilieus, d.h. in den verschiedenen und Schüler im Zuge der Pandemie noch ver- Bildungsgängen lernen Schülerinnen und Schü- größert, bleibt abzuwarten. Fest steht aber, dass ler mit ähnlicher Leistungsfähigkeit und ähnli- ihr neben der Beobachtung auch eine gezielte cher sozialer Herkunft. Neben solchen Effekten Förderung zuteilwerden muss. der leistungsbezogenen und sozialen Komposi- tion einer Schule beeinflussen institutionelle Ef- Denn die in der Sekundarstufe I beobachteten fekte, wie die sich zwischen verschiedenen Bil- sozialen Unterschiede setzen sich im Bildungs- dungsgängen unterscheidenden Lehrpläne, die verlauf fort. So wird zum Beispiel auch beim Zu- Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und DSfa GGG Magazin 4 2021 gang zur gymnasialen Oberstufe und bei den Schüler. Das führt dazu, dass im gymnasialen Bil- Übergängen in die berufliche oder hochschuli- dungsgang die Lernzuwächse der Schülerinnen sche Ausbildung die soziale Herkunft der Schü- und Schüler über die Zeit besonders stark ausfal- lerinnen und Schüler wirksam. Frühe soziale Un- len, während sie in der Hauptschule eher gering gleichheiten führen damit langfristig zu unglei- sind. Schließlich entstehen und verschärfen sich chen Chancen in der Teilhabe am gesellschaft- Ungleichheiten an den Übergängen zwischen lichen Leben. Bildungsinstitutionen, etwa dem Übergang von 14
der Grundschule in die weiterführenden Schu- Ausgleich herkunftsbedingter Fähigkeitsunter- len. In Anlehnung an Boudon (1974) wird bei schiede einsetzen, desto wirkungsvoller können der Erklärung von sozial ungleichen Übergangs- sie sein. Daher liegen gerade im Ausbau und in entscheidungen zwischen primären und sekun- der Qualitätsentwicklung frühkindlicher Bildungs- dären Herkunftseffekten unterschieden. Primäre und Betreuungsangebote große Potentiale. Au- Herkunftseffekte beschreiben soziale Unterschie- ßerhalb der familiären Umwelt können beson- de in den schulischen Leistungen und Fähigkei- ders sprachliche sowie mathematische Kompe- ten. Diese resultieren aus Unterschieden in den tenzen gefördert werden. innerschulischen Lerngelegenheiten und den außerschulischen Anregungsmilieus, die Kinder Diese Basiskompetenzen sind nicht nur relevant in der Familie oder Nachbarschaft vorfinden. Se- für das Lernen in der Schule, sondern auch für kundäre Herkunftseffekte hingegen beschreiben die späteren Übergänge in Ausbildung und soziale Unterschiede im Entscheidungsverhalten, Beruf. Eine zentrale Aufgabe der Schule, insbe- die aus unterschiedlichen Kosten-Nutzen-Ab- sondere nach den längeren Phasen der Schul- wägungen resultieren. So entscheiden sich sozi- schließung, besteht darin, diese Basiskompeten- al begünstigte Eltern bzw. deren Kinder eher für zen zu sichern und zu stärken. Indem möglichst höhere Bildungsgänge, da sie nach Abwägung alle Kinder das für den weiteren Bildungs- und der Erträge (z.B. weitere Anschlussmöglichkei- Berufsweg notwendige Mindestniveau an Basis- ten oder ein hohes soziales Prestige), Kosten und kompetenzen erwerben, lässt sich das Ausmaß einer hinreichend hohen Wahrscheinlichkeit auf der Bildungsarmut verringern. Dafür bedarf es Erfolg, einen größeren Nutzen erwarten als sozial geeigneter Diagnose- und Förderkonzepte in weniger begünstigte Familien. In ihre Erwägun- der Unterrichtsentwicklung, um Leistungsdefizi- gen fließt auch das Motiv des sozialen Statuser- te identifizieren und erfolgreich kompensieren halts ein, mindestens das Bildungsniveau der El- zu können. tern anzustreben. Am Übergang von der Grund- schule in die weiterführenden Schulen werden Eine besondere Bedeutung kommt hierbei dem zwar vor allem primäre Herkunftseffekte wirksam, Prinzip der individuellen Förderung zu. Gerade in es lassen sich darüber hinaus aber auch deutli- der aktuellen Situation können differenzierte För- che soziale Unterschiede im Entscheidungsver- derkonzepte dazu beitragen, dass alle Schüle- halten nachweisen (Maaz & Nagy 2009). rinnen und Schüler auf individualisierten Wegen wieder den Anschluss nach den Schulschließun- Chancen zum Abbau sozialer Ungleichheiten gen finden und ihre jewei- Welche Maßnahmen geeignet sind, um die Bil- ligen Lernlücken schließen Individuelle Förderung dungsgerechtigkeit verbessern zu können, wird können. Das Prinzip der in- muss systematisch in Wissenschaft und Politik teils kontrovers disku- dividuellen Förderung soll- tiert, so zum Beispiel, ob ein längeres gemein- te daher systematisch im im Unterricht verankert sames Lernen der Schülerschaft sinnvoll ist. An- Unterrichtsgeschehen ver- werden. gesichts des Forschungsstandes und der Folgen ankert werden. Da alle einer anhaltenden Pandemie sollten die Maß- Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer nahmen jedoch nicht allein an den Übergän- sozialen Herkunft davon gleichermaßen profi- gen im Bildungssystem ansetzen, sondern auch tieren dürften, würden sich soziale Ungleichhei- den sozial ungleichen Kompetenzerwerb in ten allerdings kaum verringern. Womöglich ver- den Fokus rücken. Für die sozialen Ungleichhei- schärfen sich diese sogar, wenn man bedenkt, ten beim Übergang von der Schule in die wei- dass Kinder und Jugendliche aus sozial begüns- terführenden Schulen sind schließlich zu einem tigten Familien zusätzlich durch ein kognitiv an- großen Teil Kompetenzunterschiede, die bereits regendes häusliches Umfeld gefördert werden. DSfa GGG Magazin 4 2021 beim Schuleintritt beobachtet werden können, Eine Verringerung der Ungleichheiten wäre zu verantwortlich. Maßnahmen zum Abbau sozi- erwarten, wenn die Leistungen der sozial be- aler Ungleichheiten sollten dementsprechend günstigten Schülerinnen und Schüler entweder möglichst früh implementiert und nicht erst dort schlechter würden oder aber die Lernzuwächse umgesetzt werden, wo Ungleichheiten in der Bil- über die Zeit stagnieren, während ausschließlich dungsbeteiligung konkret sichtbar werden. Je die Schülerinnen und Schüler aus sozial benach- früher in der Bildungsbiografie Maßnahmen zum teiligten Familien gefördert würden. Beides wäre im Fokus 15
aus einer gerechtigkeitstheoretischen Perspekti- bereichen ineinandergreifen, können Ungleich- ve nicht vertretbar. Eine konsequente individuel- heiten nachhaltig abgebaut werden. le Förderung jedoch würde das Leistungsniveau aller Schülerinnen und Schüler anheben und Ein solcher Ansatz wird mit der 2021 gestarteten Kompetenzarmut, die Ungleichheiten im weite- Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark“ ver- ren Bildungsverlauf bedingt, verringern können. folgt. Das Vorhaben begleitet und unterstützt die Doch Lern- und Bildungsprozesse finden eben Schul- und Unterrichtsentwicklung, die Professi- nicht nur innerhalb von Bildungsinstitutionen onalisierung der pädagogisch-didaktisch Täti- statt, sondern unterliegen auch Einflüssen des So- gen sowie die Vernetzung in den Sozialraum an zialraums oder der Peer Group, die den Zugang deutschlandweit 200 Schulen in herausfordern- zu Bildung bzw. den Kompetenzerwerb erschwe- den sozialen Lagen. In enger Zusammenarbeit ren können. Bildungspolitisch scheint daher un- mit der Bildungspraxis werden nicht nur Strategi- bestritten, dass wirksame Ansätze zur Verringe- en und Konzepte zum Abbau sozialer Ungleich- rung sozialer Ungleichheiten eine umfassende heiten entwickelt, sondern auch Erkenntnisse Betrachtung des sozialen Lebensumfeldes er- zu den Gelingensbedingungen bereitgestellt. fordern. Für Schulen bestünde zum Beispiel eine Damit wird eine wichtige Handlungsgrundlage für Möglichkeit darin, die Zusammenarbeit mit au- bildungspolitische Entscheidungen geschaffen. ßerschulischen Anbietern zu stärken. Nur wenn die Maßnahmen in allen Lebens- und Bildungs- Literaturliste auf ggg-web.de Wo keine Villa ist, ist auch kein Weg – zum Abitur ? Bildungsungerechtigkeit – im Kontext betrachtet Rainer Dahlhaus Der Titel dieses Textes lehnt Bildungsungerechtigkeit wird tanz sozialer Ungleichheit in und damit zum Teil einer ungerech- durch Deutschlands Schulen“ sich an eine Kapitelüberschrift ten Gesellschaftsordnung neo- vom Klaus Klemm (Essen 2021). von Butterwegge/Butterwegge liberal-kapitalistischer Prägung. So ist auch die Forderung nach (2021) an: „Wo eine Villa ist, Handlungsperspektiven sehen mehr Bildungsgerechtigkeit der- ist auch ein Weg – zum Abitur dann Veränderungen für die zeit wieder in aller Munde. Die …“. Ziel dieser Zeilen ist es, Schule vor, reichen aber auch Vorschläge, Bildungsungerech- die Frage der Bildungs(un)ge- deutlich über die Schule hinaus. tigkeit zu beseitigen, sind dabei rechtigkeit ein weiteres Mal aus vielfältig und ganz offenbar ab- einer rein (?) pädagogischen Die bildungspolitische Dis- hängig von der Verortung des Diskussion um didaktische, kussion – ein unvollständiger jeweiligen Autors, der Autorin im Überblick politischen Spektrum. curriculare und kompensatori- DSfa GGG Magazin 4 2021 Die Bildungsungerechtigkeit die sche Maßnahmen zu lösen und insbesondere das deutsche Im eher konservativen Spektrum in einen gesellschaftstheoreti- Schulwesen prägt, wird seit Jah- wird auf jedes Hinterfragen der schen, gesellschaftspolitischen ren immer wieder angepran- Schulstruktur verzichtet. Vielmehr Kontext einzubetten: gert, zuletzt etwa in der vom werden die (scheinbaren) Aus- DGB herausgegebenen Experti- wirkungen einer verbindlichen se „Alle Jahre wieder - Zur Kons- Zuweisung der Kinder am Ende 16
der Klasse vier auf die weiterfüh- ser Methode findet sich u.a. bei gerankt, hier etwa anhand der renden Schulformen in den Blick Dahlhaus (2021). Im Hintergrund Leistungen in Mathematik (Ta- genommen, insbesondere hin- stellt sich – ausgesprochen oder belle 1, IQB-Bildungstrend 2018, sichtlich des Zugangs zum Gym- nicht – die Frage, die ein leiten- S. 203). nasium. Bildungsgerechtigkeit der Ministerialbeamter aus dem wird auf Leistungsgerechtigkeit Schulministerium NRW vor eini- Schon hier werden auf Grund reduziert. Da in Bundesländern gen Jahren so formulierte: der Befunde Konsequenzen ein- mit verbindlicher Schulformemp- „Ist nicht jede Schulform neben dem gefordert: fehlung (etwa auf der Grundla- Gymnasium eine Restschule?“. ge von Notenkonstellationen) „Zusammenfassend zeigt sich die Leistungen der Schülerin- Aus linker Sicht schließlich geht anhand der Daten des IQB- nen und Schüler in der Sekun- es zur Verringerung von Bildungs- Bildungstrends 2018, dass sozia- darstufe I deutlich besser seien ungerechtigkeit um den grund- le Herkunftsmerkmale der Familie als in Bundesländern mit nicht legenden Umbau der Schulstruk- für den Kompetenzerwerb in Ma- verbindlichen Schulformemp- tur. Beispiel: thematik (…) in der Sekundarstufe I fehlungen, wird die Rückkehr zu „Wesentliche Ursache der sozia- nach wie vor sehr relevant sind, (…). mehr Verbindlichkeit als Heilmit- len Spaltung in der Bildung ist die Daher sollte es auch künftig ein Ziel tel proklamiert. Dies habe auch frühe Aufteilung der Schüler*innen bildungspolitischer und schulprakti- Vorteile für leistungsstarke Schü- in unterschiedliche Schulformen. scher Bemühungen sein, Bedingun- lerinnen und Schüler aus unteren In der Coronazeit hat sich gezeigt, gen zu schaffen, die zur Verringe- sozialen Schichten und sei damit wie unterschiedlich die Vorausset- rung sozialer Disparitäten beitra- ein Beitrag zu mehr Bildungsge- zungen der Schüler*innen sind: Ei- gen und Schülerinnen und Schülern rechtigkeit (Esser/Seuring 2020, nige haben ein eigenes Zimmer und unabhängig von ihrer sozialen Aus- S. 298). Zur Relativierung der Er- einen Laptop, andere müssen sich gangslage möglichst gute Entwick- gebnisse Esser/Seurings verglei- beides teilen. Nicht alle bekommen lungschancen bieten“ che Klemm (2021). wertvolle Unterstützung zu Hause. (Stanat et.al. 2019, S. 292). (…) Wir wollen eine Schule für alle: Aus der politischen Mitte findet Eine Gemeinschaftsschule, die sich die Forderung, „Ungleiches kein Kind zurücklässt und sozialer ungleich zu behandeln“. Ge- Ugleichheit entgegenwirkt“ meint ist, Schulen an sozial he- (Die Linke 2021, S. 48). rausfordernden Standorten mit zusätzlichen Ressourcen (lehren- Zur Bewertung solcher Vorschlä- dem und nicht lehrendem Per- ge lohnt immer wieder der Blick sonal, Ganztagsbetrieb mit zu- auf die sozialen Rahmenbedin- sätzlichen unterrichtlichen wie gungen, unter denen Schüle- außerunterrichtlichen Angebo- rinnen und Schüler lernen und ten inklusive kostenfreiem Mit- Leistung erbringen. Dazu gibt es tagessen, zusätzlichen Räumen vielfältige, auch vergleichende etc.) auszustatten und damit Daten (vgl. etwa Klemm 2021), mehr Bildungsgerechtigkeit für die im Folgenden um regionale die Schülerinnen und Schü- Aspekte ergänzt und aufgefä- ler dieser Schulen zu erreichen. chert werden sollen. Viele der Autor*innen verzich- ten dabei auf eine grundsätzli- Leistungen und soziale che Infragestellung der Schul- Belastungen im Bundeslän- der-Vergleich DSfa GGG Magazin 4 2021 struktur mit ihren unterschiedlich wertgeschätzten Schulformen. Als Maßstab für die Leistungen Wie ein solches Modell der Res- der Schülerinnen und Schüler sourcensteuerung nach „Sozi- und damit der Schulsysteme Tabelle 1 alindex“ aussehen kann, lässt der Bundesländer werden gern sich bei Schräpler/Jeworutzki die Daten des IQB herangezo- (2020) nachlesen, Kritik an die- gen und die Länder danach im Fokus 17
Unter den vier Spitzenreitern dieser Tabelle finden sich üb- rigens die Länder mit beson- ders stringenter Zuweisung der Schülerinnen und Schüler auf die weiterführenden Schulen: Sachsen, Bayern und (ehemals) Baden-Württemberg. Die Leis- tungsunterschiede sind deutlich und verdienen in der Tat, auf ihre Ursachen hin noch genau- er befragt zu werden. Anders als das IQB, das sich auf Indikatoren für den sozioökono- mischen Status wie etwa den sozioökonomischen Index (ISEI) oder die EGP-Sozial-Klassifikati- Grafik 1 on (siehe Stanat et.al. 2019, S. 267ff.) bezieht, werden im Fol- genden Daten des Statistisches Bundesamtes (Destatis) her- angezogen, um Ursachenfor- schung voran zu bringen. Diese Sozialstatistik erlaubt es, zusätz- liche relevante Daten mit der Tabelle der Schülerleistungen in Verbindung zu bringen. Man findet: Während weder die Ausgaben der Bundesländer je Schüler*in (Grafik 1) noch das durchschnittliche Familien- einkommen in den Ländern (Grafik 2) Auswirkungen auf die Ergebnisse der IQB-Erhebung zu Grafik 2 haben scheinen – die Streuung der Punkte ist einfach zu groß -, fällt ein Merkmal auf. Ein häufig herangezogenes Da- tum zur Charakterisierung von Bevölkerungsteilen ist die Quote der Menschen, die Leistungen nach SGB II (vulgo Sozialhilfe) erhalten. Diese Daten liegen zudem verfeinert bezogen auf Menschen unter 18 Jahren vor. DSfa GGG Magazin 4 2021 Grafik 3 18
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