WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR

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WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR
WeltRisikoBericht 2020
Fokus: Flucht und Migration
WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR
Impressum
Herausgeber WeltRisikoBericht 2020

Bündnis Entwicklung Hilft
und
Ruhr-Universität Bochum – Institut für
Friedenssicherungsrecht
und Humanitäres Völkerrecht (IFHV)

Konzeption, Realisierung und Redaktion

Bündnis Entwicklung Hilft:
Peter Mucke, Projektleitung
Lotte Kirch und ­Ruben Prütz, Redaktionsleitung
Leopold Karmann, Assistenz

IFHV:
Dr. Katrin Radtke, Wissenschaftliche Leitung

MediaCompany:
Julia Walter, Beratung und Redaktion

Autor*innen

Benedikt Behlert, IFHV
Rouven Diekjobst, IFHV
Dr. Carsten Felgentreff, Universität Osnabrück
Timeela Manandhar, IFHV
Peter Mucke, Bündnis Entwicklung Hilft
Prof. Dr. Ludger Pries, Ruhr-Universität Bochum
Dr. Katrin Radtke, IFHV
Daniel Weller, IFHV

Unter Mitarbeit von

Claudia Berker, terre des hommes
Sabine Minninger, Brot für die Welt
Hendrik Slusarenka, medico international

Grafische Gestaltung und Infografik

Naldo Gruden, MediaCompany

Druck

DCM Druckcenter Meckenheim,
gedruckt auf 100 Prozent Recycling-Papier,
CO2-kompensiert

ISBN 978-3-946785-09-5

Der WeltRisikoBericht wird seit 2011 jährlich vom
Bündnis Entwicklung Hilft publiziert.
Verantwortlich: Peter Mucke

 2 WeltRisikoBericht 2020
WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR
Vorwort
                           Nichts prägt das Jahr 2020 so stark wie die                  Nur so kann verhindert werden, dass zukünf-
                           Covid-19-Pandemie. Sie bestimmt unseren                      tig noch weit mehr Menschen aufgrund unwie-
                           Alltag, unser Handeln und unser Miteinander.                 derbringlich zerstörter Lebensgrundlagen ihr
                           Ihre langfristigen Folgen sind bislang nicht                 Zuhause verlassen müssen und ihre Existenz-
                           abzusehen. Die Nachrichten sind davon domi-                  grundlage verlieren.
                           niert, während andere, nicht weniger wichti-
                           ge Themen in den Hintergrund rücken. Dazu                    Der WeltRisikoBericht wird seit 2011 jährlich
                           gehört auch das Schwerpunktthema „Flucht                     von Bündnis Entwicklung Hilft herausgegeben.
                           und Migration“ des diesjährigen WeltRisiko-                  Seit 2017 ist das Institut für Friedenssicherungs-
                           Berichts. Dabei sind die Zahlen des UN-Flücht-               recht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der
                           lingshilfswerks aus diesem Sommer alarmie-                   Ruhr-Universität Bochum für die wissenschaft-
                           rend: Aktuell sind fast 80 Millionen Menschen                liche Leitung und Berechnung des im Bericht
                           auf der Flucht, nach wie vor sterben täglich                 enthaltenen WeltRisikoIndex zuständig. Als
                           Geflüchtete an den EU-Außengrenzen und                       Mitglied des Network on Humanitarian Action
                           Binnenvertriebene im eigenen Land. Immer                     (NOHA) stellt das IFHV die internationale
                           wieder wird deutlich, dass das Vertreibungsri-               Verankerung des Index in der Wissenschaft
                           siko und Risiken während der Flucht ungleich                 sicher. Aufbauend auf dem Austausch zwischen
                           verteilt sind – global betrachtet wie auch inner-            Wissenschaft und Praxis verfolgen wir gemein-
                           halb von Gesellschaften. Die Covid-19-Pande-                 sam das Ziel, den Nutzwert des Welt­       Risiko­
                           mie verschärft die Situation der Geflüchteten                Berichts als Instrument und Handlungs­
                           und Vertriebenen zusätzlich. Abstandsregeln                  anleitung für Entscheidungsträger*innen in
                           sind in überfüllten Geflüchtetencamps wie                    Politik und Gesellschaft zu erhalten und zu
                           Moria auf der griechischen Insel Lesbos oder                 steigern.
                           in Cox’s Bazar in Bangladesch schlicht nicht
                           einzuhalten. Die Menschen dort, ohnehin in
                           besonderer Weise schutzbedürftig, erleben so
                           eine Krise in der Krise.

                           Auch extreme Naturereignisse treffen die                     Wolf-Christian Ramm
                           Ärmsten und Verwundbarsten einer Gesell-                     Vorstandsvorsitzender
                           schaft oftmals am drastischsten, Geflüchtete                 Bündnis Entwicklung Hilft
                           und Migrierende eingeschlossen. Klimabeding-
                           te extreme Wetterereignisse nehmen vielerorts
                           an Häufigkeit und Intensität zu und zwingen
                           immer mehr Menschen, ihre Heimat zu verlas-
                           sen. Der diesjährige WeltRisikoBericht rückt
                           diese Thematik in den Vordergrund und belegt                 Prof. Dr. Pierre Thielbörger
                           die Notwendigkeit klimagerechten Handelns.                   Geschäftsführender Direktor IFHV

Bündnis Entwicklung Hilft bildet sich aus den Hilfswerken Brot für         Das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht
die Welt, Christoffel-Blindenmission, DAHW, Kindernothilfe, ­     medico   der Ruhr-Universität Bochum ist eine der führenden Einrichtungen in
international, Misereor, Plan International, terre des hommes und
­                                                                          Europa in der Forschung und Lehre zu humanitären Krisen. Aufbauend
Welthungerhilfe sowie den assoziierten Mitgliedern German Doctors          auf einer langen Tradition der wissenschaftlichen Auseinandersetzung
und Oxfam. In Katastrophen- und Krisengebieten leisten die Bündnis-        mit humanitärem Völkerrecht und den Menschenrechten verbindet das
Mitglieder sowohl akute Nothilfe als auch langfristige Unterstützung, um   Institut heute interdisziplinäre Forschung aus den Fachrichtungen der
Not nachhaltig zu überwinden und neuen Krisen vorzubeugen.                 Rechts-, Sozial-, Geo- und Gesundheitswissenschaft.

                                                                                                                WeltRisikoBericht 2020 3
WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR
Weiterführende Informationen

Wissenschaftliche Angaben zur Methodik
und Tabellen sowie weitere Materialien sind
unter www.WeltRisikoBericht.de eingestellt.
Dort stehen auch die Berichte 2011 bis 2019
zum Download zur Verfügung.

Ein interaktiver Reader zu den WeltRisikoBerichten, der
auch für den Einsatz im Schulunterricht geeignet ist, ist
unter www.WeltRisikoBericht.de/#epaper abrufbar.

„Sind Katastrophen vermeidbar?“ –
Unterrichtsmaterialien zum WeltRisikoIndex

Die vorherrschende Sicht auf die Länder des Globalen
Südens ist oftmals durch Katastrophen und Konflikte
bestimmt. Aktuelle humanitäre Krisen wie Hungersnöte,
Erdbeben und Überschwemmungen sind wichtige
Themen, an die schulischer Unterricht anknüpfen kann.
Der WeltRisikoIndex ist ein guter Ansatzpunkt, dabei auch
die soziale Situation und die Umweltbedingungen in den
betroffenen Ländern zu behandeln.

Die Unterrichtsmaterialien enthalten kurz gefass-
te thematische Darstellungen und ansprechende
Arbeitsblätter, die die einzelnen Dimensionen des
WeltRisikoIndex behandeln – von der Gefährdung über
Anfälligkeit und Bewältigungskapazitäten bis hin zu
Anpassungskapazitäten. Diese Materialien können in Form
von Gruppen- oder Einzelarbeit in den Unterricht integriert
werden.

Die gedruckte Fassung des Unterrichtsmaterials kann
kostenlos bestellt werden:
kontakt@entwicklung-hilft.de

Das Online-PDF des Unterrichtsmaterials steht zum
Download bereit: www.WeltRisikoBericht.de/
unterrichtsmaterial

WorldRiskReport

Der englischsprachige WorldRiskReport ist unter
www.WorldRiskReport.org verfügbar.

 4 WeltRisikoBericht 2020
WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR
Inhalt

Zentrale Ergebnisse                            . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    Seite 6

1. Katastrophenrisiko, Flucht und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 9
     Peter Mucke

2. Fokus: Flucht und Migration                                             . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    Seite 17

 2.1	Extreme Naturereignisse, Klimawandel und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Seite 17
		 Ludger Pries

  2.2          Migration, erzwungene Immobilität und Rückkehr
		             in Zeiten des Coronavirus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 24
		             Carsten Felgentreff

  2.3          Auswirkungen der Corona-Pandemie und extremer Naturereignisse
		             auf Geflüchtete und Vertriebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Seite 30
		             Timeela Manandhar

     2.4	Menschenrechte als Mittel zur Infragestellung
          klimawandelbedingter Ungerechtigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 35
		             Benedikt Behlert, Rouven Diekjobst

3. Der WeltRisikoIndex 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 43
     Katrin Radtke, Daniel Weller

4. Handlungsempfehlungen und Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 53
     Bündnis Entwicklung Hilft, IFHV

Anhang          . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     Seite 57

Literaturverzeichnis                           . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      Seite 64

                                                                                                                                                                WeltRisikoBericht 2020 5
WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR
Abbildung 1: WeltRisikoIndex 2020

                                    Zentrale Ergebnisse
                                    WeltRisikoIndex 2020

                                    + Der WeltRisikoIndex 2020 gibt das Katastrophen-     Dazu zählt auch der Anstieg des Meeresspiegels
                                      risiko für 181 Länder der Welt an. Als Land mit     infolge der globalen Erwärmung.
                                      dem höchsten Katastrophenrisiko (49,74) führt
                                      der pazifische Inselstaat Vanuatu den Index an.   + Afrika ist der Brennpunkt der gesellschaftlichen
                                      Das geringste Risiko (0,31) weist Katar auf.        Verwundbarkeit (Vulnerabilität). Mehr als zwei
                                                                                          Drittel der vulnerabelsten Länder der Welt befin-
                                    + Das Katastrophenrisiko ist weltweit sehr hete-      den sich dort. Darunter die Zentralafrikanische
                                      rogen, aber geographisch stark konzentriert.        Republik, das Land mit der höchsten Vulnerabi-
                                      Die Hotspot-Regionen des Risikos befinden sich      lität im internationalen Vergleich.
                                      auch 2020 in Ozeanien, Südostasien, Mittelame-
                                      rika sowie in West- und Zentralafrika.            + Im Ranking der Vulnerabilität folgen auf Afrika
                                                                                          die Kontinente Ozeanien, Asien, Amerika und
                                    + Im Vergleich der Kontinente steht Ozeanien an       Europa in absteigender Reihenfolge.
                                      erster Stelle des Katastrophenrisikos, gefolgt
                                      von Afrika, Amerika, Asien und Europa.            + Deutschland liegt auf Rang 162 des WeltRisiko-
                                                                                          Index. Mit einem Indexwert von 2,63 weist
                                    + Ozeanien ist zugleich der Kontinent mit der         Deutschland ein sehr geringes Katastrophenri-
                                      höchsten Gefährdung (Exposition) gegenüber          siko auf. Europa hat mit einem Median von 3,41
                                      extremen Naturereignissen. Darauf folgen            bei 43 Ländern das mit Abstand geringste Kata-
                                      Amerika, Afrika, Asien und Europa.                  strophenrisiko aller Kontinente.

                                    + Generell sind Inselstaaten, insbesondere im       + 2020 konnte aufgrund erweiterter Datenlage
                                      Südpazifik und in der Karibik, überproportional     ein neues Land in den WeltRisikoIndex aufge-
                                      unter den Hochrisikoländern vertreten. Dies ist     nommen werden: Der Inselstaat Dominica
                                      in der Regel auf ihre hohe Exposition gegenüber     belegt mit seinem sehr hohen Risikowert von
                                      extremen Naturereignissen zurückzuführen.           28,47 Rang 3.

6 WeltRisikoBericht 2020
WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR
Fokus: Flucht und Migration
                                                         Rang    Land                              Risiko
+ Extreme Naturereignisse wie Überschwemmun-                1.   Vanuatu                           49,74      Abbildung 2:
  gen oder Stürme erhöhen die Wahrscheinlichkeit                                                              Auszug aus dem
                                                            2.   Tonga                             29,72      WeltRisikoIndex 2020
  erzwungener Migration. Auch die gegenwärtige
                                                            3.   Dominica                          28,47
  Erderwärmung und sich dadurch verändernde
                                                            4.   Antigua und Barbuda               27,44
  Umweltfaktoren und Extremwetterlagen führen
                                                            5.   Salomonen                         24,25
  nach aktuellem Kenntnisstand zu komplexen
  Wanderungsbewegungen.                                     6.   Guyana                            22,73
                                                            7.   Brunei Darussalam                 22,30
+ Umgekehrt können massive Migrationsprozesse               8.   Papua-Neuguinea                   21,12
  zur Beschleunigung von Klimaveränderungen                 9.   Philippinen                       20,96
  beitragen. Dies gilt vor allem für Stadt-Land-           10.   Guatemala                         20,09
  Binnenwanderungen, da wachsende Großstäd-                11.   Kap Verde                         17,73
  te unter anderem Temperaturveränderungen                 12.   Costa Rica                        17,25
  mit sich bringen.                                        13.   Bangladesch                       16,40
                                                           14.   Dschibuti                         16,23
+ Die Voraussetzungen, Krisen zu ­
                                 bewältigen                15.   Fidschi                           16,00
  – seien sie durch extreme Naturereignisse                ...                               ...      ...
  oder durch eine Pandemie verursacht wie                 162.   Deutschland                        2,63
  ­aktuell Covid-19 –, unterscheiden sich weltweit.
                                                           ...                               ...      ...
   Während beispielsweise die Kontaktbeschrän-
                                                          167.   Frankreich                         2,47
   kungen in Deutschland die Covid-19-Ausbrei-
                                                          168.   Litauen                            2,26
   tung verlangsamten, verstärkte die verhängte
                                                          169.   Schweden                           2,20
   Ausgangssperre in Indien aufgrund anderer
   Ausgangsbedingungen die Infektionsgefahr.              170.   Schweiz                            2,15
                                                          171.   Malediven                          2,12
+ Vulnerable Gruppen wie die Wanderarbeiter­              172.   Estland                            2,03
  *innen in Indien werden bei Krisen und Kata-            173.   Finnland                           1,96
  strophen wie der Covid-19-Pandemie oft sich             174.   Ägypten                            1,78
  selbst überlassen. Verwundbarkeiten könnten             175.   Island                             1,69
  effektiv vermindert werden, wenn sämtliche              176.   Barbados                           1,39
  Bedürftige in Notlagen Anspruch auf staatliche          177.   Saudi-Arabien                      1,04
  Unterstützungsmaßnahmen hätten.                         178.   Grenada                            0,97
                                                          179.   St. Vincent u. die Grenadinen      0,81
+ Grundsätzlich dürfen Staaten ihre Grenzen               180.   Malta                              0,66
  schließen, um ihre Bevölkerung zu schützen,             181.   Katar                              0,31
  beispielsweise vor der Verbreitung anstecken-
  der Krankheiten. Grenzschließungen müssen
  jedoch stets geeignet sein, den angestreb-          + Die internationalen Menschenrechte bieten
  ten Zweck zu erreichen, sowie notwendig und           Migrant*innen einen juristischen Anhaltspunkt,
  verhältnismäßig sein und dürfen nicht diskri-         um gegen globale Ungerechtigkeiten vorzuge-
  minieren. Der Schutz der Bevölkerung und die          hen. Auf dieser Basis haben Vertriebene nicht
  Verpflichtung, Asylsuchende zu schützen, sind         nur Ansprüche gegenüber ihrem Heimatstaat,
  dabei in Einklang miteinander zu bringen.             sondern auch gegenüber dem Gaststaat.

+ Eine Antwort auf die Vulnerabilität von Geflüch-    + Das Wohlergehen des Einzelnen hängt auch bei
  teten und Vertriebenen liegt in der Stärkung          Flucht und Migration von der Bereitschaft der
  der Menschenrechte. Dabei müssen stets die            internationalen Gemeinschaft und der Staaten
  besonderen Bedürfnisse und die besondere              ab, die völkerrechtlichen Verträge und Vereinba-
  Gefährdung vulnerabler Gruppen beachtet und           rungen umzusetzen.
  berücksichtigt werden.

                                                                                                            WeltRisikoBericht 2020 7
WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR
WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR
1          atastrophenrisiko, Flucht
                                     K
                                     und Migration
                           Aktuelle Katastrophen und potenzielle Naturgefahren zwingen Millionen
Peter Mucke                Menschen weltweit, ihre Heimat zu verlassen. Dies wird sich künftig noch
Geschäftsführer, Bündnis
­Entwicklung Hilft
                           verstärken, falls keine wirksamen Maßnahmen zum Klimaschutz ergriffen
                           werden. Ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten einzelner extremer
                           Naturereignisse und dem Klimawandel ist zwar weiterhin schwer nachweis-
                           bar. Doch hat die Erderwärmung global betrachtet inzwischen offenkundig
                           zu einer Veränderung der regionalen Häufigkeit und Intensität von Stürmen,
                           Überschwemmungen und Dürren geführt. Ob und wann eine Person den
                           einschneidenden Schritt geht, ihr Zuhause zu verlassen, hängt allerdings nicht
                           allein von den äußeren Gefahren ab. Ebenso sind soziale Faktoren wie Schutz
                           durch die Gemeinschaft oder die individuelle finanzielle Situation maßgeblich.
                           Flucht und Migration sind daher eng mit beiden Dimensionen der Risikoana-
                           lyse in diesem Bericht verbunden – der Gefährdung und der Verwundbarkeit.

                           Vierzig Tage lang zogen sie ihre Schlitten und     Menschen in Küstenregionen würden ohne
                           Kajaks, bis sie die Westküste Grönlands erreicht   ernsthafte Gegenmaßnahmen dann nur noch
                           hatten. Der Polarforscher Fridtjof Nansen und      Umsiedlung oder Flucht bleiben.
                           seine kleine Crew konnten im Jahre 1888 mit
                           ihrer Reise quer durch Grönland nachweisen,        Extreme Naturereignisse, zu denen in diesem
                           dass das Land von einer geschlossenen Eisdecke     Bericht neben dem Meeresspiegelanstieg auch
                           bedeckt ist. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde       Stürme, Überschwemmungen, Erdbeben und
                           Fridtjof Nansen angesichts der großen Zahl von     Dürren gezählt werden, zwingen schon heute
                           Geflüchteten zu einem energischen Fürspre-         Millionen Menschen jährlich zur Flucht inner-
                           cher für sie, ab 1920 als Gesandter Norwegens      halb ihres Landes – entweder wegen einer direk-
                           im Völkerbund und ab 1922 als erster High          ten physischen Bedrohung durch die Natur-
                           Commissioner for Refugees des Völkerbundes.        gefahr oder wegen sekundärer Effekte wie die
                                                                              Zerstörung der Lebensgrundlage. Es zeigt sich
                           Auch künftig werden Polareis und Flucht in         inzwischen eindeutig, dass der Klimawandel zu
                           direktem Zusammenhang genannt werden               einer Veränderung der regionalen Häufigkeit
                           – wenn auch in anderer Weise, als Fridtjof         und Intensität extremer Naturereignisse führt
                           Nansen dies hat vorhersehen können: Allein         (Lehmann et al. 2018). Allerdings ist – ausge-
                           von 2006 bis 2015 sind in Grönland jährlich        hend von aktuellen Analysen – ein direkter
                           etwa 278 Milliarden Tonnen Eis geschmolzen.        Zusammenhang zwischen Klimawandel und
                           Den Meeresspiegel ließ dies jährlich um 0,77       einzelnen Naturgefahren nicht nachweisbar
                           Millimeter ansteigen. In der Antarktis schmol-     (Faust / Rauch 2020).
                           zen zudem jährlich 155 Milliarden Tonnen Eis,
                           was den Meeresspiegel pro Jahr um weitere          Auch proaktive Migration, also eine Reakti-
                           0,43 Millimeter anhob. Bis 2100 könnte der         on auf potenzielle Naturgefahren wie einen
                           Meeresspiegel, zu einem bedeutenden Teil           drohenden Anstieg des Meeresspiegels, wird
                           bedingt durch die Polareis-Schmelze, sogar um      voraussichtlich zunehmen – in diesem Fall ist
                           mehr als einen Meter im Vergleich zum Refe-        Migration eine mögliche Form der Anpassung
                           renzzeitraum 1986 bis 2005 ansteigen, wenn         an Gefährdungen (IOM 2019b; IDMC 2017).
                           nicht mit konsequentem Klimaschutz gegen-          Migration ist jedoch nicht monokausal bedingt.
                           gesteuert wird (IPCC 2019). Millionen von          Als wesentlicher Treiber gilt eine Kombination

                                                                                                  WeltRisikoBericht 2020 9
WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR
Flucht und Migration – Begriffsbestimmungen
und Definitionen
Die folgende Auflistung umfasst           claim has not yet been finally                                  aus ökonomischen, umweltbedingten, sozi-
die Schlüsselbegriffe zu Flucht und       decided on by the country in which                              alen und politischen Aspekten (siehe Kapi-
Migration, die im WeltRisikoBericht       the claim is submitted. Not every                               tel 2.1). Wie groß der Einfluss der einzelnen
2020 Verwendung finden. Die Defi-         asylum seeker will ultimately be                                Faktoren ist, lässt sich schwer operationalisie-
nitionen sind dem internationalen         recognized as a refugee, but every                              ren und entsprechend liegen hier uneinheitli-
Kontext entsprechend in englischer        refugee was initially an asylum                                 che Forschungsergebnisse vor. Generell ist zu
Sprache aufgeführt.                       seeker.“ (UNHCR 2006)                                           beobachten, dass es immer häufiger zu „mixed
                                                                                                          migration flows“ kommt: Gruppen von Migrie-
Migrant | Migrant*in                      Internally displaced person (IDP) |
                                                                                                          renden setzen sich zunehmend aus Menschen
                                          Binnenvertriebene*r
„An umbrella term, not defined                                                                            mit ganz unterschiedlichen Beweggründen
under international law, reflect-         „Persons or groups of persons who                               zusammen (Horwood et al. 2019).
ing the common lay understand-            have been forced or obliged to flee
ing of a person who moves away            or to leave their homes or places of                            Begriffliche Grundlagen und ihre politische
from his or her place of usual resi-      habitual residence, in particular as                            Dimension
dence, whether within a country           a result of or in order to avoid the
or across an international border,        effects of armed conflict, situations                           Der Ausdruck „Migration“ umfasst vielfältige
temporarily or permanently, and           of generalized violence, violations of                          Formen von Mobilität (siehe Übersicht, links).
for a variety of reasons. The term        human rights or ­natural[1] or human-                           Eine Annäherung an die verschiedenen Arten
includes a number of well-defined         made disasters, and who have not                                von Migration ermöglichen vier grundsätzliche
legal categories of people, such as       crossed an internationally recog-                               Fragen (IOM 2019b; WEF 2017):
migrant workers; persons whose            nized state border.“ (UNCHR 1998)
particular types of movements are         (Forced) Displacement |                                         +   Erfolgt die Bewegung inländisch oder über
legally-­
        defined, such as smuggled         ­Vertreibung bzw. Flucht                                            Landesgrenzen hinweg? (Einteilung nach
migrants; as well as those whose                                                                              politischen Grenzen)
status or means of movement are           „The movement of persons who
not specifically defined under inter-     have been forced or obliged to flee                             +   Welchem Bewegungsmuster folgt die Migra-
national law, such as international       or to leave their homes or places of                                tion? (schrittweise Migration, zirkuläre /
students.“ (IOM 2019a)                    habitual residence, in particular as                                saisonale Migration, Kettenmigration)
                                          a result of or in order to avoid the
Refugee | Flüchtling,                     effects of armed conflict, situations
Geflüchtete*r
                                                                                                          +   Erfolgt die Bewegung freiwillig oder
                                          of generalized violence, violations of                              aufgrund von Zwang bzw. erzwungen durch
[Any person who] „owing to                human rights or natural[1] or human-                                die Umstände? (freiwillige Migration,
well-founded fear of being perse-         made disasters. […] The above defi-                                 Vertreibung bzw. Flucht)
cuted for reasons of race, religion,      nition is meant to cover both inter-
nationality, membership of a partic-      nal and cross-border displacement.“                             +   Von welcher Dauer ist der Aufenthalt?
ular social group or political opinion,   (IOM 2019a)                                                         (Kurzzeit- und bei über einem Jahr
is outside the country of his nation-     Returnee | Rückkehrer*in                                            Lang­zeitmigration)
ality and is unable or, owing to such
fear, is unwilling to avail himself of    „A person who was of concern to                                 Da Migration als Oberbegriff für verschiedene
the protection of that country; or        UNHCR when outside his / her coun-                              Formen von Mobilität genutzt wird, wird Flucht
who, not having a nationality and         try of origin and who remains so,                               in vielen Studien unter Migration subsumiert.
being outside the country of his          for a limited period (usually two                               Doch je nach Betrachtungsrichtung wird der
former habitual residence as a result     years), after returning to the coun-                            Begriff „Flucht“ unterschiedlich interpretiert
of such events, is unable or, owing       try of origin. The term also applies                            bzw. genutzt. Dies reicht vom umgangssprach-
to such fear, is unwilling to return to   to internally displaced persons who                             lichen „vor etwas flüchten“ (etwa auch vor
it.“ (UNGA 1951; UNGA 1967)               return to their previous place of resi-                         extremen Naturereignissen) bis zur Eingren-
                                          dence.“ (UNHCR 2019)                                            zung auf den rechtlich verankerten Terminus
Asylum seeker | Asylsuchende*r
                                                                                                          „Flüchtlinge“ gemäß Genfer Flüchtlingskonven-
                                            Der Begriff „natural disasters“ steht nicht im Einklang mit
                                          [1]

„An individual who is seeking inter-      dem Katastrophenbegriff des WeltRisikoBerichts. Dieser          tion. Unabhängig von dieser teils variierenden
national protection. In countries         geht davon aus, dass Katastrophen infolge extremer              Betrachtungsrichtung steht fest, dass Flucht
                                          Naturereignisse nicht nur durch die natürlichen Ursachen
with individualized procedures, an        entstehen, sondern immer auch von gesellschaftlichen
                                                                                                          (ebenso wie Vertreibung) immer aus einer
asylum seeker is someone whose            Gegebenheiten beeinflusst sind (siehe Kapitel 3).               drohenden oder akuten Notlage heraus erfolgt.

10 WeltRisikoBericht 2020
Migration hingegen kann auch aus anderen            Migrant*innen teilweise unterschiedlich defi-
Beweggründen erfolgen, welche nicht zwangs-         nieren (IOM 2019b).
läufig an eine Notlage geknüpft sind.
                                                    Mit circa 20 Millionen Geflüchteten unter
Der Begriff „Flüchtlinge“ ist im deutschen          UNHCR-Mandat im Jahr 2019 stellt Flucht über
Sprachgebrauch teils negativ besetzt, außer-        internationale Grenzen hinweg – rein quantita-
dem reduziert er die Biografien der Menschen        tiv – einen eher kleinen Teil von Migration dar.
auf ihre Fluchterfahrung. Im WeltRisikoBe-          Jedoch sind Geflüchtete eine der Bevölkerungs-
richt wird daher soweit möglich der Begriff         gruppen, die häufig am dringendsten auf huma-
„Geflüchtete“ genutzt. Wenn es um den Inhalt        nitäre Hilfe angewiesen sind. Flucht aufgrund
internationaler Vereinbarungen geht, wird in        von Gewalt und Konflikten über Landesgrenzen
diesem Bericht auch der Begriff „Flüchtlinge“       hinweg ist global ungleich verteilt. Mehr als zwei
verwendet.                                          Drittel aller über Grenzen hinweg Geflüchteten
                                                    stammen aus lediglich fünf Ländern: Syrien,
Interne Vertreibung und internationale              Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myan-
Migration                                           mar. Diejenigen, die eine Landesgrenze über-
                                                    schreiten, verweilen überwiegend (73 Prozent)
Die große Mehrheit aller durch extreme Natur-       in einem Nachbarstaat ihres Heimatlandes
ereignisse vertriebenen Menschen sucht              (UNHCR 2020g).
(temporär) Zuflucht innerhalb der eigenen
Landesgrenzen. Der allergrößte Teil dieser          Risikobewertung
Vertreibungen ist auf Überschwemmun-
gen und Stürme zurückzuführen. Laut IDMC            Im WeltRisikoIndex werden die Exposition und
(2017) findet mehr als die Hälfte der weltwei-      die Vulnerabilität anhand ausgewählter Indika-
ten katastrophenbedingten Vertreibungen in          toren analysiert und dadurch eine Einschätzung
Süd- und Ostasien sowie in der Pazifik-Region       des Katastrophenrisikos vorgenommen (siehe
statt, Small Island Developing States (SIDS)        auch Schaukasten „Das Konzept des WeltRisi-
sind dabei überproportional stark betroffen.        koBerichts“, Seite 15). Aufgrund der Multikau-
Insgesamt verursachten extreme Naturereig-          salität von Flucht und Migration sowie deren
nisse 2019 fast dreimal so viele interne Vertrei-   komplexen und kontextabhängigen Wechsel-
bungen wie gewalttätige Konflikte (IDMC             wirkungen mit Exposition und Vulnerabilität
2020a, siehe Klappkarte „Extreme Natur-             gibt es im WeltRisikoIndex keinen eigenen
ereignisse versus Konflikte als Auslöser für        Indikator, der Flucht und Migration in einen
interne Vertreibung“). Doch auch der Großteil       direkten Zusammenhang mit dem Katastro-
der Menschen, die aufgrund von Gewalt und           phenrisiko stellt. Allerdings wird im Indika-
kriegerischen Konflikten ihr Zuhause verlas-        tor zur fragilen Staatlichkeit die Situation von
sen müssen, überquert keine Staatsgrenzen,          Geflüchteten und Vertriebenen als Unterkate-
sondern sucht Zuflucht innerhalb des eigenen        gorie berücksichtigt. Als Querschnittsthema ist
Landes. Sie sind also „Internally Displaced         Flucht und Migration aber indirekt für einen
Persons“ (UNHCR 2020g).                             großen Teil der Vulnerabilitätsindikatoren von
                                                    Belang. Beispielsweise sind die Indikatoren zu
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen             Armut und Versorgungsabhängigkeiten sowie
wuchs die weltweite Anzahl internationaler          zu Wirtschaftskraft und Einkommensverteilung
Migrant*innen auf circa 272 Millionen im Jahr       sowohl bei der Beurteilung von Katastrophen-
2019 an (UN DESA 2019b). Dies entspräche            risiken als auch bei den Analysen im Rahmen
einer sehr deutlichen Zunahme von knapp 100         des diesjährigen Schwerpunktthemas relevant
Millionen internationaler Migrant*innen seit        (siehe Kapitel 3).
dem Jahr 2000. Die Schätzungen sind jedoch
mit Vorsicht zu bewerten, da sie auf Anga-          Zu den gängigen Vulnerabilitätsfaktoren
ben beruhen, die den Vereinten Nationen von         kommen für Geflüchtete und Migrierende
den einzelnen Staaten zur Verfügung gestellt        häufig weitere verstärkende Vulnerabilitäts-
werden, und diese Staaten internationale            faktoren wie Sprachbarrieren, mangelnde

                                                                          WeltRisikoBericht 2020 11
Vertrautheit mit lokalen Strukturen und            soziale Strukturen an ihrem neuen Aufenthalts-
                            erschwerter Zugang zu staatlichen Vorsorge-        ort haben, wodurch sie beispielsweise Informa-
                            und Hilfsprogrammen hinzu (siehe Klappkarte        tionen über extreme Naturereignisse in ihrer
                            „Flucht und Migration: Ursachen, Hindernis-        geographischen Nähe schlechter erreichen
                            se, mögliche negative Folgen“). Migration und      (Opitz-Stapleton et al. 2017).
                            Flucht können Familienstrukturen zerstören,
                            Gemeinschaften trennen, soziale Netzwerke          Extreme Naturereignisse und Flucht während
                            schwächen und auch indirekt die Vulnerabilität     der Corona-Pandemie
                            Einzelner wesentlich erhöhen, beispielsweise
                            die von Frauen und Kindern, die zurückgelas-       Die Covid-19-Pandemie, die das Jahr 2020
                            sen werden (Opitz-Stapleton et al. 2017).          kennzeichnet, hat andere Krisen verstärkt und
                                                                               zugleich in den Hintergrund treten lassen. Ein
                            Gleichzeitig bringen Migrierende und Geflüch-      Beispiel ist der Zyklon Amphan: Im Mai 2020
                            tete wichtige Kapazitäten mit, welche bei der      richtete der Wirbelsturm mit bis zu 185 Kilo-
                            Bewältigung von Krisen entscheidend sein           metern pro Stunde im indischen Westbenga-
                            können. So können sie etwa durch ihre sprach-      len und in Bangladesch schwere Schäden an.
                            liche und kulturelle Diversität zur Informati-     Tausende Häuser wurden zerstört, in weiten
                            onsverbreitung beitragen. Diesbezüglich ist es     Teilen kam es zu Stromausfällen und vieler-
                            von entscheidender Bedeutung, dass Regie-          orts wurden die Straßen überflutet. Die Coro-
                            rungen die unterschiedlichen Bedürfnisse und       nakrise erschwerte die Soforthilfemaßnahmen
                            Fähigkeiten von Staatsbürger*innen und Nicht-      (Bündnis Entwicklung Hilft 2020). So mussten
                            Staatsbürger*innen erkennen und berücksich-        die Helfenden beispielsweise bei Verteilungen
                            tigen (IOM 2019b).                                 genau darauf achten, dass der Mindestabstand
                                                                               eingehalten wird, um sich und andere zu schüt-
                            Geflüchtete, Vertriebene und Migrierende           zen. In Indien waren zudem viele Evakuie-
                            haben nicht nur in der Regel eine höhere Vulne-    rungszentren bereits belegt, weil sie wegen der
                            rabilität, sondern sind aufgrund ihrer Lebens-     Corona-Pandemie zu Quarantäneeinrichtungen
                            umstände oftmals auch gezwungen, bewusst           oder zu Unterkünften für wegen des Lockdowns
                            eine erhöhte Exposition in Kauf zu nehmen.         heimkehrende Migrant*innen umfunktioniert
                            Dies kann sich sowohl auf den Aufenthalts-         worden waren (Oxfam 2020).
                            ort und die Arbeitsbedingungen als auch auf
                            die Gefahren unterwegs beziehen (siehe Kapi-       Menschen, die schon vor Beginn einer Pande-
                            tel 2.2). Darüber hinaus werden verschiedene       mie oder eines extremen Naturereignisses in
                            Faktoren, die zu Migrationsentscheidungen          prekären Verhältnissen leben, was beispiels-
                            beitragen, von extremen Naturereignissen           weise auf den Großteil der Menschen in den
                            direkt und indirekt beeinflusst. So können sich    großen Nothilfecamps zutrifft, sind besonders
                            ungünstige Umweltveränderungen negativ auf         vulnerabel und haben somit ein höheres Risi-
                            das Einkommen und den Wert von Haushalts-          ko. So existiert in vielen Camps nur eine unzu-
                            gütern auswirken, indem Land und Grundbesitz       reichende Wasser- und Sanitärversorgung, die
                            abgebaut werden und die landwirtschaftliche        häufig zudem noch von weit mehr Menschen
                            Leistung abnimmt (zum Beispiel die Ernteer-        genutzt wird als ursprünglich geplant. Umfas-
                            träge) oder indem sich der Warenpreis erhöht       sende Hygienemaßnahmen, die zum Schutz vor
                            und die Kaufkraft verringert (Feng et al. 2010).   Covid-19 unabdingbar sind, können in solchen
                                                                               Camps meist nicht gewährleistet werden (siehe
                            Flucht und Migration können zwar erfolgen, um      Kapitel 2.3). Abstandsregeln sind in überfüll-
                            einer hohen Exposition auszuweichen, jedoch        ten Camps – manche von ihnen zählen zu den
                            resultiert aus Marginalisierung und Exklusi-       Orten mit der höchsten Bevölkerungsdichte
                            on von Geflüchteten und Vertriebenen in den        weltweit (IRC 2020) – kaum umsetzbar.
                            allermeisten Fällen ein erhöhtes Risiko bei
                            extremen Naturereignissen (IOM 2019b). Dies        Mit einer ähnlichen Problemlage sind
                            gilt besonders für Migrant*innen und Geflüch-      Menschen in informellen Siedlungen, insbe-
                            tete, die keine oder nur schwach ausgeprägte       sondere im Globalen Süden, konfrontiert. Die

12 WeltRisikoBericht 2020
People of Concern gemäß UNHCR
„People of Concern“ umfasst verschiedene Gruppen von Migrierenden,
                                                                                                                                80 Mio.
die aufgrund ihrer prekären Lage unter dem Schutzmandat des UNHCR
stehen. Obgleich die große Mehrheit der weltweit Geflüchteten und
Vertriebenen hierdurch geschützt werden, gibt es auch Menschen in                                                               70 Mio.
vergleichbar prekären Lebenslagen, die aufgrund definitorischer Unter-
scheidungen nicht unter dieses Schutzmandat fallen.
                                                                                                                                60 Mio.

                                                                                                                                50 Mio.
            Andere

     Asylsuchende                                                                                                               40 Mio.

      Rückkehrende
                                                                                                                                30 Mio.

        Staatenlose
                                                                                                                                20 Mio.
        Geflüchtete

 Binnenvertriebene                                                                                                              10 Mio.

                                                                                                                                0

                        2010       2011       2012       2013       2014       2015       2016        2017       2018       2019

Abbildung 3: Zusammensetzung und Größe verschiedener Gruppen Migrierender unter dem Schutzmandat des UNHCR (Datenquelle: UNHCR 2020f)

                           ärmere städtische Bevölkerung siedelt oftmals              für Nachhaltige Entwicklung und das Sendai
                           in Gebieten, die für den wohlhabenderen Teil               Framework for Disaster Risk Reduction umzu-
                           der Bevölkerung unattraktiv und daher noch                 setzen. Diese beiden internationalen Verein-
                           nicht besiedelt sind. Beispielsweise führt die             barungen haben, bezogen auf die Wechsel-
                           zunehmende Bebauung steiler und instabi-                   wirkungen von extremen Naturereignissen,
                           ler Hänge zu einer starken Gefährdung durch                Klimawandel, Umweltzerstörung, Flucht und
                           Erdrutsche oder Überschwemmungen. Durch                    Migration, besondere Relevanz (UNGA 2015;
                           hohe Siedlungsdichte, provisorische Unter-                 UNISDR 2015).
                           künfte und fehlende Infrastruktur sind die
                           Menschen noch verwundbarer (Abunyewah et                   Im Sendai-Rahmenwerk 2015 - 2030 sind Flucht
                           al. 2018). Die Covid-19-Pandemie verschärft                und Migration in einer umfassenderen Weise
                           solche Ungleichheiten, da Maßnahmen zur                    integriert als in der Zehn-Jahres-Periode zuvor.
                           Eindämmung des Virus in informellen Sied-                  Aber weiterhin werden entscheidende Aspekte
                           lungen in Ländern des Globalen Südens in der               auch in diesem Rahmenwerk nicht ausreichend
                           Regel nicht umsetzbar sind (Kluge et al. 2020).            adressiert, beispielsweise notwendige Maßnah-
                                                                                      men zur Risikoreduzierung für verschiedene
                           Ausblick                                                   Gruppen von Migrierenden. Primärer Grund
                                                                                      dafür ist die mangelnde Bereitschaft mancher
                           Bis zum Jahr 2030 hat sich die intern­ationale             Staaten, Flucht und Migration im Kontext der
                           Staatengemeinschaft Zeit gegeben, die Agenda               Katastrophenvorsorge zu erörtern. Dies zeigt

                                                                                                             WeltRisikoBericht 2020 13
sich auch im Vergleich zu den parallel erar-        Klimawandel und extremen Naturereignissen
                            beiteten Zielen zur nachhaltigen Entwicklung        betroffenen Staaten bzw. Regionen stammen,
                            (Sustainable Development Goals, SDGs). So           Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention
                            sind manche Zielsetzungen, welche in den            sein können. Dies sei beispielsweise der Fall,
                            SDGs verankert sind, im Sendai-Rahmenwerk           „wenn Katastrophen wie Dürre oder Hungers-
                            entweder abgeschwächt oder nicht ausreichend        not mit bewaffneten Konflikten oder Ausein-
                            berücksichtigt (Guadagno 2016).                     andersetzungen im Zusammenhang stehen,
                                                                                die rassistisch, ethnisch, religiös oder politisch
                            Dies betrifft beispielsweise die „Remittances“,     motiviert sind. Verfolgung im Sinne der Genfer
                            die Geldüberweisungen von Migrant*innen             Flüchtlingskonvention kann auch dann vorlie-
                            an zurückgebliebene Angehörige. Während im          gen, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen
                            Entstehungsprozess der SDGs auf eine Vereinfa-      unverhältnismäßig stark solchen Katastrophen
                            chung und somit Förderung von „Remittances“         ausgesetzt werden, zum Beispiel dadurch, dass
                            gedrängt wurde, wurden in den Verhandlungen         ihnen Schutz- oder Hilfsmaßnahmen vorent-
                            zum Sendai-Rahmenwerk solche Vereinfachun-          halten werden“ (UNHCR 2020h). Die Verein-
                            gen kritisch bewertet. Obgleich sie prinzipiell     ten Nationen haben damit ihre Bereitschaft
                            zu einer Stärkung individueller Anpassungs-         erklärt, sich diesen Zukunftsfragen zu stellen –
                            und Bewältigungskapazitäten und somit zu            bisher mit ungewissem Ausgang.
                            einer voranschreitenden Entwicklung in den
                            Herkunftsländern führen können, bestünde            Vorerst haben allerdings die Maßnahmen zur
                            die Gefahr, regionale individuelle Initiativen zu   Eindämmung der Covid-19-Pandemie den
                            hemmen und stattdessen Abhängigkeiten von           Schutz von Geflüchteten massiv eingeschränkt.
                            dem Geldzufluss zu schaffen (Guadagno 2016).        Die Zahl der Asylanträge in der EU fiel von
                                                                                57.105 im Mai 2019 auf 10.200 im Mai 2020
                            Die SDGs umfassen weitere Themen, die im            (EASO 2020). Aufgrund der Coronakrise sind
                            Kontext von Flucht und Migration relevant           die Kapazitäten zur Erfassung von Geflüch-
                            sind, als wesentlicher Bestandteil nachhaltiger     teten und die Dokumentation ihrer Daten
                            Entwicklung ist dies in insgesamt zehn der 17       vielerorts eingeschränkt. Diese Registrierun-
                            SDGs verankert (siehe Kapitel 4).                   gen sind jedoch essenzieller Teil der Schutz-
                                                                                aktivitäten und ermöglichen einen Überblick
                            Auf internationaler Ebene wird aktuell disku-       über die globale Situation von Geflüchteten
                            tiert, welche Möglichkeit die international         (UNHCR 2020g). Es bestehen erhebliche
                            verbrieften Menschenrechte Geflüchteten und         Befürchtungen, dass einzelne Staaten die mit
                            Migrant*innen bieten, Schutz in einem weniger       der Covid-19-Pandemie eingeführten Kontakt-
                            vom Klimawandel betroffenen Land zu erhal-          sperre-Maßnahmen nutzen werden, um ihre
                            ten. Eine Stellungnahme des UN-Menschen-            Einreisebeschränkungen und die Zurückwei-
                            rechtsausschusses hat diesen Weg im Januar          sung von Geflüchteten und Migrant*innen an
                            2020 juristisch geöffnet (siehe Kapitel 2.4).       den Grenzen langfristig zu etablieren.

                            Darüber hinaus findet auf UN-Ebene eine             Der unermüdliche Einsatz für Geflüchtete hat
                            Diskussion über die Erweiterung des Flücht-         zusammen mit seinen bahnbrechenden Polar-
                            lingsbegriffs statt. So äußerte Filippo Grandi,     reisen das Lebenswerk von Fridtjof Nansen
                            UN High Commissioner for Refugees: „Vertrei-        gekennzeichnet. Bis heute vergibt das UNHCR
                            bung über Grenzen hinweg kann sowohl durch          jährlich den Nansen-Flüchtlingspreis für außer-
                            eine Wechselwirkung von Klimawandel und             ordentliches Engagement im Flüchtlingsschutz,
                            extremen Naturereignissen mit Konflikten und        die Preisträger stehen für die Werte, „die Fridt-
                            Gewalt als auch allein durch extreme Natur-         jof Nansen zeit seines Lebens verkörpert hat:
                            ereignisse oder menschengemachte Katastro-          eine feste Überzeugung und Beharrlichkeit im
                            phen entstehen. Beides kann internationalen         Angesicht von Herausforderungen“ (UNHCR
                            Schutzbedarf auslösen“ (Thompson 2019,              2020i). Diese Grundsätze haben mit Blick auf
                            eigene Übersetzung). Im Juli 2020 betonte           die Herausforderungen der kommenden Jahre
                            das UNHCR, dass auch Personen, die aus von          keineswegs an Bedeutung verloren.

14 WeltRisikoBericht 2020
Das Konzept des WeltRisikoBerichts

Risikobegriff und Ansatz                                tativer Herangehensweise, das Hinter­                     Im WeltRisikoIndex können – wie in jedem
                                                        gründe und Zusammenhänge beleuchtet                       Index – nur Indikatoren berücksichtigt
Die Risikobewertung im WeltRisikoBericht                – in diesem Jahr zum Thema „Flucht und                    werden, für die nachvollziehbare, quanti-
beruht auf dem grundsätzlichen Verständ-                Migration“.                                               fizierbare Daten verfügbar sind. Beispiels-
nis, dass für die Entstehung einer Katas-                                                                         weise ist die direkte Nachbarschaftshilfe
trophe nicht allein entscheidend ist, wie               Die Berechnung des Katastrophenrisi-                      im Katastrophenfall zwar sehr wichtig, aber
hart die Gewalten der Natur die Menschen                kos erfolgt für 181 Staaten weltweit und                  nicht messbar. Außerdem kann es Abwei-
treffen, sondern auch, wie Gesellschaften               basiert auf vier Komponenten:                             chungen in der Datenqualität zwischen
auf extreme Naturereignisse reagieren                                                                             verschiedenen Ländern geben, wenn
können. Je nach Gesamtsituation ist die                 + Gefährdung / Exposition    gegenüber                    die Datenerhebung nur durch nationale
Bevölkerung verletzlicher gegenüber                       Erdbeben, Stürmen, Überschwemmun-                       Autoritäten und nicht durch eine unab-
Naturereignissen als bei einer besseren                   gen, Dürren und Meeres­spiegelanstieg                   hängige internationale Institution erfolgt.
Ausgangslage hinsichtlich Anfälligkeit,
Bewältigungs- und Anpassungskapazitä-                   + Anfälligkeit in Abhängigkeit von Infra-                 Ziel des Berichts
ten (Bündnis Entwicklung Hilft 2011).                     struktur, Ernährung und ökonomischen
                                                          Rahmenbedingungen                                       Die Darstellung des Katastrophenrisikos
Risikobewertung                                                                                                   mithilfe des Index und seiner vier Kompo-
                                                        + Bewältigungskapazitäten in Ab­hän-                      nenten macht die weltweiten Hotspots des
Der WeltRisikoBericht beinhaltet den Welt­­-              gigkeit von Regierungsführung, medi­                    Katastrophenrisikos und die Handlungs-
RisikoIndex, der seit 2018 vom Institut für               zinischer Versorgung, sozialer und                      felder für die erforderliche Risikoreduzie-
Friedenssicherungsrecht und Humanitäres                   materieller Absicherung                                 rung auf quantitativer Basis sichtbar. Auf
Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität                                                                           dieser Grundlage, ergänzt durch die quali-
Bochum berechnet wird. Entwickelt wurde                 + Anpassungskapazitäten bezogen auf                       tativen Analysen, können Handlungsemp-
der Index von Bündnis Entwicklung Hilft                   kommende Naturereignisse, auf den                       fehlungen für nationale und internatio­   -
und der United Nations University Bonn.                   Klimawandel und auf andere Heraus-                      nale, staatliche und zivilgesellschaftliche
Neben dem Datenteil enthält der Bericht                   ­­forderungen.                                          Akteur*innen formuliert werden.
immer auch ein Fokuskapitel mit quali­-

                            Naturgefahren-Bereich                                           Gesellschaftlicher Bereich

                    Überschwemmungen

                                                                                                  Vulnerabilität
                                                                                                  Mittelwert aus den
     Meeresspiegelanstieg         Gefährdung                                                      drei Komponenten
                                 Exposition gegenüber
                                    Naturgefahren

          Stürme                                                                                                                          Bewältigung
                                                                        Anfälligkeit                                                      Kapazitäten zur
                                                                        Wahrscheinlichkeit, im                                            Verringerung negativer
                                                                        Ereignisfall Schaden zu                                           Auswirkungen im
                                                                        erleiden                                                          Ereignisfall
           Dürren

                                                                                                                 Anpassung
                      Erdbeben                     WeltRisikoIndex                                               Kapazitäten für
                                                                                                                 langfristige Anpassung
                                           Produkt aus Gefährdung und Vulnerabilität
                                                                                                                 und Wandel

Abbildung 4: Der WeltRisikoIndex und seine Komponenten

                                                                                                                                    WeltRisikoBericht 2020 15
2         Flucht und Migration
                               2.1 Extreme Naturereignisse, Klimawandel
                               und Migration

                               Die Coronakrise hat seit Anfang 2020 besonders deutlich gemacht, dass die
Ludger Pries                   großen Herausforderungen der Menschheit nicht an nationalen Grenzen
Professor für Soziologie mit
Schwerpunkt Organisation,
                               haltmachen. Nur gemeinschaftlich können die globalen Risiken bearbeitet
­Migration, Mitbestimmung,     werden. Dies gilt für Pandemien und extreme Naturereignisse ebenso wie für
 Ruhr-Universität Bochum       den Klimawandel. Zudem ist die Coronakrise für alle Menschen und Regi-
                               onen der Welt eine extreme Herausforderung, aber die Risiken sind nicht
                               gleich verteilt. Auch hier trifft der Vergleich mit extremen Naturereignissen
                               und Migration zu: Nicht alle Orte der Welt werden gleichermaßen von den
                               Herausforderungen betroffen sein, die sich aus den Wechselwirkungen von
                               sich verändernden Naturgefahren und Migration ergeben. Welche Auswir-
                               kungen wird die globale Erderwärmung dabei haben? Die Prognosen schwan-
                               ken zwischen globalen Massenmigrationsbewegungen und nur regional
                               begrenzten Wanderungsprozessen. Aus sozialwissenschaftlicher Per­spektive
                               sind weder alarmistische Panik noch falsche Beruhigung angesagt.

                               Migrationsbewegungen wurden immer wieder          Wanderungsprozessen sind wesentlich komple-
                               durch drastische Klimaveränderungen wie           xer: Es gibt keine robusten globalen Schätzun-
                               Eiszeiten oder temporäre Naturereignisse wie      gen für zu erwartende Zwangsumsiedlungen,
                               extreme Unwetter, Frost- oder Dürre­perioden      aber es gibt signifikante Evidenz dafür, dass
                               hervorgerufen. Auch die gegenwärtige Erderwär-    Planungen und erhöhte Mobilität die Kosten
                               mung und sich dadurch verändernde Umwelt-         für die menschliche Sicherheit solcher forcierter
                               faktoren und Extremwetterlagen führen nach        Migration aufgrund extremer Wetter­ereignisse
                               allen wissenschaftlichen Prognosen zu komple-     reduzieren können (IPCC 2014; Burzyńskia et
                               xen Wanderungsbewegungen. Schon seit den          al. 2019).
                               1990er-Jahren schätzen das Intergovernmen-
                               tal Panel on Climate Change (IPCC), die Inter-    Allein im Jahr 2019 wurden weltweit rund 24
                               nationale Organisation für Migration (IOM)        Millionen interne Vertreibungen aufgrund
                               und viele wissenschaftliche Institute, dass bis   klimabedingter extremer Naturereignisse
                               zur Mitte dieses Jahrhunderts Hunderte Milli-     registriert. Extreme Naturereignisse wie Über-
                               onen Menschen ihren Lebensmittelpunkt             schwemmungen oder Stürme erhöhen die
                               wegen Erosion und Überflutung von Küsten,         Wahrscheinlichkeit erzwungener Migration.
                               veränderter landwirtschaftlicher Bedingungen      Letztere wiederum betrifft Frauen und sozial
                               oder sich häufender Extremwetterlagen aufge-      benachteiligte Schichten stärker und anders,
                               ben und migrieren müssen. Allerdings warnen       sie haben zunächst weniger Ressourcen zur
                               Wissenschaftler*innen vor einer unkritischen      regionalen oder auch internationalen Migrati-
                               Kategorisierung von „Klimamigrant*innen“          on und später schlechtere Ausgangsbedingun-
                               oder quantitativen Prognosen hierzu. Denn die     gen, um wieder an ihren alten Wohnort zurück-
                               Ursachen, Formen und Folgewirkungen von           zukehren. Es besteht eine inverse Beziehung

                                                                                                      WeltRisikoBericht 2020 17
zwischen Vulnerabilität und Chancen einer            von weit über 30 Millionen mexikostämmigen
                            Migration (IOM 2008; IDMC 2020a).                    Einwanderer*innen in den USA geführt haben
                                                                                 (Noe-Bustamante 2019). In Europa war die
                            Umgekehrt können auch massive Migrations-            „Gastarbeiter“-Migration der zweiten Hälf-
                            prozesse ein Faktor zur Beschleunigung von           te des 20. Jahrhunderts von den beteiligten
                            Klimaveränderungen sein. Dies gilt vor allem         Staaten ebenfalls eigentlich als vorübergehen-
                            für die Stadt-Land-Binnenwanderungen, die            de Arbeitsmigration gedacht. Tatsächlich hat
                            sich überall auf der Welt seit dem 19. und           diese Arbeitsmigration dazu geführt, dass viele
                            besonders dem 20. Jahrhundert beobachten             EU-Mitgliedsstaaten, einschließlich Deutsch-
                            lassen. Großstädte führen zu lokal erhöhten          land, zu Einwanderungsländern wurden.
                            Temperaturen, verringerten Windgeschwindig-
                            keiten und veränderten Wolkenbildungen und           Die Eigendynamik von Migrationsprozessen
                            Niederschlägen (Grawe et al. 2013). Umgekehrt        zeigt sich anhand folgender Regelmäßigkeiten:
                            hat Landflucht häufig eine Vernachlässigung
                            von Landschaftspflege zur Folge, damit zusam-        +   Einmal initiierte Migration verursacht neue
                            menhängende Bodenerosionen können den                    Migration durch veränderte Erwartungen
                            Klimawandel weiter „anheizen“.                           in den Herkunftsregionen und neue, migra-
                                                                                     tionsbedingte Nachfragestrukturen in den
                            Im Hinblick auf den Zusammenhang von klima­              Ankunftsregionen. Durch Geldrücküber-
                            bedingten extremen Naturereignissen und                  weisungen, soziale und kulturelle Beeinflus-
                            Migration wurde nicht selten in den reichen              sungen bleiben die Regionen miteinander
                            Ländern des Globalen Nordens ein Szenario                verbunden.
                            gezeichnet, wonach eine „Flutwelle von Klima-
                            flüchtlingen“ zu erwarten sei (Myers / ­Kent         +   Migrationsprozesse     folgen   wesentlich
                            1995; Rigaud et al. 2018). Die bisherige Migra-          der Eigenlogik kollektiven Handelns der
                            tionsdynamik, die durch Kriege, Gewalt und               Wandernden in ihren lokalen, nationalen
                            politische Verfolgung hervorgerufen wird,                und transnationalen Bezügen und Sozial-
                            zeigt allerdings, dass der allergrößte Teil dieser       räumen. Maßnahmen restriktiver Grenz-
                            er­zwun­ge­ner­ma­ßen Migrierenden in den                kontrollen führen häufig zu weniger flexib-
                            betroffenen Ländern als Internally Diplaced              ler Arbeitsmarktanpassung und zu höheren
                            Persons (IDPs) oder in den angrenzenden                  Lebensrisiken für die Migrierenden.
                            Nachbarländern als internationale Geflüchtete
                            und Asylsuchende verbleibt. Dies hängt eng mit       +   Ökologische Probleme, kriegerische Konflik-
                            den allgemeinen Strukturmerkmalen und der                te und Armut lassen die Grenzen zwischen
                            Eigendynamik von Migration zusammen.                     Arbeitsmigration und Flucht, freiwilliger
                                                                                     und erzwungener Migration, regulärer und
                            Die Eigendynamik von Migration                           irregulärer Migration immer stärker zu
                                                                                     „mixed migration flows“ verwischen. Moder-
                            Die Beziehungen zwischen Klimawandel, extre-             ne Kommunikations- und Transportmög-
                            men Naturereignissen und Migration sind auch             lichkeiten können transnationale Migration
                            deshalb so komplex, weil schon Migration selbst          mit Mehrfachverortungen der Migrierenden
                            (als die relative dauerhafte Verlagerung des             in Herkunfts- und Ankunftsland fördern.
                            Lebensmittelpunktes von Menschen) eine hohe
                            Eigendynamik aufweist und sich einfacher poli-       +   Migration ist in der Regel nicht eine rationa-
                            tischer Steuerung entzieht. So sollte beispiels-         le Einmalentscheidung, sondern ein länger-
                            weise das sogenannte Bracero-Programm                    fristiger Prozess des „muddling through“,
                            zwischen Mexiko und den USA während des                  in dem Ziele, Zeitplanungen, Identitäten
                            Zweiten Weltkrieges vorübergehend die Versor-            und historisch gewachsene soziale Netz-
                            gung der USA mit zusätzlichen Arbeitskräften             werkstrukturen iterativ und sukzessive
                            sicherstellen. Tatsächlich wurden hierdurch              weiterentwickelt werden. Migrationspro-
                            transnationale soziale Netzwerke gespannt,               zesse lassen sich durch Anreize oder Verbo-
                            die bis heute zu einer dauerhaften Präsenz               te partiell beeinflussen, aber nur begrenzt

18 WeltRisikoBericht 2020
politisch kontrollieren und steuern; nicht        Er deutet aber an, in welchen Ländern und
   selten haben Versuche der Migrationskon-          Regionen sich Exposition, Anfälligkeit sowie
   trolle oder -steuerung völlig andere als die      Anpassungs- und Bewältigungsmöglichkeiten
   beabsichtigten (Haupt-)Effekte.                   grundlegender menschlicher Sicherheitsrisi-
                                                     ken konzentrieren. Auch für die Analyse des
Wie komplex Wanderungen in gesamtgesell-             Verhältnisses von Klimawandelfolgen und
schaftliche Wirkungsbeziehungen eingebunden          Migration ist eine solche regionale Betrachtung
sind, ergibt sich auf der Mikroebene daraus,         unter Berücksichtigung der jeweils besonders
dass Menschen als Familien und Haushalte             vulnerablen Gruppen sinnvoll.
selbst in habitualisierter sozialer Praxis handeln
und Entscheidungen hinsichtlich Migration            Herausforderungen für soziale Gruppen und
treffen, für die es bestimmte Regelmäßigkeiten,      spezifische Regionen
aber keine eindeutigen Gesetzmäßigkeiten gibt.
Auf einer Mesoebene sind Wanderungsprozes-           Die meisten Regionen der Welt stehen beim
se immer in historisch gewachsene Netzwerke,         Thema extreme Naturereignisse, Klimawandel
Wissens-, Kommunikations-, Transport- und            und Migration jeweils vor spezifischen Heraus-
Organisationsstrukturen eingebunden, ähnlich         forderungen. In Afrika konzentrieren sich
wie die Unebenheiten des Bodens den konkreten        sehr viele der Länder mit einem hohen bis
Lauf von Regenwasser strukturieren. Auf einer        sehr hohen Risiko gemäß WeltRisikoIndex.
Makroebene schließlich beeinflussen auch die         Aufgrund von Kolonialismus, häufig erst in der
Migrationspolitiken von Nationalstaaten sowie        zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichter
regionale, bi- oder internationale Abkommen          formaler staatlicher Autonomie und bis heute
das Wanderungsgeschehen. All diese Faktoren          anhaltenden wirtschaftlichen, politischen, sozi-
beeinflussen, wann wie viele Menschen mit            alen und kulturellen Abhängigkeitsbeziehungen
welchen zeitlichen Plänen migrieren.                 konzentrieren sich auf diesem Kontinent viele
                                                     fragile Staaten, die Vulnerabilität ist vergleichs-
Es ist wissenschaftlich abgesichert absehbar,        weise hoch. Afrika ist der einzige Kontinent,
dass besonders vulnerable soziale Gruppen            auf dem für die nächsten Jahrzehnte noch ein
aufgrund von Ressourcenmangel erst relativ           substanzielles Wachstum der Bevölkerungen zu
spät auf klimabedingte Änderungen von Natur-         verzeichnen sein wird (UN DESA 2019a). All dies
gefahren durch Wanderung reagieren werden            macht Prävention im Hinblick auf zu erwarten-
bzw. können. Solche klimabedingte erzwun-            de klimawandelbedingte extreme Naturereig-
gene Migration geht dann in der Regel mit            nisse sehr schwierig. Große Metropolregionen
schlechten Gesundheitsbedingungen einher,            an den Küsten und vor allem auch die gesamte
vor allem in provisorischen Unterkünften und         Küste Westafrikas sind vom ­steigenden Meeres-
Camps (IPCC 2014). Wie abträglich solche             spiegel massiv bedroht (Croitoru et al. 2019).
Unterkunftsbedingungen         der   Gesundheit
sind, zeigt gegenwärtig die Coronakrise. Weil        Afrika zeichnet sich auch durch einen erheb­
Klimawandelfolgen zu einer generellen Beein-         lichen Anteil an Migration in angrenzende
trächtigung der menschlichen Sicherheit, etwa        Großregionen sowie an kontinentaler Migration
im Hinblick auf Erwerbsmöglichkeiten und             aus. Zwischen den nordafrikanischen Magh-
Wohnen führen, kann räumliche Mobilität als          reb-Staaten und EU-Mitgliedsstaaten bestehen
eine generalisierte Strategie angesehen werden,      seit Generationen etablierte Migrationsbezie-
darauf zu reagieren. Zu diesem Wirkungsknäuel        hungen. Hier kann etwa die sich verändernde
gehört auch, dass empirisch gesicherte Zusam-        Gefährdung durch Überschwemmungen oder
menhänge zwischen bewaffneten Konflikten,            Dürren, mit der Folge reduzierter Möglichkei-
organisierter Gewalt und dem Klimawandel             ten landwirtschaftlicher Produktion, zu weite-
bestehen (IPCC 2014). Der WeltRisikoIndex            ren Land-Stadt- und internationalen Migratio-
kann nicht die komplexen Wirkungsbeziehun-           nen führen. In einem Drei-Regionen-Vergleich
gen zwischen Klimawandelfolgen, Migration            zwischen Subsahara-Afrika, Südasien und
und anderen relevanten Aspekten gesellschaft-        Lateinamerika rechnet die Weltbank für Subsa-
licher Entwicklung erfassen oder modellieren.        hara-Afrika damit, dass bis zur Mitte dieses

                                                                           WeltRisikoBericht 2020 19
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