WELTRISIKOBERICHT 2020 - FOKUS: FLUCHT UND MIGRATION - MISEREOR
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Impressum Herausgeber WeltRisikoBericht 2020 Bündnis Entwicklung Hilft und Ruhr-Universität Bochum – Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) Konzeption, Realisierung und Redaktion Bündnis Entwicklung Hilft: Peter Mucke, Projektleitung Lotte Kirch und Ruben Prütz, Redaktionsleitung Leopold Karmann, Assistenz IFHV: Dr. Katrin Radtke, Wissenschaftliche Leitung MediaCompany: Julia Walter, Beratung und Redaktion Autor*innen Benedikt Behlert, IFHV Rouven Diekjobst, IFHV Dr. Carsten Felgentreff, Universität Osnabrück Timeela Manandhar, IFHV Peter Mucke, Bündnis Entwicklung Hilft Prof. Dr. Ludger Pries, Ruhr-Universität Bochum Dr. Katrin Radtke, IFHV Daniel Weller, IFHV Unter Mitarbeit von Claudia Berker, terre des hommes Sabine Minninger, Brot für die Welt Hendrik Slusarenka, medico international Grafische Gestaltung und Infografik Naldo Gruden, MediaCompany Druck DCM Druckcenter Meckenheim, gedruckt auf 100 Prozent Recycling-Papier, CO2-kompensiert ISBN 978-3-946785-09-5 Der WeltRisikoBericht wird seit 2011 jährlich vom Bündnis Entwicklung Hilft publiziert. Verantwortlich: Peter Mucke 2 WeltRisikoBericht 2020
Vorwort Nichts prägt das Jahr 2020 so stark wie die Nur so kann verhindert werden, dass zukünf- Covid-19-Pandemie. Sie bestimmt unseren tig noch weit mehr Menschen aufgrund unwie- Alltag, unser Handeln und unser Miteinander. derbringlich zerstörter Lebensgrundlagen ihr Ihre langfristigen Folgen sind bislang nicht Zuhause verlassen müssen und ihre Existenz- abzusehen. Die Nachrichten sind davon domi- grundlage verlieren. niert, während andere, nicht weniger wichti- ge Themen in den Hintergrund rücken. Dazu Der WeltRisikoBericht wird seit 2011 jährlich gehört auch das Schwerpunktthema „Flucht von Bündnis Entwicklung Hilft herausgegeben. und Migration“ des diesjährigen WeltRisiko- Seit 2017 ist das Institut für Friedenssicherungs- Berichts. Dabei sind die Zahlen des UN-Flücht- recht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der lingshilfswerks aus diesem Sommer alarmie- Ruhr-Universität Bochum für die wissenschaft- rend: Aktuell sind fast 80 Millionen Menschen liche Leitung und Berechnung des im Bericht auf der Flucht, nach wie vor sterben täglich enthaltenen WeltRisikoIndex zuständig. Als Geflüchtete an den EU-Außengrenzen und Mitglied des Network on Humanitarian Action Binnenvertriebene im eigenen Land. Immer (NOHA) stellt das IFHV die internationale wieder wird deutlich, dass das Vertreibungsri- Verankerung des Index in der Wissenschaft siko und Risiken während der Flucht ungleich sicher. Aufbauend auf dem Austausch zwischen verteilt sind – global betrachtet wie auch inner- Wissenschaft und Praxis verfolgen wir gemein- halb von Gesellschaften. Die Covid-19-Pande- sam das Ziel, den Nutzwert des Welt Risiko mie verschärft die Situation der Geflüchteten Berichts als Instrument und Handlungs und Vertriebenen zusätzlich. Abstandsregeln anleitung für Entscheidungsträger*innen in sind in überfüllten Geflüchtetencamps wie Politik und Gesellschaft zu erhalten und zu Moria auf der griechischen Insel Lesbos oder steigern. in Cox’s Bazar in Bangladesch schlicht nicht einzuhalten. Die Menschen dort, ohnehin in besonderer Weise schutzbedürftig, erleben so eine Krise in der Krise. Auch extreme Naturereignisse treffen die Wolf-Christian Ramm Ärmsten und Verwundbarsten einer Gesell- Vorstandsvorsitzender schaft oftmals am drastischsten, Geflüchtete Bündnis Entwicklung Hilft und Migrierende eingeschlossen. Klimabeding- te extreme Wetterereignisse nehmen vielerorts an Häufigkeit und Intensität zu und zwingen immer mehr Menschen, ihre Heimat zu verlas- sen. Der diesjährige WeltRisikoBericht rückt diese Thematik in den Vordergrund und belegt Prof. Dr. Pierre Thielbörger die Notwendigkeit klimagerechten Handelns. Geschäftsführender Direktor IFHV Bündnis Entwicklung Hilft bildet sich aus den Hilfswerken Brot für Das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht die Welt, Christoffel-Blindenmission, DAHW, Kindernothilfe, medico der Ruhr-Universität Bochum ist eine der führenden Einrichtungen in international, Misereor, Plan International, terre des hommes und Europa in der Forschung und Lehre zu humanitären Krisen. Aufbauend Welthungerhilfe sowie den assoziierten Mitgliedern German Doctors auf einer langen Tradition der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Oxfam. In Katastrophen- und Krisengebieten leisten die Bündnis- mit humanitärem Völkerrecht und den Menschenrechten verbindet das Mitglieder sowohl akute Nothilfe als auch langfristige Unterstützung, um Institut heute interdisziplinäre Forschung aus den Fachrichtungen der Not nachhaltig zu überwinden und neuen Krisen vorzubeugen. Rechts-, Sozial-, Geo- und Gesundheitswissenschaft. WeltRisikoBericht 2020 3
Weiterführende Informationen Wissenschaftliche Angaben zur Methodik und Tabellen sowie weitere Materialien sind unter www.WeltRisikoBericht.de eingestellt. Dort stehen auch die Berichte 2011 bis 2019 zum Download zur Verfügung. Ein interaktiver Reader zu den WeltRisikoBerichten, der auch für den Einsatz im Schulunterricht geeignet ist, ist unter www.WeltRisikoBericht.de/#epaper abrufbar. „Sind Katastrophen vermeidbar?“ – Unterrichtsmaterialien zum WeltRisikoIndex Die vorherrschende Sicht auf die Länder des Globalen Südens ist oftmals durch Katastrophen und Konflikte bestimmt. Aktuelle humanitäre Krisen wie Hungersnöte, Erdbeben und Überschwemmungen sind wichtige Themen, an die schulischer Unterricht anknüpfen kann. Der WeltRisikoIndex ist ein guter Ansatzpunkt, dabei auch die soziale Situation und die Umweltbedingungen in den betroffenen Ländern zu behandeln. Die Unterrichtsmaterialien enthalten kurz gefass- te thematische Darstellungen und ansprechende Arbeitsblätter, die die einzelnen Dimensionen des WeltRisikoIndex behandeln – von der Gefährdung über Anfälligkeit und Bewältigungskapazitäten bis hin zu Anpassungskapazitäten. Diese Materialien können in Form von Gruppen- oder Einzelarbeit in den Unterricht integriert werden. Die gedruckte Fassung des Unterrichtsmaterials kann kostenlos bestellt werden: kontakt@entwicklung-hilft.de Das Online-PDF des Unterrichtsmaterials steht zum Download bereit: www.WeltRisikoBericht.de/ unterrichtsmaterial WorldRiskReport Der englischsprachige WorldRiskReport ist unter www.WorldRiskReport.org verfügbar. 4 WeltRisikoBericht 2020
Inhalt Zentrale Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 6 1. Katastrophenrisiko, Flucht und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 9 Peter Mucke 2. Fokus: Flucht und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 17 2.1 Extreme Naturereignisse, Klimawandel und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 17 Ludger Pries 2.2 Migration, erzwungene Immobilität und Rückkehr in Zeiten des Coronavirus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 24 Carsten Felgentreff 2.3 Auswirkungen der Corona-Pandemie und extremer Naturereignisse auf Geflüchtete und Vertriebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 30 Timeela Manandhar 2.4 Menschenrechte als Mittel zur Infragestellung klimawandelbedingter Ungerechtigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 35 Benedikt Behlert, Rouven Diekjobst 3. Der WeltRisikoIndex 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 43 Katrin Radtke, Daniel Weller 4. Handlungsempfehlungen und Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 53 Bündnis Entwicklung Hilft, IFHV Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 57 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 64 WeltRisikoBericht 2020 5
Abbildung 1: WeltRisikoIndex 2020 Zentrale Ergebnisse WeltRisikoIndex 2020 + Der WeltRisikoIndex 2020 gibt das Katastrophen- Dazu zählt auch der Anstieg des Meeresspiegels risiko für 181 Länder der Welt an. Als Land mit infolge der globalen Erwärmung. dem höchsten Katastrophenrisiko (49,74) führt der pazifische Inselstaat Vanuatu den Index an. + Afrika ist der Brennpunkt der gesellschaftlichen Das geringste Risiko (0,31) weist Katar auf. Verwundbarkeit (Vulnerabilität). Mehr als zwei Drittel der vulnerabelsten Länder der Welt befin- + Das Katastrophenrisiko ist weltweit sehr hete- den sich dort. Darunter die Zentralafrikanische rogen, aber geographisch stark konzentriert. Republik, das Land mit der höchsten Vulnerabi- Die Hotspot-Regionen des Risikos befinden sich lität im internationalen Vergleich. auch 2020 in Ozeanien, Südostasien, Mittelame- rika sowie in West- und Zentralafrika. + Im Ranking der Vulnerabilität folgen auf Afrika die Kontinente Ozeanien, Asien, Amerika und + Im Vergleich der Kontinente steht Ozeanien an Europa in absteigender Reihenfolge. erster Stelle des Katastrophenrisikos, gefolgt von Afrika, Amerika, Asien und Europa. + Deutschland liegt auf Rang 162 des WeltRisiko- Index. Mit einem Indexwert von 2,63 weist + Ozeanien ist zugleich der Kontinent mit der Deutschland ein sehr geringes Katastrophenri- höchsten Gefährdung (Exposition) gegenüber siko auf. Europa hat mit einem Median von 3,41 extremen Naturereignissen. Darauf folgen bei 43 Ländern das mit Abstand geringste Kata- Amerika, Afrika, Asien und Europa. strophenrisiko aller Kontinente. + Generell sind Inselstaaten, insbesondere im + 2020 konnte aufgrund erweiterter Datenlage Südpazifik und in der Karibik, überproportional ein neues Land in den WeltRisikoIndex aufge- unter den Hochrisikoländern vertreten. Dies ist nommen werden: Der Inselstaat Dominica in der Regel auf ihre hohe Exposition gegenüber belegt mit seinem sehr hohen Risikowert von extremen Naturereignissen zurückzuführen. 28,47 Rang 3. 6 WeltRisikoBericht 2020
Fokus: Flucht und Migration Rang Land Risiko + Extreme Naturereignisse wie Überschwemmun- 1. Vanuatu 49,74 Abbildung 2: gen oder Stürme erhöhen die Wahrscheinlichkeit Auszug aus dem 2. Tonga 29,72 WeltRisikoIndex 2020 erzwungener Migration. Auch die gegenwärtige 3. Dominica 28,47 Erderwärmung und sich dadurch verändernde 4. Antigua und Barbuda 27,44 Umweltfaktoren und Extremwetterlagen führen 5. Salomonen 24,25 nach aktuellem Kenntnisstand zu komplexen Wanderungsbewegungen. 6. Guyana 22,73 7. Brunei Darussalam 22,30 + Umgekehrt können massive Migrationsprozesse 8. Papua-Neuguinea 21,12 zur Beschleunigung von Klimaveränderungen 9. Philippinen 20,96 beitragen. Dies gilt vor allem für Stadt-Land- 10. Guatemala 20,09 Binnenwanderungen, da wachsende Großstäd- 11. Kap Verde 17,73 te unter anderem Temperaturveränderungen 12. Costa Rica 17,25 mit sich bringen. 13. Bangladesch 16,40 14. Dschibuti 16,23 + Die Voraussetzungen, Krisen zu bewältigen 15. Fidschi 16,00 – seien sie durch extreme Naturereignisse ... ... ... oder durch eine Pandemie verursacht wie 162. Deutschland 2,63 aktuell Covid-19 –, unterscheiden sich weltweit. ... ... ... Während beispielsweise die Kontaktbeschrän- 167. Frankreich 2,47 kungen in Deutschland die Covid-19-Ausbrei- 168. Litauen 2,26 tung verlangsamten, verstärkte die verhängte 169. Schweden 2,20 Ausgangssperre in Indien aufgrund anderer Ausgangsbedingungen die Infektionsgefahr. 170. Schweiz 2,15 171. Malediven 2,12 + Vulnerable Gruppen wie die Wanderarbeiter 172. Estland 2,03 *innen in Indien werden bei Krisen und Kata- 173. Finnland 1,96 strophen wie der Covid-19-Pandemie oft sich 174. Ägypten 1,78 selbst überlassen. Verwundbarkeiten könnten 175. Island 1,69 effektiv vermindert werden, wenn sämtliche 176. Barbados 1,39 Bedürftige in Notlagen Anspruch auf staatliche 177. Saudi-Arabien 1,04 Unterstützungsmaßnahmen hätten. 178. Grenada 0,97 179. St. Vincent u. die Grenadinen 0,81 + Grundsätzlich dürfen Staaten ihre Grenzen 180. Malta 0,66 schließen, um ihre Bevölkerung zu schützen, 181. Katar 0,31 beispielsweise vor der Verbreitung anstecken- der Krankheiten. Grenzschließungen müssen jedoch stets geeignet sein, den angestreb- + Die internationalen Menschenrechte bieten ten Zweck zu erreichen, sowie notwendig und Migrant*innen einen juristischen Anhaltspunkt, verhältnismäßig sein und dürfen nicht diskri- um gegen globale Ungerechtigkeiten vorzuge- minieren. Der Schutz der Bevölkerung und die hen. Auf dieser Basis haben Vertriebene nicht Verpflichtung, Asylsuchende zu schützen, sind nur Ansprüche gegenüber ihrem Heimatstaat, dabei in Einklang miteinander zu bringen. sondern auch gegenüber dem Gaststaat. + Eine Antwort auf die Vulnerabilität von Geflüch- + Das Wohlergehen des Einzelnen hängt auch bei teten und Vertriebenen liegt in der Stärkung Flucht und Migration von der Bereitschaft der der Menschenrechte. Dabei müssen stets die internationalen Gemeinschaft und der Staaten besonderen Bedürfnisse und die besondere ab, die völkerrechtlichen Verträge und Vereinba- Gefährdung vulnerabler Gruppen beachtet und rungen umzusetzen. berücksichtigt werden. WeltRisikoBericht 2020 7
1 atastrophenrisiko, Flucht K und Migration Aktuelle Katastrophen und potenzielle Naturgefahren zwingen Millionen Peter Mucke Menschen weltweit, ihre Heimat zu verlassen. Dies wird sich künftig noch Geschäftsführer, Bündnis Entwicklung Hilft verstärken, falls keine wirksamen Maßnahmen zum Klimaschutz ergriffen werden. Ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten einzelner extremer Naturereignisse und dem Klimawandel ist zwar weiterhin schwer nachweis- bar. Doch hat die Erderwärmung global betrachtet inzwischen offenkundig zu einer Veränderung der regionalen Häufigkeit und Intensität von Stürmen, Überschwemmungen und Dürren geführt. Ob und wann eine Person den einschneidenden Schritt geht, ihr Zuhause zu verlassen, hängt allerdings nicht allein von den äußeren Gefahren ab. Ebenso sind soziale Faktoren wie Schutz durch die Gemeinschaft oder die individuelle finanzielle Situation maßgeblich. Flucht und Migration sind daher eng mit beiden Dimensionen der Risikoana- lyse in diesem Bericht verbunden – der Gefährdung und der Verwundbarkeit. Vierzig Tage lang zogen sie ihre Schlitten und Menschen in Küstenregionen würden ohne Kajaks, bis sie die Westküste Grönlands erreicht ernsthafte Gegenmaßnahmen dann nur noch hatten. Der Polarforscher Fridtjof Nansen und Umsiedlung oder Flucht bleiben. seine kleine Crew konnten im Jahre 1888 mit ihrer Reise quer durch Grönland nachweisen, Extreme Naturereignisse, zu denen in diesem dass das Land von einer geschlossenen Eisdecke Bericht neben dem Meeresspiegelanstieg auch bedeckt ist. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Stürme, Überschwemmungen, Erdbeben und Fridtjof Nansen angesichts der großen Zahl von Dürren gezählt werden, zwingen schon heute Geflüchteten zu einem energischen Fürspre- Millionen Menschen jährlich zur Flucht inner- cher für sie, ab 1920 als Gesandter Norwegens halb ihres Landes – entweder wegen einer direk- im Völkerbund und ab 1922 als erster High ten physischen Bedrohung durch die Natur- Commissioner for Refugees des Völkerbundes. gefahr oder wegen sekundärer Effekte wie die Zerstörung der Lebensgrundlage. Es zeigt sich Auch künftig werden Polareis und Flucht in inzwischen eindeutig, dass der Klimawandel zu direktem Zusammenhang genannt werden einer Veränderung der regionalen Häufigkeit – wenn auch in anderer Weise, als Fridtjof und Intensität extremer Naturereignisse führt Nansen dies hat vorhersehen können: Allein (Lehmann et al. 2018). Allerdings ist – ausge- von 2006 bis 2015 sind in Grönland jährlich hend von aktuellen Analysen – ein direkter etwa 278 Milliarden Tonnen Eis geschmolzen. Zusammenhang zwischen Klimawandel und Den Meeresspiegel ließ dies jährlich um 0,77 einzelnen Naturgefahren nicht nachweisbar Millimeter ansteigen. In der Antarktis schmol- (Faust / Rauch 2020). zen zudem jährlich 155 Milliarden Tonnen Eis, was den Meeresspiegel pro Jahr um weitere Auch proaktive Migration, also eine Reakti- 0,43 Millimeter anhob. Bis 2100 könnte der on auf potenzielle Naturgefahren wie einen Meeresspiegel, zu einem bedeutenden Teil drohenden Anstieg des Meeresspiegels, wird bedingt durch die Polareis-Schmelze, sogar um voraussichtlich zunehmen – in diesem Fall ist mehr als einen Meter im Vergleich zum Refe- Migration eine mögliche Form der Anpassung renzzeitraum 1986 bis 2005 ansteigen, wenn an Gefährdungen (IOM 2019b; IDMC 2017). nicht mit konsequentem Klimaschutz gegen- Migration ist jedoch nicht monokausal bedingt. gesteuert wird (IPCC 2019). Millionen von Als wesentlicher Treiber gilt eine Kombination WeltRisikoBericht 2020 9
Flucht und Migration – Begriffsbestimmungen und Definitionen Die folgende Auflistung umfasst claim has not yet been finally aus ökonomischen, umweltbedingten, sozi- die Schlüsselbegriffe zu Flucht und decided on by the country in which alen und politischen Aspekten (siehe Kapi- Migration, die im WeltRisikoBericht the claim is submitted. Not every tel 2.1). Wie groß der Einfluss der einzelnen 2020 Verwendung finden. Die Defi- asylum seeker will ultimately be Faktoren ist, lässt sich schwer operationalisie- nitionen sind dem internationalen recognized as a refugee, but every ren und entsprechend liegen hier uneinheitli- Kontext entsprechend in englischer refugee was initially an asylum che Forschungsergebnisse vor. Generell ist zu Sprache aufgeführt. seeker.“ (UNHCR 2006) beobachten, dass es immer häufiger zu „mixed migration flows“ kommt: Gruppen von Migrie- Migrant | Migrant*in Internally displaced person (IDP) | renden setzen sich zunehmend aus Menschen Binnenvertriebene*r „An umbrella term, not defined mit ganz unterschiedlichen Beweggründen under international law, reflect- „Persons or groups of persons who zusammen (Horwood et al. 2019). ing the common lay understand- have been forced or obliged to flee ing of a person who moves away or to leave their homes or places of Begriffliche Grundlagen und ihre politische from his or her place of usual resi- habitual residence, in particular as Dimension dence, whether within a country a result of or in order to avoid the or across an international border, effects of armed conflict, situations Der Ausdruck „Migration“ umfasst vielfältige temporarily or permanently, and of generalized violence, violations of Formen von Mobilität (siehe Übersicht, links). for a variety of reasons. The term human rights or natural[1] or human- Eine Annäherung an die verschiedenen Arten includes a number of well-defined made disasters, and who have not von Migration ermöglichen vier grundsätzliche legal categories of people, such as crossed an internationally recog- Fragen (IOM 2019b; WEF 2017): migrant workers; persons whose nized state border.“ (UNCHR 1998) particular types of movements are (Forced) Displacement | + Erfolgt die Bewegung inländisch oder über legally- defined, such as smuggled Vertreibung bzw. Flucht Landesgrenzen hinweg? (Einteilung nach migrants; as well as those whose politischen Grenzen) status or means of movement are „The movement of persons who not specifically defined under inter- have been forced or obliged to flee + Welchem Bewegungsmuster folgt die Migra- national law, such as international or to leave their homes or places of tion? (schrittweise Migration, zirkuläre / students.“ (IOM 2019a) habitual residence, in particular as saisonale Migration, Kettenmigration) a result of or in order to avoid the Refugee | Flüchtling, effects of armed conflict, situations Geflüchtete*r + Erfolgt die Bewegung freiwillig oder of generalized violence, violations of aufgrund von Zwang bzw. erzwungen durch [Any person who] „owing to human rights or natural[1] or human- die Umstände? (freiwillige Migration, well-founded fear of being perse- made disasters. […] The above defi- Vertreibung bzw. Flucht) cuted for reasons of race, religion, nition is meant to cover both inter- nationality, membership of a partic- nal and cross-border displacement.“ + Von welcher Dauer ist der Aufenthalt? ular social group or political opinion, (IOM 2019a) (Kurzzeit- und bei über einem Jahr is outside the country of his nation- Returnee | Rückkehrer*in Langzeitmigration) ality and is unable or, owing to such fear, is unwilling to avail himself of „A person who was of concern to Da Migration als Oberbegriff für verschiedene the protection of that country; or UNHCR when outside his / her coun- Formen von Mobilität genutzt wird, wird Flucht who, not having a nationality and try of origin and who remains so, in vielen Studien unter Migration subsumiert. being outside the country of his for a limited period (usually two Doch je nach Betrachtungsrichtung wird der former habitual residence as a result years), after returning to the coun- Begriff „Flucht“ unterschiedlich interpretiert of such events, is unable or, owing try of origin. The term also applies bzw. genutzt. Dies reicht vom umgangssprach- to such fear, is unwilling to return to to internally displaced persons who lichen „vor etwas flüchten“ (etwa auch vor it.“ (UNGA 1951; UNGA 1967) return to their previous place of resi- extremen Naturereignissen) bis zur Eingren- dence.“ (UNHCR 2019) zung auf den rechtlich verankerten Terminus Asylum seeker | Asylsuchende*r „Flüchtlinge“ gemäß Genfer Flüchtlingskonven- Der Begriff „natural disasters“ steht nicht im Einklang mit [1] „An individual who is seeking inter- dem Katastrophenbegriff des WeltRisikoBerichts. Dieser tion. Unabhängig von dieser teils variierenden national protection. In countries geht davon aus, dass Katastrophen infolge extremer Betrachtungsrichtung steht fest, dass Flucht Naturereignisse nicht nur durch die natürlichen Ursachen with individualized procedures, an entstehen, sondern immer auch von gesellschaftlichen (ebenso wie Vertreibung) immer aus einer asylum seeker is someone whose Gegebenheiten beeinflusst sind (siehe Kapitel 3). drohenden oder akuten Notlage heraus erfolgt. 10 WeltRisikoBericht 2020
Migration hingegen kann auch aus anderen Migrant*innen teilweise unterschiedlich defi- Beweggründen erfolgen, welche nicht zwangs- nieren (IOM 2019b). läufig an eine Notlage geknüpft sind. Mit circa 20 Millionen Geflüchteten unter Der Begriff „Flüchtlinge“ ist im deutschen UNHCR-Mandat im Jahr 2019 stellt Flucht über Sprachgebrauch teils negativ besetzt, außer- internationale Grenzen hinweg – rein quantita- dem reduziert er die Biografien der Menschen tiv – einen eher kleinen Teil von Migration dar. auf ihre Fluchterfahrung. Im WeltRisikoBe- Jedoch sind Geflüchtete eine der Bevölkerungs- richt wird daher soweit möglich der Begriff gruppen, die häufig am dringendsten auf huma- „Geflüchtete“ genutzt. Wenn es um den Inhalt nitäre Hilfe angewiesen sind. Flucht aufgrund internationaler Vereinbarungen geht, wird in von Gewalt und Konflikten über Landesgrenzen diesem Bericht auch der Begriff „Flüchtlinge“ hinweg ist global ungleich verteilt. Mehr als zwei verwendet. Drittel aller über Grenzen hinweg Geflüchteten stammen aus lediglich fünf Ländern: Syrien, Interne Vertreibung und internationale Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myan- Migration mar. Diejenigen, die eine Landesgrenze über- schreiten, verweilen überwiegend (73 Prozent) Die große Mehrheit aller durch extreme Natur- in einem Nachbarstaat ihres Heimatlandes ereignisse vertriebenen Menschen sucht (UNHCR 2020g). (temporär) Zuflucht innerhalb der eigenen Landesgrenzen. Der allergrößte Teil dieser Risikobewertung Vertreibungen ist auf Überschwemmun- gen und Stürme zurückzuführen. Laut IDMC Im WeltRisikoIndex werden die Exposition und (2017) findet mehr als die Hälfte der weltwei- die Vulnerabilität anhand ausgewählter Indika- ten katastrophenbedingten Vertreibungen in toren analysiert und dadurch eine Einschätzung Süd- und Ostasien sowie in der Pazifik-Region des Katastrophenrisikos vorgenommen (siehe statt, Small Island Developing States (SIDS) auch Schaukasten „Das Konzept des WeltRisi- sind dabei überproportional stark betroffen. koBerichts“, Seite 15). Aufgrund der Multikau- Insgesamt verursachten extreme Naturereig- salität von Flucht und Migration sowie deren nisse 2019 fast dreimal so viele interne Vertrei- komplexen und kontextabhängigen Wechsel- bungen wie gewalttätige Konflikte (IDMC wirkungen mit Exposition und Vulnerabilität 2020a, siehe Klappkarte „Extreme Natur- gibt es im WeltRisikoIndex keinen eigenen ereignisse versus Konflikte als Auslöser für Indikator, der Flucht und Migration in einen interne Vertreibung“). Doch auch der Großteil direkten Zusammenhang mit dem Katastro- der Menschen, die aufgrund von Gewalt und phenrisiko stellt. Allerdings wird im Indika- kriegerischen Konflikten ihr Zuhause verlas- tor zur fragilen Staatlichkeit die Situation von sen müssen, überquert keine Staatsgrenzen, Geflüchteten und Vertriebenen als Unterkate- sondern sucht Zuflucht innerhalb des eigenen gorie berücksichtigt. Als Querschnittsthema ist Landes. Sie sind also „Internally Displaced Flucht und Migration aber indirekt für einen Persons“ (UNHCR 2020g). großen Teil der Vulnerabilitätsindikatoren von Belang. Beispielsweise sind die Indikatoren zu Nach Schätzungen der Vereinten Nationen Armut und Versorgungsabhängigkeiten sowie wuchs die weltweite Anzahl internationaler zu Wirtschaftskraft und Einkommensverteilung Migrant*innen auf circa 272 Millionen im Jahr sowohl bei der Beurteilung von Katastrophen- 2019 an (UN DESA 2019b). Dies entspräche risiken als auch bei den Analysen im Rahmen einer sehr deutlichen Zunahme von knapp 100 des diesjährigen Schwerpunktthemas relevant Millionen internationaler Migrant*innen seit (siehe Kapitel 3). dem Jahr 2000. Die Schätzungen sind jedoch mit Vorsicht zu bewerten, da sie auf Anga- Zu den gängigen Vulnerabilitätsfaktoren ben beruhen, die den Vereinten Nationen von kommen für Geflüchtete und Migrierende den einzelnen Staaten zur Verfügung gestellt häufig weitere verstärkende Vulnerabilitäts- werden, und diese Staaten internationale faktoren wie Sprachbarrieren, mangelnde WeltRisikoBericht 2020 11
Vertrautheit mit lokalen Strukturen und soziale Strukturen an ihrem neuen Aufenthalts- erschwerter Zugang zu staatlichen Vorsorge- ort haben, wodurch sie beispielsweise Informa- und Hilfsprogrammen hinzu (siehe Klappkarte tionen über extreme Naturereignisse in ihrer „Flucht und Migration: Ursachen, Hindernis- geographischen Nähe schlechter erreichen se, mögliche negative Folgen“). Migration und (Opitz-Stapleton et al. 2017). Flucht können Familienstrukturen zerstören, Gemeinschaften trennen, soziale Netzwerke Extreme Naturereignisse und Flucht während schwächen und auch indirekt die Vulnerabilität der Corona-Pandemie Einzelner wesentlich erhöhen, beispielsweise die von Frauen und Kindern, die zurückgelas- Die Covid-19-Pandemie, die das Jahr 2020 sen werden (Opitz-Stapleton et al. 2017). kennzeichnet, hat andere Krisen verstärkt und zugleich in den Hintergrund treten lassen. Ein Gleichzeitig bringen Migrierende und Geflüch- Beispiel ist der Zyklon Amphan: Im Mai 2020 tete wichtige Kapazitäten mit, welche bei der richtete der Wirbelsturm mit bis zu 185 Kilo- Bewältigung von Krisen entscheidend sein metern pro Stunde im indischen Westbenga- können. So können sie etwa durch ihre sprach- len und in Bangladesch schwere Schäden an. liche und kulturelle Diversität zur Informati- Tausende Häuser wurden zerstört, in weiten onsverbreitung beitragen. Diesbezüglich ist es Teilen kam es zu Stromausfällen und vieler- von entscheidender Bedeutung, dass Regie- orts wurden die Straßen überflutet. Die Coro- rungen die unterschiedlichen Bedürfnisse und nakrise erschwerte die Soforthilfemaßnahmen Fähigkeiten von Staatsbürger*innen und Nicht- (Bündnis Entwicklung Hilft 2020). So mussten Staatsbürger*innen erkennen und berücksich- die Helfenden beispielsweise bei Verteilungen tigen (IOM 2019b). genau darauf achten, dass der Mindestabstand eingehalten wird, um sich und andere zu schüt- Geflüchtete, Vertriebene und Migrierende zen. In Indien waren zudem viele Evakuie- haben nicht nur in der Regel eine höhere Vulne- rungszentren bereits belegt, weil sie wegen der rabilität, sondern sind aufgrund ihrer Lebens- Corona-Pandemie zu Quarantäneeinrichtungen umstände oftmals auch gezwungen, bewusst oder zu Unterkünften für wegen des Lockdowns eine erhöhte Exposition in Kauf zu nehmen. heimkehrende Migrant*innen umfunktioniert Dies kann sich sowohl auf den Aufenthalts- worden waren (Oxfam 2020). ort und die Arbeitsbedingungen als auch auf die Gefahren unterwegs beziehen (siehe Kapi- Menschen, die schon vor Beginn einer Pande- tel 2.2). Darüber hinaus werden verschiedene mie oder eines extremen Naturereignisses in Faktoren, die zu Migrationsentscheidungen prekären Verhältnissen leben, was beispiels- beitragen, von extremen Naturereignissen weise auf den Großteil der Menschen in den direkt und indirekt beeinflusst. So können sich großen Nothilfecamps zutrifft, sind besonders ungünstige Umweltveränderungen negativ auf vulnerabel und haben somit ein höheres Risi- das Einkommen und den Wert von Haushalts- ko. So existiert in vielen Camps nur eine unzu- gütern auswirken, indem Land und Grundbesitz reichende Wasser- und Sanitärversorgung, die abgebaut werden und die landwirtschaftliche häufig zudem noch von weit mehr Menschen Leistung abnimmt (zum Beispiel die Ernteer- genutzt wird als ursprünglich geplant. Umfas- träge) oder indem sich der Warenpreis erhöht sende Hygienemaßnahmen, die zum Schutz vor und die Kaufkraft verringert (Feng et al. 2010). Covid-19 unabdingbar sind, können in solchen Camps meist nicht gewährleistet werden (siehe Flucht und Migration können zwar erfolgen, um Kapitel 2.3). Abstandsregeln sind in überfüll- einer hohen Exposition auszuweichen, jedoch ten Camps – manche von ihnen zählen zu den resultiert aus Marginalisierung und Exklusi- Orten mit der höchsten Bevölkerungsdichte on von Geflüchteten und Vertriebenen in den weltweit (IRC 2020) – kaum umsetzbar. allermeisten Fällen ein erhöhtes Risiko bei extremen Naturereignissen (IOM 2019b). Dies Mit einer ähnlichen Problemlage sind gilt besonders für Migrant*innen und Geflüch- Menschen in informellen Siedlungen, insbe- tete, die keine oder nur schwach ausgeprägte sondere im Globalen Süden, konfrontiert. Die 12 WeltRisikoBericht 2020
People of Concern gemäß UNHCR „People of Concern“ umfasst verschiedene Gruppen von Migrierenden, 80 Mio. die aufgrund ihrer prekären Lage unter dem Schutzmandat des UNHCR stehen. Obgleich die große Mehrheit der weltweit Geflüchteten und Vertriebenen hierdurch geschützt werden, gibt es auch Menschen in 70 Mio. vergleichbar prekären Lebenslagen, die aufgrund definitorischer Unter- scheidungen nicht unter dieses Schutzmandat fallen. 60 Mio. 50 Mio. Andere Asylsuchende 40 Mio. Rückkehrende 30 Mio. Staatenlose 20 Mio. Geflüchtete Binnenvertriebene 10 Mio. 0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 Abbildung 3: Zusammensetzung und Größe verschiedener Gruppen Migrierender unter dem Schutzmandat des UNHCR (Datenquelle: UNHCR 2020f) ärmere städtische Bevölkerung siedelt oftmals für Nachhaltige Entwicklung und das Sendai in Gebieten, die für den wohlhabenderen Teil Framework for Disaster Risk Reduction umzu- der Bevölkerung unattraktiv und daher noch setzen. Diese beiden internationalen Verein- nicht besiedelt sind. Beispielsweise führt die barungen haben, bezogen auf die Wechsel- zunehmende Bebauung steiler und instabi- wirkungen von extremen Naturereignissen, ler Hänge zu einer starken Gefährdung durch Klimawandel, Umweltzerstörung, Flucht und Erdrutsche oder Überschwemmungen. Durch Migration, besondere Relevanz (UNGA 2015; hohe Siedlungsdichte, provisorische Unter- UNISDR 2015). künfte und fehlende Infrastruktur sind die Menschen noch verwundbarer (Abunyewah et Im Sendai-Rahmenwerk 2015 - 2030 sind Flucht al. 2018). Die Covid-19-Pandemie verschärft und Migration in einer umfassenderen Weise solche Ungleichheiten, da Maßnahmen zur integriert als in der Zehn-Jahres-Periode zuvor. Eindämmung des Virus in informellen Sied- Aber weiterhin werden entscheidende Aspekte lungen in Ländern des Globalen Südens in der auch in diesem Rahmenwerk nicht ausreichend Regel nicht umsetzbar sind (Kluge et al. 2020). adressiert, beispielsweise notwendige Maßnah- men zur Risikoreduzierung für verschiedene Ausblick Gruppen von Migrierenden. Primärer Grund dafür ist die mangelnde Bereitschaft mancher Bis zum Jahr 2030 hat sich die internationale Staaten, Flucht und Migration im Kontext der Staatengemeinschaft Zeit gegeben, die Agenda Katastrophenvorsorge zu erörtern. Dies zeigt WeltRisikoBericht 2020 13
sich auch im Vergleich zu den parallel erar- Klimawandel und extremen Naturereignissen beiteten Zielen zur nachhaltigen Entwicklung betroffenen Staaten bzw. Regionen stammen, (Sustainable Development Goals, SDGs). So Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention sind manche Zielsetzungen, welche in den sein können. Dies sei beispielsweise der Fall, SDGs verankert sind, im Sendai-Rahmenwerk „wenn Katastrophen wie Dürre oder Hungers- entweder abgeschwächt oder nicht ausreichend not mit bewaffneten Konflikten oder Ausein- berücksichtigt (Guadagno 2016). andersetzungen im Zusammenhang stehen, die rassistisch, ethnisch, religiös oder politisch Dies betrifft beispielsweise die „Remittances“, motiviert sind. Verfolgung im Sinne der Genfer die Geldüberweisungen von Migrant*innen Flüchtlingskonvention kann auch dann vorlie- an zurückgebliebene Angehörige. Während im gen, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen Entstehungsprozess der SDGs auf eine Vereinfa- unverhältnismäßig stark solchen Katastrophen chung und somit Förderung von „Remittances“ ausgesetzt werden, zum Beispiel dadurch, dass gedrängt wurde, wurden in den Verhandlungen ihnen Schutz- oder Hilfsmaßnahmen vorent- zum Sendai-Rahmenwerk solche Vereinfachun- halten werden“ (UNHCR 2020h). Die Verein- gen kritisch bewertet. Obgleich sie prinzipiell ten Nationen haben damit ihre Bereitschaft zu einer Stärkung individueller Anpassungs- erklärt, sich diesen Zukunftsfragen zu stellen – und Bewältigungskapazitäten und somit zu bisher mit ungewissem Ausgang. einer voranschreitenden Entwicklung in den Herkunftsländern führen können, bestünde Vorerst haben allerdings die Maßnahmen zur die Gefahr, regionale individuelle Initiativen zu Eindämmung der Covid-19-Pandemie den hemmen und stattdessen Abhängigkeiten von Schutz von Geflüchteten massiv eingeschränkt. dem Geldzufluss zu schaffen (Guadagno 2016). Die Zahl der Asylanträge in der EU fiel von 57.105 im Mai 2019 auf 10.200 im Mai 2020 Die SDGs umfassen weitere Themen, die im (EASO 2020). Aufgrund der Coronakrise sind Kontext von Flucht und Migration relevant die Kapazitäten zur Erfassung von Geflüch- sind, als wesentlicher Bestandteil nachhaltiger teten und die Dokumentation ihrer Daten Entwicklung ist dies in insgesamt zehn der 17 vielerorts eingeschränkt. Diese Registrierun- SDGs verankert (siehe Kapitel 4). gen sind jedoch essenzieller Teil der Schutz- aktivitäten und ermöglichen einen Überblick Auf internationaler Ebene wird aktuell disku- über die globale Situation von Geflüchteten tiert, welche Möglichkeit die international (UNHCR 2020g). Es bestehen erhebliche verbrieften Menschenrechte Geflüchteten und Befürchtungen, dass einzelne Staaten die mit Migrant*innen bieten, Schutz in einem weniger der Covid-19-Pandemie eingeführten Kontakt- vom Klimawandel betroffenen Land zu erhal- sperre-Maßnahmen nutzen werden, um ihre ten. Eine Stellungnahme des UN-Menschen- Einreisebeschränkungen und die Zurückwei- rechtsausschusses hat diesen Weg im Januar sung von Geflüchteten und Migrant*innen an 2020 juristisch geöffnet (siehe Kapitel 2.4). den Grenzen langfristig zu etablieren. Darüber hinaus findet auf UN-Ebene eine Der unermüdliche Einsatz für Geflüchtete hat Diskussion über die Erweiterung des Flücht- zusammen mit seinen bahnbrechenden Polar- lingsbegriffs statt. So äußerte Filippo Grandi, reisen das Lebenswerk von Fridtjof Nansen UN High Commissioner for Refugees: „Vertrei- gekennzeichnet. Bis heute vergibt das UNHCR bung über Grenzen hinweg kann sowohl durch jährlich den Nansen-Flüchtlingspreis für außer- eine Wechselwirkung von Klimawandel und ordentliches Engagement im Flüchtlingsschutz, extremen Naturereignissen mit Konflikten und die Preisträger stehen für die Werte, „die Fridt- Gewalt als auch allein durch extreme Natur- jof Nansen zeit seines Lebens verkörpert hat: ereignisse oder menschengemachte Katastro- eine feste Überzeugung und Beharrlichkeit im phen entstehen. Beides kann internationalen Angesicht von Herausforderungen“ (UNHCR Schutzbedarf auslösen“ (Thompson 2019, 2020i). Diese Grundsätze haben mit Blick auf eigene Übersetzung). Im Juli 2020 betonte die Herausforderungen der kommenden Jahre das UNHCR, dass auch Personen, die aus von keineswegs an Bedeutung verloren. 14 WeltRisikoBericht 2020
Das Konzept des WeltRisikoBerichts Risikobegriff und Ansatz tativer Herangehensweise, das Hinter Im WeltRisikoIndex können – wie in jedem gründe und Zusammenhänge beleuchtet Index – nur Indikatoren berücksichtigt Die Risikobewertung im WeltRisikoBericht – in diesem Jahr zum Thema „Flucht und werden, für die nachvollziehbare, quanti- beruht auf dem grundsätzlichen Verständ- Migration“. fizierbare Daten verfügbar sind. Beispiels- nis, dass für die Entstehung einer Katas- weise ist die direkte Nachbarschaftshilfe trophe nicht allein entscheidend ist, wie Die Berechnung des Katastrophenrisi- im Katastrophenfall zwar sehr wichtig, aber hart die Gewalten der Natur die Menschen kos erfolgt für 181 Staaten weltweit und nicht messbar. Außerdem kann es Abwei- treffen, sondern auch, wie Gesellschaften basiert auf vier Komponenten: chungen in der Datenqualität zwischen auf extreme Naturereignisse reagieren verschiedenen Ländern geben, wenn können. Je nach Gesamtsituation ist die + Gefährdung / Exposition gegenüber die Datenerhebung nur durch nationale Bevölkerung verletzlicher gegenüber Erdbeben, Stürmen, Überschwemmun- Autoritäten und nicht durch eine unab- Naturereignissen als bei einer besseren gen, Dürren und Meeresspiegelanstieg hängige internationale Institution erfolgt. Ausgangslage hinsichtlich Anfälligkeit, Bewältigungs- und Anpassungskapazitä- + Anfälligkeit in Abhängigkeit von Infra- Ziel des Berichts ten (Bündnis Entwicklung Hilft 2011). struktur, Ernährung und ökonomischen Rahmenbedingungen Die Darstellung des Katastrophenrisikos Risikobewertung mithilfe des Index und seiner vier Kompo- + Bewältigungskapazitäten in Abhän- nenten macht die weltweiten Hotspots des Der WeltRisikoBericht beinhaltet den Welt- gigkeit von Regierungsführung, medi Katastrophenrisikos und die Handlungs- RisikoIndex, der seit 2018 vom Institut für zinischer Versorgung, sozialer und felder für die erforderliche Risikoreduzie- Friedenssicherungsrecht und Humanitäres materieller Absicherung rung auf quantitativer Basis sichtbar. Auf Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität dieser Grundlage, ergänzt durch die quali- Bochum berechnet wird. Entwickelt wurde + Anpassungskapazitäten bezogen auf tativen Analysen, können Handlungsemp- der Index von Bündnis Entwicklung Hilft kommende Naturereignisse, auf den fehlungen für nationale und internatio - und der United Nations University Bonn. Klimawandel und auf andere Heraus- nale, staatliche und zivilgesellschaftliche Neben dem Datenteil enthält der Bericht forderungen. Akteur*innen formuliert werden. immer auch ein Fokuskapitel mit quali- Naturgefahren-Bereich Gesellschaftlicher Bereich Überschwemmungen Vulnerabilität Mittelwert aus den Meeresspiegelanstieg Gefährdung drei Komponenten Exposition gegenüber Naturgefahren Stürme Bewältigung Anfälligkeit Kapazitäten zur Wahrscheinlichkeit, im Verringerung negativer Ereignisfall Schaden zu Auswirkungen im erleiden Ereignisfall Dürren Anpassung Erdbeben WeltRisikoIndex Kapazitäten für langfristige Anpassung Produkt aus Gefährdung und Vulnerabilität und Wandel Abbildung 4: Der WeltRisikoIndex und seine Komponenten WeltRisikoBericht 2020 15
2 Flucht und Migration 2.1 Extreme Naturereignisse, Klimawandel und Migration Die Coronakrise hat seit Anfang 2020 besonders deutlich gemacht, dass die Ludger Pries großen Herausforderungen der Menschheit nicht an nationalen Grenzen Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Organisation, haltmachen. Nur gemeinschaftlich können die globalen Risiken bearbeitet Migration, Mitbestimmung, werden. Dies gilt für Pandemien und extreme Naturereignisse ebenso wie für Ruhr-Universität Bochum den Klimawandel. Zudem ist die Coronakrise für alle Menschen und Regi- onen der Welt eine extreme Herausforderung, aber die Risiken sind nicht gleich verteilt. Auch hier trifft der Vergleich mit extremen Naturereignissen und Migration zu: Nicht alle Orte der Welt werden gleichermaßen von den Herausforderungen betroffen sein, die sich aus den Wechselwirkungen von sich verändernden Naturgefahren und Migration ergeben. Welche Auswir- kungen wird die globale Erderwärmung dabei haben? Die Prognosen schwan- ken zwischen globalen Massenmigrationsbewegungen und nur regional begrenzten Wanderungsprozessen. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sind weder alarmistische Panik noch falsche Beruhigung angesagt. Migrationsbewegungen wurden immer wieder Wanderungsprozessen sind wesentlich komple- durch drastische Klimaveränderungen wie xer: Es gibt keine robusten globalen Schätzun- Eiszeiten oder temporäre Naturereignisse wie gen für zu erwartende Zwangsumsiedlungen, extreme Unwetter, Frost- oder Dürreperioden aber es gibt signifikante Evidenz dafür, dass hervorgerufen. Auch die gegenwärtige Erderwär- Planungen und erhöhte Mobilität die Kosten mung und sich dadurch verändernde Umwelt- für die menschliche Sicherheit solcher forcierter faktoren und Extremwetterlagen führen nach Migration aufgrund extremer Wetterereignisse allen wissenschaftlichen Prognosen zu komple- reduzieren können (IPCC 2014; Burzyńskia et xen Wanderungsbewegungen. Schon seit den al. 2019). 1990er-Jahren schätzen das Intergovernmen- tal Panel on Climate Change (IPCC), die Inter- Allein im Jahr 2019 wurden weltweit rund 24 nationale Organisation für Migration (IOM) Millionen interne Vertreibungen aufgrund und viele wissenschaftliche Institute, dass bis klimabedingter extremer Naturereignisse zur Mitte dieses Jahrhunderts Hunderte Milli- registriert. Extreme Naturereignisse wie Über- onen Menschen ihren Lebensmittelpunkt schwemmungen oder Stürme erhöhen die wegen Erosion und Überflutung von Küsten, Wahrscheinlichkeit erzwungener Migration. veränderter landwirtschaftlicher Bedingungen Letztere wiederum betrifft Frauen und sozial oder sich häufender Extremwetterlagen aufge- benachteiligte Schichten stärker und anders, ben und migrieren müssen. Allerdings warnen sie haben zunächst weniger Ressourcen zur Wissenschaftler*innen vor einer unkritischen regionalen oder auch internationalen Migrati- Kategorisierung von „Klimamigrant*innen“ on und später schlechtere Ausgangsbedingun- oder quantitativen Prognosen hierzu. Denn die gen, um wieder an ihren alten Wohnort zurück- Ursachen, Formen und Folgewirkungen von zukehren. Es besteht eine inverse Beziehung WeltRisikoBericht 2020 17
zwischen Vulnerabilität und Chancen einer von weit über 30 Millionen mexikostämmigen Migration (IOM 2008; IDMC 2020a). Einwanderer*innen in den USA geführt haben (Noe-Bustamante 2019). In Europa war die Umgekehrt können auch massive Migrations- „Gastarbeiter“-Migration der zweiten Hälf- prozesse ein Faktor zur Beschleunigung von te des 20. Jahrhunderts von den beteiligten Klimaveränderungen sein. Dies gilt vor allem Staaten ebenfalls eigentlich als vorübergehen- für die Stadt-Land-Binnenwanderungen, die de Arbeitsmigration gedacht. Tatsächlich hat sich überall auf der Welt seit dem 19. und diese Arbeitsmigration dazu geführt, dass viele besonders dem 20. Jahrhundert beobachten EU-Mitgliedsstaaten, einschließlich Deutsch- lassen. Großstädte führen zu lokal erhöhten land, zu Einwanderungsländern wurden. Temperaturen, verringerten Windgeschwindig- keiten und veränderten Wolkenbildungen und Die Eigendynamik von Migrationsprozessen Niederschlägen (Grawe et al. 2013). Umgekehrt zeigt sich anhand folgender Regelmäßigkeiten: hat Landflucht häufig eine Vernachlässigung von Landschaftspflege zur Folge, damit zusam- + Einmal initiierte Migration verursacht neue menhängende Bodenerosionen können den Migration durch veränderte Erwartungen Klimawandel weiter „anheizen“. in den Herkunftsregionen und neue, migra- tionsbedingte Nachfragestrukturen in den Im Hinblick auf den Zusammenhang von klima Ankunftsregionen. Durch Geldrücküber- bedingten extremen Naturereignissen und weisungen, soziale und kulturelle Beeinflus- Migration wurde nicht selten in den reichen sungen bleiben die Regionen miteinander Ländern des Globalen Nordens ein Szenario verbunden. gezeichnet, wonach eine „Flutwelle von Klima- flüchtlingen“ zu erwarten sei (Myers / Kent + Migrationsprozesse folgen wesentlich 1995; Rigaud et al. 2018). Die bisherige Migra- der Eigenlogik kollektiven Handelns der tionsdynamik, die durch Kriege, Gewalt und Wandernden in ihren lokalen, nationalen politische Verfolgung hervorgerufen wird, und transnationalen Bezügen und Sozial- zeigt allerdings, dass der allergrößte Teil dieser räumen. Maßnahmen restriktiver Grenz- erzwungenermaßen Migrierenden in den kontrollen führen häufig zu weniger flexib- betroffenen Ländern als Internally Diplaced ler Arbeitsmarktanpassung und zu höheren Persons (IDPs) oder in den angrenzenden Lebensrisiken für die Migrierenden. Nachbarländern als internationale Geflüchtete und Asylsuchende verbleibt. Dies hängt eng mit + Ökologische Probleme, kriegerische Konflik- den allgemeinen Strukturmerkmalen und der te und Armut lassen die Grenzen zwischen Eigendynamik von Migration zusammen. Arbeitsmigration und Flucht, freiwilliger und erzwungener Migration, regulärer und Die Eigendynamik von Migration irregulärer Migration immer stärker zu „mixed migration flows“ verwischen. Moder- Die Beziehungen zwischen Klimawandel, extre- ne Kommunikations- und Transportmög- men Naturereignissen und Migration sind auch lichkeiten können transnationale Migration deshalb so komplex, weil schon Migration selbst mit Mehrfachverortungen der Migrierenden (als die relative dauerhafte Verlagerung des in Herkunfts- und Ankunftsland fördern. Lebensmittelpunktes von Menschen) eine hohe Eigendynamik aufweist und sich einfacher poli- + Migration ist in der Regel nicht eine rationa- tischer Steuerung entzieht. So sollte beispiels- le Einmalentscheidung, sondern ein länger- weise das sogenannte Bracero-Programm fristiger Prozess des „muddling through“, zwischen Mexiko und den USA während des in dem Ziele, Zeitplanungen, Identitäten Zweiten Weltkrieges vorübergehend die Versor- und historisch gewachsene soziale Netz- gung der USA mit zusätzlichen Arbeitskräften werkstrukturen iterativ und sukzessive sicherstellen. Tatsächlich wurden hierdurch weiterentwickelt werden. Migrationspro- transnationale soziale Netzwerke gespannt, zesse lassen sich durch Anreize oder Verbo- die bis heute zu einer dauerhaften Präsenz te partiell beeinflussen, aber nur begrenzt 18 WeltRisikoBericht 2020
politisch kontrollieren und steuern; nicht Er deutet aber an, in welchen Ländern und selten haben Versuche der Migrationskon- Regionen sich Exposition, Anfälligkeit sowie trolle oder -steuerung völlig andere als die Anpassungs- und Bewältigungsmöglichkeiten beabsichtigten (Haupt-)Effekte. grundlegender menschlicher Sicherheitsrisi- ken konzentrieren. Auch für die Analyse des Wie komplex Wanderungen in gesamtgesell- Verhältnisses von Klimawandelfolgen und schaftliche Wirkungsbeziehungen eingebunden Migration ist eine solche regionale Betrachtung sind, ergibt sich auf der Mikroebene daraus, unter Berücksichtigung der jeweils besonders dass Menschen als Familien und Haushalte vulnerablen Gruppen sinnvoll. selbst in habitualisierter sozialer Praxis handeln und Entscheidungen hinsichtlich Migration Herausforderungen für soziale Gruppen und treffen, für die es bestimmte Regelmäßigkeiten, spezifische Regionen aber keine eindeutigen Gesetzmäßigkeiten gibt. Auf einer Mesoebene sind Wanderungsprozes- Die meisten Regionen der Welt stehen beim se immer in historisch gewachsene Netzwerke, Thema extreme Naturereignisse, Klimawandel Wissens-, Kommunikations-, Transport- und und Migration jeweils vor spezifischen Heraus- Organisationsstrukturen eingebunden, ähnlich forderungen. In Afrika konzentrieren sich wie die Unebenheiten des Bodens den konkreten sehr viele der Länder mit einem hohen bis Lauf von Regenwasser strukturieren. Auf einer sehr hohen Risiko gemäß WeltRisikoIndex. Makroebene schließlich beeinflussen auch die Aufgrund von Kolonialismus, häufig erst in der Migrationspolitiken von Nationalstaaten sowie zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichter regionale, bi- oder internationale Abkommen formaler staatlicher Autonomie und bis heute das Wanderungsgeschehen. All diese Faktoren anhaltenden wirtschaftlichen, politischen, sozi- beeinflussen, wann wie viele Menschen mit alen und kulturellen Abhängigkeitsbeziehungen welchen zeitlichen Plänen migrieren. konzentrieren sich auf diesem Kontinent viele fragile Staaten, die Vulnerabilität ist vergleichs- Es ist wissenschaftlich abgesichert absehbar, weise hoch. Afrika ist der einzige Kontinent, dass besonders vulnerable soziale Gruppen auf dem für die nächsten Jahrzehnte noch ein aufgrund von Ressourcenmangel erst relativ substanzielles Wachstum der Bevölkerungen zu spät auf klimabedingte Änderungen von Natur- verzeichnen sein wird (UN DESA 2019a). All dies gefahren durch Wanderung reagieren werden macht Prävention im Hinblick auf zu erwarten- bzw. können. Solche klimabedingte erzwun- de klimawandelbedingte extreme Naturereig- gene Migration geht dann in der Regel mit nisse sehr schwierig. Große Metropolregionen schlechten Gesundheitsbedingungen einher, an den Küsten und vor allem auch die gesamte vor allem in provisorischen Unterkünften und Küste Westafrikas sind vom steigenden Meeres- Camps (IPCC 2014). Wie abträglich solche spiegel massiv bedroht (Croitoru et al. 2019). Unterkunftsbedingungen der Gesundheit sind, zeigt gegenwärtig die Coronakrise. Weil Afrika zeichnet sich auch durch einen erheb Klimawandelfolgen zu einer generellen Beein- lichen Anteil an Migration in angrenzende trächtigung der menschlichen Sicherheit, etwa Großregionen sowie an kontinentaler Migration im Hinblick auf Erwerbsmöglichkeiten und aus. Zwischen den nordafrikanischen Magh- Wohnen führen, kann räumliche Mobilität als reb-Staaten und EU-Mitgliedsstaaten bestehen eine generalisierte Strategie angesehen werden, seit Generationen etablierte Migrationsbezie- darauf zu reagieren. Zu diesem Wirkungsknäuel hungen. Hier kann etwa die sich verändernde gehört auch, dass empirisch gesicherte Zusam- Gefährdung durch Überschwemmungen oder menhänge zwischen bewaffneten Konflikten, Dürren, mit der Folge reduzierter Möglichkei- organisierter Gewalt und dem Klimawandel ten landwirtschaftlicher Produktion, zu weite- bestehen (IPCC 2014). Der WeltRisikoIndex ren Land-Stadt- und internationalen Migratio- kann nicht die komplexen Wirkungsbeziehun- nen führen. In einem Drei-Regionen-Vergleich gen zwischen Klimawandelfolgen, Migration zwischen Subsahara-Afrika, Südasien und und anderen relevanten Aspekten gesellschaft- Lateinamerika rechnet die Weltbank für Subsa- licher Entwicklung erfassen oder modellieren. hara-Afrika damit, dass bis zur Mitte dieses WeltRisikoBericht 2020 19
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