WENDEPUNKTE - Siegessäule

Die Seite wird erstellt Dustin Rose
 
WEITER LESEN
WENDEPUNKTE - Siegessäule
OKTOBER 2021 • SIEGESSAEULE.DE

                                                          Henri Jakobs

                                                  WENDEPUNKTE
                                                    30 Jahre deutsche Erstausgabe:
                                 „Das Unbehagen der Geschlechter“ von Judith Butler

                                                               Körper von Gewicht:
                                                        Die Debatte um Detransition

                                                                    Einzelkämpfer:
                                       Tubbe-Sänger Henri Jakobs startet solo durch

              BERLINS MEISTGELESENES STADTMAGAZIN     EXPANDED CONTENT IN ENGLISH
WENDEPUNKTE - Siegessäule
Die Nase
                                       v

  Dmitri D. Schostakowitsch
        WIEDER DA! AB 31. OKT 2021
   (030) 47 99 74 00   JETZT BUCHEN!
WENDEPUNKTE - Siegessäule
INHALT 3
                       10
                Community
             Die Berliner Pride-Parade
          „Behindert und verrückt fei-
        ern“ findet am 10. Oktober zum
           ersten Mal als Live-Online-
                            Event statt

                                                                                                           FOTO: SALLY B.
                                                                                              22

                                                                                                                                                                                 FOTO: MARCUS WITTE
                                                                                           Musik
                                                                               Ex-Tubbe-Sänger Henri
                                                                             Jakobs meldet sich zurück
„DAS HEISST, ES GEHT UM DEN                                                   mit neuer EP und Konzert
                                                                                    im Badehaus Berlin
VERSUCH, ZUR GESCHLECHTER-
VERWIRRUNG ANZUSTIFTEN“                                                                      18
   JUDITH BUTLER: „DAS UNBEHAGEN                                                          Thema
   DER GESCHLECHTER“ Viel Spaß mit der
                                      Oktoberausgabe der                       Im Oktober 1991 erschien
                                      SIEGESSÄULE wünscht                     die deutsche Erstausgabe
                                      die Redaktion                             von Judith Butlers „Gen-
                                                                               der Trouble“ („Das Unbe-
                                                                             hagen der Geschlechter“).
                                                                              Zum 30-jährigen Jubiläum
                                                                                  der deutschen Fassung

                                                                                                                                                         FOTO: SUHRKAMP VERLAG
                                                                                 des queertheoretischen
                                                                               Standardwerks kommen-
                                                                                tieren Muri Darida, Mike
                                                                                   Laufenberg und Patsy
                                                                                          l‘Amour laLove
 Special Media SDL GmbH
 SIEGESSÄULE
 Ritterstr. 3
 10969 Berlin
                                  Themen                                         Kultur                                     Service
 Redaktion, Tel.: 23 55 39-0      5 INTRO                                        22 MUSIK                                   46 KLATSCH
 redaktion@siegessaeule.de        Am 14. September zündete sich am               Interview mit Henri Jakobs, Konzert-
 SIEGESSÄULE.DE                   Alex eine trans Frau selbst an und             reihe im SchwuZ: „Queers in Concert“       47 PROGRAMM
 Redaktionsschluss: 04.10.        verstarb kurze Zeit später. Jayrôme C.                                                    Das ganze Berlin-Programm

 Programmtermine: -33, -46
                                  Robinet kommentiert                            28 FILM                                    English calendar of events
                                                                                 Interview mit Monika Treut, Soura Film
 termine@siegessaeule.de
 Terminschluss: 07.10.
                                  08 COMMUNITY                                   Festival, Pornfilmfestival                 64 ESSEN
                                  Die Debatte um Detransition, „Mad &                                                       Köstliche Rohlinge: Sushi Bars
 Anzeigen: -13                    Disability Pride“, Paula Balov berichtet       34 BÜHNE
 anzeigen@siegessaeule.de         zur Öffnung der Clubs                          Johannes Kram und Florian Ludewig          66 KLEINANZEIGEN
 Anzeigenschluss: 12.10.                                                         im Interview zur „Operette für zwei
 Kleinanzeigen bitte online
                                  12 INTERNATIONAL                               schwule Tenöre“                            72 FLASHLIGHTS
                                  Interview zur Situation von LGBTIQ* in
 aufgeben:
 siegessaeule.de/marktplatz
                                  Afghanistan                                    36 BUCH                                    74 DAS LETZTE
                                                                                 „Westberlin – ein sexuelles Porträt“,      Kolumne von Wolfgang Müller
 Kleinanzeigenschluss: 10.10.
                                  44 ENGLISH                                     Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“
 Abonnement: -55                  The Pornfilmfestival Berlin, speaking                                                     74 IMPRESSUM
 abo@siegessaeule.de              up, Instagram activism                         40 AUSSTELLUNGEN
                                                                                 Bunte Riesen: Die Quilts von Scott
 SIEGESSÄULE 11/2021
                                                                                 Culley in der Tête Gallery
 erscheint am 28.10.
WENDEPUNKTE - Siegessäule
4 STADTBILD

David Dave
Solar from the
Kiki House of Solar
beim „Wack Ass
Kiki Pt. 2“ am 12.09. im
Weltwirtschaft am HKW
Festgehalten von MrHotshoe
WENDEPUNKTE - Siegessäule
INTRO 5

Feuer und Wasser                                                           Fire and water
Am 14. September zündete sich auf dem Alexanderplatz eine trans Frau       On September 14, a trans woman set herself on fire on Alexanderplatz and
selbst an und verstarb kurze Zeit später an den Folgen. Bei Redak-         died shortly after as a result. At the time of press, the background details
tionsschluss war zu den Hintergründen noch nichts bekannt. Dennoch         were still not clear. Nevertheless, we’d like to take this opportunity to talk
möchten wir diesen Vorfall zum Anlass nehmen, um über die Belas-           about the burdens on trans* people in general. A reflection by spoken word
tungen für trans* Personen allgemein zu sprechen. Eine Reflexion von       artist and author Jayrôme C. Robinet.
Spoken-Word-Künstler und Autor Jayrôme C. Robinet

Wie kann es sein, dass ein Mensch verbrennt? Löscht das Wasser How can a person burn? Does water not put out fire? Our bodies are
nicht das Feuer? Unser Körper besteht zum größten Teil aus Was- made up primarily of water, up to about 70 percent. There are plenty
ser, zu ungefähr 70 Prozent. Es gibt viele Studien und Publikationen of studies and publications about discrimination against trans* peo-
über die Diskriminierung von trans* Personen im Bildungswesen, ple in academia, in healthcare, in sports, in the job market, in the
im Gesundheitswesen, im Sport, auf dem Arbeitsmarkt, auf dem housing market, in family and marriage law. Does this somehow
Wohnungsmarkt, im Familien- und Eherecht. Wirkt sich das etwa have an effect on the water structures of our bodies?
auf die Wasserstruktur unseres Leibes aus?                                   Researcher Masaru Ernoto had water “spoken to” with words –
Der Forscher Masaru Emoto ließ Wasser mit Worten „bereden“ – “Thank you” / “You’re crazy” / “I’ll kill you” / “Love and gratitude”.
„Danke“ / „Du bist verrückt“ / „Ich bring Dich um“ / „Liebe und Dank- He also had water filled with music. That’s how a bottle of water
barkeit“. Auch ließ er Wasser mit Musik beschallen. So hörte eine heard Beethoven’s Pastoral Symphony, a bright and cheerful piece.
Flasche Beethovens Pastorale, ein helles und fröhliches Stück. Eine Another got Mozart, Symphony Nr. 40 in G minor – others listened
andere bekam Mozart, die Symphonie Nr. 40 in G-Moll – eine andere to Bach, Elvis Presley or heavy metal. For hours on end, each bottle
lauschte Bach, Elvis Presley oder Heavy Metal. Stundenlang stan- stood between two speakers. Next, Ernoto had the water frozen and
den die Flaschen jeweils zwischen zwei Boxen. Dann ließ Emoto das photographed the water crystals that formed. The crystals in each
Wasser einfrieren, und er fotografierte die Wasserkristalle, die sich bottle looked completely different from each other depending on the
gebildet hatten. Je nach Lied und je nach Worten, die sie gehört hat- song and the words that the bottle heard. “Love and gratitude” caused
ten, sahen die Eiskristalle ganz anders aus. Bei „Liebe und Dankbar- the crystals to be fully open like some kind of blooming flower, as
keit“ war der Kristall völlig offen wie eine blühende Blume, als würde if the water had opened its arms wide in an expression of joy. Cho-
das Wasser seine Arme weit öffnen, um seine Freude auszudrücken. pin’s Farewell Waltz broke the basic shape of the crystals into small,
Bei Chopins Abschiedslied wurde die Grundform des Kristalls in klei- nearly perfectly separated pieces. Heavy metal caused the normally
ne, fast perfekt voneinander getrennte Stücke gebrochen. Bei Heavy hexagonally-structured crystals to look as if they had been run over
Metal sah die regelmäßige sechseckige Struktur so aus, als wäre sie by a lawnmower.
von einem Rasenmäher überfahren worden.                                      There’s rarely a simple explanation for suicide. Trans* people lead
Eine einfache Erklärung gibt es für einen Suizid selten. Trans* Perso- complex lives. Public self-immolations are however often politically
nen führen ein komplexes Leben. Öffentliche Selbstverbrennungen motivated. In 1982, poet Semra Erta set herself on fire in protest
sind aber meistens politisch motiviert. Die Dichterin Semra Ertan against racism in Germany.
verbrannte sich 1982 in Hamburg                                                            How desperate must one be to take this step? On so-
aus Protest gegen den Rassismus in              Trans* Personen                            cial media, some complained of the self-immolation in
Deutschland.                                        ... führen ein komplexes Leben         Berlin as reckless. Because other people smelled the
Wie verzweifelt muss ein Mensch                                                                                lighter fluid, felt the flames, heard
sein, um diesen Schritt zu gehen. In den Sozialen Medien wurde             Trans* people                       the screams, had to look on as a per-
die Selbstverbrennung in Berlin zum Teil als rücksichtslos be-                   ... lead complex lives        son burned in front of them. Yes, the
anstandet. Denn andere Menschen haben die brennbare Flüs-                                                      suffering and pain of others leave
sigkeit gerochen, die Flammen gespürt, Schreie gehört, mussten mit marks on us. Conversely: the state violence against trans* people,
ansehen, wie ein Mensch vor ihnen verbrennt. Ja, das Leid und die the structural violence, the interpersonal violence, the media vio-
Schmerzen anderer hinterlassen Spuren in uns. Umgekehrt heißt lence, the intersectionally reinforced violence – has ingrained itself
es: die staatliche Gewalt gegen trans* Personen, die strukturelle Ge- in society as a whole. Connections and cross-connections are con-
walt, die zwischenmenschliche Gewalt, die mediale Gewalt, die inter- tinuous. The next Bundestag must pass the self-determination law
sektional verstärkte Gewalt – kerben sich in die Gesamtgesellschaft for trans- and intersex people. We’re made up of water, but can still
ein. Konnexionen und Querverbindungen sind kontinuierlich. Der burn. We need the water of others. Protection and solidarity offer the
nächste Bundestag muss das Selbstbestimmungsgesetz für trans- possibility of a more just and happy world for all of us.
und intergeschlechtliche Menschen verabschieden. Wir bestehen                                                        Translation: Walter Crasshole
aus Wasser, können aber verbrennen. Wir brauchen das Wasser
der anderen. Schutz und Solidarität bieten die Möglichkeit einer ge-
rechteren und glücklicheren Welt für uns alle.

Hilfsangebote bei Suizidgedanken u. a. unter:                              You struggle with suicidal ideations? Find help here:
berliner-krisendienst.de                                                   berliner-krisendienst.de
WENDEPUNKTE - Siegessäule
6 MAGAZIN

                                                                       FOTO: JAKOB BEHRENS

Neue Freiheit

                                                                                                                                                                 ILLUSTRATION: FLORIAN HIRSCH
Neue Betreiber, neues Konzept
und ein neues Design gibt‘s ab
Oktober in der Friedrichshainer

                                                                                                                                                     FOTO: XXX
Szenebar Große Freiheit 114. Mit
Danjel Zarte (Foto, li.) und Markus
Hubertus (Foto, re.) übernimmt ein                                                           Heiße Ohren
frisches Team die Darkroom-Bar
und pimpt den Laden ordentlich                                                               Der Regisseur und Autor Axel Ra-
auf. „Wir freuen uns, einen queeren                                                          nisch („Ich fühl mich Disco“) und
Safe Space anbieten zu können, der                                                           sein Mann Paul Zacher haben eine
offen für alle ist und niemanden aus-                                                        queere Hörspielserie fürs Radio
schließt“, erklärt Danjel. Das neue,                                                         geschrieben und produziert. „Anton
queere Profil soll ergänzt werden                                                            und Pepe“ erzählt – inspiriert von
durch Kulturprogramm und Partys.                                                             der eigenen gemeinsamen Bio-
So sind bereits Veranstaltungsrei-                                                           grafie des Paares – von zwei un-
hen mit Patsy l‘Amour laLove und                                                             gleichen Freunden, die sich nach                                                                   FOTO: DIRK MASCHKE

Fabienne du Neckar geplant. Die         Doppelte Tunte                                       einer unausgesprochenen Verliebt-
Eröffnungssause steigt am 1. und                                                             heit in Kindertagen aus den Augen
2. Oktober (inkl. 2G-Regel) jeweils    Während der Pandemie hat das                          verlieren, um sich Jahre später
ab 19:00. Gäste: Delicious Bellici-    SchwuZ sich zum echten Mer-                           wiederzufinden. Das tragikomische
ous, Fabienne du Neckar, Bambi         chandise-Profi gemausert: Von                         Patchworkfamilien-Hörspiel kann       Frische Farbe
Mercury und Rosetta Bleach. Wir        Beuteln über Tassen bis hin zu So-                    man ab Oktober unter ndr.de/anton-
wünschen alles Gute!                   cken und Kaffee. Der neueste Coup                     undpepe sowie in der NDR Hörspiel-   Auch der schwule Schöneberger
                                       im SchwuZ-Onlinelädchen ist das                       box und der ARD Audiothek finden.    Traditionsclub Connection erwacht
                                       Memo-Spiel „Tunten, Drags And                         Gesendet wird die erste Staffel ab   langsam aus dem Corona-Schlaf.
                                       Criminal Queers“, das „45 Jahre                       dem 6. Oktober auf NDR Kultur.       Ab dem 6. November werden hier
                                       Drag- und Tuntengeschichte des                                                             wieder Partys steigen, und zwar in
         SchwuZ“ in einem Spiel zusammenbringen möchte. Die Regeln                                                                einem generalüberholten Ambien-
         sind bekannt: Man deckt Karten auf und versucht, zweimal die-                                                            te. Die neuen Betreiber – Marke-
         selbe Tunte zu erwischen. Die Kartenpaare zeigen zwar jeweils                                                            tingmann Sebastian Goldhagen und
         dieselbe Person, aber auf unterschiedlichen Fotos. Auf schwuz.                      Clubmanager Dirk Maschke – haben die Lockdown-Monate für umfängliche
         de/start/memo/ gibt‘s außerdem zu jeder Berliner Szenegröße                         Renovierungsarbeiten genutzt und wollen auch am musikalischen Konzept
         aus dem Spiel einen ausführlichen Infotext. Auch wenn sicher ei-                    schrauben: „Bekannte Berliner DJs wie Super Zandy, DJ Tiasz, De Almen-
         nige an der Auswahl der Tunten herummäkeln werden („Warum                           dra DJ, DJ BassT gepaart mit neuen, interessanten Künstlern werden die
         die???“), ist dieses Spiel mit Geschichtsbewusstsein eine tolle                     Nächte mit geilem Berliner Club Sound bereichern“, verspricht die Presse-
         Sache. Für 14,50 Euro auf schwuz.de                                                 mitteilung. Wir sind gespannt.
WENDEPUNKTE - Siegessäule
MAGAZIN 7

                                                        Jahrzehntelang hatten sie ein Comeback ausgeschlos-
                                                        sen, es dann vor einigen Jahren doch überraschend
                                                        angekündigt – in der Folge passierte allerdings nichts.
                                                        Nun ist geschehen, woran fast niemand mehr geglaubt          30.9.-3.10.
                                                        hatte: ABBA sind zurück! Vier Heten, die zum größten         FLORIAN SCHROEDER
                                                        queeren Pop-Phänomen ever wurden – ohne je selbst
                                                        zu begreifen, wie es dazu kommen konnte. Zwei neue
                                                        Songs („Don‘t Shut Me Down“ und „I Still Have Faith In
                                                        You“) wurden im September veröffentlicht, im Novem-
                                                        ber kommt nach fast 40 Jahren mit „Voyage“ der Nach-
                                                                                                                     3.10.
                                                        folger zu ihrem Album „The Visitors“ von 1981. Eine
                                                        Tour mit digitalen „Abbataren“ ist für nächstes Jahr         MARC WEIDE
                                                        geplant. Beim ABBA-„Voyage“-Livestream-Event, das            4.10.
                        FOTO: UNIVERSAL/BAILLIE WALSH

                                                        am 2. September u. a. im Berliner Universal-Gebäude          DER BLAUE MONTAG
                                                        stattfand, waren etliche Fans aus der LGBTIQ*-Com-
                                                                                                                     7.+8.10.
                                                        munity geladen. Da sah man auch Berliner Starlets wie
                                                                                                                     VINCE EBERT
                                                        Bambi Mercury und Betty BücKse durchs Bild hüpfen.
                                                        Was ABBA für queere Menschen so anziehend macht,
                                                        ist schwer zu beantworten. Dass ihre glitzernd-eska-

TOP!                                                    pistische Popwelt so konsequent frei von jedem Ma-
                                                        chogehabe ist und sich jedem Versuch, cool zu wirken,
                                                                                                                     9.+10.10.
                                                        widersetzt, mag dabei nicht unwichtig gewesen sein.
ABBA sind zurück                                        ABBAs Musik hatte in jedem Fall immer die Kraft, Men-        ABDELKARIM
                                                        schen miteinander zu verbinden – eine Magie, die wir
                                                        gerade jetzt vielleicht so sehr brauchen wie schon
                                                        lange nicht mehr. In diesem Sinne: Welcome back!
                                                                                                                     11.+12.10.

                                                                                                                     DAS GROSSE
                                                                                                                     KLEINKUNSTFESTIVAL

                                                        Uff. Eine niederschmetternde Aussage, aber sie bringt
                                                        das Problem auf den Punkt: „Die Lebensqualität von
                                                        Menschen mit HIV“, stellte die Deutsche Aids-Hilfe           14.10.-30.10. (Do-Sa)
                                                        kürzlich fest, „wird heute vor allem durch Vorurteile und
                                                        Diskriminierung eingeschränkt.“ So lautete die zentra-       MATHIAS RICHLING
                                                        le Erkenntnis der Studie „positive stimmen 2.0“, die die     16.10.
                                                        Aids-Hilfe in Kooperation mit dem Institut für Demokratie    V. MEYER-DABISCH
                                                        und Zivilgesellschaft veröffentlicht hat. 500 HIV-positive
                                                                                                                     19.10.
                                                        Menschen wurden dafür interviewt, außerdem nahmen
                                                                                                                     THOMAS REIS
                                                        rund 1.000 Positive an einer Online-Befragung teil. Mit
                                                        einem erst mal auch erfreulichen Ergebnis: Rund 90           20.10.
                                                        Prozent der Befragten gaben an, dank der heute vor-          LUISE KOSCHINSKY
                                                        handenen Therapiemöglichkeiten gut mit ihrer HIV-In-
                                                        fektion zu leben, drei Viertel fühlen sich gesundheitlich
                                                        gar nicht oder nur wenig eingeschränkt. Erschreckend
                                                        hingegen: 95 Prozent berichteten, in den letzten zwölf
                                                        Monaten mindestens eine diskriminierende Erfahrung           23.10.
                                                        gemacht zu haben, 52 Prozent fühlten sich durch Vor-
                                                                                                                     FRANK LÜDECKE
FLOP!                                                   urteile in ihrem Leben beeinträchtigt. Besonders groß
                                                        scheint das Problem im Gesundheitswesen: acht                24.10.
HIV-positive Menschen                                   Prozent wurde mindestens einmal eine allgemeine              KARSTEN KAIE
                                                        Gesundheitsleistung verweigert, bei zahnärztlichen
werden noch immer                                       Behandlungen waren es sogar 16 Prozent. Absurd, vor
stark diskriminiert                                     allem vor dem Hintergrund, dass HIV unter Therapie
                                                        nicht mehr übertragbar ist. Dies zeigt einmal mehr, wie
                                                        viel Unwissen beim Thema HIV – auch unter Ärzt*innen         24.+25.10.
                                                        – noch besteht. Fazit der Deutschen Aids-Hilfe: „Wir         WOLFGANG TREPPER
                                                        brauchen weiterhin Aufklärung.“ Mehr Infos zur Studie
                                                        gibt‘s auf: positive-stimmen.de
                                                                                                                              Tel. 030 30673011
                                                                                                                             www.wuehlmaeuse.de
WENDEPUNKTE - Siegessäule
8 COMMUNITY

                                                                                                   werden von rechtsradikalen, evangelikalen
                                                                                                   oder radikal feministischen Gruppen instru-
                                                                                                   mentalisiert, um Stimmungsmache gegen
                                                                                                   Transsexualität zu betreiben und die Selbst-
                                                                                                   bezeichnung trans* infrage zu stellen.“ Zeit-
                                                                                                   schriften wie die Emma und konservative
                                                                                                   Parteien wie die CDU haben das Thema für
                                                                                                   sich entdeckt und kamen in den letzten
                                                                                                   Jahren mehrfach darauf zurück, wenn es
                                                                                                   darum ging, sich gegen mehr Rechte von
                                                                                                   trans* Personen auszusprechen. Insbeson-
                                                                                                   dere im Kontext von trans* Kindern und
                                                                                                   Jugendlichen wird detrans* als angebliches
                                                                                                   „Warnsignal“ herangezogen und als Argu-
                                                                                                   ment dafür, warum man jungen Menschen
                                                                                                   nicht zu früh die Transition „erlauben“ soll-
                                                                                                   te. „Gerade, wenn man trans* ist, überlegt
                                                                                                   man sich diesen Schritt sehr, sehr genau“,
                                                                                                   weiß hingegen Julia Monro. „Das ist keine
                                                                                                   plötzliche Idee, auf die man mal eben Lust
                                                                                                   hat. In der Regel geht der Entscheidung zur
                                                                                                   Transition ein langer und intensiver Selbst-
                                                                                                   findungsprozess vorweg.“ Klar könne es
                                                                                                   dazu kommen, dass man einzelne Schritte
                      DEBATTE UM DETRANSITION                                                      später anders bewertet, sie vielleicht sogar

                      Out of the box                                                               rückgängig machen möchte. Diese Schritte
                                                                                                   deshalb gar nicht erst zu ermöglichen oder
                                                                                                   sie mit hohen Hürden zu verbinden, wie
                      Das Thema Detransition ist in Mainstreammedien derzeit sehr präsent          dies in Deutschland selbst bei der Änderung
                      – und wird oft als angeblicher Beweis dafür herangezogen, dass zu viel       des Geschlechtseintrags – eigentlich nur ein
                      Selbstbestimmung für trans* Personen gefährlich wäre. Tatsächlich wol-       simpler Verwaltungsakt – praktiziert wird,
                      len aber nur wenige Menschen, die sich für eine Transition entscheiden,      findet Monro jedoch grundfalsch. Dies wäre
                      diese später „rückgängig“ machen. Warum also steht das Thema derart im       so, sagt sie, als ob man Hochzeiten verbie-
                      Fokus? Wir baten die detrans* Aktivistin Eli Kappo und Julia Monro von der   ten würde, nur weil manche Ehen später
                      dgti um eine kritische Einordnung der Diskussion                             geschieden werden. „Es kann theoretisch
                                                                                                   jederzeit zu einer Detransition kommen, wie
shesindetransition.   Um es vorweg zu sagen: Niemand leugnet, dass es Menschen gibt,               es auch bei einer Eheschließung immer zur
wordpress.com         die detransitionieren. Und keiner Person soll es abgesprochen wer-           Scheidung kommen kann. In dem Moment
                      den, detrans* zu sein. „Wir fordern generell Selbstbestimmung“               aber, wo man die Selbstaussage eines Men-
dgti.org              – dies ist auch Julia Monro von der Deutschen Gesellschaft für Trans-        schen nicht akzeptiert, fehlt der Respekt
                      identität und Intersexualität e. V. (dgti) in diesem Kontext wichtig         dieser Person gegenüber.“
                      zu betonen. „Diese Forderung gilt selbstverständlich ebenso für de-
Foto:
Eli Kappo             trans* Personen.“                                                            „Fatale Fehler“?
                      Detransition: darunter wird im Allgemeinen die „Rückkehr“ zu dem
                      Geschlecht verstanden, das einem bei der Geburt zugewiesen wurde.            Ähnlich sieht dies die 28-jährige Aktivistin
                      Tatsächlich kann der Begriff aber vieles bedeuten. Er kann zum               Eli Kappo, die das Label detrans*, wie sie im
                      Beispiel für Menschen passend sein, die bestimmte geschlechts-               Gespräch mit SIEGESSÄULE erzählt, für sich
                      angleichende Maßnahmen, die sie früher begonnen haben, wieder                verwendet, aber „anders besetzt“. Mit 19 ou-
                      stoppen, wie die Einnahme von Hormonen. Er kann für Personen                 tete Eli sich als trans, heute beschreibt sie
                      gelten, die den Wechsel ihres Vornamens und Geschlechtseintrags              sich als nicht binäre detrans* Frau, die „aus-
                      zurücknehmen, körperlich aber nichts verändern, und so weiter.               drücklich nicht transfeindlich ist“. Auf ihrem
                      Betreffen dürfte die Thematik auch nur wenige. Zwar gebe es keine            Blog „shesindetransition“ schreibt sie unter
                      belastbaren Studien zu Detrans*, sagt Monro. Bernd Meyenburg,                anderem über Körperbilder, Identität, Bio-
                      Kinder- und Jugendpsychotherapeut aus Frankfurt, habe allerdings             politik oder über ihren trans* Aktivismus,
                      mal für einen Zeitraum von zehn Jahren Buch geführt. Von knapp               „den ich als detrans* Person mache“.
                      700 Personen, die eine rechtliche Transition nach dem „Transsexu-            So deutlich wie Eli ergreifen jedoch nicht
                      ellengesetz“ machten, revidierte weniger als ein Prozent das Verfah-         alle Menschen, die eine detrans* Geschich-
                      ren. Bei medizinischen Transitionsschritten dürfte die Zahl ähnlich          te haben, Partei für trans* Rechte. Einzelne
                      gering sein, schätzt Monro.                                                  Gruppen und Organisationen, zum Beispiel
                      Im Verhältnis dazu sei das „Phänomen Detransition“ derzeit über-             „Post Trans“, die auf dem diesjährigen Les-
                      präsent in den Medien. Die Art und Weise, wie darüber gesprochen             benfrühlingstreffen (LFT) mit einem Info-
                      wird, findet Monro außerdem problematisch: „Detrans* Positionen              stand vertreten waren, treten durchaus auch
WENDEPUNKTE - Siegessäule
COMMUNITY 9

polarisierend auf. „Viele detrans* Geschichten gehen mir nahe, aber
wenn ich sehe, dass diese Personen daraus transfeindliche Schlüsse
ziehen, hört meine Empathie auf“, sagt Eli Kappo. Die eigene Ent-
scheidung, zu transitionieren, werde in solchen Diskussionen oft
als fataler Fehler dargestellt, berichtet Julia Monro. „Aber das ist es
nicht immer. Und selbst wenn es ein Fehler wäre, müssen wir auch
Fehler machen dürfen.“ Stattdessen werde „jede Gelegenheit ver-
wendet, um auf mögliche Gefahren hinzuweisen und das Thema
trans* im Allgemeinen schlechtzureden.“ Dies führe letzten Endes
zum Schaden für Personen, „die sich wirklich ernsthaft nach einer
Transition sehnen“. Um fachliche Aufklärung, die auf belegbaren
Zahlen beruht, oder um mehr tatsächliche Hilfen für Menschen,
die sich, vielleicht auch zweifelnd oder suchend, mit ihrer eigenen
Geschlechtsidentität auseinandersetzen, gehe es in diesem Kontext
meist gar nicht. So räumte etwa die Emma ein, dass sie noch nie
so erfolgreiche Beiträge veröffentlicht hätten wie die – laut Eigen-
beschreibung der Zeitschrift „transkritischen“– Artikel zu Detrans*.
„Sie haben damit ein Thema gefunden, mit dem sie wieder Leute
für sich gewinnen können, und deshalb werden sie weiter darüber
berichten“, vermutet Julia Monro.

Von B nicht zurück nach A, sondern nach C

Eli Kappo wünscht sich ein anderes Gesellschaftsverständnis davon,
was trans* sein bedeutet. „Ich denke, dass wir auf einem guten Weg
sind, aber immer wieder Rückschläge bekommen von konservati-
ven Gruppen, die Aussagen salonfähig machen wollen wie die von
einem angeblichen ,Transhype‘“. Detransition wird meist platt als
Rückwärtsschritt verstanden. Aber es geht gar nicht darum, von
B zurück nach A zu gehen. Eine klare Linie zwischen trans*/nicht
trans* und zwischen den Geschlechtern gibt es nicht, auf B folgt C,
so wie dies etwa Eli Kappo erlebt hat. Blendet man das aus, wird alles
Uneindeutige, Genderqueere ebenso ausgeblendet.
Seitens „transkritischer“ Gruppen wird auch oft eine angeblich feh-
lende Kontrolle während Transitionen bemängelt. „Zu schnelle“ Pro-
zesse würden zu Fehlentscheidungen führen. Dazu sagt Eli Kappo:
„Mir gefällt nicht, was detrans* Personen, wie etwa im Umfeld von
,Post Trans‘, für ein Bild darüber vermitteln, wie schnell der Transi-
tionsprozess gehen soll und dass es da keine Kontrollen mehr gebe.
Ich will den detrans* Leuten, die eine schlechte Aufklärung bei ihrer
eigenen Transition erlebten, ihre Erfahrungen nicht absprechen.
Es ist wichtig, das zu benennen, und ich sage auch nicht, dass es
gar nicht vorkommen kann. Aber es sollte als konkreter Behand-
lungsfehler einer konkreten ärztlichen Person erkannt werden,
nicht als pauschale Vorgehensweise in der Trans*behandlung und
-beratung allgemein.“ Monro schließt sich dem an: „Unseriöse The-
rapeut*innen, die Humbug treiben, gibt es leider überall. Wenn eine
trans* Person an so eine*n Therapeut*in kommt, will ich nicht aus-
schließen, dass es da auch zu Fehlentscheidungen kommen kann.
Aber das ist nicht die Regel, man guckt schon sehr genau hin.“ Bei
einer Transition gebe es auch „keinen Königsweg, der etwa vor-
gibt, man müsse alle Operationen durchziehen, sonst ist man nicht
trans*“. In dem Moment, in dem die geschlechtliche Identität wieder
an körperliche Merkmale geknüpft werde, „hat das nichts mehr mit
selbstbestimmter Transgeschlechtlichkeit zu tun“. Denn bei Selbst-
bestimmung geht es um die Selbstaussage eines Menschen, darum,
dass nur man selbst sich definieren und über den eigenen Körper
bestimmen kann. Dies, so sind sich Julia Monro und Eli Kappo einig,
sollte innerhalb und außerhalb von trans* Communitys respektiert
werden. „Wir müssen davon wegkommen, Menschen in Kategorien
einzusortieren“, wünscht sich Monro zum Abschluss, „und Men-
schen stattdessen als Menschen annehmen.“              Amanda Beser
WENDEPUNKTE - Siegessäule
10 COMMUNITY

                                                                                                                Foto:
                                                                                                                Beim „Mad and
                                                                                                                Disability Pride“
                                                                                                                2019

                                                                                                                sind“, sagt Mélina. Das Team achtet genau
                                                                                                                auf Hygienemaßnahmen und Abstandsre-
                                                                                                                geln, deswegen werden die Künstler*innen,
                                                                                                                die am Veranstaltungstag vor Ort sind, meist
                                                                                                                einzeln auftreten.
                                                                                                                Trotz der schwierigen Umstände sei es wich-
                                                                                                                tig, auf sich aufmerksam zu machen, betont
                                                                                                                Mélina. Personen, die behindert werden,
                                                                                                                seien überall unterrepräsentiert und wür-
                                                                                                                den in den Medien oft mit Vorurteilen be-
                                                                                                                legt. „Wir feiern unsere Behinderung, trotz
                                                                                                                des Stigmas, das uns umgibt. Wir feiern, dass
                                                                                                                wir lebenswert sind.“

                                                                                                                Krise als Chance

                                                                                                                Dabei ist nicht von der Hand zu weisen,
                                                                                                                dass die Community von Corona besonders
                                                                                                                betroffen ist – auch aufgrund pandemiebe-
                                                                                                                dingter Beeinträchtigungen in der medizi-
                                                                                                                nischen Fürsorge. Das Gefühl von Isolation,
                                                                                               FOTO: SALLY B.

                                                                                                                das der gesamten Gesellschaft zu schaffen
                                                                                                                macht, trifft Menschen, die behindert wer-
                                                                                                                den, ungleich härter, da diese sowieso schon
                        MAD AND DISABILITY PRIDE PARADE 2021                                                    mehr als andere – unter anderem wenn
                                                                                                                sie in gesonderten Einrichtungen unter-
                        Zugehörig fühlen                                                                        gebracht sind – von der Außenwelt abge-
                                                                                                                schottet werden. Dieser Umstand wird von
                        Eine große Demo wird es zwar auch 2021 nicht geben, doch die Berliner                   Betroffenen allgemein kritisiert. In der Pan-
                        Pride-Parade „Behindert und verrückt feiern“ findet am 10. Oktober zum                  demie hat sich die Situation allerdings noch
                        ersten Mal als Live-Online-Event statt. Der Pride für Menschen, die behin-              einmal zugespitzt. Mélina erzählt, dass sich
                        dert werden, steht in diesem Jahr unter dem Motto: „Paradestream – Be-                  einige seit anderthalb Jahren nicht mehr
                        hindert und verrückt durch die Pandemie. Online statt Straße“                           rausgetraut haben.
                                                                                                                Trotz all dieser Negativauswirkungen hatte
Mad and Disability      Gesendet wird am 10. Oktober von 17 bis 20 Uhr aus dem S036: Es                         sich die Community durch die Krise ein ge-
Pride Parade 2021,      gibt Gesangs- und Textbeiträge, die sowohl als Videos vorproduziert                     samtgesellschaftliches Umdenken erhofft
10.10., 17:00–20:00.,   wurden als auch direkt von der Bühne des SO36 übertragen oder                           – zumal im Lockdown Online-Partizipation
Livestream aus dem      live zugeschaltet werden. Zwischen den jeweiligen Beiträgen wird                        an Schule, Uni und im Büro plötzlich Wirk-
SO36                    moderiert, zum Spenden aufgerufen und interviewt. Außerdem wird                         lichkeit wurden: „Wir nahmen an, dass die
                        die Glitzerkrücke als Negativpreis an eine Einrichtung, einen Verein                    Menschen sich nun in unsere Haut verset-
Mehr Infos unter
                        oder eine Person verliehen, die durch besonders diskriminierendes                       zen könnten und zumindest auf Hybrid-
pride-parade.de
                        Verhalten aufgefallen ist. Mélina Germes organisiert zusammen mit                       veranstaltungen pochen würden, damit wir
                        zehn anderen Aktiven den Parade-Stream. Sie erzählt, worum es                           online teilnehmen können.“ Die Tendenz
                        im Programm inhaltlich geht: „Erfahrungen der Coronazeit werden                         sei jedoch, dass die meisten wieder zu einer
                        ausgetauscht, wir reflektieren über Herausforderungen und feiern                        Vor-Ort-Präsenz zurückwollten: „Die Sensi-
                        behinderte und queerbehinderte Identitäten.“ Seit dem ersten Pride                      bilität für unsere Belange fehlt.“ Vergessen
                        2013 lautet das zentrale Motto des Events: „Behindert und verrückt                      und verstecken lassen will man sich aber
                        feiern“. Begriffe, die im Mainstream oft beleidigend gemeint sind,                      nicht. Und auch wenn man mit dem Pride
                        werden so positiv umgedeutet. „Wir müssen uns nicht verstecken,                         versucht, Leute außerhalb der Community
                        wir dürfen uns mit bunten Farben, Musik, Tanz und Freude zeigen.“                       zu erreichen, sei nach wie vor das oberste
                        2020 hatte das Parade-Team als Ersatz für die ausgefallene Demo                         Ziel, diejenigen anzusprechen, die sich nir-
                        einen eigenen Pride-Film mit verschiedenen Künstler*innen und                           gendwo zugehörig fühlen: „Wir wollen für
                        Aktivist*innen produziert. Dass auch in diesem Jahr ein großer Stra-                    Menschen da sein, die mit ihren Problemen
                        ßenzug nicht realisierbar ist, sei zwar schade, auf „schöne spaßige                     allein sind. Sie sollen wissen, dass es eine Ge-
                        Momente“ wolle man aber nicht verzichten: „Wir laden dazu ein,                          meinschaft gibt, zu der sie gehören könn-
                        dass alle, die sich mit uns solidarisieren, zumindest online dabei                      ten.“ 		                    Anette Stührmann
COMMUNITY 11

                                                                                     Foto:
                                                                                     Bald könnte es
                                                                                     wieder so aussehen –
                                                                                     Party im SchwuZ
                                                                                     vor Corona

                                                                  Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Planbarkeit: Bei den
                                                                  steigenden Infektionszahlen sei zu erwarten, dass in den kalten
                                                                  Monaten die Regelungen wieder verschärft werden. Nach Ansicht
                                                                  der Clubcommission kämen Partys aber nur ohne Maskenpflicht
                                                                FOTO: GUIDO WOLLER

                                                                  infrage. Veranstalter*innen hätten somit nicht die nötige Planungs-
                                                                  sicherheit, um lukrativ zu wirtschaften.
                                                                  Allein die Personalsuche sei dadurch schon erschwert, findet
                                                                  SchwuZ-Chef und Vorstand der Clubcommission Marcel Weber:
                                                                                          „Die Leute, die Minijobs bei uns hatten, haben
                    NEUSTART DER CLUBS                                                    mittlerweile was anderes gefunden. Da ist die

                    Feiern, aber sicher                                                   Frage: Würden sie überhaupt zurückkom-
                                                                                          men wollen, obwohl wir nicht wissen, was
                                                                                          in drei Monaten ist?“ Neue Bewerber*innen
                    Tanzen gehen in Innenräumen ohne Maske und Abstand – trotz Pandemie
                                                                                          dürften sich ganz ähnliche Fragen stellen.
                    ist das für Genesene und Geimpfte in Berlin seit dem 4. September wieder
                    möglich. Doch die Probleme der Clubkultur sind damit längst nicht gelöst
                                                                                                            Verpflichtende PCR-Tests für alle Gäste
                    und die Zukunft ist nach wie vor unsicher. Paula Balov berichtet
                                                                                                             Die Clubcommission plädierte deshalb dafür,
clubcommission.de   Clubs wie das SO36 oder Insomnia feierten                        PCR-Tests ins Konzept einzubinden: Bei niedriger Inzidenz könnten
                    bereits ihre Wiedereröffnung. Andere Loca-                       auch Gäste reingelassen werden, die nicht geimpft oder genesen
                    tions brauchen mehr Zeit, da sie erst neues                      sind, sofern sie einen negativen PCR-Test vorweisen können. Bei
                    Personal einstellen und ein Programm ent-                        hoher Inzidenz würden PCR-Tests für alle Gäste verpflichtend sein.
                    wickeln müssen. Das SchwuZ wird z. B. erst                       Damit der Vorschlag funktioniert, müssten kostenlose PCR-Tests zur
                    Ende Oktober wieder seine Pforten öffnen                         Verfügung gestellt werden. Marcel Weber hält das für realistisch: „Da
                    können.                                                          wäre es für den Staat günstiger, so zumindest unsere These, die Kos-
                    Ende August erklärte das Berliner Verwal-                        ten für die PCR-Tests zu übernehmen, anstatt die Wirtschaftsunter-
                    tungsgericht das Verbot von Tanzveranstal-                       nehmen weiter mit Hilfen am Leben zu erhalten.“ Da die Clubs auf
                    tungen in Innenräumen für genesene und                           diesem Wege auch bei hoher Inzidenz den Betrieb ohne Masken-
                    geimpfte Menschen als unverhältnismäßig.                         pflicht fortsetzen könnten, würden sie eine langfristige Perspektive
                    Daraufhin beschloss der Senat, gegen dieses                      gewinnen.
                    Urteil nicht in Berufung zu gehen: Clubs                         Die Clubcommission beruft sich in ihren Überlegungen auch auf das
                    dürfen also mit der 2G-Regel wieder öffnen.                      erfolgreiche Pilotprojekt „Clubculture Reboot“, an dem 2100 Men-
                    Ist das die lang ersehnte Rückkehr zur                           schen teilnahmen. Das Ergebnis habe gezeigt, dass „auch bei hohen
                    Normalität für die Veranstaltungsbranche?                        Inzidenzen sichere Veranstaltungen in Innenräumen möglich sind.“
                    Jein. Die Clubcommission begrüßt die Ent-                        Auf den Vorschlag des Verbands hat der Berliner Senat noch nicht
                    wicklung prinzipiell: Mit der 2G-Regel ent-                      reagiert. Bei den Änderungen der Corona-Verordnung vom 14. Sep-
                    fallen in Innenräumen Maskenpflicht und                          tember wurden keine Neuerungen für Clubs beschlossen. Der Senat
                    Abstandsregeln, wodurch wieder regulärer                         führte zwar das Optionsmodell ein, wonach Betriebe selbst entschei-
                    Betrieb mit mehr Gästen möglich wird.                            den können, ob sie die 2G- oder 3G-Regel anwenden wollen. Aus-
                    Trotzdem ist die Entscheidung umstritten.                        genommen sind allerdings neben Saunen und Prostitutionsstätten
                    In einem Statement zur Erklärung des Ber-                        auch Clubs – hier gilt nach wie vor die 2G-Regel.
                    liner Verwaltungsgerichts bemängelte der                         Die Clubcommission will ihren Vorstoß weiterhin dem Senat nahele-
                    Lobbyverband, dass durch die 2G-Regelung                         gen und mit Argumenten überzeugen. Marcel Weber wünscht sich,
                    Menschen ausgeschlossen werden, die zum                          „dass wir alle Möglichkeiten nutzen, die wir haben, und mutig sind
                    Beispiel aufgrund einer Vorerkrankung                            sie auch auszuprobieren.“
                    nicht geimpft werden können.
12 INTERNATIONAL

                                                                                                                                                                Foto:
                                                                                                                                                                Solidaritäts-Aktion in
                                                                                                                                                                der Türkei für afgha-
                                                                                                                                                                nische LGBTIQ*

                                                                                                                        FOTO: ADEM ALTAN/AFP VIA GETTY IMAGES
                         LGBTIQ* IN AFGHANISTAN                                                       erleben somit massive geschlechtsspezifi-

                         „Holt die Leute raus“                                                        sche Verfolgung. Außerdem überschneiden
                                                                                                      sich diese Gruppen natürlich.
                         Nach der Machtergreifung der Taliban sind Freiheit und Leben vieler Men-     Steht ihr gerade mit jemandem vor
                         schen in Afghanistan bedroht. Seit dem Stopp der Luftbrücke bleibt auch      Ort in direktem Kontakt? LGBTIQ*-Or-
                         vielen LGBTIQ* nichts anderes mehr übrig, als unterzutauchen. Eine der       ganisationen in Deutschland wurden wäh-
                         Gruppen, die versuchen, jetzt afghanische Queers zu unterstützen, ist die    rend der Luftbrücke, bis zu deren Stopp am
                         Rosa Strippe e. V., Bochumer Beratungszentrum für sexuelle und geschlecht-   26. August, direkt von Personen kontaktiert,
                         liche Vielfalt. Wir sprachen Anfang September mit Alva Träbert vom Team      die verzweifelt Wege suchten, auf Evaku-
                                                                                                      ierungslisten zu kommen und Afghanistan
                         Alva, wie ist die Lage für LGBTIQ* in Afghanistan aktuell?                   zu verlassen. Viele Kolleg*innen arbeiten
                         Bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban drohten sexu-               zwar seit Jahren in der Beratung und Ver-
                         ellen und geschlechtlichen Minderheiten langjährige Haftstrafen              sorgung Geflüchteter, aber ohne praktische
                         und die Todesstrafe. In den letzten 20 Jahren hat sich die Men-              Erfahrung darin, wie wir Menschen außer-
                         schenrechtslage für afghanische LGBTIQ* nicht verbessert.                    halb Deutschlands in einer solchen Notsitu-
                         Und inwiefern ist die Situation jetzt noch schlimmer ge-                     ation unterstützen können. Wir haben uns
                         worden? Aufgrund der chaotischen Informationslage ist es                     in den vergangenen Wochen viel ausge-
                         schwierig, hierzu allgemeingültige Aussagen zu treffen. Meine                tauscht, Lösungswege gesucht, Ressourcen
                         Einschätzung ist aber, dass genau dieses Chaos den Alltag für                und Kontakte geteilt — aber auch unsere
                         LGBTIQ* noch gefährlicher macht als zuvor. Es ist unmöglich ge-              Frustration, Hilflosigkeit und Trauer. Über
                         worden, alltägliche Risiken einzuschätzen. Wie systematisch die              den LGBTIQ*-Dachverband ILGA sind wir
                         Taliban aktuell nach LGBTIQ*-Personen fahnden, ist unklar. Wo                mit Organisationen vernetzt, die regelmäßi-
Foto:
Alva Träbert von         auch immer sie jedoch sichtbar werden, ist davon auszugehen,                 gen Kontakt zu Betroffenen vor Ort haben.
Rosa Strippe e. V.,      dass sie mit massiver Gewalt rechnen müssen.                                 Das jedoch in konkrete Hilfsmaßnahmen
dem Bochumer             In Medien wird derzeit viel über die Lage von Frauen in                      innerhalb Deutschlands und der EU zu
Beratungszentrum         Afghanistan diskutiert, die sich unter den Taliban massiv                    übersetzen bleibt eine koordinatorische
für sexuelle und ge-     verschlechtern wird. Wie hängt dies mit den Bedrohungen                      und politische Herausforderung.
schlechtliche Vielfalt   für LGBTIQ* zusammen? Seit der Machtübernahme der Taliban                    Laut der religiösen Auffassung der
                         erreichen uns grausame Bilder und Nachrichten von Menschen-                  Taliban ist Homosexualität eine un-
rosastrippe.net
                         rechtsaktivist*innen, die in Afghanistan mit Gewalt, Folter und Tod          verzeihliche Sünde, die mit Stei-
                         rechnen müssen. Diese akute Bedrohung betrifft insbesondere                  nigung zu bestrafen ist. Ihr von
                         Frauen und Mädchen, aber auch alle, deren geschlechtliche und                der Rosa Strippe habt euch unter
                         sexuelle Identität von der vermeintlichen gesellschaftlichen Norm            anderem an einer gemeinsamen
                         abweicht und damit ungewollt gelebten Widerstand gegen die is-               Pressemitteilung der Bundesweiten
                         lamistische Herrschaft bedeutet. Sowohl Frauen als auch LGBTIQ*              Arbeitsgemeinschaft der psycho-
INTERNATIONAL 13

sozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF)
beteiligt. Darin wird die Evakuierung von afghanischen
Personen gefordert, die aufgrund ihrer geschlechtlichen
und/oder sexuellen Identität mit Gewalt und Tod rech-
nen müssen. Kannst du mir darüber mehr erzählen? Was
genau müsste jetzt getan werden? Zum Zeitpunkt der Presse-
mitteilung bestand die Luftbrücke noch. Wir hatten die Hoffnung,
darüber LGBTIQ*-Personen aus Kabul herausholen zu können. Nun
geht es darum, die Menschen ausfindig zu machen, die es auf die
Evakuierungsliste, nicht aber auf das Flughafengelände geschafft
haben. Natürlich gibt es viele nicht staatliche Akteur*innen, die
gerade unschätzbar wertvolle Arbeit leisten. Ich möchte aber davor
warnen, ihnen in der aktuellen Lage zu viel Verantwortung zuzu-
schreiben. Asyl ist ein Menschenrecht. Die Bundesregierung ist in
der Pflicht, dieses Recht einzuhalten und zu verteidigen.
Heiko Maas sprach Anfang August in seiner Rolle als
Außenminister davon, circa 50.000 Personen aus Afghanis-
tan aufzunehmen, deren Leben unter Taliban-Herrschaft
bedroht ist. Hat das Auswärtige Amt auch euer Anliegen
unterstützt? Stehen LGBTIQ* auf den Listen der besonders
Schutzbedürftigen? Neben der Liste der Ortskräfte gab es eine         BERLIN                 berlinlastmile.de
zweite Liste, über die andere schutzbedürftige Personen mit drin-     LAST MILE         info@berlinlastmile.de
gendem Evakuierungsbedarf an das Auswärtige Amt gemeldet
werden konnten. LGBTIQ*-Organisationen aus ganz Deutschland
                                                                      GMBH                  +49 30-230 96 30
haben dort Personen gemeldet, mit denen sie im Kontakt standen.

                                                                      COMING  
Aus dem Kontakt mit dem Auswärtigen Amt wissen wir, dass der
Schutzbedarf afghanischer LGBTIQ* als Thema präsent ist und
auch ernst genommen wird. Eine offizielle Stellungnahme dazu,
ob die gemeldeten Fälle in den nächsten Wochen und Monaten

                                                                      OF  AGE
Berücksichtigung finden, liegt aber bislang nicht vor. Wir hoffen,
dass die gemeldeten afghanischen LGBTIQ* die Möglichkeit haben
werden, einzureisen. Wie diese Einreise in der Praxis gewährleis-
tet werden kann, ist aktuell aber noch völlig unklar. Solange diese
Menschen nicht sicher angekommen sind, müssen wir den politi-
schen Druck aufrechterhalten.
Was fordert ihr ganz konkret von der Bundesregierung?
Transparenz in Bezug auf die geplanten Maßnahmen und dann                             An
die Bereitschaft, mit den zivilgesellschaftlichen Expert*innen im              intergenerational
Gespräch zu bleiben, um Lösungen zu finden, die so vielen Men-
                                                                              performance festival
schen wie möglich das Leben retten. Wenn diese Menschen hier
tatsächlich ankommen, muss ihre bedarfsgerechte Versorgung                      September 15 —
sichergestellt werden, auch im Hinblick auf ihre psychische Ge-                     November 07
sundheit und zu erwartende schwere Traumafolgen. Schutzbe-                        sophiensaele.com
dürftige aufzunehmen bedeutet mehr als nur das bloße Überleben
zu sichern. Außerdem erleben wir seit Jahren, dass viele LGBTIQ*
Asylsuchende etwa aus Pakistan und Iran abgelehnt und abge-
schoben werden. Dort ist die Menschenrechtslage für LGBTIQ*
in vielen Punkten nicht besser als in Afghanistan. Die aktuelle
Argumentation der europäischen Politik ist, dass flüchtende Af-
ghan*innen Schutz in den Nachbarländern finden könnten. Dies
ist brandgefährlich. Unsere Arbeit ist noch lange nicht getan.
Wie, denkst du, können wir als Community hier die
Queers in Afghanistan am besten unterstützen? Wir kön-
nen den politischen Druck aufrechterhalten, laut bleiben, uns
dafür einsetzen, dass die Notlage schutzbedürftiger Afghan*innen
nicht untergeht.                               Interview: Manu Abdo
14 COMMUNITY

                                                      Zündstoffe       Queere Positionen und Kritik

                                                      Ina Rosenthal, Autorin,und heteronormative Wertvorstellungen erst gar nicht infrage ge-
                                                      Coach für Non-Pro-     stellt werden.
                                                      fit-Organisationen und Aber wir Lesben wollen nicht unsichtbar sein, wir wollen in unse-
                                                      Leiterin von RuT Rad   rer eigenen Lebensrealität wahrgenommen und gesehen werden.
                                                      und Tat e. V., Gründe- Und genau an dieser Stelle kommt die lesbische Geschichte (bzw.
                                                      rin von Pinkdot, lebt, Historie) ins Spiel. Denn bis weit in die 80er-Jahre hinein war es
                                                                             möglich, dass Ehefrauen, die sich aufgrund ihres Coming-outs von
                             FOTO: CAROLINE WALBURG

                                                      schreibt und arbeitet
                                                      in Berlin              ihren Männern trennen wollten, das Sorgerecht für ihre Kinder
                                                                             verloren. Aber auch unverheirateten Müttern, die lesbisch lebten,
                                                                             wurde dieses Schicksal zugewiesen. Da war in keiner Weise die
                                                                             Rede von Bindung oder davon, welcher Elternteil die Verantwor-
                                                                                       tung und Versorgung der Kinder übernommen hatte. Oft
             Eine schriftliche Anfrage der FDP an das Bundesjustizministerium im Au- sind diese Kinder in Heimen oder Pflegefamilien zwangs-
             gust ergab, dass die Bundesregierung gegenwärtig keinerlei Pläne hat, untergekommen. Bindungen wurden gewaltsam zerstört,
             lesbische Mütter zu entschädigen, die in der Bundesrepublik jahrzehnte- die Lebensweisen der Mütter mutwillig verunglimpft und
             lang systematisch diskriminiert wurden. Ina Rosenthal kommentiert         moralisch abgewertet. Die Biografien dieser Mütter und
                                                                                       Kinder sind durchtränkt von Scham und der tiefen Wunde,
Eine Mutter im Coming-out, zwei Frauen, die gemeinsame Kinder                versagt  zu haben, weil sie leben und lieben wollten, wie es ihnen
haben, all das sollte heute kein Thema mehr sein, oder doch? Was             entsprach.
immer häufiger in den Medien als problemlos dargestellt wird, ist Im Januar 2020 wurde zum ersten Mal öffentlich auf einem Fachtag
in der Realität noch lange nicht angekommen. Auch heute noch im Bundestag ausgesprochen, dass lesbischen Müttern schwerwie-
müssen sich Mütter mit Vorurteilen in Schule und Kita, aber vor gende Diskriminierung und Unrecht in Deutschland widerfahren
allem mit der Stiefkindadoption herumärgern. Selbst dann, wenn ist. Und das ist gut. Nun müssen Taten folgen. Schauen wir einmal
das Kind in der Ehe der Mütter geboren wurde. Stellen wir uns das ganz neidfrei auf unsere Bruder-Communitys der Schwulen und
doch einmal als „Normalfall“ in einer heterosexuellen, normativen der bisexuellen Männer: Mit welch großartiger Kraft und Ausdau-
Familie vor: Dann müsste der Vater gegenüber den Behörden be- er sie um die Wiedergutmachung hinsichtlich des Paragrafen 175
weisen, dass er tatsächlich seinen Vaterpflichten nachkommt sowie gestritten haben! Es ist richtig, dass diesem Unrecht eine Wieder-
eine gute Bindung zum Kind lebt. Absurd, oder? Die „Ehe für alle“ gutmachung, wenn auch zumeist in symbolischer Höhe, und Recht
ist also keine Ehe für alle, sondern immer noch eine, die die hetero- entgegengestellt wird. Es geht aber eben nicht darum, aus dem Wie-
normativen Familienideale begünstigt und andere Lebensentwürfe dergutmachungsfonds des Paragrafen 175 auch Rechte und Wie-
benachteiligt.                                                               dergutmachung für lesbische Mütter zu fordern. Sondern es geht
Apropos Medien und Politik: Auch ein verstörendes Kapitel zum darum, das Leiden und die Ungerechtigkeit gegenüber homo-, bi-,
Thema strukturelle Diskriminierung von Lesben heißt „Queeres Fa- trans- und intersexuellen Menschen in ihren ganzen Facetten zu
milienzentrum“. Vor nicht allzu langer Zeit haben wir in Berlin er- benennen und ihnen allen einen Platz in unserer Geschichte und
leben müssen, dass ein Verein, der sich seit vielen Jahren aktiv für gegenwärtigen Realität einzuräumen.
die Belange von Regenbogenfamilien einsetzt, den Zuschlag nicht Der Kampf um den Paragrafen 175 zeigt uns, dass es möglich ist.
bekommen hat, weil das Konzept „zu lesbisch“ war. Wie genau das Der Staat Deutschland ist in der Lage, für seine Geschichte Verant-
gehen sollte, habe ich nicht verstanden – schließlich ist es doch eine wortung zu übernehmen. Deshalb benötigen wir Mittel für die Er-
Tatsache, dass 90 Prozent aller Regenbogenfamilien lesbisch bzw. forschung des Unrechts an lesbischen Müttern und wir brauchen
Frauen*familien sind.                                                        einen eigenen Entschädigungsfonds. Dies wäre ein klares gesell-
Die Lesbe an sich, auch das ist eine Realität, ist in der Gesellschaft schaftliches und politisches Zeichen, um lesbisches Leben, auch im
nicht gern gesehen – nicht als Mutter und nicht als Aktivistin. Auch Gestern, sichtbar zu machen.
deshalb ist es im Alltag oft einfacher, uns unsichtbar zu machen. Da Wir leben immer noch nicht in einer Gesellschaft, in der Menschen
ist der irgendwie wohlwollende (ich gehe jetzt einfach mal davon unabhängig davon, welches Geschlecht sie sich zuweisen und/oder
aus) Kommentar: „Ach, Sie leben mit einer Frau zusammen? Sie welche Menschen sie begehren, frei von Diskriminierung sind. Aber
sehen gar nicht aus wie eine Lesbe“, nichts anderes als Diskrimi- genau das muss unser Ziel sein. Erreichen können wir dies, wenn
nierung mit deutlich homophobem Unterton. Wenn diese Form von wir zusammenarbeiten. In diesem Sinne, liebe Freund_innen* aus
Unsichtbarmachung nicht gelingt, dann unterteilt man uns auch allen Communitys: Wir können viel voneinander lernen und viel
gern in den männlichen und weiblichen Part, damit patriarchale füreinander tun. Fangen wir an!
Register your contact details at https://register.berghain.de
                                                                                                                                  of full vaccination or recovery and personal photo ID.
                                                                                                                                  For all club visits the 2G-protocol applies: Please bring digital proof
                                                                                                                                  Further details at www.berghain.berlin.
                                                                                                                                  Klubnacht is back, every Saturday in October …

                                                                                                                                                                                                            Kontaktdaten registrieren unter https://register.berghain.de
                                                                                                                                                                                                            vollständigem Impfschutz oder Genesung sowie Lichtbildausweis mitbringen.
                                                                                                                                                                                                            Für den Klubbesuch gilt die 2G-Regel: Bitte digitalen Nachweis von
                                                                                                                                                                                                            Weitere Details auf www.berghain.berlin
                                                                                                                                                                                                            Es gibt sie wieder, unsere Klubnacht, und zwar jeden Samstag im Oktober …
                                                                                                         Doris Belmont
                                                                                                         geistert durch die
                                                                                                         Berliner Szene, mes-
                                                                                                         meriert ihr Publikum
                                                                                                         mit dem Charme einer
                                                                                                         Gründerzeit-Biblio-

                                                                                                                                                                                                                                                                                        Wir sind zurück …
                                                                                                         thekarin und engagiert
                                                                                                         sich leidenschaftlich
                                                                                                         in der Deutschen
                                                                                                         Nagelpilzstiftung

                                                                                                         facebook.com/
                                                                                                         belmontdoris

                                                                         FOTO: MATTHES VON BIEBERSTEIN
                                                                                                         instagram.com/
                                                                                                         doris_belmont

Abgeschminkt
von Doris Belmont
Meine lieben Herbstanemon*innen, ich komme          nen einen antisemitischen Anstrich bekommen.
diesmal gleich zur Sache: Gerade in den letzten     Ich warte bis heute auf den Shitstorm aus der
Monaten offenbarten sich mir häufiger gewisse       Community, ist eine unreflektierte Pro-Palästi-
Doppelstandards, die in unserer sogenannten         na-Haltung, die vor allem laut „Buttons“-State-
Community an der Tagesordnung sind. Und da          ment ein zutiefst queeres Anliegen sei, doch
muss ich jetzt mal was zu sagen.                    durchaus nicht frei von Zynismus. Schließlich
Was meine ich? Ein schönes Beispiel ist der         gilt Israel bis heute als das einzige Land in der
Berliner „Internationalist Pride“ in diesem         Region, in dem uns LGBTIQ* keine drakoni-
Sommer. Dieser „alternative CSD“ wurde vom          schen Strafen erwarten. Mir ist an dieser Stelle
israelfeindlichen BDS Berlin mitorganisiert,        wichtig, Folgendes klar zu sagen (auch wenn
einer politischen Kampagne, die Israel u. a.        das vermutlich jetzt gerne überlesen wird):
als Apartheidsstaat bezeichnet. Daraus wurde        Kritik an menschenrechtsverletzender Politik,
im Vorfeld kein Geheimnis gemacht und das           auch an der des israelischen Staates, ist aus-
schien offenbar niemanden zu stören: Hey, im        nahmslos legitim! Aber dennoch ist nicht von
                                                                                                                                                                                                                                                                                        We are back …
Aufruf stand ja auch klein „gegen Antisemitis-      der Hand zu weisen, dass sogenannte Israel-
mus“, und immerhin ging es dort auch um             kritik sehr oft mit Antisemitismus einhergeht ...
Antikapitalismus oder so. Mit dieser oberfläch-     bzw. es im Kern eigentlich um Antisemitismus
lichen Haltung nahmen auch einige Freund*in-        geht, der nur schlecht versteckt wird. Dass
nen von mir am „Internationalist Pride“ teil,       dieser unter einigen linken Queers einfach hin-
ebenso manche Szenefigur. Persönlichkeiten,         genommen wird, nervt gewaltig.
die bei antirassistischen Veranstaltungen und       Doch wie schaffen wir es, Antisemitismus klar
Themen gern an vorderster Front mitkritisieren.     zu erkennen? Nun, der Unterschied zwischen
Das bisschen Israelhass war hier aber offen-        legitimer Kritik und antisemitischen Bildern
sichtlich kein triftiger Grund, der Veranstaltung   lässt sich relativ leicht mit der „Drei-D-Regel“
fernzubleiben. Ungefähr zur selben Zeit ver-        offenlegen: Dämonisierung, Doppelstandards,
abschiedete sich die „Buttons“-Party nach           Delegitimierung. Das heißt: Sobald Israel dä-
jahrelanger Zusammenarbeit aus den Räum-            monisiert wird, also als „Symbol“ für etwas Ne-
lichkeiten des about blank. Begründung: die         gatives herhalten muss; wenn gesagt wird, der
israelfreundliche Haltung des Ladens. Es gab        Staat als solcher dürfe nicht existieren; oder
viel Applaus zu dieser Entscheidung.                wenn Israel anders bewertet wird als andere
Es ist verblüffend, dass bei dem in queeren         Staaten, ist das Antisemitismus.
Kontexten weit verbreiteten Hang zur morali-        Abgeschminkt betrachtet, bleibt mir nur der
schen Empörung offensichtlich kaum Kritik laut      dringende Appell: Lasst uns bitte auch bei Anti-
wird, wenn sogenannte antirassistische Aktio-       semitismus aufmucken! Eure moralische Doris
16 COMMUNITY

                                                                                                                                          Foto:
                                                                                                                                          Die schwulen
                                                                                                                                          Schrebergärtner vom
                                                                                                                                          YouTube-Blog „Unser
                                                                                                                                          Kleingarten“: Martin,
   Georgette Dee                                                                                                                          Tim und Robert (v. l.
                                                                                                                                          n. r.)
  & Die Dreamboys
      Traum-Zeit-Gesänge
             12. – 17. Oktober

Tickets 030. 883 15 82 // www.bar-jeder-vernunft.de

                                                                           SCHWULE SCHREBERGÄRTNER

          Tim Fischer                                                      Szene machen
    Zeitlos – Cabaret Berlin                                               Tue Gutes im Garten – und rede darüber! So könnte das Motto von Tim, Robert und Mar-
             19. – 23. Oktober                                             tin lauten. Seit Februar bewirtschaften die drei eine Parzelle in Pankow und berichten
                                                                           davon auf YouTube. 1.660 Fans verfolgen schon, wie sie ein verwuchertes Stück Land
Tickets 030. 883 15 82 // www.bar-jeder-vernunft.de
                                                                           in eine Oase verwandeln – und die Schrebergartenwelt ein bisschen schwuler machen

                                                        youtube.com/c/     Im Frühjahr hatten Tim und sein Ar-         se seltener beim CSD rumspringen.“
                                                        UnserKleingarten   beitskollege Robert recht spontan die       Ihr Bezirksverein ist angetan und be-
                                                                           Möglichkeit, eine Gartenparzelle in         wirbt die Videos auf seiner Website.
                                                                           Pankow zu bekommen. Das lag daran,          Tim hat in den letzten Monaten ge-
                                                                           dass diese seit zehn Jahren nicht ge-       lernt, dass die Schrebergärtnerei eine
                                                                           pflegt worden war. Der zuständige           wichtige soziale Dimension hat: „So
                                                                           Verein Rosenthal Süd war froh, end-         eine Kleingartenanlage ist kein reines
                                                                           lich tatendurstige Nachpächter gefun-       Privatvergnügen. Es geht auch darum,
                                                                           den zu haben.                               Naturräume zu pflegen und Nah-
         Hotel                                                             Anfangs galt es erst mal, Unrat und         erholungsgebiete zu erhalten.“ Und

     Gl’Amouresque                                                         gefällte Bäume abzutransportieren.
                                                                           Mit jedem Arbeitsschritt kam der ur-
                                                                                                                       die sollten offen sein für alle, auch für
                                                                                                                       Spaziergänger*innen. Das ist nicht
    Sheila Wolf präsentiert                                                sprüngliche Garten mehr und mehr            selbstverständlich, manche Anlagen
     ‚Die Gl’Amouresque‘                                                   zum Vorschein. „Beim Mähen und              kapseln sich ab. Das findet Tim falsch.
 22. & 23. Oktober / 27. November                                          Jäten haben wir plötzlich einen wun-        Die Kosten für eine Parzelle sind hoch
                                                                           derschönen Kopfsteinpflasterweg             und nur wenige können sich das leis-
Tickets 030. 883 15 82 // www.bar-jeder-vernunft.de
                                                                           entdeckt“, erzählt Tim. In mehr als 30      ten. Bei ihnen waren es 10.000 Euro
                                                                           YouTube-Folgen kann alle Welt den           Ablöse, dazu kommen 800 Euro pro
                                                                           Fortschritt verfolgen: Heckenschnitt,       Jahr für Pacht und Nebenkosten. „Ein
                                                                           Beetgestaltung, Teichaushub, erste          Kleingarten kann schnell zum elitä-
                                                                           Ernte. Jede Woche gibt es ein neues         ren Vergnügen werden“, sagt Robert,
                                                                           Video, das den Fortschritt dokumen-         „aber dann verliert er seine soziale
                                                                           tiert.                                      und politische Bedeutung.“
                                                                           Doch online präsentieren sie nicht nur      In ihren Videos berichten die drei des-
                                                                           Gartentipps wie viele andere, sondern       halb auch aus anderen Gärten. Und
                                                                           auch eine Art „Gay Gardening Show“.         auch in ihrem Paradies ist Besuch
                                                                           Robert und Martin sind ein Paar, Tim        willkommen. Im nächsten Sommer
      URSLI & TONI PFISTER ALS                                             gibt die „Gartendiva“ – das ist von Folge   planen die schwulen Kleingärtner

     CINDY & BERT
    MIT DEN JO ROLOFF-SINGERS & BAND
                                                                           eins an klar. „Wir nutzen unseren
                                                                           Kanal auch, um auf Themen wie den
                                                                                                                       eine Mini-CSD-Demo. Angeführt von
                                                                                                                       einem Aufsitzmäher.        Philip Eicker
                                                                           IDAHOBIT* hinzuweisen“, sagt Tim,
    So, als ob du schwebtest
                                                                           „gerade weil Leute aus der Gartenbla-
              20. 10. – 28. 11.
Tickets 030. 39 06 65 50 // www.tipi-am-kanzleramt.de
Sie können auch lesen