WIR MÜSSEN REDEN, HERR RAUSCHER
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WIR MÜSSEN REDEN, HERR RAUSCHER VON H. W. VALERIAN „LIEBE LEHRER! LIEBE FRÜHPENSIONISTEN!“, so übertitelte Herr Rauscher einen Kommentar im Standard (2. November 2011) und begann mit einer etwas ungewöhnlichen Lamentatio: „Wann immer ein Journalist Kritisches über die Zustände im Lehrbetrieb an den Schulen oder über die Frage der Berechtigung so vieler Frühpensionen schreibt, erntet er wütende bis unter- griffige Reaktionen...“ So auch dieser Kolumnist für zwei Texte in der letzten Zeit: In dem einen wurde festgehalten, dass die Eurokrise zwar auch durch die internationale Finanzspeku- lation mitverursacht wurde, dass diese Krise aber vor allem eine ausufernder Staatsschulden ist. Und dass ein Hauptgrund für die überbordenden Staatsschul- den leider auch die (europäischen bzw. österreichischen) Pensionssysteme sind. In einer anderen Glosse wurde der Fall referiert, wo sich rund 60 Lehrer und Lehrerinnen des Sozialdemokratischen LehrerInnenverbandes (SLÖ) zu einer 13- tägigen „Bildungsreise“ nach Südostasien mit komplettem Touristenprogramm aufmachten. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Reaktionen sei davon ausgegangen, er sei ein Lehrer- und Frühpensionistenhasser und habe überdies persönliche Gründe für seine Kritik. „Leute, wir müssen reden“, fleht Hans Rauscher infolgedessen. Nun wird man sicherlich zugeben können, dass besonders Lehrer leicht angerührt sind, wenn’s um ihr öffentliches „Image“ geht, wie’s so hässlich heißt. Ich kann das sagen, weil ich persönliche Erfahrung habe – ich war nämlich bis vor kurzem Lehrer und damit natürlich auch Beamter, und jetzt bin ich Frühpensionist. Da kommt so ziemlich alles zusammen, wogegen Herr Rauscher schreibt. Eben darin liegt freilich auch der Grund, warum ich so spät – mehr als ein Jahr später – erst antworte. Ich hab’ nämlich gearbei- tet, Leute. Da hatte ich einfach keine Zeit. 1
Immerhin liegt meine Position nun offen auf dem Tisch. Wie das beim Herrn Rauscher ist, das wird sich herausstellen. Vorläufig wollen wir bloß festhalten: Die verzweifelten Aufrufe – „noch einmal: Leute, wir müssen reden!“ – die gelten ganz offensichtlich so jemandem wie mir. Nun gut, Herr Rauscher, ich würd’ auch gern reden. Fangen wir gleich an mit den Lehrern des SLÖ: Eine 13-tägige Asien-„Bildungsreise“ für Lehrer im Herbst (nicht ganz zwei Monate nach den großen Ferien, nicht ganz zwei Monate vor den Weihnachts- ferien) so zu legen, dass möglichst viele (nämlich fünf) „Fenstertage“ (=Schul- )Tage genutzt werden, und mit dieser „traumhaften Feiertagskombination“ auch noch zu werben ist eine Provokation. Dienstrechtlich mag alles abgesichert sein (siehe Leserbrief unten), aber gerade dieses Dienstrecht ist ja das Problem. Die „schulautonomen Tage“, die solche Asien-„Bildungsreisen“ ermöglichen, tragen dazu bei, eine leistungsstarke Schule zu verhindern. Entscheidend sind die alar- mierenden Ergebnisse: Wenn 20 Prozent der 15-Jährigen nicht lesen und schrei- ben können, ist unser Wohlstand gefährdet. Da steckt ziemlich viel drinnen, und wir müssen uns bemühen, das ein biss- chen zu entwirren. Also erstens: Der „Leserbrief unten“ bezieht sich auf die Stellungnahme eines Herrn Reinhard Dumser, seines Zeichens Bundes- vorsitzender der Sozialdemokratischen Lehrer/-innen Österreichs (SLÖ). „Rund 65 Prozent der Teilnehmer/-innen“ an den vom SLÖ veranstalteten Bildungsreisen, so der Vorsitzende, seien „Lehrer/-innen, Direktor/-innen und Schulaufsichtsbeamte im Ruhestand“, die Aktiven seien „überwiegend Dirktor/-innen ohne Unterrichtsverpflichtung“. Wo es möglich ist, gehen die Teilnehmer/-innen einen Diensttausch ein. Ich per- sönlich habe vor Antritt der Reise um Genehmigung angesucht, meine unbe- zahlten Überstunden dafür verwenden zu dürfen (Gleitzeitausgleich). Wie klingt das? Nicht gerade einladend: „Überwiegend Direktor/-innen“. (Immerhin muss man den Herrn Dumser bewundern für seinen eifrigen Einsatz von Schrägstrichen.) Die richten sich’s halt. Direktoren können so was machen – die sind nämlich häufig nicht in der Schule: eine Sitzung da, eine Tagung dort. Das fällt kaum noch auf, außer vielleicht im positiven Sinne – dann können die Lehrer nämlich in Ruhe arbeiten. „Nur ein ab- wesender Chef ist ein guter Chef“, pflegte ich in jungen Jahren zu kalauern. Bloß kann man „überwiegend Direktoren“ (Schrägstrich etc.) und noch dazu 65 Prozent davon im Ruhestand schwerlich als typisches Beispiel für das Verhalten von Lehrern vorführen, oder? Ebenso wenig den SLÖ. Von dieser Organisation habe ich nämlich meiner Lebtag nichts gehört. 35 Jahre 2
im Lehrberuf, Personalvertretung, Gewerkschaft (pfui, man sieht schon, wes Geistes Kind ich bin!) – nie gehört. Keine Ahnung. Wer sind die? Wie viele Mitglieder? Was tun die, außer Bildungsreisen für Direktoren veran- stalten? An der Basis, in der Schule nämlich, habe ich solches überhaupt niemals erlebt: dass sich Lehrer – echte Lehrer, meine ich, und Lehrerinnen, versteht sich – dass sich Lehrer also zusätzlich zu den so genannten schulautonomen Tagen noch Ferien herausgenommen hätten. Das wäre auch schwer mög- lich: Wenn überhaupt, ginge das nur mittels Stundentausch. Damit müsste aber zumindest der Direktor einverstanden sein, wenn nicht gar der Landes- schulrat; und dann müssten solcherart Ferienhungrige auch noch Kollegen oder Kolleginnen finden, die bereit wären, da mitzumachen. Einen Zeitaus- gleich gibt’s für Lehrer nicht. Wobei an dieser Stelle vielleicht ein paar Worte zu den „schulautonomen Tagen“ notwendig werden. Nach derzeitigem Stand gibt es fünf solcher Tage im ganzen Schuljahr. Davon werden zwei vom jeweiligen Landes- schulrat bestimmt. Bleiben also drei an jeder Schule. Die werden im so genannten Schulgemeinschaftsausschuss beschlossen, in dem Lehrer, Eltern und Schüler gleichberechtigt vertreten sind. Geregelt ist das alles durch das Schulzeitgesetz 1985 (§ 2 Abs. 5). Und das ist alles andere als geheim, kein bürokratischer Dschungel oder so. Man braucht bloß einzutippen auf dem Computer: „schulautonome Tage“, und schwupps ist man auf der Seite „Ferientermine“ des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst.1 Wirklich zu viel verlangt? Es wird manchmal beklagt, dass diese schulautonomen Tage nur noch dazu dienen, zusätzliche Ferien zu konstruieren. Ursprünglich wären sie wohl für die Weiterbildung der Lehrer gedacht gewesen – pädagogische Konferenzen und dergleichen – oder fallweise für spezielle lokale Notwen- digkeiten. Das mag zutreffen. Allerdings muss solche Kritik in erster Linie jene vom Landesschulrat verordneten freien Tage betreffen – da handelt es sich nämlich um auffällige „Fenstertage“. Außerdem sollte der Vollständig- keit halber festgehalten werden, dass sich bisher nicht bloß Lehrervertreter gegen eine Änderung dieses Paragraphen im Schulzeitgesetz gestemmt 1 http://www.bmukk.gv.at/schulen/service/ferien/index.xml. 3
haben, sondern ebenso vehement die Vertreter der Schüler und Schülerin- nen. Wenn’s einem nicht passt, dann müsste man sich also auch an die wenden. Eins steht allerdings schon fest: Ganz egal, wie man diese schulautono- men Tage einschätzt – vernünftig, sachlich gerechtfertigt, oder auch nicht – mit dem Dienstrecht der Lehrer haben sie nichts zu tun.2 Ob letzteres nun veraltet ist oder nicht, ob’s geändert werden soll oder nicht – darüber kann man der einen oder der anderen Meinung sein, man kann reden, streiten, kämpfen. Aber an den schulautonomen Tagen kann man’s nicht aufhängen. Die stehen in einem anderen Gesetz. Andere Baustelle. Trotzdem: Das Dienstrecht, so erfahren wir vom Herrn Rauscher, das Dienstrecht sei das eigentliche Problem. Die schulautonomen Tage verhin- dern eine „leistungsstarke Schule“. 20 Prozent der 15-Jährigen können nicht lesen und schreiben. Unser Wohlstand ist in Gefahr! Na ja – darin können wir immerhin zustimmen: Ausbildung und Bil- dung, das sind wirklich wichtige Voraussetzungen für unsere Zukunft, in Österreich im besonderen und in Europa desgleichen. Und dass es da Defi- zite gibt – selbst wenn sie nicht ganz so drastisch sein mögen, wie von Herrn Rauscher befürchtet –, das weiß ich als alt gedienter Lehrer der Sekundarstufe II nur zu gut, da brauche ich keine Studien und keine Statis- tik. Aber die Ursachen? Nun, darüber wird viel, ausführlich und wahr- scheinlich unaufhörlich gestritten, besonders von Leuten, die – so wie der Herr Rauscher – ziemlich weit vom Schuss sind. Eines kann man aber mit ziemlicher Sicherheit sagen: Fünf schulautonome Tage, von denen zwei ohnehin nicht schulautonom sind – die können’s wohl kaum sein. Oder will uns irgendjemand allen Ernstes weismachen, unsere ganze Schulmisere sei gelöst, wenn wir die Schulen an ein paar Fenstertagen offen halten? An denen ein Drittel der Schüler und Schülerinnen ohnehin nicht kommt, zum Beispiel deshalb, weil sie mit ihren Eltern auf Urlaub sind? Was soll das sein – Wolkenkuckucksheim, oder was? Wenn man mich fragt, als einen Lehrer, der unser Schulsystem seit 1977 kennt, und zwar von innen – wenn man mich also fragt, was denn die Ur- sache sei für den stetig sinkenden Ausbildungs- und Bildungsstand unserer 2 Vgl. Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979, besonders § 219: „Ferien und Urlaub“. 4
Schüler und Schülerinnen, dann werde ich spontan antworten: die Pädago- gik. Die Erziehungswissenschaft. Ich weiß schon, das verblüfft. Das ist so gar nicht, was der Zeitgeist gebietet, ganz im Gegenteil. Ich versteif’ mich auch gar nicht drauf, Recht zu haben. Es handelt sich ja um eine spontane Antwort. Was ich niemals behaupten würde, eingedenk so vieler, so langer, so heftiger und so fruchtloser Schuldebatten in meinem Leben, was ich also niemals behaupten würde: im Besitz der einzigen, der ausschließlichen und alles erklärenden Wahrheit zu sein. Trotzdem bin ich überzeugt, nicht völlig falsch zu liegen. Warum? Weil ich’s mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört hab’. So etwas missachtet man zu seinem eigenen Nachteil. Ja – und genau darüber würd’ ich gern reden mit Ihnen, Herr Rauscher. Wie ist es möglich, dass Sie über die schulautonomen Tage schreiben, ohne über die Ferienordnung Bescheid zu wissen? Obwohl sie doch so einfach im Internet abgefragt werden kann? Wie ist es möglich, dass Sie übers Dienst- recht der Lehrer klagen, ohne zu wissen, was es beinhaltet? Wie ist es mög- lich, dass Sie von den schulautonomen Tagen auf die Lese- und Recht- schreibschwäche unserer Jugendlichen schließen, ohne je wirklich über den Zusammenhang nachgedacht zu haben? Wie ist es, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, überhaupt möglich, dass Sie die Eskapaden eines obskuren Vereins von Direktoren und Direk- torinnen zum Anlass nehmen, grundsätzlich über Lehrer, Lehrerinnen, die Schule zu schreiben? Sagen Sie – erinnert das nicht ein bisschen an die notorische Taferl-Methode des Jörg Haider? (Ich weiß schon, Sie waren und sind ein erbitterter Gegner desselben, wofür ich Sie schätze. Aber trotzdem – und umso schlimmer...) Wie können Sie, kurz gesagt, derart schlampig arbeiten? Gewiss, gewiss, Fehler macht jeder – aber Sie, als hochbezahlter Top-Journalist? Vielleicht der Kolumnist in Österreich? Könnten wir nicht vielleicht darüber reden, Herr Rauscher? Und die „Leute“, die Sie da bemühen: warum haben Sie denn nicht mit denen geredet, bevor Sie Ihre Kolumne geschrieben haben? Die hätten Ihnen vielleicht sagen können, wo’s hapert mit Ihrer Argumentation. Warum, Herr Rauscher, hab’ ich als Lehrer nun schon seit – na ja, sagen wir: seit zwanzig, fünfundzwanzig Jahren das Gefühl zu ersticken, kaum öffentlich über die Schule geredet wird? Nicht wegen der Meinungen – da kann man so denken, oder so, oder noch einmal anders. Sondern einfach 5
deshalb, weil die offensichtlichen, die augenscheinlichen Tatsachen nicht zur Sprache kommen. Die diese Tatsachen kennen, die Lehrer an der Basis, die werden nie gefragt, nie. Die haben keine Stimme, die sind nicht interes- sant. Wenn schon, dann kommen Vertreter zu Wort: Lehrervertreter, Eltern- vertreter, Schülervertreter. Aber wär’ nicht eben dies die Aufgabe des Journalismus: hinauszugehen, zu versuchen, die soziale Wirklichkeit zu sehen und zu schildern? Nicht bloß Presseaussendungen abzudrucken, Pressekonferenzen nachzubeten, Interviews, Statistiken. Und liegt darin nicht auch eine Gefahr für unsere Zukunft, vielleicht sogar eine noch größere: dass der Informationsfluss von unten nach oben abgerissen ist, dass wir nicht mehr wissen, was in der sozi- alen Wirklichkeit vorgeht, es gar nicht mehr wissen wollen? Leute, wir müssen reden, sehr wohl. Darüber. Und vor allem würd’ ich darüber gern mit Ihnen reden, Herr Rauscher! ABER DANN GEHT’S DEM HERRN RAUSCHER JA NOCH UM ETWAS ANDERES. Es geht um die „Privilegien“ von Lehrern, Beamten und (Früh-)Pensio- nisten. (So wie der Herr Dumser mit den Schrägstrichen scheint’s der Herr Rauscher mit den Klammerausdrücken zu haben.) Um das, was ihnen „bul- lige Interessenvertreter und eine schwache, populistische Politik eingeräumt haben.“ Aber diese Politik hat eben in die Bredouille geführt. In ganz einfachen Zügen nachgezeichnet: Die Staaten haben sich überschuldet, um soziale Wohltaten weiterhin finanzieren zu können, die durch Beiträge und Steuern längst nicht mehr gedeckt sind. Griechenland ist der Extremfall, Österreich steht aber schon unter verschärfter Beobachtung der Ratingagenturen. Der Staatszuschuss zu den Pensionen ist binnen weniger Jahre auf zehn Milliarden Euro gestiegen. Das wird zum Großteil auf Schulden finanziert. Wenn Österreich sein Super-Rating (AAA) verliert, womit 2012 zu rechnen ist, müssen wir noch höhere Zinsen zahlen. Das ist der Weg nach Griechenland. Ah, so ist das also: Die Lehrer, die Beamten und die Pensionisten sind schuld, ob nun Früh- oder nicht. Soziale Wohltaten im Allgemeinen! Der Weg nach Griechenland! Da zieht ein ehemaliger Lehrer, folglich auch Beamter, und obendrein noch Pensionist schuldbewusst den Kopf ein. Ehrlich – so was von Sozialschmarotzern. Kosten dem geliebten Österreich das Triple-A. Landesverräter, zu allem anderen dazu! 6
Nun möchte ich dem Herrn Rauscher in diesem Punkt nicht direkt widersprechen. Man kann das, wenn man will, durchaus so sehen – anders als bei der eindeutigen Sachlage in Bezug auf schulautonome Tage, Gesetze und Standards in der Schule. Worüber ich im Folgenden reden möchte – in diesem Falle nicht mit dem Herrn Rauscher, sondern mit den Leuten – worüber wir also reden sollten, liebe Leute, das ist die Frage, ob man’s nicht auch anders sehen kann. Fangen wir mit Griechenland an, dem bösen Griechenland. Immerhin sagt der Herr Rauscher nicht „die Griechen“. Ein dickes, fettes Hurra für ihn. Das hat sich nämlich inzwischen eingebürgert bei unseren werten Herren und Damen Journalisten: „die Griechen“ machen Schulden, leben über ihre Verhältnisse, arbeiten zu wenig, zocken ab. Und geh’n dann noch viel zu früh in Pension. Wirklich? Die Kellner aus dem Hotel, wo Sie vielleicht einmal Ihren Urlaub verbracht haben? Die Putzfrauen, die Busfahrer, die Verkäuferin im Souvenierladen? Glaubt ihr das wirklich, liebe Leute? Wie es sich trifft, ist inzwischen eine Studie herausgekommen, die ein bisschen etwas anderes aussagt. Die Autoren haben herausgefunden, dass Griechenlands Selbständige – bloß die Selbständigen, noch gar keine Unternehmen! – im Jahre 2009 nicht weniger als 28 Milliarden Euro an Steuern hinterzogen haben. Und was bedeutet das? GDP for 2009 was 235 billion euros, and the tax base in Greece was 98 billion euros; thus our magnitude is very meaningful. At the tax rate of 40%, the fore- gone tax revenues would account for 31% of the budget deficit shortfall in 2009 (or 48% for 2008).3 Ihr habt richtig gelesen, liebe Leute: fast ein Drittel des Budgetdefizits von 2009 und fast die Hälfte von 2008! Und wer, bitte sehr, sind diese Herrschaften? Nun, auch darauf können die Autoren der Studie eine Antwort geben: Primary tax-evading occupations are doctors, engineers, private tutors, account- ants, financial service agents, and lawyers. (S. 2) 3 Nikolaos Artavani, Adair Morse, Margarita Tsoutsoura, „Tax Evasion Across Industries: Soft Credit Evidence from Greece“, The University of Chicago, Booth School of Business: Fama-Miller Center for Research in Finance, 2012, http://ssrn.com/abstract=2109500 (Stand: 11. November 2012), S. 4. 7
An anderer Stelle kommt’s sogar noch dicker. Da stoßen die Autoren auf eine Gesetzesvorlage im griechischen Parlament, die bei elf ausgewählten Berufen Überprüfungen vorgeschrieben hätte, sobald das offiziell gemeldete Einkommen unter ein bestimmtes Minimum fiel. Und diese Berufe deckten sich ziemlich genau mit jenen, welche schon vorher in der Steuerhinter- ziehungs-Studie aufgefallen waren: „doctors, dentists, veterinarians, lawyers, architects, engineers, topographer engineers, economists, firm consultants and accountants“ (S. 5). Der Witz dabei: die Gesetzesvorlage ist durchgefallen. Kein Gesetz, bitte schön. Abgelehnt! Da steckt, wie die Autoren besagter Studie festhalten, auch eine politische Geschichte drin: Our political economy story is that parliamentarians lacking the willpower to pass tax reform may have personal incentive related to their industry associations, which are very strong in Greece. We find that indeed the occupations represented in Parliament are very much those which tax evade, even beyond lawyers. Half of non-lawyer parliamentarians are in the top three tax evading industries, and nearly a supermajority in the top four evading industries. (S. 5) Die im Parlament sitzen, hinterziehen Steuern, und die Steuern hinter- ziehen, die sitzen im Parlament. Nicht umsonst wird ein Mitglied der berüchtigten Troika – jener strengen Herrschaften, die den Griechen das Sparen lehren sollen – nicht umsonst wird ein Mitglied dieser Troika also anlässlich einer weiteren Verhandlungsrunde auf höchster Ebene mit den Worten zitiert: „If I could get everyone in this room to pay their taxes, I wouldn’t need to be here.“4 Fragt sich bloß – wo bleiben da „die faulen Griechen“? Und wo bleiben die Frühpensionisten (mit oder ohne Klammern), die Lehrer und die Beamten? Na ja, werden Sie jetzt sagen: in Griechenland! Weit weg, Balkan, wenn man’s genau nimmt. Also schön – reden wir über Österreich. Dass bei uns die Beamten zu viel verdienen, dank ihrer „bulligen Interessenvertreter“, das ist doch allgemein bekannt, oder? Dass die Lehrer zu wenig arbeiten. Und dass die Leute zu früh in den Ruhestand treten. Zehn Milliarden Staats- 4 „Tax Evasion in Greece: In Flagrante“, The Economist, Sept 4th, 2012, http://www.economist.com/ blogs/freeexchange/2012/09/tax-evasion-greece (accessed 24 November 2012). 8
zuschuss zu den Pensionen! Wer kann sich so was leisten? Das muss doch den Staat ruinieren! Nun habe ich in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren selbst allerlei ler- nen müssen. Zum Beispiel, dass wir in so mancher Hinsicht in einer neuen Zeit leben, einer ganz neuen Zeit; und zwar besonders dann, wenn’s um Geld geht, um die Finanzen. Da tun sich heute nämlich Größenordnungen auf, die wir nicht gewohnt sind, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. Ich meine – die größten Unternehmen der Welt haben einen Jahresumsatz irgendwo zwischen 400 und 500 Milliarden Dollar.5 Sagt Ihnen das was? Das österreichische Budget bewegt sich im Rahmen von 75 Milliarden Euro.6 Der reichste Mann der Welt soll 2012 angeblich ein Reinvermögen von 69 Milliarden Dollar sein eigen genannt haben, Bill Gates immerhin noch 61 Milliarden.7 Das sind die Größenordnungen. Und deshalb habe ich’s mir zur Ange- wohnheit gemacht, immer ein bisschen nachzuforschen, wenn mir solche Zahlen ins Gesicht geschmissen werden: Staatszuschuss auf zehn Milliarden gestiegen. Können wir uns nicht leisten. Mag ja sein. Aber dann stößt man – unter vielen anderen – auch auf folgende Zahlen, dieses Mal von der Arbeiterkammer Oberösterreich: Das Finanzvermögen der Euro-Millionäre in Österreich betrug 2008 noch 185 Milliarden Euro. Bis zum Jahre 2014 dürfte es auf 315 Milliarden Euro steigen. Wohlgemerkt: Wir reden hier bloß vom Finanzvermögen – keine Immobilien, kein Grundbesitz, keine Häuser! Und dieses Finanzvermögen würde – den vorliegenden Zahlen zufolge – pro Jahr um 21 bis 22 Milliar- den Euro anwachsen. Ja, ja – Sie haben richtig gelesen: bloß das Finanz- vermögen. Und bloß anwachsen! 21 bis 22 Milliarden Euro. Pro Jahr!8 5 „Global 500“, Fortune, July 23, 2012, http://money.cnn.com/magazines/fortune/global500 /2012/ full_list/ (accessed 28 November 2012). 6 Bundesministerium für Finanzen, „Budgetentwurf 2013: Übersicht“, http://www.bmf.gv.at/Budget/ Budgetsimberblick/Sonstiges/Budgetsimberblick/Budgetentwurf2013/_start.htm (Stand: 28. November 2012). 7 „The World’s Billionaires“, Forbes 9.19.12, http://www.forbes.com/billionaires (accessed 26 November 2012). 8 AK Oberösterreich, „Verteilung der Vermögen in Österreich“, August 2011, http://www.arbeiterkammer.com/bilder/d155/B_2011_Vermoegenssteuer_NEU.pdf (Stand: 28. November 2012), S. 10. 9
Verstehen Sie mich recht: Ich sag’ nicht, dass man diesen Zuwachs einfach wegsteuern sollte, und dann wär’ das Budgetloch gestopft. Und schon gar nicht möchte ich vorgeben, ich sei ein Steuer-, Wirtschafts- oder Finanzexperte. Keineswegs! Es geht bloß um die Größenordnungen. Es geht drum, was das heutzutage bedeutet: zehn Milliarden Staatszuschuss. Je länger die Misere andauert, die uns der Neo-Liberalismus eingebrockt hat, desto offensichtlicher wird auch, dass das Problem der europäischen Nationalstaaten (und ebenso der USA) nicht nur in den steigenden Staatsausgaben begründet liegt. Das wird uns zwar immer vorgekaut und eingebläut: Die berühmte Kleinfamilie – Mama, Papa, Buali, Pepi-Tant’ –, die ja auch nicht mehr ausgeben kann, als sie verdient. Leuchtet ein, oder? Bloß sollte uns halt, bei aller Biederkeit, etwas anderes ebenso einleuchten: Wenn besagte Kleinfamilie plötzlich nicht mehr mit dem Geld auskommt, dann könnte das ebenso gut daran liegen, dass Mama, Papa nicht das verdienen, was ihnen zusteht. Vielleicht wär’ eine Lohnerhöhung angebracht. Oder eine Rechtsberatung. In Deutschland, so erfahren wir, dürfte die Gesamtverschuldung der Öffentlichen Hand bis zum Jahre 2020 auf 2,5 Billionen Euro ansteigen (eine Billion = tausend Milliarden). Und das trotz der so genannten Schul- denbremse. Schlimm, schlimm! Bloß verfügen anderen Berechnungen zufolge sämtliche privaten Haushalte zur gleichen Zeit über ein Netto- vermögen von 6,6 Billionen Euro. Bevor Sie jetzt erschrecken, von wegen Ihrem Sparbüchl oder so: Das meiste davon befindet sich in der Hand des reichsten Fünftels (der obersten zwanzig Prozent). „Dieser Reichtum erlaubt es, die Staatsschuld zu tilgen, ohne die Vermö- genden unzulässig zu belasten,“ rechnet uns ein emeritierter Professor der Volkswirtschaftslehre vor und erinnert an jenen Lastenausgleich, welcher nach dem Zweiten Weltkrieg half, die Schulden Deutschlands zu tilgen. Zum Lastenausgleich herangezogen wurde die Hälfte des Vermögens aller Inlän- der und der in Westdeutschland befindlichen Vermögen der Ausländer. Damit die Vermögenssubstanz nicht angegriffen wurde, konnte die Schuld in viertel- jährlichen Raten über 30 Jahre abgetragen werden. Diese Zahlungen ließen sich überwiegend aus den Vermögenserträgen finanzieren. Kleine Vermögen und solche in wichtigen Wirtschaftsbereichen wurden nicht oder nur begrenzt zum Lastenausgleich herangezogen. Unter gleichen Bedingungen wären die öffentlichen Haushalte „nach einer Generation [...] nicht mehr von den Kapitalmärkten abhängig.“ Die solcher- 10
art eingesparten Zinszahlungen könnten folglich „für die eigentlichen staat- lichen Aufgaben eingesetzt werden – oder für Steuersenkungen.“ Wohlge- merkt: Diese Überlegungen stammen keineswegs aus irgendeinem obskuren Pamphlet. Sie finden sich in der alt-ehrwürdigen und renommierten Zeitung Die Zeit.9 In Österreich wird das Privatvermögen insgesamt auf 1,3 Billionen Euro geschätzt. Das bundesdeutsche Modell würde bei uns also genau so funktionieren. Interessant ist jedoch Folgendes: Bei uns befindet sich mehr als ein Drittel dieses Privatvermögens (33,7%) in den erlesenen Händen des reichsten Prozents der Bevölkerung, und ein weiteres Drittel (34,5%) bei den nächsten neun Prozent. Will sagen: Wir, die restlichen 90 Prozent, wir dürfen uns das verbleibende Drittel teilen – oder, um genau zu sein, nicht einmal das!10 Geredet wird darüber nicht. Bei uns herrscht das Bild besagter Klein- familie vor, die angeblich keine Schulden macht. Inzwischen sind wir schon so weit, dass sich Mama, Papa, Buali und Pepi-Tant’ auf Leserbriefseiten gegenseitig Verschwendung vorwerfen und einander gefälligst zum Verzicht auffordern; und das nicht einmal nur im sattsam bekannten Kleinformat. Kann man sich eigentlich vorstellen, wie sich das reichste Prozent da freut? Wie sich diese Herrschaften die erlesenen Hände reiben? Wahrscheinlich nicht – denn man kann sich ja auch ihren Reichtum kaum noch vorstellen. Budgetsanierung, Einsparungen, Steuererhöhung? Wenn’s sein muss – na gut. Aber bitte nur, wenn’s fair abläuft: wenn das reichste Prozent ein Drittel dazu beiträgt, und die nächsten neun Prozent ein weiteres Drittel, und den Rest dann wir. Darüber sollten wir reden, liebe Leute. G’scheiter, als sich gegenseitig das zu neiden, was uns gerade noch bleibt. 9 Harald Spehl, „Staatsverschuldung: Tschüss, Kapitalmarkt“, Zeit Online 27. 10. 2011, http://www.zeit.de/2011/44/Deutschland-Schuldenabbau/komplettansicht (Stand: 30. Oktober 2011). 10 AK Öberösterreich, a.a.O. S. 4. – Dass das Privatvermögen in Deutschland lediglich sechsmal größer sein soll als jenes in Österreich, das verwundert. Aber natürlich handelt es sich um Schätzungen, möglicherweise mittels verschiedener Methoden angestellt. Auf unsere Argumentation dürfte das kaum Einfluss haben. Hier geht’s um Größenordnungen. 11
ABER WIE SCHON GESAGT: MAN MUSS DAS NICHT SO SEHEN. Man kann durchaus auf dem Standpunkt beharren, wonach ausschließlich Lehrer, Beamte und Pensionisten schuld seien am Budgetdefizit in Österreich, wes- wegen diese weniger verdienen und mehr beziehungsweise länger arbeiten sollten. Wenn man sich jedoch auf diesen Standpunkt stellt, und wenn man sich gleichzeitig als Meinungsautorität in Österreich gebärdet, Starkolumnist und so, „Leute, wir müssen reden“ – wenn man sich also so gebärdet, dann erwartet sich das Publikum halt auch ein bisserl Ehrlichkeit. Und zur Ehrlichkeit würde gehören, dass man diese andere Geschichte, die andere Sichtweise wenigstens kennt. Dass man ihre Existenz anerkennt. Anders ist nämlich ein Gespräch schwer möglich. Worüber auch? Das, was der Herr Rauscher hier vorschlägt, das ist ja gar nicht: „Wir müssen reden“. Das ist vielmehr: „Ich red’ auf euch hinunter.“ Vor langer, langer Zeit hat mir eine Kollegin folgende Geschichte er- zählt: Sie befand sich damals, Mitte der Siebziger Jahre, in Moskau, im Herz der Sowjetunion, studierte an der Lomonossow-Universität. Und da las sie klarerweise sowjetische Zeitungen. Einmal stellte sie mit freudiger Über- raschung fest, dass sogar unser Heimatland auftauchte in diesen Blättern, irgendwo ganz unten, eine kleine Notiz: Nationalratswahlen in Österreich. Und wie lautete die Schlagzeile? „Stimmengewinne für die Kommunisten“. Das stimmte sogar. Die sowjetische Presse log nicht. Na ja, Herr Rauscher. Vielleicht könnten wir darüber auch einmal reden: Wer bloß die halbe Wahrheit sagt, der hat nicht gelogen, oh nein – aber die Wahrheit ist das auch nicht. Das ist bloß die Prawda. November 2012 12
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