Wohlfahrtsstaatliche pfade und soziale ungleichheit in europa
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1 Schwerpunkt spw 2 | 2021 wohlfahrtsstaatliche pfade und soziale ungleichheit in europa einleitung zum heftschwerpunkt von Björn Hacker, Max Reinhardt und Stefan Stache1 Foto: © Europasterne: Ihor Reshetniak, Cube Concept: Gugurat – Getty Images/iStockphoto 1 Aktivierender.Sozialstaat,.marktbasierte.Ei- heit,.u.a..auch.in.Deutschland.3.Zudem.führte. genverantwortung.und.später.auch.Austerität. die.Austeritätspolitik.zu.Einsparungen.in.der. waren.die.zentralen.Paradigmen,.die.seit.Ende. sozialen.Infrastruktur..Diese.insgesamt.marktli- der.1990er.Jahre.die.Sozial-.und.Arbeitsmarkt- berale.Dynamik.verlief.jedoch.nicht.einheitlich,. politiken.innerhalb.der.EU.prägten..Hiernach. sondern. abhängig. von. wohlfahrtsstaatlichen. galt.Gleichheit.nicht.mehr.als.Angleichung.von. Pfaden.und.deren.jeweiligen.Logiken.. Lebensverhältnissen,.sondern.als.Gewährleis- tung.von.Chancengleichheit:.„Soziale.Siche- wohlfahrtsstaatliche Startpositionen im rung.für.alle.Erwerbsfähigen.sollte.primär.über. Marktliberalismus die.aktive.Teilhabe.am.Arbeitsmarkt.erfolgen.“2. Mit. dem. Diskurs. der. Eigenverantwortung. Neben.institutionellen.Unterschieden.star- wurden.Teile.der.sozialen.Sicherung,.u.a..der. teten.die.Wohlfahrtsstaaten.Europas.von.teil- Alterssicherung,. in. private. Vorsorgesysteme. weise.weit.auseinanderliegenden.Niveaus.so- umgewandelt..Anstelle.von.sozialen.Transfers. zialstaatlicher.Leistungen.sowie.höherer.oder. sollte.in.Bildung.und.soziale.Dienstleistungen. niedrigerer. Einkommensungleichheit. in. die. investiert.werden..Durch.Investitionen.auch.in. Ära.des.Marktliberalismus..Veränderungen.tra- frühkindliche.Bildung.sollte.die.Erwerbstätig- dierter.wohlfahrtsstaatlicher.Pfade.ergeben.sich. keit.von.Frauen.steigen..Trotz.wirtschaft.lichem. darin.selten.kurzfristig,.sondern.über.viele.Jahre. Wachstum.wuchs.zugleich.die.soziale.Ungleich- und.Jahrzehnte.hinweg..Liberale,.konservative. und.sozialdemokratische.Pfade,.wie.sie.Gøsta. 1. Dr.. Björn. Hacker. ist. Professor. für. europäische. Wirtschaft.spolitik. an. der. Esping-Andersen.typologisierte,.haben.Anglei- Hochschule.für.Technik.und.Wirtschaft..(HTW).Berlin. chungs-.und.Hybridisierungsprozesse.durch- . Max.Reinhardt.ist.Mitglied.der.spw-Redaktion. laufen.und.sich.unter.neuen.Typenkategorien. . Stefan.Stache.ist.Chefredakteur.der.spw.und.lebt.in.Hannover. 2. Irene.Dingeldey,.Bilanz.und.Perspektiven.des.aktivierenden.Wohlfahrtsstaa- tes,.in:.APuZ.10/2015,.S..33-40. 3. Vgl..ebd.
spw 2 | 2021 Schwerpunkt 15 formiert. Gleichwohl wirken viele der alten legende politische und ökonomische Entwick- Pfadlogiken bis heute fort. Entsprechend entwi- lungslinien der EU seit den 1990er Jahren unter ckeln sich auch soziale Ungleichheiten pfadab- wohlfahrtsstaatlichen Aspekten bis zur jüngsten hängig. So ist die Einkommensungleichheit in Neuentdeckung der Solidarität in der EU im den skandinavischen Ländern sozialdemokra- Zuge der Corona-Krisenpolitik analysiert. tischer Prägung zum Teil noch immer geringer ausgeprägt als in anderen europäischen Staaten Einheit in Vielfalt: der europäische Spagat und das Beschäftigungsniveau relativ hoch. Die Europäische Union leidet schon immer In einem Teil der Debatten der Linken in an einem Doppelproblem: Zum einen am Spa- Deutschland über solidarische Wohlfahrtsstaat- gat zwischen dem Anspruch an gemeinsame lichkeit und Pfadverschiebungen nimmt der Politiken und den Souveränitätsvorbehalten der sozialdemokratische Pfad bis heute eine orien- Mitgliedstaaten. Zum anderen an der Kehrseite tierende Rolle ein. Im vorliegenden Heftschwer- der nicht gleichmacherischen „Einheit in Viel- punkt analysieren wir die Entwicklungslinien falt“: der nur mühsamen, bisweilen unmöglich in Europa, vergleichen die pfadabhängigen erscheinenden Überwindung gewachsener ins- Veränderungen und deren Auswirkungen auf titutioneller Strukturen unterschiedlicher Wirt- soziale Ungleichheiten und arbeiten mögliche schaftsverfassungen und Wohlfahrtsstaaten. politische Lernprozesse im Zuge der Pandemie Beide Phänomene prägen die EU und die sich und ihres Krisenmanagements heraus. in ihnen ausdrückenden Konflikte haben mit zunehmender Integration an Bedeutung gewon- Seit den Kürzungsauflagen der Troika ge- nen. Die Großprojekte des Binnenmarktes, der genüber Griechenland und dem Umgang mit Erweiterung der EG-12 auf heute 27 Mitglied- Flucht und Migration in der EU flammten De- staaten und der Wirtschafts- und Währungsu- batten um eine solidarische Neuordnung der nion (WWU) haben die Bedarfe harmonisierter EU innerhalb der Linken verstärkt auf. Eine der Politiken seit Beginn der 1990er Jahre erheblich dabei entstehenden Kontroversen kreiste um erhöht. Grenzüberschreitende Herausforde- die Frage, inwieweit eine fortschrittlichere Po- rungen, wie aktuell die Covid-19-Pandemie, litik im Rahmen der bestehenden EU-Verträge haben zusätzlichen Druck aufgebaut. möglich sei. Während ein Teil die Optionen ei- ner solidarischen und keynesianischen Politik Vor dreißig Jahren war die Planung und Um- im Rahmen eines Green New Deal auslotete, setzung der drei Großprojekte möglich durch hielten andere angesichts des Fiskalpakts und eine Integrationseuphorie, die gnädig über Dif- weiterer in der Eurokrise praktizierter neoklas- ferenzen hinwegsah. Schließlich war die Welt in sischer Wirtschaftskonzepte eine substanzielle Bewegung geraten: Mit dem Ende des Kalten solidarische und demokratische Verbesserung Kriegs und der Blockkonfrontation boten sich der europäischen Verfasstheit nicht ohne eine für die Europäer:innen neue Möglichkeiten, ihr Änderung der EU-Verträge für möglich. Dies Zusammenleben auf dem Kontinent politisch zumal der offensichtlichen Demokratiedefizite zu gestalten und den Lauf der Geschichte künf- des Euro-Rettungsmanagements, dessen nach- tig selbst mit zu beeinflussen. Zugleich konnten haltige Überwindung allerdings wiederum auf- die bereits in der Einheitlichen Europäischen grund der Mehrheitsverhältnisse in der EU und Akte und der geglückten Süderweiterung in den ihren Mitgliedstaaten lange als unwahrschein- 1980er Jahren gesetzten Markierungen weiter lich galt. Im Folgenden werden daher grund- ausgebaut werden, um die jüngsten stagnativen Momente der Integration – schleppende Umset- Gøsta Esping-Andersen, Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990, Prin- zung der Binnenmarktfreiheiten, Scheitern des ceton: Princeton University Press. Für einen Überblick zur Debatte um die Existenz von Wohlfahrtswelten vgl. Will Arts/John Gelissen: Three worlds of ersten Anlaufs für eine Währungsunion, Streit welfare capitalism or more? A state-of-the-art-report, in: Journal of Europe- um die Steuerung der Gemeinsamen Agrarpo- an Public Policy, 2/2002, S. 137–158. litik – zu überwinden. Im Rückblick kann der vgl. die Beiträge von Sigrid Leitner und Max Reinhardt im Heftschwerpunkt. vgl. Andreas Fisahn: Schäubles EU: Austerität und Autoritarismus, in: Blätter 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht für deutsche und internationale Politik, 3/2017, S. 37-40. als Höhepunkt einer von breiter Zustimmung
16 Schwerpunkt spw 2 | 2021 getragenen europa-euphorischen Dynamik renzen. Dazu gehört zentral die Erfahrung sehr betrachtet werden. Mit ihm wurden die Uni- unterschiedlicher fiskal- und geldpolitischer on begründet, die Währungsunion aufs Gleis Überzeugungen und Rezepte, insbesondere der gesetzt und eine Vielzahl neuer Politikfelder in beiden größten Volkswirtschaften Deutschland Teilen in den Kompetenzbereich der EU über- und Frankreich. Zu Beginn der 1980er Jahre führt, so etwa in der Außen- und Sicherheitspo- stießen François Mitterrands staatsinterventi- litik, in den Bereichen Inneres und Justiz, aber onistische Pläne („Keynesianismus in einem auch in der Umwelt- und Verkehrspolitik sowie Land“) im Europäischen Währungssystem im Verbraucherschutz. (EWS) auf von der deutschen Bundesbank ver- teidigte ordoliberale Grenzen. Ein Jahrzehnt Verteidigung nationaler Souveränität später scheiterte das von politischen Konflikten geprägte EWS an sich auseinanderentwickeln- Doch die oben genannten Probleme den ökonomischen Realitäten im Zuge der wohnten bereits dem Vertragskompromiss deutschen Wiedervereinigung und der sie be- inne: Während die einen die Chance zur Ver- gleitenden Geldpolitik. Die damals offen zutage wirklichung eines föderalen Europas mit de- tretenden Differenzen in der Verfolgung eines mokratisch organisierten, mächtigen Gemein- keynesianischen oder ordoliberal-neoklas- schaftsinstitutionen gekommen sahen, waren sischen Paradigmas waren auch Gegenstand die anderen maximal zu einer Ausweitung der heftiger Auseinandersetzungen um die Kons- Beteiligung des Europäischen Parlaments an truktion der WWU; sie wirken bis heute fort in Entscheidungsverfahren bereit. In sensiblen den Idealkonzeptionen einer anzustrebenden Bereichen nationaler Souveränität sollten ab- Fiskal- oder Stabilitätsunion. seits des Gemeinschaftsverfahrens weiterhin allein die zuständigen Fachminister:innen Unterschiedliches Vorgehen zur im Rat das Sagen haben. In der Sozialpolitik Einhegung des Marktes verweigerte die britische Regierung jede Zu- stimmung europäischer Regulierung, nur ein In der Wissenschaft ist man zeitgleich zu den an den Vertrag angehängtes Protokoll konnte Vertiefungsschritten der europäischen Integra- gemeinsame sozialpolitische Überzeugungen tion immer detaillierter auf die Suche nach einer der übrigen elf Länder aufzeigen. Die Sorge der Erklärung für die vorliegenden Unterschiede nationalen Regierungen vor einem zu großen innerhalb des Staatenverbunds gegangen. Eine Verlust eigener Spielräume ist in der Folge ste- rein funktionale Deutung im Sinne wachsender tig gestiegen. Die schrittweise Verwirklichung Staatsausgaben bei wachsenden Staatsaufgaben der Währungsunion und das Hinarbeiten auf (Adolph Wagner) mochte für das Zeitalter der die Erfüllung der Konvergenzkriterien zum Industrialisierung, der Begründung von Sozial- Beitritt, die Umsetzung des Schengener Ab- staaten und mit Beginn der Massenproduktion kommens, aber auch die anvisierte Osterwei- ihre Berechtigung haben. Doch Bruttoinlands- terung nach gerade erst vollzogener Vergröße- produkt und Sozialleistungsquote allein konn- rung um Österreich, Schweden und Finnland, ten einen differenten Umgang der Staaten mit banden viel politische Energie und ließen in dem Markt nur unzureichend erklären. Dieser einigen Hauptstädten die Zweifel wachsen, ob war vielmehr in einer großen Varianz von histo- man sich nicht übernommen habe. rischen und institutionellen Faktoren zu finden, die sich wiederum aus spezifischen Akteurs- Die sinkende Bereitschaft zur Übertragung und Konfliktkonstellationen zwischen Kapital von Kompetenzen an die EU wurde befeuert von den abseits der zu Papier gebrachten Ideen für Martin Höpner/Alexander Spielau, 2015, Diskretionäre Wechselkursregime. nächste Integrationsschritte real erlebten Diffe- Erfahrungen aus dem Europäischen Währungssystem, 1979–1998, MPIfG Discussion Paper 15/11, S. 22. Vgl. Markus K. Brunnermeier/Harold James/Jean-Pierre Landau, 2016, The Euro and the Battle of Ideas, Princeton/Oxford: Princeton University Press Wim van Meurs/Robin de Bruin/Liesbeth van de Grift/Carla Hoetink/Karin und Björn Hacker/Cédric M. Koch, 2016, Was wird aus der Eurozone? Eine van Leeuwen/Carlos Reijnen, 2018, Die Unvollendete. Eine Geschichte der Landkarte der Interessenkonflikte zur Reform der Währungsunion, IMK Europäischen Union, Bonn: J.H.W. Dietz, S. 135. Study, Nr. 52, November 2016.
spw 2 | 2021 Schwerpunkt 17 und Arbeit entwickelt hatten. Neben sozioöko- zeigen die Problematik zur Identifikation euro- nomischen Unterschieden, die von der EU zei- päischer Gemeinschaftsregeln auf: Kann es etwa tig (man denke an die Struktur- und Kohäsions- zwischen einem universalistischen und einem politik) im Bild der aufholenden Entwicklung bedarfsorientierten Sozialleistungssystem einen und Aufwärtskonvergenz aufgegriffen wurden, kleinsten gemeinsamen Nenner geben? spielen Machtressourcen und Pfadabhängig- keiten eine wichtige Rolle im Mosaik der wirt- Die marktliberale Schlagseite der EU schaftlichen und sozialen Realitäten. Sie sind verantwortlich für spezifische Konstellationen In der EU hat sich aus diesen beiden Kon- der Einhegung des Marktes, der wirtschaftspo- fliktfeldern – Souveränitätsvorbehalte und ins- litischen Gestaltungskapazitäten, der sozialpoli- titutionelle Ausdifferenzierung – die Existenz tischen Korrektur von Marktergebnissen. einer „konstitutionellen Asymmetrie“14 verfes- tigt: Den Mitgliedstaaten ist es leichtgefallen, Die „Varieties of Capitalism“10 zeigen ebenso Handelshemmnisse, wie Grenzen, Zölle, Preis- wie “The three Worlds of Welfare Capitalism”11, differenzen, im gemeinsamen Markt aufzulösen wie weit die in der Regel im nationalen Rahmen (negative Integration), während sie aus den be- getroffenen Arrangements oft voneinander ent- schriebenen Gründen zögerten und nur kleine fernt und wie schwerfällig und kostenintensiv Schritte wagten bei der Implementierung neuer Pfadänderungen sind. Zwar zeigen sich in der Re- gemeinsamer Politiken (positive Integration). alität dennoch zahlreiche Reformtätigkeiten und Der Vereinbarung einer gemeinsamen Bin- Anpassungen, von einer „frozen welfare lands- nenmarktpolitik zur Gewährleistung der Frei- cape“ kann längst keine Rede mehr sein.12 Und zügigkeit von Warenverkehr, Arbeitnehmer: die Identifikation der Idealtypen liberaler oder innen, Dienstleistungen und Kapital und der koordinierter Marktwirtschaften beziehungswei- Implementierung einer gemeinsamen Geldpo- se liberaler, konservativer oder sozialdemokra- litik bei der Europäischen Zentralbank (EZB) tischer Wohlfahrtsregime war in der Realität im- folgten im Gemeinschaftsacquis nur wenige bis mer konfrontiert mit Uneindeutigkeiten, wie dem gar keine Harmonisierungsschritte in der Steu- „Dutch Miracle“, Ausnahmen, wie dem britischen er-, Lohn- und Industrie- sowie der Renten-, National Health Service, oder Hybridisierungen, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik. wie in den Wohlfahrtswelten Mittelosteuropas.13 Dennoch sind Unterschiede in der Dekommodi- Als Ausgang aus dem Paradox eines er- fizierung – das ist die Unabhängigkeit des Indivi- höhten Bedarfs europäischer Politiken bei duums vom Marktgeschehen – und in der Stra- zeitgleich gewachsener Skepsis weiterer tifizierung – das ist die soziale Schichtung und Vergemeinschaftung15 bot sich seit Mitte der Durchlässigkeit der Gesellschaft, etwa zwischen 1990er Jahre die Politikkoordinierung an. reich und arm, gebildet und ungebildet – existent Mithilfe eines komplexen und ständig wach- und auffällig. Diese Divergenzen sind keine, die senden Geflechts von Koordinierungszyklen automatisch mit höherem Wirtschaftswachstum zu gemeinsam identifizierten Zielen, einem und aufholender Entwicklung eingeebnet werden, umfassenden wechselseitigem Berichtswesen sie stellen verschiedene politisch-institutionali- zwischen den supranationalen Institutionen sierte Perspektiven auf den gleichen Gegenstand und den Mitgliedstaaten, sowie der Überwa- dar – im Kern: marktnah und marktkritisch. Sie chung durch die Europäische Kommission und beim Rat verbleibender finaler Kontrolle von Handlungsempfehlungen an die nationale 10 Peter A. Hall/David Soskice: Varieties of Capitalism. The institutional foun- dations of comparative advantage, Oxford 2001. Politik, sollte über die weiche Form politischer 11 Gøsta Esping-Andersen, Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990, Prince- ton: Princeton University Press. 14 Fritz W. Scharpf, The European Social Model: Coping with the challenges of 12 Bruno Palier/Martin Claude, Editorial Introduction. From »a Frozen Land- diversity, in: Journal of Common Market Studies, 2002, Vol. 40, Nr. 4, 645-670. cape« to Structural Reforms: The Sequential Transformation of Bismarckian 15 Uwe Puetter, Deliberativer Intergouvernementalismus und institutioneller Welfare Systems. In: Social Policy & Administration 2007, 41(6), 535–554. Wandel: die Europäische Union nach der Eurokrise, in: Politische Vierteljah- 13 Alexandra Baum-Ceisig/Klaus Busch/Björn Hacker/Claudia Nospickel: Wohl- resschrift, 56. Jg., 3/2015, S. 406-429 und Hans-Wolfgang Platzer, Konstitu- fahrtsstaaten in Mittel- und Osteuropa. Entwicklungen, Reformen und Perspek- tioneller Minimalismus: Die EU-Sozialpolitik in den Vertragsreformen von tiven im Kontext der europäischen Integration, Baden-Baden 2008, Nomos. Nizza bis Lissabon, in: integration 1, 2009, Jg. 32: 33–49.
18 Schwerpunkt spw 2 | 2021 Steuerung das erreicht werden, was man sich in trafen die auf den Weg gebrachten Instrumente der harten Gesetzgebung versagte: den europä- auf ein marktliberales Setting und verstärkten ischen Zusammenhalt zu stärken und die sozio- dieses. In der Hochzeit von Neoliberalismus ökonomischen Welten einander anzunähern. und Hyperglobalisierung und dem weit ver- breiteten Glauben an deren Segnungen durch Doch die Asymmetrie der Integration sorgte Wohlstandszugewinne über Trickle-Down- auch in der Politikkoordinierung für eine Ent- Effekte, passten sich der Binnenmarkt und die wicklung mit Schlagseite. Das voluntaristische WWU gut ein als Paten für die Hinwendung zu Politiklernen über nationale Grenzen hinweg hat den freien Marktkräften. sich dort als stark und disziplinierend erwiesen, wo die vertragliche Integration am weitesten ge- Anpassung der Wohlfahrtsstaaten diehen ist: Im Bereich der budgetären Regelset- an den Wettbewerbsraum zung über den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Versuche der engeren wirtschaftspolitischen Die Koordinierungszyklen mit ihrer do- Koordinierung, etwa im Rahmen des Makroö- minanten Bewerbung nachhaltiger Budget- konomischen Dialogs oder der Lissabon-Strate- politiken und wettbewerbsförderlicher Struk- gie blieben dagegen zaghaft. Noch viel weniger turreformen konnten hervorragend genutzt effektiv funktionierte die Abstimmung der Be- werden, um das global längst laufende Spiel schäftigungs- und Sozialpolitiken zwischen den um die höchste Wettbewerbsfähigkeit eines Mitgliedstaaten über die Beschäftigungsstrategie Wirtschaftsraumes oder Landes für die weitere oder die Offene Methode der Koordinierung. Entwicklung der EU und ihrer Mitgliedstaaten Ohne quantitative Vorgaben mit Vertragsrang zu adaptieren. Plötzlich standen nicht mehr – wie das öffentliche Defizit- und Verschuldungs- gemeinsam identifizierte wirtschaftliche und ziel – und der Abwesenheit von Sanktionen – wie soziale Ziele als Eckpfeiler eines Europäischen der Eröffnung eines Defizitverfahrens, an dessen Sozialmodells im Vordergrund, sondern die Ende Strafen stehen können – funktionierte das Anpassung der nationalen Wohlfahrtsstaaten „naming und shaming“ des grenzüberschrei- an die für gut befundene marktliberale Umge- tenden Systemvergleichs nur punktuell. Eine bung. Nicht etwa die Arbeits- und Sozialmi- Informationsbörse für die nationale Ministeri- nister, sondern die Finanzminister im immer albürokratie mit einzelnen Lerneffekten ist zwar mächtiger werdenden ECOFIN-Rat beschie- entstanden, das ja. Doch im Ergebnis sind die den den Mitgliedstaaten nun Reformbedarfe Verfahren, auch nach ihrer Bündelung im Euro- ihrer Rentensysteme und Arbeitsmärkte. Rund päischen Semester, weder inklusiv und demokra- um die Jahrhundertwende diffundierten die tisch noch vermögen sie der europäischen Asym- Ideen für Flexibilisierungen, Deregulierungen metrie etwas entgegen zu setzen. und Privatisierungen quer durch die Mitglied- staaten. Individuelle Flexibilität und Mobilität Mehr noch: die Behelfsbrücke der Politikko- im Job, privates Rentensparen, lebenslanges ordinierung16 hat einen Modus geschaffen, der Lernen und niedrige Steuern bei beschnitte- im Rahmen des überwiegend marktschaffend nen Investitionen in die öffentliche Infrastruk- (also den Markt erweiternd) geprägten Integra- tur und gekürzten Sozialleistungen stellten die tionsraums scheinbar objektiv erstrebenswerte Eckpunkte dessen dar, was Anthony Giddens Ergebnisse produziert, wenn die Messlatte eine und die Anhänger des sogenannten Dritten ökonomistische ist. Während das ursprüngliche Wegs das „Neue Europäische Sozialmodell“ Anliegen der Politikkoordinierung differenzier- nannten.17 Faktisch wurde der liberale Wohl- ter war und noch die Lissabon-Strategie in ihrer fahrtsstaat hierzu gekürt, da er dem Glauben an Ursprungsfassung ökonomischen Fortschritt die freien Kräfte des Marktes bei nur minima- und soziale Kohäsion zugleich erreichen wollte, len Staatsinterventionen entsprach und perfekt in die EU der ausgebauten Marktintervention 16 Björn Hacker, Behelfsbrücke EU-Politikkoordinierung, in: Peter Becker/ Barbara Lippert (Hg.): Handbuch Europäische Union. 2018, Springer VS, 17 Anthony Giddens, Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells, Friedrich- Wiesbaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17436-1_24-1 Ebert-Stiftung, 03/2006: 7ff.
spw 2 | 2021 Schwerpunkt 19 passte. Klaus Busch spricht von einem so ge- Lohnwachstum bis zu Leistungsbilanzsalden schaffenen „System der Wettbewerbsstaaten“.18 der Mitgliedstaaten im Blick. Und die EZB trug Durch dieses System fand sich die EU gut zu- mit ihrem einheitlichen Leitzins bei differenten recht auf der neuen Navigationskarte des Fi- Konjunkturzyklen und Inflationsraten nolens nanzkapitalismus, der den Realkapitalismus volens dazu bei, dass sich die Auseinanderent- weltweit ablöste.19 wicklung der Mitgliedstaaten auf dem Weg in die Krise verschärfte. Diese Sichtweise und die Nutzung der Ko- ordinierung zu ihrer Festigung und Verbrei- In Deutschland wurde die Problematik einer tung kulminierten schließlich in der globalen einheitlichen Geldpolitik mit nationalen und Finanz- und Wirtschaftskrise, aus deren keyne- schlecht abgestimmten Fiskalpolitiken in Poli- sianisch operierendem Krisenmanagement die tik und Medien gekonnt geleugnet, sekundiert meisten politischen Akteure (zu) schnell wie- von einer Phalanx aus marktliberal überzeugten der ausstiegen. Eine Bankenunion, wie insbe- Ökonom:innen. Diese verwiesen stets auf den sondere von Frankreich und einigen Staaten von ach so vielen Mitgliedstaaten gebrochenen Südeuropas favorisiert, bügelte die deutsche Stabilitäts- und Wachstumspakt und lobten das Bundesregierung damals brüsk ab.20 Während deutsche exportorientierte Modell mit seiner man in Deutschland über die sogenannte Ab- Lohnentwicklung weit unter Produktivitäts- wrackprämie, die Gebäudesanierung und viele niveau. Im Rückspiegel avancierte die eng mit weitere Maßnahmen die Konjunktur mittels der Ausweitung des Niedriglohnsektors und expansiver Fiskalpolitik schnell wieder in reduzierten Sozialleistungsansprüchen verbun- Schwung brachte, wurde jenen Staaten wenig dene Agenda 2010 zur beispielhaften Politik, Verständnis entgegengebracht, die auch 2010 deren Nachahmung einschließlich der 2009 noch hohe Defizite und Schuldenstände auf- ins Grundgesetz eingefügten Schuldenbremse wiesen. Im Ausgang der Weltwirtschaftskrise den leidenden Ländern der Währungsunion wurde in Berlin der Ton des „Hilf Dir selbst“ wärmstens empfohlen wurde. Deren Wider- und der umgehenden Rückkehr zu den euro- spenstigkeit konnte gebrochen werden durch päisch vertretenen Prinzipien nachhaltiger ihre Abhängigkeit von Kreditlinien aus den Budgetpolitiken und wettbewerbsförderlicher neu aufgespannten Rettungsschirmen der EU. Strukturreformen angeschlagen. Deutschland gelang es für viele Jahre, das Mär- chen von der Staatsschuldenkrise zu einer auch Ausverkauf des Wohlfahrtsstaats von den Brüsseler Institutionen vertretenen Er- durch die Austeritätspolitik zählung zu machen. Als einzig denkbare Lösung wurde im Krisenmanagement die in Berlin aus- Von dieser Linie wich man in der begin- geheckte und über die Troika aus Kommission, nenden Eurokrise nicht ab. Griechenland EZB und Internationalem Währungsfonds in mit seinen offenbar schon zum Eurobeitritt den Krisenländern angeordnete Austeritätspoli- geschönten Konvergenzzahlen, seinem steu- tik verkauft. Im Hintergrund wurden zwar auch er- und budgetpolitischen Schlendrian kam andere Ideen – Bankenunion, Fiskalkapazität, den Vertretern der No-Bailout-Klausel in der Eurobonds – diskutiert, doch der Fortschritt zu WWU gerade recht, um den über das kleine einer systemischen Antwort auf die Krise der südeuropäische Land hinausgehenden syste- WWU blieb gering.21 mischen Webfehler der Eurozone zu ignorie- ren: Mangelhaft nur waren wirtschaftliche Ent- Die Kehrseite der Austeritätspolitik wurde wicklungen von privater Verschuldung über allerdings bald sichtbar: John Maynard Keynes hatte in der Analyse der Großen Depression 18 Klaus Busch, Die Perspektiven des europäischen Sozialmodells, 2005, Ar- einstmals davor gewarnt, in einen Abschwung beitspapier 92, Hans-Böckler-Stiftung. hineinzusparen. Das Experiment wurde in Eur- 19 Stephan Schulmeister, 2018, Der Weg zur Prosperität, Wals bei Salzburg: opa ab 2010 dennoch wiederholt mit dem abseh- ecowin. 20 Cerstin Gammelin/Raimund Löw, 2014, Europas Strippenzieher. Wer in Brüssel wirklich regiert, Berlin: econ. 21 Vgl. Hacker/Koch 2016, a.a.O.
20 Schwerpunkt spw 2 | 2021 baren Ergebnis einer prozyklischen Verstetigung Ausverkauf nationaler Wohlfahrtsstaatlichkeit und Vertiefung der Wirtschaftskrise in vielen oder vor einer Überforderung durch finanzielle Ländern. Die Auswirkungen blieben nicht allein Solidaritätsansprüche schrieben sich einige lin- auf das Feld der Ökonomie beschränkt: Kupierte ke und viele rechte Populist:innen in ihre Wahl- öffentliche Investitionen, Mindestlohnsen- programme – und waren damit – gemessen an kungen, die Lockerung des Kündigungsschutzes errungenen Parlamentssitzen – erfolgreich. und die Durchlöcherung der Tarifdeckungsrate, Massenentlassungen durch Privatisierungen, So traurig es ist, aber erst der Aufstieg des Kürzung der Renten und Beamtenbezüge wa- Rechtspopulismus in vielen europäischen Staa- ren eine Rosskur für viele Staaten insbesondere ten, der – wie beispielhaft das Rassemblement Südeuropas, der gegenüber die deutsche Agen- National um Marine Le Pen in Frankreich – ein da 2010 recht milde dasteht. Die Folgen zeigten wohlfahrtschauvinistisches Programm vertritt, sich in einem Emporschnellen der Arbeitslosen- hat bei vielen sozialdemokratischen und christ- zahlen – um 2012 herum waren in Griechenland demokratischen Parteien zum Umdenken ge- und Spanien mehr als ein Viertel der Bevöl- führt. Der Wohlfahrtschauvinismus ist wesens- kerung erwerbslos, die Jugendarbeitslosigkeit verwandt mit dem Neoliberalismus, wenn er sprang gar über die 50-Prozent-Marke. Zuneh- das Prinzip „Jeder kümmert sich um sich selbst“ mende Armut und soziale Exklusion verbreite- adaptiert, indem er internationalen Wettbewerb ten sich und vertieften weiter den sozioökono- im Sinne eines Sozialdarwinismus („Survival of mischen Graben zwischen den EU-Staaten des the fittest“) gutheißt. Anders als der Neolibera- Nordens und des Südens. Einige so besonders lismus möchte er aber nur eine eingeschränkte tief in die Krise gestoßenen Länder schafften es Kooperation über nationale Grenzen hinweg bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie 2020 zulassen, bekämpft offen Globalisierung und nicht, ihre Wirtschafts- und Sozialdaten wieder Europäisierung und erzeugt ein Traumbild an- auf Vorkrisenniveau zu bringen. Es sind daher geblich besserer, längst vergangener Zeiten. Di- erneut viele Staaten Südeuropas, die in dieser ese gedankliche Flucht ins „Retrotopia“22 fiel in neuen grenzüberschreitenden Krise besonders und nach der Eurokrise auf fruchtbaren Boden betroffen sind. – auch, weil viele Regierungsparteien am Tina- Prinzip („There is no Alternative“) des immer „Die Geister, die ich rief...“ marktfreundlicheren Wohlfahrtsstaatsumbaus – neuer politischer Protest allzu lange festhielten. Erst die Coronakrise machte einige Langzeitregierende – wie etwa Dass Brüssel statt konjunkturell die Kri- die deutsche Bundeskanzlerin – mutig genug, senländer zu unterstützen, die Krise nutzte, den Austeritätskurs zu verwerfen. um strukturelle Reformen einer neoliberalen pensée unique durchzusetzen, die über neue Die Wiederentdeckung des Instrumente – wie den Fiskalpakt, den Euro- Wohlfahrtsstaats Plus-Pakt und den gehärteten Stabilitätspakt – überwacht wurden, blieb auch politisch nicht Mit der Unterstützung für das Next Genera- ohne Konsequenzen. Unvergessen die Wortge- tion EU-Paket wird ein neues Kapitel in der eu- fechte, die sich der griechische Finanzminister ropäischen Integration aufgeschlagen.23 Bislang Yanis Varoufakis – als Repräsentant der 2015 tabuisierte oder verpönte Themen stehen nun in die Regierung gewählten Protestpartei Sy- weit oben auf der Agenda, so etwa die explizi- riza gegen das Austeritätsregime – mit seinem te Ermöglichung konjunktureller Hilfen (auch deutschen Amtskollegen Wolfgang Schäuble als Zuwendung, nicht nur auf Kreditbasis) für um den richtigen Krisenkurs in der Eurogrup- ökonomisch besonders von der Krise betroffene pe lieferte. Auch in anderen Staaten wuchsen Staaten, die hierzu auf den Weg zu bringende die politischen Ränder – nicht notwendiger- weise aufgrund der Austeritätspolitik, vielmehr 22 Zygmunt Baumann, 2017, Retrotopia, Berlin: Suhrkamp. überlagerte die sogenannte Flüchtlingskrise 23 Arne Heise: Jump-Start der europäischen Volkswirtschaften mit Wumms, bald alle Debatten. Aber die Angst vor einem in: spw 3/2020, Heft 238, S. 81-86.
spw 2 | 2021 Schwerpunkt 21 gemeinsame Verschuldung (und damit auch Die Artikel des Heftschwerpunktes Haftung), die langfristige Tilgung mithilfe einer EU-Steuer und nicht zuletzt die Identifikation Sigrid Leitner skizziert im Interview die (vor von Investitionsprojekten zur Erneuerung der allem in Europa) vielfältigen Verschiebungen europäischen Wirtschaft (Green Transition, der wohlfahrtsstaatlichen Pfade. Durch die Dis- Digitalisierung) auch nach Überwindung der kurse bzw. Logiken von Aktivierung und markt- akuten Krise. Ob damit der Mangel gemein- basierter Eigenverantwortung sei es zu Verän- samer Politiken abseits der Marktschaffung derungen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik bereits behoben ist, darf bezweifelt werden. gekommen, die nicht allein mit dem Phänomen Zumal unter vielen politischen Akteuren (auch des Neoliberalismus zu fassen seien. Vielmehr der Sozialdemokratie) strittig ist, ob die schnel- seien wohlfahrtsstaatliche Arrangements neu le Rückkehr zum marktliberalen Modell (Nie- verhandelt worden: „Der Umbau des Wohl- derlande, Österreich) oder die Übernahme fahrtsstaats setzt insgesamt auf einen punktu- wohlfahrtschauvinistischer Forderungen der ellen Rückzug staatlicher Garantien und im Ge- extremen Rechten durch nationale Abschottung genzug auf mehr individuelle Verantwortung, und weniger Europa aus Sorge vor einer Nivel- wobei es sich um ein mehr an marktvermittelter lierung des eigenen Sozialniveaus (Dänemark) Sicherung für das Individuum handeln kann erfolgversprechendere Alternativen darstellen. oder aber um eine Re-Familisierung, d.h. eine Dies hat nicht zuletzt die Positionierung der Verlagerung von sozialer Sicherung in famili- sogenannten Sparsamen Fünf während der Ver- äre Abhängigkeitsverhältnisse“. Insbesondere handlungen um das Corona-Hilfspaket gezeigt. in der Rentenpolitik habe eine Orientierung auf private Vorsorge stattgefunden. Gleichwohl Die in immer schnellerem Tempo den ein- vereinten sozialdemokratische Wohlfahrtsstaa- zelnen Staaten bewusstwerdenden grenzüber- ten noch immer ein relativ hohes Beschäfti- schreitenden Herausforderungen – Manage- gungsniveau mit vergleichsweise geringer sozi- ment von Finanzmärkten, Wirtschaftskrisen, aler Ungleichheit. Zudem seien im Bereich der Klimaveränderung, Migration, Pandemien, des Kinderbetreuung und der Lohnersatzleistungen digitalen und demografischen Wandels – spre- in konservativen Wohlfahrtsstaaten, wie z.B. chen eher für die Notwendigkeit einer besseren Österreich und Deutschland, Verschiebungen Gestaltung transnationaler Integration und Ko- in Richtung des schwedischen Pfads festzustel- operation in der EU. Sind schon in der globalen len. Dazu habe unter anderem die ökonomische Finanzkrise erste Zweifel an der Loslösung öko- Logik beigetragen, die Erwerbsbeteiligung zu nomischer Aktivitäten von der Realwirtschaft erhöhen, um das Arbeitskräftepotenzial bes- laut geworden, wurden bereits in der Eurokrise ser auszuschöpfen. Jene Logik habe die EU die sozialen und politischen Folgen der Auste- durch entsprechende Richtlinien gefördert. Das ritätspolitik sichtbar, zeigt heute die Pandemie männliche Ernährermodell sei zurückgedrängt mit ihren für viele Menschen besonderen Här- worden, wirke jedoch in vielfältiger Weise fort, ten die hohe Bedeutung eines interventionsfä- so etwa durch höhere Gehälter von Männern in higen Staates, der die Marktergebnisse durch Verbindung mit unzureichenden Betreuungs- Wirtschaftspolitik und Umverteilung korri- möglichkeiten für Kinder, die Frauen eher dazu giert, die Menschen sozial absichert und in die veranlassten, Teilzeittätigkeiten auszuüben. Zukunft investiert. Max Reinhardt vergleicht die soziale Un- Die jüngsten Entwicklungen der europäischen gleichheit innerhalb der EU entlang verschie- Wohlfahrtsstaaten, ihr Umgang mit dem 30 Jahre dener Wohlfahrtspfade mithilfe des Gini-Koeffi- dominanten Marktliberalismus und ihre Chan- zienten und arbeitet anhand einer Untersuchung cen, mit den ersten Schritten der EU hin zu einem von Marion Kühn heraus, dass Länder der so- neuen sozioökonomischen Paradigma – weg von zialdemokratischen Pfadlogik trotz teilweiser der Rekommodifizierung, hin zur Dekommodi- Angleichungsprozesse in Richtung einer hö- fizierung – eine Renaissance zu erleben, sollen in heren Ungleichheit noch immer eine gleichere diesem Schwerpunkt beleuchtet werden. Einkommensverteilung aufweisen als Länder
22 Schwerpunkt spw 2 | 2021 in anderen Wohlfahrtsstaatsregimen. Obwohl rechnet, wie nach den neuesten Berechnungen von langfristigen Verschiebungen von liberalen des sozio-oekonomischen Panels, bewege sich und mediterranen zu hybriden Pfaden sowie der Gini-Koeffizient in Deutschland in etwa von konservativen und sozialdemokratischen in auf dem Niveau der USA. Während der Pande- Richtung neu-traditionaler Pfade auszugehen sei, mie habe sich der Sozialstaat als systemrelevant wirkten die alten Pfadlogiken im Kern fort. Der erwiesen. Die Aussetzung der Sanktionen für Abbau sozialer Ungleichheiten bei Einkommen ALG-II-Bezieher:innen sollte dauerhaft gelten. und Vermögen bleibt auch angesichts der hohen Benötigt würden unter anderem mehr sozial- Kapitalkonzentration auf der Tagesordnung. Die versicherungspflichtige Beschäftigung anstel- EU-Richtlinie zum Mindestlohn und zur Ta- le von Minijobs. Sozialstaatliche Ressourcen rifbindung könnte Arbeitnehmer:innenrechte müssten vor allem auf Menschen konzentriert wieder stärken, sofern höhere Standards wie die werden, die besonders bedürftig seien, wie vom DGB geforderten mindestens 60 Prozent z.B. „prekär Beschäftigte, Leiharbeiter/innen des Medians umgesetzt werden. und Randbelegschaften ebenso wie […] Solo- selbstständige, manche Freiberufler/innen und Arne Heise analysiert die Möglichkeiten der Kleinunternehmer/innen“. Aufbau- und Resilienzfazilität des Aufbauplans Next Generation EU, insbesondere dessen Zu- Inge Hannemann kritisiert die Logiken, die schüsse zur Anregung des wirtschaftlichen hinter den Hartz-IV-Gesetzen stehen und erin- Wachstums und öffentlicher Investitionen nert an deren Historie, u.a. im Schröder-Blair- zum Ausgang aus der Coronakrise in den EU- Papier und der Politik der neuen Mitte. Danach Mitgliedstaaten. Er bezieht die Verteilung der müssten Erwerbslose um jeden Preis in Arbeit Mittel auf die wohlfahrtstaatlichen Pfade und gebracht und aufgrund ihrer vermeintlichen konstatiert, dass die mediterranen Länder be- Passivität aktiviert werden, etwa um deren sonders von den Umverteilungseffekten des angeblichen Sozialbetrug zu verhindern. Die neu aufgesetzten Fonds profitierten. Gemessen Würde eines Menschen dürfe nicht von einer an den wirtschaftlichen Schäden der Pandemie sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung würden zudem die osteuropäischen Staaten oder der Befolgung bürokratischer Maßnah- überproportional begünstigt. men abhängen. Jenny Andersson betrachtet die Entwick- Björn Böhning und Sven Rahner entwickeln lungslinien des schwedischen Wohlfahrtsstaats Wege für die Einführung einer Arbeits- und und kritisiert im Interview dessen in Deutsch- Bildungsversicherung anstelle der Arbeitslosen- land noch immer verbreiteten Idealbilder. Die versicherung. Mit dem Qualifizierungschan- Marktliberalisierungen in Schule, Sozialer cengesetz, dem „Arbeit-von-morgen-Gesetz“ Wohnraumversorgung, im Gesundheitssektor und dem Beschäftigungssicherungsgesetz seien und am Arbeitsmarkt hätten zu Spaltungen erste Schritte in diese Richtung unternom- geführt, in der sozial privilegiertere Schichten men worden, vor allem durch den Ausbau der private Lösungen bevorzugten, während wenig Weiterbildungsförderung, z.B. durch das neue oder Unterprivilegierte staatliche Leistungen Recht auf das Nachholen des Berufsabschlusses. nutzten. Auch dadurch habe die Legitimation Für das kommende Jahrzehnt gehe es vor allem des Wohlfahrtsstaates abgenommen, zudem darum, die Förderung auf die individuellen Be- seien soziale Ungleichheiten infolge von „ge- rufsbiografien auszurichten, so z.B. das „Recht ringerer Progression und Steuernachlässen“ er- auf Weiterbildung und beruflichen Neustart in höht worden. allen Lebensphasen“. ó Christoph Butterwegge befasst sich mit dem deutschen Sozialstaat, dessen Versorgungslü- cken und der zunehmenden sozialen Ungleich- heit. So seien sowohl Reichtum als auch Armut angestiegen. Würden Vermögenswerte einge-
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