Wohlfahrtsstaatliche pfade und soziale ungleichheit in europa

Die Seite wird erstellt Karl-Stefan Thiele
 
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1                                                                                             Schwerpunkt                                                                                                                        spw 2 | 2021

                                                                                               wohlfahrtsstaatliche pfade und soziale
                                                                                               ungleichheit in europa
                                                                                               einleitung zum heftschwerpunkt

                                                                                               von Björn Hacker, Max Reinhardt und Stefan Stache1
     Foto: © Europasterne: Ihor Reshetniak, Cube Concept: Gugurat – Getty Images/iStockphoto

                                                                                                 1
                                                                                                  Aktivierender.Sozialstaat,.marktbasierte.Ei-                                          heit,.u.a..auch.in.Deutschland.3.Zudem.führte.
                                                                                               genverantwortung.und.später.auch.Austerität.                                             die.Austeritätspolitik.zu.Einsparungen.in.der.
                                                                                               waren.die.zentralen.Paradigmen,.die.seit.Ende.                                           sozialen.Infrastruktur..Diese.insgesamt.marktli-
                                                                                               der.1990er.Jahre.die.Sozial-.und.Arbeitsmarkt-                                           berale.Dynamik.verlief.jedoch.nicht.einheitlich,.
                                                                                               politiken.innerhalb.der.EU.prägten..Hiernach.                                            sondern. abhängig. von. wohlfahrtsstaatlichen.
                                                                                               galt.Gleichheit.nicht.mehr.als.Angleichung.von.                                          Pfaden.und.deren.jeweiligen.Logiken..
                                                                                               Lebensverhältnissen,.sondern.als.Gewährleis-
                                                                                               tung.von.Chancengleichheit:.„Soziale.Siche-                                              wohlfahrtsstaatliche Startpositionen im
                                                                                               rung.für.alle.Erwerbsfähigen.sollte.primär.über.                                         Marktliberalismus
                                                                                               die.aktive.Teilhabe.am.Arbeitsmarkt.erfolgen.“2.
                                                                                               Mit. dem. Diskurs. der. Eigenverantwortung.                                                 Neben.institutionellen.Unterschieden.star-
                                                                                               wurden.Teile.der.sozialen.Sicherung,.u.a..der.                                           teten.die.Wohlfahrtsstaaten.Europas.von.teil-
                                                                                               Alterssicherung,. in. private. Vorsorgesysteme.                                          weise.weit.auseinanderliegenden.Niveaus.so-
                                                                                               umgewandelt..Anstelle.von.sozialen.Transfers.                                            zialstaatlicher.Leistungen.sowie.höherer.oder.
                                                                                               sollte.in.Bildung.und.soziale.Dienstleistungen.                                          niedrigerer. Einkommensungleichheit. in. die.
                                                                                               investiert.werden..Durch.Investitionen.auch.in.                                          Ära.des.Marktliberalismus..Veränderungen.tra-
                                                                                               frühkindliche.Bildung.sollte.die.Erwerbstätig-                                           dierter.wohlfahrtsstaatlicher.Pfade.ergeben.sich.
                                                                                               keit.von.Frauen.steigen..Trotz.wirtschaft.lichem.                                        darin.selten.kurzfristig,.sondern.über.viele.Jahre.
                                                                                               Wachstum.wuchs.zugleich.die.soziale.Ungleich-                                            und.Jahrzehnte.hinweg..Liberale,.konservative.
                                                                                                                                                                                        und.sozialdemokratische.Pfade,.wie.sie.Gøsta.
                                                                                               1. Dr.. Björn. Hacker. ist. Professor. für. europäische. Wirtschaft.spolitik. an. der.   Esping-Andersen.typologisierte,.haben.Anglei-
                                                                                                  Hochschule.für.Technik.und.Wirtschaft..(HTW).Berlin.
                                                                                                                                                                                        chungs-.und.Hybridisierungsprozesse.durch-
                                                                                               . Max.Reinhardt.ist.Mitglied.der.spw-Redaktion.
                                                                                                                                                                                        laufen.und.sich.unter.neuen.Typenkategorien.
                                                                                               . Stefan.Stache.ist.Chefredakteur.der.spw.und.lebt.in.Hannover.
                                                                                               2. Irene.Dingeldey,.Bilanz.und.Perspektiven.des.aktivierenden.Wohlfahrtsstaa-
                                                                                                  tes,.in:.APuZ.10/2015,.S..33-40.                                                      3. Vgl..ebd.
spw 2 | 2021                                                                                                       Schwerpunkt        15

formiert. Gleichwohl wirken viele der alten                                       legende politische und ökonomische Entwick-
Pfadlogiken bis heute fort. Entsprechend entwi-                                    lungslinien der EU seit den 1990er Jahren unter
ckeln sich auch soziale Ungleichheiten pfadab-                                     wohlfahrtsstaatlichen Aspekten bis zur jüngsten
hängig. So ist die Einkommensungleichheit in                                       Neuentdeckung der Solidarität in der EU im
den skandinavischen Ländern sozialdemokra-                                         Zuge der Corona-Krisenpolitik analysiert.
tischer Prägung zum Teil noch immer geringer
ausgeprägt als in anderen europäischen Staaten                                     Einheit in Vielfalt: der europäische Spagat
und das Beschäftigungsniveau relativ hoch.
                                                                                       Die Europäische Union leidet schon immer
   In einem Teil der Debatten der Linken in                                        an einem Doppelproblem: Zum einen am Spa-
Deutschland über solidarische Wohlfahrtsstaat-                                     gat zwischen dem Anspruch an gemeinsame
lichkeit und Pfadverschiebungen nimmt der                                          Politiken und den Souveränitätsvorbehalten der
sozialdemokratische Pfad bis heute eine orien-                                     Mitgliedstaaten. Zum anderen an der Kehrseite
tierende Rolle ein. Im vorliegenden Heftschwer-                                    der nicht gleichmacherischen „Einheit in Viel-
punkt analysieren wir die Entwicklungslinien                                       falt“: der nur mühsamen, bisweilen unmöglich
in Europa, vergleichen die pfadabhängigen                                          erscheinenden Überwindung gewachsener ins-
Veränderungen und deren Auswirkungen auf                                           titutioneller Strukturen unterschiedlicher Wirt-
soziale Ungleichheiten und arbeiten mögliche                                       schaftsverfassungen und Wohlfahrtsstaaten.
politische Lernprozesse im Zuge der Pandemie                                       Beide Phänomene prägen die EU und die sich
und ihres Krisenmanagements heraus.                                                in ihnen ausdrückenden Konflikte haben mit
                                                                                   zunehmender Integration an Bedeutung gewon-
    Seit den Kürzungsauflagen der Troika ge-                                       nen. Die Großprojekte des Binnenmarktes, der
genüber Griechenland und dem Umgang mit                                            Erweiterung der EG-12 auf heute 27 Mitglied-
Flucht und Migration in der EU flammten De-                                        staaten und der Wirtschafts- und Währungsu-
batten um eine solidarische Neuordnung der                                         nion (WWU) haben die Bedarfe harmonisierter
EU innerhalb der Linken verstärkt auf. Eine der                                    Politiken seit Beginn der 1990er Jahre erheblich
dabei entstehenden Kontroversen kreiste um                                         erhöht. Grenzüberschreitende Herausforde-
die Frage, inwieweit eine fortschrittlichere Po-                                   rungen, wie aktuell die Covid-19-Pandemie,
litik im Rahmen der bestehenden EU-Verträge                                        haben zusätzlichen Druck aufgebaut.
möglich sei. Während ein Teil die Optionen ei-
ner solidarischen und keynesianischen Politik                                          Vor dreißig Jahren war die Planung und Um-
im Rahmen eines Green New Deal auslotete,                                          setzung der drei Großprojekte möglich durch
hielten andere angesichts des Fiskalpakts und                                      eine Integrationseuphorie, die gnädig über Dif-
weiterer in der Eurokrise praktizierter neoklas-                                   ferenzen hinwegsah. Schließlich war die Welt in
sischer Wirtschaftskonzepte eine substanzielle                                     Bewegung geraten: Mit dem Ende des Kalten
solidarische und demokratische Verbesserung                                        Kriegs und der Blockkonfrontation boten sich
der europäischen Verfasstheit nicht ohne eine                                      für die Europäer:innen neue Möglichkeiten, ihr
Änderung der EU-Verträge für möglich. Dies                                         Zusammenleben auf dem Kontinent politisch
zumal der offensichtlichen Demokratiedefizite                                      zu gestalten und den Lauf der Geschichte künf-
des Euro-Rettungsmanagements, dessen nach-                                         tig selbst mit zu beeinflussen. Zugleich konnten
haltige Überwindung allerdings wiederum auf-                                       die bereits in der Einheitlichen Europäischen
grund der Mehrheitsverhältnisse in der EU und                                      Akte und der geglückten Süderweiterung in den
ihren Mitgliedstaaten lange als unwahrschein-                                      1980er Jahren gesetzten Markierungen weiter
lich galt. Im Folgenden werden daher grund-                                       ausgebaut werden, um die jüngsten stagnativen
                                                                                   Momente der Integration – schleppende Umset-
	 Gøsta Esping-Andersen, Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990, Prin-          zung der Binnenmarktfreiheiten, Scheitern des
   ceton: Princeton University Press. Für einen Überblick zur Debatte um die
   Existenz von Wohlfahrtswelten vgl. Will Arts/John Gelissen: Three worlds of
                                                                                   ersten Anlaufs für eine Währungsunion, Streit
   welfare capitalism or more? A state-of-the-art-report, in: Journal of Europe-   um die Steuerung der Gemeinsamen Agrarpo-
   an Public Policy, 2/2002, S. 137–158.
                                                                                   litik – zu überwinden. Im Rückblick kann der
	 vgl. die Beiträge von Sigrid Leitner und Max Reinhardt im Heftschwerpunkt.
	 vgl. Andreas Fisahn: Schäubles EU: Austerität und Autoritarismus, in: Blätter
                                                                                   1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht
   für deutsche und internationale Politik, 3/2017, S. 37-40.                      als Höhepunkt einer von breiter Zustimmung
16   Schwerpunkt                                                                                                                                  spw 2 | 2021

     getragenen europa-euphorischen Dynamik                                       renzen. Dazu gehört zentral die Erfahrung sehr
     betrachtet werden. Mit ihm wurden die Uni-                                  unterschiedlicher fiskal- und geldpolitischer
     on begründet, die Währungsunion aufs Gleis                                   Überzeugungen und Rezepte, insbesondere der
     gesetzt und eine Vielzahl neuer Politikfelder in                             beiden größten Volkswirtschaften Deutschland
     Teilen in den Kompetenzbereich der EU über-                                  und Frankreich. Zu Beginn der 1980er Jahre
     führt, so etwa in der Außen- und Sicherheitspo-                              stießen François Mitterrands staatsinterventi-
     litik, in den Bereichen Inneres und Justiz, aber                             onistische Pläne („Keynesianismus in einem
     auch in der Umwelt- und Verkehrspolitik sowie                                Land“) im Europäischen Währungssystem
     im Verbraucherschutz.                                                        (EWS) auf von der deutschen Bundesbank ver-
                                                                                  teidigte ordoliberale Grenzen. Ein Jahrzehnt
     Verteidigung nationaler Souveränität                                         später scheiterte das von politischen Konflikten
                                                                                  geprägte EWS an sich auseinanderentwickeln-
        Doch die oben genannten Probleme                                          den ökonomischen Realitäten im Zuge der
     wohnten bereits dem Vertragskompromiss                                       deutschen Wiedervereinigung und der sie be-
     inne: Während die einen die Chance zur Ver-                                  gleitenden Geldpolitik. Die damals offen zutage
     wirklichung eines föderalen Europas mit de-                                  tretenden Differenzen in der Verfolgung eines
     mokratisch organisierten, mächtigen Gemein-                                  keynesianischen oder ordoliberal-neoklas-
     schaftsinstitutionen gekommen sahen, waren                                   sischen Paradigmas waren auch Gegenstand
     die anderen maximal zu einer Ausweitung der                                  heftiger Auseinandersetzungen um die Kons-
     Beteiligung des Europäischen Parlaments an                                   truktion der WWU; sie wirken bis heute fort in
     Entscheidungsverfahren bereit. In sensiblen                                  den Idealkonzeptionen einer anzustrebenden
     Bereichen nationaler Souveränität sollten ab-                                Fiskal- oder Stabilitätsunion.
     seits des Gemeinschaftsverfahrens weiterhin
     allein die zuständigen Fachminister:innen                                    Unterschiedliches Vorgehen zur
     im Rat das Sagen haben. In der Sozialpolitik                                 Einhegung des Marktes
     verweigerte die britische Regierung jede Zu-
     stimmung europäischer Regulierung, nur ein                                      In der Wissenschaft ist man zeitgleich zu den
     an den Vertrag angehängtes Protokoll konnte                                  Vertiefungsschritten der europäischen Integra-
     gemeinsame sozialpolitische Überzeugungen                                    tion immer detaillierter auf die Suche nach einer
     der übrigen elf Länder aufzeigen. Die Sorge der                              Erklärung für die vorliegenden Unterschiede
     nationalen Regierungen vor einem zu großen                                   innerhalb des Staatenverbunds gegangen. Eine
     Verlust eigener Spielräume ist in der Folge ste-                             rein funktionale Deutung im Sinne wachsender
     tig gestiegen. Die schrittweise Verwirklichung                               Staatsausgaben bei wachsenden Staatsaufgaben
     der Währungsunion und das Hinarbeiten auf                                    (Adolph Wagner) mochte für das Zeitalter der
     die Erfüllung der Konvergenzkriterien zum                                    Industrialisierung, der Begründung von Sozial-
     Beitritt, die Umsetzung des Schengener Ab-                                   staaten und mit Beginn der Massenproduktion
     kommens, aber auch die anvisierte Osterwei-                                  ihre Berechtigung haben. Doch Bruttoinlands-
     terung nach gerade erst vollzogener Vergröße-                                produkt und Sozialleistungsquote allein konn-
     rung um Österreich, Schweden und Finnland,                                   ten einen differenten Umgang der Staaten mit
     banden viel politische Energie und ließen in                                 dem Markt nur unzureichend erklären. Dieser
     einigen Hauptstädten die Zweifel wachsen, ob                                 war vielmehr in einer großen Varianz von histo-
     man sich nicht übernommen habe.                                              rischen und institutionellen Faktoren zu finden,
                                                                                  die sich wiederum aus spezifischen Akteurs-
       Die sinkende Bereitschaft zur Übertragung                                  und Konfliktkonstellationen zwischen Kapital
     von Kompetenzen an die EU wurde befeuert von
     den abseits der zu Papier gebrachten Ideen für                               	 Martin Höpner/Alexander Spielau, 2015, Diskretionäre Wechselkursregime.
     nächste Integrationsschritte real erlebten Diffe-                               Erfahrungen aus dem Europäischen Währungssystem, 1979–1998, MPIfG
                                                                                     Discussion Paper 15/11, S. 22.
                                                                                  	 Vgl. Markus K. Brunnermeier/Harold James/Jean-Pierre Landau, 2016, The
                                                                                     Euro and the Battle of Ideas, Princeton/Oxford: Princeton University Press
     	 Wim van Meurs/Robin de Bruin/Liesbeth van de Grift/Carla Hoetink/Karin       und Björn Hacker/Cédric M. Koch, 2016, Was wird aus der Eurozone? Eine
        van Leeuwen/Carlos Reijnen, 2018, Die Unvollendete. Eine Geschichte der      Landkarte der Interessenkonflikte zur Reform der Währungsunion, IMK
        Europäischen Union, Bonn: J.H.W. Dietz, S. 135.                              Study, Nr. 52, November 2016.
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und Arbeit entwickelt hatten. Neben sozioöko-                                      zeigen die Problematik zur Identifikation euro-
nomischen Unterschieden, die von der EU zei-                                       päischer Gemeinschaftsregeln auf: Kann es etwa
tig (man denke an die Struktur- und Kohäsions-                                     zwischen einem universalistischen und einem
politik) im Bild der aufholenden Entwicklung                                       bedarfsorientierten Sozialleistungssystem einen
und Aufwärtskonvergenz aufgegriffen wurden,                                        kleinsten gemeinsamen Nenner geben?
spielen Machtressourcen und Pfadabhängig-
keiten eine wichtige Rolle im Mosaik der wirt-                                     Die marktliberale Schlagseite der EU
schaftlichen und sozialen Realitäten. Sie sind
verantwortlich für spezifische Konstellationen                                         In der EU hat sich aus diesen beiden Kon-
der Einhegung des Marktes, der wirtschaftspo-                                      fliktfeldern – Souveränitätsvorbehalte und ins-
litischen Gestaltungskapazitäten, der sozialpoli-                                  titutionelle Ausdifferenzierung – die Existenz
tischen Korrektur von Marktergebnissen.                                            einer „konstitutionellen Asymmetrie“14 verfes-
                                                                                   tigt: Den Mitgliedstaaten ist es leichtgefallen,
    Die „Varieties of Capitalism“10 zeigen ebenso                                  Handelshemmnisse, wie Grenzen, Zölle, Preis-
wie “The three Worlds of Welfare Capitalism”11,                                    differenzen, im gemeinsamen Markt aufzulösen
wie weit die in der Regel im nationalen Rahmen                                     (negative Integration), während sie aus den be-
getroffenen Arrangements oft voneinander ent-                                      schriebenen Gründen zögerten und nur kleine
fernt und wie schwerfällig und kostenintensiv                                      Schritte wagten bei der Implementierung neuer
Pfadänderungen sind. Zwar zeigen sich in der Re-                                   gemeinsamer Politiken (positive Integration).
alität dennoch zahlreiche Reformtätigkeiten und                                    Der Vereinbarung einer gemeinsamen Bin-
Anpassungen, von einer „frozen welfare lands-                                      nenmarktpolitik zur Gewährleistung der Frei-
cape“ kann längst keine Rede mehr sein.12 Und                                      zügigkeit von Warenverkehr, Arbeitnehmer:
die Identifikation der Idealtypen liberaler oder                                   innen, Dienstleistungen und Kapital und der
koordinierter Marktwirtschaften beziehungswei-                                     Implementierung einer gemeinsamen Geldpo-
se liberaler, konservativer oder sozialdemokra-                                    litik bei der Europäischen Zentralbank (EZB)
tischer Wohlfahrtsregime war in der Realität im-                                   folgten im Gemeinschaftsacquis nur wenige bis
mer konfrontiert mit Uneindeutigkeiten, wie dem                                    gar keine Harmonisierungsschritte in der Steu-
„Dutch Miracle“, Ausnahmen, wie dem britischen                                     er-, Lohn- und Industrie- sowie der Renten-,
National Health Service, oder Hybridisierungen,                                    Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik.
wie in den Wohlfahrtswelten Mittelosteuropas.13
Dennoch sind Unterschiede in der Dekommodi-                                           Als Ausgang aus dem Paradox eines er-
fizierung – das ist die Unabhängigkeit des Indivi-                                 höhten Bedarfs europäischer Politiken bei
duums vom Marktgeschehen – und in der Stra-                                        zeitgleich gewachsener Skepsis weiterer
tifizierung – das ist die soziale Schichtung und                                   Vergemeinschaftung15 bot sich seit Mitte der
Durchlässigkeit der Gesellschaft, etwa zwischen                                    1990er Jahre die Politikkoordinierung an.
reich und arm, gebildet und ungebildet – existent                                  Mithilfe eines komplexen und ständig wach-
und auffällig. Diese Divergenzen sind keine, die                                   senden Geflechts von Koordinierungszyklen
automatisch mit höherem Wirtschaftswachstum                                        zu gemeinsam identifizierten Zielen, einem
und aufholender Entwicklung eingeebnet werden,                                     umfassenden wechselseitigem Berichtswesen
sie stellen verschiedene politisch-institutionali-                                 zwischen den supranationalen Institutionen
sierte Perspektiven auf den gleichen Gegenstand                                    und den Mitgliedstaaten, sowie der Überwa-
dar – im Kern: marktnah und marktkritisch. Sie                                     chung durch die Europäische Kommission
                                                                                   und beim Rat verbleibender finaler Kontrolle
                                                                                   von Handlungsempfehlungen an die nationale
10 Peter A. Hall/David Soskice: Varieties of Capitalism. The institutional foun-
   dations of comparative advantage, Oxford 2001.                                  Politik, sollte über die weiche Form politischer
11 Gøsta Esping-Andersen, Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990, Prince-
   ton: Princeton University Press.                                                14 Fritz W. Scharpf, The European Social Model: Coping with the challenges of
12 Bruno Palier/Martin Claude, Editorial Introduction. From »a Frozen Land-           diversity, in: Journal of Common Market Studies, 2002, Vol. 40, Nr. 4, 645-670.
   cape« to Structural Reforms: The Sequential Transformation of Bismarckian       15 Uwe Puetter, Deliberativer Intergouvernementalismus und institutioneller
   Welfare Systems. In: Social Policy & Administration 2007, 41(6), 535–554.          Wandel: die Europäische Union nach der Eurokrise, in: Politische Vierteljah-
13 Alexandra Baum-Ceisig/Klaus Busch/Björn Hacker/Claudia Nospickel: Wohl-            resschrift, 56. Jg., 3/2015, S. 406-429 und Hans-Wolfgang Platzer, Konstitu-
   fahrtsstaaten in Mittel- und Osteuropa. Entwicklungen, Reformen und Perspek-       tioneller Minimalismus: Die EU-Sozialpolitik in den Vertragsreformen von
   tiven im Kontext der europäischen Integration, Baden-Baden 2008, Nomos.            Nizza bis Lissabon, in: integration 1, 2009, Jg. 32: 33–49.
18   Schwerpunkt                                                                                                                               spw 2 | 2021

     Steuerung das erreicht werden, was man sich in                              trafen die auf den Weg gebrachten Instrumente
     der harten Gesetzgebung versagte: den europä-                               auf ein marktliberales Setting und verstärkten
     ischen Zusammenhalt zu stärken und die sozio-                               dieses. In der Hochzeit von Neoliberalismus
     ökonomischen Welten einander anzunähern.                                    und Hyperglobalisierung und dem weit ver-
                                                                                 breiteten Glauben an deren Segnungen durch
         Doch die Asymmetrie der Integration sorgte                              Wohlstandszugewinne über Trickle-Down-
     auch in der Politikkoordinierung für eine Ent-                              Effekte, passten sich der Binnenmarkt und die
     wicklung mit Schlagseite. Das voluntaristische                              WWU gut ein als Paten für die Hinwendung zu
     Politiklernen über nationale Grenzen hinweg hat                             den freien Marktkräften.
     sich dort als stark und disziplinierend erwiesen,
     wo die vertragliche Integration am weitesten ge-                            Anpassung der Wohlfahrtsstaaten
     diehen ist: Im Bereich der budgetären Regelset-                             an den Wettbewerbsraum
     zung über den Stabilitäts- und Wachstumspakt.
     Versuche der engeren wirtschaftspolitischen                                    Die Koordinierungszyklen mit ihrer do-
     Koordinierung, etwa im Rahmen des Makroö-                                   minanten Bewerbung nachhaltiger Budget-
     konomischen Dialogs oder der Lissabon-Strate-                               politiken und wettbewerbsförderlicher Struk-
     gie blieben dagegen zaghaft. Noch viel weniger                              turreformen konnten hervorragend genutzt
     effektiv funktionierte die Abstimmung der Be-                               werden, um das global längst laufende Spiel
     schäftigungs- und Sozialpolitiken zwischen den                              um die höchste Wettbewerbsfähigkeit eines
     Mitgliedstaaten über die Beschäftigungsstrategie                            Wirtschaftsraumes oder Landes für die weitere
     oder die Offene Methode der Koordinierung.                                  Entwicklung der EU und ihrer Mitgliedstaaten
     Ohne quantitative Vorgaben mit Vertragsrang                                 zu adaptieren. Plötzlich standen nicht mehr
     – wie das öffentliche Defizit- und Verschuldungs-                           gemeinsam identifizierte wirtschaftliche und
     ziel – und der Abwesenheit von Sanktionen – wie                             soziale Ziele als Eckpfeiler eines Europäischen
     der Eröffnung eines Defizitverfahrens, an dessen                            Sozialmodells im Vordergrund, sondern die
     Ende Strafen stehen können – funktionierte das                              Anpassung der nationalen Wohlfahrtsstaaten
     „naming und shaming“ des grenzüberschrei-                                   an die für gut befundene marktliberale Umge-
     tenden Systemvergleichs nur punktuell. Eine                                 bung. Nicht etwa die Arbeits- und Sozialmi-
     Informationsbörse für die nationale Ministeri-                              nister, sondern die Finanzminister im immer
     albürokratie mit einzelnen Lerneffekten ist zwar                            mächtiger werdenden ECOFIN-Rat beschie-
     entstanden, das ja. Doch im Ergebnis sind die                               den den Mitgliedstaaten nun Reformbedarfe
     Verfahren, auch nach ihrer Bündelung im Euro-                               ihrer Rentensysteme und Arbeitsmärkte. Rund
     päischen Semester, weder inklusiv und demokra-                              um die Jahrhundertwende diffundierten die
     tisch noch vermögen sie der europäischen Asym-                              Ideen für Flexibilisierungen, Deregulierungen
     metrie etwas entgegen zu setzen.                                            und Privatisierungen quer durch die Mitglied-
                                                                                 staaten. Individuelle Flexibilität und Mobilität
        Mehr noch: die Behelfsbrücke der Politikko-                              im Job, privates Rentensparen, lebenslanges
     ordinierung16 hat einen Modus geschaffen, der                               Lernen und niedrige Steuern bei beschnitte-
     im Rahmen des überwiegend marktschaffend                                    nen Investitionen in die öffentliche Infrastruk-
     (also den Markt erweiternd) geprägten Integra-                              tur und gekürzten Sozialleistungen stellten die
     tionsraums scheinbar objektiv erstrebenswerte                               Eckpunkte dessen dar, was Anthony Giddens
     Ergebnisse produziert, wenn die Messlatte eine                              und die Anhänger des sogenannten Dritten
     ökonomistische ist. Während das ursprüngliche                               Wegs das „Neue Europäische Sozialmodell“
     Anliegen der Politikkoordinierung differenzier-                             nannten.17 Faktisch wurde der liberale Wohl-
     ter war und noch die Lissabon-Strategie in ihrer                            fahrtsstaat hierzu gekürt, da er dem Glauben an
     Ursprungsfassung ökonomischen Fortschritt                                   die freien Kräfte des Marktes bei nur minima-
     und soziale Kohäsion zugleich erreichen wollte,                             len Staatsinterventionen entsprach und perfekt
                                                                                 in die EU der ausgebauten Marktintervention
     16 Björn Hacker, Behelfsbrücke EU-Politikkoordinierung, in: Peter Becker/
        Barbara Lippert (Hg.): Handbuch Europäische Union. 2018, Springer VS,    17 Anthony Giddens, Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells, Friedrich-
        Wiesbaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17436-1_24-1                   Ebert-Stiftung, 03/2006: 7ff.
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passte. Klaus Busch spricht von einem so ge-                                 Lohnwachstum bis zu Leistungsbilanzsalden
schaffenen „System der Wettbewerbsstaaten“.18                                der Mitgliedstaaten im Blick. Und die EZB trug
Durch dieses System fand sich die EU gut zu-                                 mit ihrem einheitlichen Leitzins bei differenten
recht auf der neuen Navigationskarte des Fi-                                 Konjunkturzyklen und Inflationsraten nolens
nanzkapitalismus, der den Realkapitalismus                                   volens dazu bei, dass sich die Auseinanderent-
weltweit ablöste.19                                                          wicklung der Mitgliedstaaten auf dem Weg in
                                                                             die Krise verschärfte.
   Diese Sichtweise und die Nutzung der Ko-
ordinierung zu ihrer Festigung und Verbrei-                                     In Deutschland wurde die Problematik einer
tung kulminierten schließlich in der globalen                                einheitlichen Geldpolitik mit nationalen und
Finanz- und Wirtschaftskrise, aus deren keyne-                               schlecht abgestimmten Fiskalpolitiken in Poli-
sianisch operierendem Krisenmanagement die                                   tik und Medien gekonnt geleugnet, sekundiert
meisten politischen Akteure (zu) schnell wie-                                von einer Phalanx aus marktliberal überzeugten
der ausstiegen. Eine Bankenunion, wie insbe-                                 Ökonom:innen. Diese verwiesen stets auf den
sondere von Frankreich und einigen Staaten                                   von ach so vielen Mitgliedstaaten gebrochenen
Südeuropas favorisiert, bügelte die deutsche                                 Stabilitäts- und Wachstumspakt und lobten das
Bundesregierung damals brüsk ab.20 Während                                   deutsche exportorientierte Modell mit seiner
man in Deutschland über die sogenannte Ab-                                   Lohnentwicklung weit unter Produktivitäts-
wrackprämie, die Gebäudesanierung und viele                                  niveau. Im Rückspiegel avancierte die eng mit
weitere Maßnahmen die Konjunktur mittels                                     der Ausweitung des Niedriglohnsektors und
expansiver Fiskalpolitik schnell wieder in                                   reduzierten Sozialleistungsansprüchen verbun-
Schwung brachte, wurde jenen Staaten wenig                                   dene Agenda 2010 zur beispielhaften Politik,
Verständnis entgegengebracht, die auch 2010                                  deren Nachahmung einschließlich der 2009
noch hohe Defizite und Schuldenstände auf-                                   ins Grundgesetz eingefügten Schuldenbremse
wiesen. Im Ausgang der Weltwirtschaftskrise                                  den leidenden Ländern der Währungsunion
wurde in Berlin der Ton des „Hilf Dir selbst“                                wärmstens empfohlen wurde. Deren Wider-
und der umgehenden Rückkehr zu den euro-                                     spenstigkeit konnte gebrochen werden durch
päisch vertretenen Prinzipien nachhaltiger                                   ihre Abhängigkeit von Kreditlinien aus den
Budgetpolitiken und wettbewerbsförderlicher                                  neu aufgespannten Rettungsschirmen der EU.
Strukturreformen angeschlagen.                                               Deutschland gelang es für viele Jahre, das Mär-
                                                                             chen von der Staatsschuldenkrise zu einer auch
Ausverkauf des Wohlfahrtsstaats                                              von den Brüsseler Institutionen vertretenen Er-
durch die Austeritätspolitik                                                 zählung zu machen. Als einzig denkbare Lösung
                                                                             wurde im Krisenmanagement die in Berlin aus-
   Von dieser Linie wich man in der begin-                                   geheckte und über die Troika aus Kommission,
nenden Eurokrise nicht ab. Griechenland                                      EZB und Internationalem Währungsfonds in
mit seinen offenbar schon zum Eurobeitritt                                   den Krisenländern angeordnete Austeritätspoli-
geschönten Konvergenzzahlen, seinem steu-                                    tik verkauft. Im Hintergrund wurden zwar auch
er- und budgetpolitischen Schlendrian kam                                    andere Ideen – Bankenunion, Fiskalkapazität,
den Vertretern der No-Bailout-Klausel in der                                 Eurobonds – diskutiert, doch der Fortschritt zu
WWU gerade recht, um den über das kleine                                     einer systemischen Antwort auf die Krise der
südeuropäische Land hinausgehenden syste-                                    WWU blieb gering.21
mischen Webfehler der Eurozone zu ignorie-
ren: Mangelhaft nur waren wirtschaftliche Ent-                                  Die Kehrseite der Austeritätspolitik wurde
wicklungen von privater Verschuldung über                                    allerdings bald sichtbar: John Maynard Keynes
                                                                             hatte in der Analyse der Großen Depression
18 Klaus Busch, Die Perspektiven des europäischen Sozialmodells, 2005, Ar-
                                                                             einstmals davor gewarnt, in einen Abschwung
   beitspapier 92, Hans-Böckler-Stiftung.                                    hineinzusparen. Das Experiment wurde in Eur-
19 Stephan Schulmeister, 2018, Der Weg zur Prosperität, Wals bei Salzburg:   opa ab 2010 dennoch wiederholt mit dem abseh-
   ecowin.
20 Cerstin Gammelin/Raimund Löw, 2014, Europas Strippenzieher. Wer in
   Brüssel wirklich regiert, Berlin: econ.                                   21 Vgl. Hacker/Koch 2016, a.a.O.
20   Schwerpunkt                                                                                                   spw 2 | 2021

     baren Ergebnis einer prozyklischen Verstetigung    Ausverkauf nationaler Wohlfahrtsstaatlichkeit
     und Vertiefung der Wirtschaftskrise in vielen      oder vor einer Überforderung durch finanzielle
     Ländern. Die Auswirkungen blieben nicht allein     Solidaritätsansprüche schrieben sich einige lin-
     auf das Feld der Ökonomie beschränkt: Kupierte     ke und viele rechte Populist:innen in ihre Wahl-
     öffentliche Investitionen, Mindestlohnsen-         programme – und waren damit – gemessen an
     kungen, die Lockerung des Kündigungsschutzes       errungenen Parlamentssitzen – erfolgreich.
     und die Durchlöcherung der Tarifdeckungsrate,
     Massenentlassungen durch Privatisierungen,            So traurig es ist, aber erst der Aufstieg des
     Kürzung der Renten und Beamtenbezüge wa-           Rechtspopulismus in vielen europäischen Staa-
     ren eine Rosskur für viele Staaten insbesondere    ten, der – wie beispielhaft das Rassemblement
     Südeuropas, der gegenüber die deutsche Agen-       National um Marine Le Pen in Frankreich – ein
     da 2010 recht milde dasteht. Die Folgen zeigten    wohlfahrtschauvinistisches Programm vertritt,
     sich in einem Emporschnellen der Arbeitslosen-     hat bei vielen sozialdemokratischen und christ-
     zahlen – um 2012 herum waren in Griechenland       demokratischen Parteien zum Umdenken ge-
     und Spanien mehr als ein Viertel der Bevöl-        führt. Der Wohlfahrtschauvinismus ist wesens-
     kerung erwerbslos, die Jugendarbeitslosigkeit      verwandt mit dem Neoliberalismus, wenn er
     sprang gar über die 50-Prozent-Marke. Zuneh-       das Prinzip „Jeder kümmert sich um sich selbst“
     mende Armut und soziale Exklusion verbreite-       adaptiert, indem er internationalen Wettbewerb
     ten sich und vertieften weiter den sozioökono-     im Sinne eines Sozialdarwinismus („Survival of
     mischen Graben zwischen den EU-Staaten des         the fittest“) gutheißt. Anders als der Neolibera-
     Nordens und des Südens. Einige so besonders        lismus möchte er aber nur eine eingeschränkte
     tief in die Krise gestoßenen Länder schafften es   Kooperation über nationale Grenzen hinweg
     bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie 2020        zulassen, bekämpft offen Globalisierung und
     nicht, ihre Wirtschafts- und Sozialdaten wieder    Europäisierung und erzeugt ein Traumbild an-
     auf Vorkrisenniveau zu bringen. Es sind daher      geblich besserer, längst vergangener Zeiten. Di-
     erneut viele Staaten Südeuropas, die in dieser     ese gedankliche Flucht ins „Retrotopia“22 fiel in
     neuen grenzüberschreitenden Krise besonders        und nach der Eurokrise auf fruchtbaren Boden
     betroffen sind.                                    – auch, weil viele Regierungsparteien am Tina-
                                                        Prinzip („There is no Alternative“) des immer
     „Die Geister, die ich rief...“                     marktfreundlicheren Wohlfahrtsstaatsumbaus
     – neuer politischer Protest                        allzu lange festhielten. Erst die Coronakrise
                                                        machte einige Langzeitregierende – wie etwa
        Dass Brüssel statt konjunkturell die Kri-       die deutsche Bundeskanzlerin – mutig genug,
     senländer zu unterstützen, die Krise nutzte,       den Austeritätskurs zu verwerfen.
     um strukturelle Reformen einer neoliberalen
     pensée unique durchzusetzen, die über neue         Die Wiederentdeckung des
     Instrumente – wie den Fiskalpakt, den Euro-        Wohlfahrtsstaats
     Plus-Pakt und den gehärteten Stabilitätspakt
     – überwacht wurden, blieb auch politisch nicht        Mit der Unterstützung für das Next Genera-
     ohne Konsequenzen. Unvergessen die Wortge-         tion EU-Paket wird ein neues Kapitel in der eu-
     fechte, die sich der griechische Finanzminister    ropäischen Integration aufgeschlagen.23 Bislang
     Yanis Varoufakis – als Repräsentant der 2015       tabuisierte oder verpönte Themen stehen nun
     in die Regierung gewählten Protestpartei Sy-       weit oben auf der Agenda, so etwa die explizi-
     riza gegen das Austeritätsregime – mit seinem      te Ermöglichung konjunktureller Hilfen (auch
     deutschen Amtskollegen Wolfgang Schäuble           als Zuwendung, nicht nur auf Kreditbasis) für
     um den richtigen Krisenkurs in der Eurogrup-       ökonomisch besonders von der Krise betroffene
     pe lieferte. Auch in anderen Staaten wuchsen       Staaten, die hierzu auf den Weg zu bringende
     die politischen Ränder – nicht notwendiger-
     weise aufgrund der Austeritätspolitik, vielmehr
                                                        22 Zygmunt Baumann, 2017, Retrotopia, Berlin: Suhrkamp.
     überlagerte die sogenannte Flüchtlingskrise        23 Arne Heise: Jump-Start der europäischen Volkswirtschaften mit Wumms,
     bald alle Debatten. Aber die Angst vor einem          in: spw 3/2020, Heft 238, S. 81-86.
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gemeinsame Verschuldung (und damit auch              Die Artikel des Heftschwerpunktes
Haftung), die langfristige Tilgung mithilfe einer
EU-Steuer und nicht zuletzt die Identifikation           Sigrid Leitner skizziert im Interview die (vor
von Investitionsprojekten zur Erneuerung der         allem in Europa) vielfältigen Verschiebungen
europäischen Wirtschaft (Green Transition,           der wohlfahrtsstaatlichen Pfade. Durch die Dis-
Digitalisierung) auch nach Überwindung der           kurse bzw. Logiken von Aktivierung und markt-
akuten Krise. Ob damit der Mangel gemein-            basierter Eigenverantwortung sei es zu Verän-
samer Politiken abseits der Marktschaffung           derungen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik
bereits behoben ist, darf bezweifelt werden.         gekommen, die nicht allein mit dem Phänomen
Zumal unter vielen politischen Akteuren (auch        des Neoliberalismus zu fassen seien. Vielmehr
der Sozialdemokratie) strittig ist, ob die schnel-   seien wohlfahrtsstaatliche Arrangements neu
le Rückkehr zum marktliberalen Modell (Nie-          verhandelt worden: „Der Umbau des Wohl-
derlande, Österreich) oder die Übernahme             fahrtsstaats setzt insgesamt auf einen punktu-
wohlfahrtschauvinistischer Forderungen der           ellen Rückzug staatlicher Garantien und im Ge-
extremen Rechten durch nationale Abschottung         genzug auf mehr individuelle Verantwortung,
und weniger Europa aus Sorge vor einer Nivel-        wobei es sich um ein mehr an marktvermittelter
lierung des eigenen Sozialniveaus (Dänemark)         Sicherung für das Individuum handeln kann
erfolgversprechendere Alternativen darstellen.       oder aber um eine Re-Familisierung, d.h. eine
Dies hat nicht zuletzt die Positionierung der        Verlagerung von sozialer Sicherung in famili-
sogenannten Sparsamen Fünf während der Ver-          äre Abhängigkeitsverhältnisse“. Insbesondere
handlungen um das Corona-Hilfspaket gezeigt.         in der Rentenpolitik habe eine Orientierung
                                                     auf private Vorsorge stattgefunden. Gleichwohl
   Die in immer schnellerem Tempo den ein-           vereinten sozialdemokratische Wohlfahrtsstaa-
zelnen Staaten bewusstwerdenden grenzüber-           ten noch immer ein relativ hohes Beschäfti-
schreitenden Herausforderungen – Manage-             gungsniveau mit vergleichsweise geringer sozi-
ment von Finanzmärkten, Wirtschaftskrisen,           aler Ungleichheit. Zudem seien im Bereich der
Klimaveränderung, Migration, Pandemien, des          Kinderbetreuung und der Lohnersatzleistungen
digitalen und demografischen Wandels – spre-         in konservativen Wohlfahrtsstaaten, wie z.B.
chen eher für die Notwendigkeit einer besseren       Österreich und Deutschland, Verschiebungen
Gestaltung transnationaler Integration und Ko-       in Richtung des schwedischen Pfads festzustel-
operation in der EU. Sind schon in der globalen      len. Dazu habe unter anderem die ökonomische
Finanzkrise erste Zweifel an der Loslösung öko-      Logik beigetragen, die Erwerbsbeteiligung zu
nomischer Aktivitäten von der Realwirtschaft         erhöhen, um das Arbeitskräftepotenzial bes-
laut geworden, wurden bereits in der Eurokrise       ser auszuschöpfen. Jene Logik habe die EU
die sozialen und politischen Folgen der Auste-       durch entsprechende Richtlinien gefördert. Das
ritätspolitik sichtbar, zeigt heute die Pandemie     männliche Ernährermodell sei zurückgedrängt
mit ihren für viele Menschen besonderen Här-         worden, wirke jedoch in vielfältiger Weise fort,
ten die hohe Bedeutung eines interventionsfä-        so etwa durch höhere Gehälter von Männern in
higen Staates, der die Marktergebnisse durch         Verbindung mit unzureichenden Betreuungs-
Wirtschaftspolitik und Umverteilung korri-           möglichkeiten für Kinder, die Frauen eher dazu
giert, die Menschen sozial absichert und in die      veranlassten, Teilzeittätigkeiten auszuüben.
Zukunft investiert.
                                                        Max Reinhardt vergleicht die soziale Un-
    Die jüngsten Entwicklungen der europäischen      gleichheit innerhalb der EU entlang verschie-
Wohlfahrtsstaaten, ihr Umgang mit dem 30 Jahre       dener Wohlfahrtspfade mithilfe des Gini-Koeffi-
dominanten Marktliberalismus und ihre Chan-          zienten und arbeitet anhand einer Untersuchung
cen, mit den ersten Schritten der EU hin zu einem    von Marion Kühn heraus, dass Länder der so-
neuen sozioökonomischen Paradigma – weg von          zialdemokratischen Pfadlogik trotz teilweiser
der Rekommodifizierung, hin zur Dekommodi-           Angleichungsprozesse in Richtung einer hö-
fizierung – eine Renaissance zu erleben, sollen in   heren Ungleichheit noch immer eine gleichere
diesem Schwerpunkt beleuchtet werden.                Einkommensverteilung aufweisen als Länder
22   Schwerpunkt                                                                                spw 2 | 2021

     in anderen Wohlfahrtsstaatsregimen. Obwohl         rechnet, wie nach den neuesten Berechnungen
     von langfristigen Verschiebungen von liberalen     des sozio-oekonomischen Panels, bewege sich
     und mediterranen zu hybriden Pfaden sowie          der Gini-Koeffizient in Deutschland in etwa
     von konservativen und sozialdemokratischen in      auf dem Niveau der USA. Während der Pande-
     Richtung neu-traditionaler Pfade auszugehen sei,   mie habe sich der Sozialstaat als systemrelevant
     wirkten die alten Pfadlogiken im Kern fort. Der    erwiesen. Die Aussetzung der Sanktionen für
     Abbau sozialer Ungleichheiten bei Einkommen        ALG-II-Bezieher:innen sollte dauerhaft gelten.
     und Vermögen bleibt auch angesichts der hohen      Benötigt würden unter anderem mehr sozial-
     Kapitalkonzentration auf der Tagesordnung. Die     versicherungspflichtige Beschäftigung anstel-
     EU-Richtlinie zum Mindestlohn und zur Ta-          le von Minijobs. Sozialstaatliche Ressourcen
     rifbindung könnte Arbeitnehmer:innenrechte         müssten vor allem auf Menschen konzentriert
     wieder stärken, sofern höhere Standards wie die    werden, die besonders bedürftig seien, wie
     vom DGB geforderten mindestens 60 Prozent          z.B. „prekär Beschäftigte, Leiharbeiter/innen
     des Medians umgesetzt werden.                      und Randbelegschaften ebenso wie […] Solo-
                                                        selbstständige, manche Freiberufler/innen und
        Arne Heise analysiert die Möglichkeiten der     Kleinunternehmer/innen“.
     Aufbau- und Resilienzfazilität des Aufbauplans
     Next Generation EU, insbesondere dessen Zu-           Inge Hannemann kritisiert die Logiken, die
     schüsse zur Anregung des wirtschaftlichen          hinter den Hartz-IV-Gesetzen stehen und erin-
     Wachstums und öffentlicher Investitionen           nert an deren Historie, u.a. im Schröder-Blair-
     zum Ausgang aus der Coronakrise in den EU-         Papier und der Politik der neuen Mitte. Danach
     Mitgliedstaaten. Er bezieht die Verteilung der     müssten Erwerbslose um jeden Preis in Arbeit
     Mittel auf die wohlfahrtstaatlichen Pfade und      gebracht und aufgrund ihrer vermeintlichen
     konstatiert, dass die mediterranen Länder be-      Passivität aktiviert werden, etwa um deren
     sonders von den Umverteilungseffekten des          angeblichen Sozialbetrug zu verhindern. Die
     neu aufgesetzten Fonds profitierten. Gemessen      Würde eines Menschen dürfe nicht von einer
     an den wirtschaftlichen Schäden der Pandemie       sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
     würden zudem die osteuropäischen Staaten           oder der Befolgung bürokratischer Maßnah-
     überproportional begünstigt.                       men abhängen.

        Jenny Andersson betrachtet die Entwick-            Björn Böhning und Sven Rahner entwickeln
     lungslinien des schwedischen Wohlfahrtsstaats      Wege für die Einführung einer Arbeits- und
     und kritisiert im Interview dessen in Deutsch-     Bildungsversicherung anstelle der Arbeitslosen-
     land noch immer verbreiteten Idealbilder. Die      versicherung. Mit dem Qualifizierungschan-
     Marktliberalisierungen in Schule, Sozialer         cengesetz, dem „Arbeit-von-morgen-Gesetz“
     Wohnraumversorgung, im Gesundheitssektor           und dem Beschäftigungssicherungsgesetz seien
     und am Arbeitsmarkt hätten zu Spaltungen           erste Schritte in diese Richtung unternom-
     geführt, in der sozial privilegiertere Schichten   men worden, vor allem durch den Ausbau der
     private Lösungen bevorzugten, während wenig        Weiterbildungsförderung, z.B. durch das neue
     oder Unterprivilegierte staatliche Leistungen      Recht auf das Nachholen des Berufsabschlusses.
     nutzten. Auch dadurch habe die Legitimation        Für das kommende Jahrzehnt gehe es vor allem
     des Wohlfahrtsstaates abgenommen, zudem            darum, die Förderung auf die individuellen Be-
     seien soziale Ungleichheiten infolge von „ge-      rufsbiografien auszurichten, so z.B. das „Recht
     ringerer Progression und Steuernachlässen“ er-     auf Weiterbildung und beruflichen Neustart in
     höht worden.                                       allen Lebensphasen“.                         ó

        Christoph Butterwegge befasst sich mit dem
     deutschen Sozialstaat, dessen Versorgungslü-
     cken und der zunehmenden sozialen Ungleich-
     heit. So seien sowohl Reichtum als auch Armut
     angestiegen. Würden Vermögenswerte einge-
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