Die Gewerkschaften - progressive Akteure einer Nachhaltigkeitsrevolution? - spw

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38   Schwerpunkt                                                                                                                                        spw 4 | 2019

     Die Gewerkschaften – progressive Akteure einer
     Nachhaltigkeitsrevolution?
     von Klaus Dörre

         Sprachen nach der großen Krise von 2007-                                        dung und rechtspopulistische Orientierungen
     2009 zumindest in der Bundesrepublik einige An-                                     in Teilen der Mitgliedschaft. Hinzu kommen
     zeichen für ein Comeback der Gewerkschaften,                                       interner Generationswandel und die Neubeset-
     trüben sich die Aussichten gegenwärtig wieder                                       zung von Führungspositionen. Die politische
     ein. Nach zehn Jahren wirtschaftlicher Prosperi-                                    Generation der (Post-)Achtundsechziger tritt
     tät schwächt sich die Konjunktur ab. Zwar exis-                                     auch in den Gewerkschaften ab oder ist schon
     tiert kein ehernes Gesetz, wonach ökonomische                                       abgetreten, neue Führungspersönlichkeiten
     Konjunkturkrisen unweigerlich zu einer Schwä-                                       müssen sich bewähren. All das wird in einem
     chung gewerkschaftlicher Machtressourcen                                           sozialen Umfeld zu bewerkstelligen sein, das im-
     führen, doch punktgenau mit den ersten Anzei-                                       mer weniger bereit ist, formale Hierarchien und
     chen für eine Rezession formuliert der Arbeit-                                      zentralistische Politikstile zu akzeptieren. Solch
     geberverband Gesamtmetall eine Kampfansage.                                         interne Veränderungen binden Kräfte. Sind
     Die IG Metall solle auf „Höchstkonditionen“                                         die Gewerkschaften in einer solchen Situation
     verzichten, Krisenbetrieben mehr Ausnahme-                                          überhaupt noch in der Lage, die im Gange be-
     regelungen bieten und Tagesstreiks unterlassen.                                     findlichen Veränderungen von Arbeitswelt und
     Geschehe das nicht, müsse die Gewerkschaft                                          Gesellschaft zu meistern? Können sie wieder zu
     mit dem Ende des Branchentarifs rechnen: „[…]                                       einer Kraft werden, die über eine bloße Vertei-
     wenn alle Unternehmen die Tarifbindung verlas-                                      digung unmittelbarer sozioökonomischer Inter-
     sen, kann die Gewerkschaft zusehen, wie sie sich                                    essen von Lohnabhängigen hinaus emanzipato-
     im Häuserkampf durchschlägt“.                                                      rische Anliegen zu fördern in der Lage ist? Oder
                                                                                         werden sie immer mehr zum willigen Bestandteil
        Man könnte das als Theaterdonner abtun und                                       einer großen Partei für Wirtschaft, Industrie und
     zur Tagesordnung übergehen, wäre da nicht eine                                      Arbeit, die dafür sorgen will, Besitzstände so lan-
     Anhäufung von Problemen, die vielen gewerk-                                         ge wie möglich zu erhalten und deshalb wichtige
     schaftlich Aktiven in der Summe als kaum bewäl-                                     Entscheidungen über gesellschaftliche Zukünfte
     tigbar erscheint. Zum Auslaufen der Konjunktur                                      auf die lange Bank schiebt?
     gesellen sich strukturelle Veränderungen – die
     zweite Phase der Digitalisierung, Klimawandel,                                          Um es klar zu sagen: Eine Entscheidung über
     Ressourcenproblematik, wachsende Ungleich-                                          die politische Ausrichtung der Gewerkschaften
     heit, Mitgliederverluste, erodierende Tarifbin-                                     ist – auch in Deutschland – noch nicht gefallen.
                                                                                         Gegenwärtig bewegen sich die Mitgliedsorga-
                                                                                         nisationen des DGB im weiten Spannungsfeld
     	 Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziolo-   zwischen konservierender und transformie-
        gie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber der spw.
     	 Schmalz, Stefan/Dörre, Klaus (Hrsg.) (2013): Comeback der Gewerk-
                                                                                         render Interessenpolitik. Die eine Tendenz führt
        schaften. Machtressourcen, innovative Praktiken, internationale Perspekti-       in Richtung einer fraktalen Organisation, die
        ven. Frankfurt am Main/New York: Campus.
                                                                                         den Anspruch einer Repräsentation aller Lohn-
     	 Gewerkschaftliche Interessenpolitik mit Machtressourcen in Verbindung zu
        bringen, ist inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Dabei setzt    abhängigen aufgibt, um nur noch die Partikula-
        sich jedoch mehr und mehr durch, Machressourcen auf ein formales Vier-
        Felder-Schema zu begrenzen (strukturelle, organisationale, institutionelle und
                                                                                         rinteressen bestimmter Beschäftigtengruppen in
        gesellschaftliche Macht), das über gewerkschaftliche Praktiken wenig aussagt.    einzelnen Branchen zu vertreten. Die Gegen-
        Mit dem Jenaer Machtressourcenansatz haben solch formale Heuristiken
        wenig gemein. Der Jenaer Ansatz beinhaltet ein kapitalismustheoretisches
        Fundament (Landnahme des Sozialen), empirisch fundierte Fallstudien in           	 Ich habe diese Tendenz bereits vor Jahren als möglichen Funktionswandel
        unterschiedlichen Sektoren sowie das methodologische Selbstverständnis einer        von Gewerkschaften beschrieben. Vgl. Dörre, Klaus (2011): Funktionswan-
        organischen öffentlichen Soziologie. Vgl. dazu: Dörre, Klaus (2017): Gewerk-        del von Gewerkschaften. Von der intermediären zur fraktalen Organisation.
        schaften, Machtressourcen und öffentliche Soziologie. Ein Selbstversuch. In:        In: Haipeter, Thomas/Dörre, Klaus: Gewerkschaftliche Modernisierung.
        Österreichische Zeitschrift für Soziologie. 42 Jg., H. 2, S. 105-128.               Wiesbaden: VS Verlag, S. 267-302. Das stillschweigende „Opfern“ von Leih-
     	 Dulger, Rainer (2019): „Das war einfach zu viel für uns“. Interview in: Süd-        arbeitern und befristet Beschäftigten während der großen Krise von 2008-
        deutsche Zeitung vom 23. Juli 2019, S. 22.                                          2009 war Ausdruck einer solchen Tendenz; Die schroffe Ablehnung von
spw 4 | 2019                                                                                                           Schwerpunkt        39

tendenz beinhaltet, dass sich Gewerkschaften                                           tische Interessenpolitik mit der Idee und Praxis
wieder stärker als soziale Bewegung verstehen,                                         einer Nachhaltigkeitsrevolution verbindet.
die ihre Machtressourcen offensiv nutzt, Mit-
gliederpartizipation ausbaut und ihr politisches                                       1 Die ökonomisch-ökologische Zangenkrise
Mandat auch und gerade bei der Durchsetzung                                              erfasst das Wirtschafts- und Industrie-
ökologischer und sozialer Nachhaltigkeitsziele                                           modell
offensiv wahrnimmt. Für eine solche Tendenz
gibt es ebenfalls Beispiele.                                                             Der Begriff ökonomisch-ökologische Zan-
                                                                                       genkrise besagt, dass das wichtigste Mittel zur
    Will man die progressive Richtung stärken,                                         Überwindung wirtschaftlicher Krisen im Ka-
so müssen die Rahmenbedingungen, die thema-                                            pitalismus, die Erzeugung von Wirtschafts-
tischen Anknüpfungspunkte und vor allem die                                            wachstum nach den Kriterien des Bruttoin-
verfügbaren Machtressourcen von Lohnabhängi-                                           landsprodukts (BIP), auf der Grundlage fossiler
gen genauer inspiziert werden, denn Fatalismus                                         Energieträger sowie bei steigendem Ressourcen-
ist kaum weniger problematisch als ein Volunta-                                        und Energieverbrauch unweigerlich zu einer
rismus, der die Möglichkeiten gewerkschaftlicher                                       Kumulation ökologischer Großgefahren führt.
Interessenpolitik deutlich überschätzt. Unter den                                      Die Früchte des Wirtschaftswachstums werden
Bedingungen einer ökonomisch-ökologischen                                              innerhalb der nationalen Gesellschaften, aber
Zangenkrise, so meine These, können die Ge-                                            auch zwischen kapitalistischen Zentren und
werkschaften eine progressive gesellschaftliche                                        (Semi)Peripherien nicht nur höchst ungleich
Rolle nur spielen, wenn sie sich zu Protagonisten                                      verteilt, der vorherrschende Wachstumstyp,
einer Nachhaltigkeitsrevolution entwickeln. Ihre                                       seine Produktions- und Lebensweisen erweisen
besondere Aufgabe besteht darin, ökologische                                           sich zunehmend als ökologische Destruktiv-
Nachhaltigkeit durch einen Kampf auch und                                              kräfte, die vor allem die alten kapitalistischen
gerade für soziale Nachhaltigkeit zu befördern                                         Hauptländer zu einer großen Transformation
oder überhaupt erst möglich zu machen. Von                                             zwingen. Diese Transformation ist spätestens
der Ausübung einer solchen Rolle sind die re-                                          seit der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise
alen Gewerkschaften gegenwärtig noch ein gutes                                         von 2008-2009 im Gange, sie lässt sich nicht
Stück entfernt. Doch es gibt Ansätze, die hoff-                                        aufhalten. Für einen begrenzten Zeitraum ist es
nungsvoll stimmen. Vor allem jedoch gilt, dass                                         jedoch noch möglich, Weichen zu stellen, um
gesellschaftliche Mehrheiten für die dringend ge-                                      die Richtung des Wandels zu beeinflussen.
botene Nachhaltigkeitsrevolution ohne die Inter-
essenorganisationen der Lohnabhängigen kaum                                               Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der
zu erreichen sind. Dieses Bewusstsein setzt sich                                       alte industrielle Klassenkonflikt unwiderruflich
allmählich auch bei Umweltverbänden und öko-                                           in einen sozialökologischen Transformations-
logischen Bewegungen durch, die für „koordi-                                           konflikt zu verwandeln beginnt. Präziser: Die
nierte Politikansätze“ werben. Zur Begründung                                         reichen Gesellschaften des globalen Nordens
dieser These skizziere ich die Herausforderungen                                       werden von den Auseinandersetzungen, die an
der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise,                                               der ökologischen und der sozialen Frage auf-
gehe auf gewerkschaftliche Machtressourcen ein                                         brechen, gleichsam in die Zange genommen.
und illustriere am Beispiel des Braunkohleaus-                                         So sehen sich alle kapitalistischen Zentren mit
stiegs in der Lausitz Konsequenzen einer kon-                                          wachsenden klassenspezifischen Ungleichheiten
servierenden Interessenpolitik, um abschließend                                        konfrontiert. Die Profite der Top-2000 unter den
einen Green New Deal vorzuschlagen, der realis-                                        transnationalen Unternehmen und die Anteile
                                                                                       von Arbeitseinkommen am Bruttoinlandspro-
   Sozialisierungsideen durch führende IGM-Betriebsräte kann als aktuelles             dukt entwickeln sich, wie der sogenannte „cro-
   Beispiel gewertet werden.
                                                                                       codile graph“ für die Jahre von 1995 bis 2005
	 Vgl. dazu: Dörre, Klaus (2018): Neue Perspektive für Arbeitszeitverkürzung: Der
   Tarifabschluss der IG Metall. In: SPW. Zeitschrift für sozialistische Politik und   belegt, umgekehrt proportional. Während die
   Wirtschaft Heft 226-2018, S. 74-77. Der Frauenstreik ist ein anders gelagertes,     Gewinne der transnationalen Unternehmen seit
   ermutigendes Beispiel, das wissenschaftlich noch gar nicht ausgeleuchtet ist.
	 Petschow, Ulrich et al. (2019): Handlungsempfehlungen zur Stärkung von Koo-
                                                                                       der Jahrtausendwende bis 2013 mit Ausnahme
   perationen für die sozialökologische Transformation, MS: Berlin/Heidelberg.         des Krisenjahres 2009 permanent gestiegen sind,
40   Schwerpunkt                                                                                                                                       spw 4 | 2019

     befinden sich die Anteile der Lohneinkommen                                       seither in Gang gesetzten raschen, permanenten
     am BIP, die Krisenjahre ausgenommen, bis 2013                                     Wirtschaftswachstums korrigieren muss.
     im Sinkflug. Seither steigen sie leicht, verharren
     aber auf relativ niedrigem Niveau. Die Grün-                                        Zugespitzt formuliert: Benötigt wird eine
     de für diese Entwicklung hat der Internationale                                   Nachhaltigkeitsrevolution. Künftig sind ökolo-
     Währungsfonds mit technologischem Wandel,                                         gische und soziale Nachhaltigkeitsziele daher
     der Marktmacht großer Unternehmen und der                                         ein Lackmustest gewerkschaftlicher Interes-
     anhaltenden Schwäche von Gewerkschaften prä-                                      senpolitik. Für diesen Lackmustest gibt es zwei
     zise benannt.                                                                    einfache Kriterien. Erstens: Reduziert sich der
                                                                                       ökologische Fußabdruck und sinken die Emissi-
        Zeitgleich mit der Zunahme sozialer Un-                                        onen? Zweitens: Steigt – für jede und jeden frei
     gleichheit bricht sich aber auch die Erkenntnis                                   zugänglich und auch für künftige Generationen
     bahn, dass ein „‚Aufschließen‘ aller nationalen                                   – die Lebensqualität? Daran muss sich Nachhal-
     Ökonomien zu den Produktions- und Kon-                                            tigkeit „messen lassen“13. Mit den Nachhaltig-
     sumptionsweisen der am stärksten entwickelten                                     keitszielen der UNO (Sustainable Developement
     Industriegesellschaften […] den Planeten unbe-                                    Goals/SDGs) gibt es – trotz aller berechtigten
     wohnbar machen“ würde.10 Zwischen 1980 und                                        Kritik am Zustandekommen, dem Kompromis-
     2016 haben sich die klimaschädlichen Emissi-                                      scharakter und der relativen Unverbindlichkeit
     onen weltweit verdoppelt.11 Absolut gesunken                                      dieser Ziele – gute Chancen, Nachhaltigkeitskri-
     sind die Emissionen letztmalig im Krisenjahr                                      terien für gewerkschaftliche Politik zu operatio-
     2009, weil die industrielle Produktion einge-                                     nalisieren. Dabei ist allerdings zu beachten, dass
     brochen war. Der Energieverbrauch ist absolut                                     sich aus den Spannungen, die zwischen sozialen
     letztmalig in den 1980er Jahren zurückgegan-                                      und ökologischen Nachhaltigkeitszielen bestehen
     gen und auch die Ressourcenbilanzen tendieren                                     können, Zielkonflikte ergeben, in denen sich die
     gegenwärtig zu einer irreversiblen Schädigung                                     Gewerkschaften zu verorten haben. Die daraus
     nahezu geschlossener ökologischer Kreislauf-                                      resultierende Konfliktdynamik hat hierzulande
     systeme. Ist all das seit langem bekannt, erlangt                                 inzwischen Schlüsselbranchen des Industrie- und
     der ökologische Gesellschaftskonflikt eine neue                                   Wirtschaftsmodells erreicht.14
     Qualität, weil die Zeit für ein Gegensteuern
     knapp zu werden beginnt. Nach einer Studie                                           Zunächst Vorreiter bei der Umstellung auf er-
     des IPCC für ein 1,5-Grad-Erderwärmungss-                                         neuerbare Energien, haben die klimaschädlichen
     zenario benötigen wir bis spätestens 2050 voll-                                   Treibhausgasemissionen auch in Deutschland
     ständig dekarbonisierte Wirtschaftssysteme.12                                     wieder zugenommen15. Hauptverursacher ist
     Selbiges zu realisieren ist gleichbedeutend mit                                   neben dem Energiesektor, den Gebäudeemis-
     Veränderungen, die in ihrem historischen Aus-                                     sionen und der Landwirtschaft vor allem der
     maß mit jenen der ersten industriellen Revo-                                      Verkehr. Als einziger Wirtschaftssektor hat er
     lution vergleichbar sind. Dies jedoch mit dem                                     bislang nichts zur Emissionsreduktion beigetra-
     gravierenden Unterschied, dass es nunmehr um                                      gen. Die Emissionen der Fahrzeugflotten steigen.
     die Suche nach einem Notausstieg geht, der die                                    Europaweit verbindliche Dekarbonisierungs-
     gesellschaftszerstörenden Konsequenzen des                                        ziele sorgen nun für Veränderungsdruck. In der
                                                                                       neuen weltpolitischen Konstellation, die die Hy-

     	 Gallagher, Kevin P./Kozul-Wright, Richard (2019): A New Multilateralism
        for Shared Prosperity. Geneva Principles for a Global Green New Deal, Genf:    13 Grober, Ulrich (2013). Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte
        UNCTAD, S. 12.                                                                    eines Begriffs. München: Verlag Antje Kunstmann, S. 269.
     	 International Monetary Fund (IMF) (2017). World Economic Outlook. Gai-         14 Die im deutschen Produktionsregime mit seiner dominanten Exportori-
        ning Momentum. Washington: IMF Publication Services.                              entierung vernachlässigten sozialen Dienstleistungen (Pflege, Erziehung,
                                                                                          Therapieberufe etc.) sind für eine sozialökologische Transformation von
     10 McCarthy, Thomas (2015). Rassismus, Imperialismus und die Idee mensch-            zentraler Bedeutung. Sie müssen auskömmlich finanziert und gesellschaft-
        licher Entwicklung. Berlin: Suhrkamp, S. 375.                                     lich aufgewertet werden. Siehe dazu u. a. spw 231 (2019) Schwerpunkt „Soli-
     11 Gallagher/Kozul-Wright 2019, S. 7.                                                darischer und moderner Wohlfahrtsstaat).
     12 IPCC (2018): Special Report. Global Warming of 1.5 º C. Bonn: UN Climate       15 Ausnahme war das Jahr 2018. Ein „Sommer der Dürre“ ermöglichte Einspa-
        Change. Andere Szenarien halten die verfügbaren Zeitbugets für deutlich ge-       rungen bei der Heizung und erhöhte wegen niedriger Wasserpegel der Flüsse
        ringer. Die Rede ist von neun bis elf Jahren, um gegenzusteuern. Fridays for      und dadurch steigender Transportkosten die Benzinpreise, was wiederum zu
        Future geht von einem solchen Szenario aus.                                       geringerem Verbrauch führte.
spw 4 | 2019                                                                                              Schwerpunkt                 41

perglobalisierung mit sich gebracht hat, sind die   scheint die Lage trostlos. Überall in Europa
ökologischen Repulsionen des Automobilsektors       verlieren die Gewerkschaften nicht nur an Or-
Gegenstand imperialer Rivalitäten. Geplante Ver-    ganisations-, sondern auch an institutioneller
bote für Verbrennungsmotoren in ökonomisch          Macht. Ein genauerer Blick fördert eine große
starken Ländern (England, Frankreich) und die       länderspezifische Varianz zutage. Während der
beschleunigte Umstellung auf Elektro-Mobilität      gewerkschaftliche Netto-Organisationsgrad in
im wichtigsten Wachstumsmarkt China werden          Schweden noch bei etwa 67 Prozent liegt, ist er
– gemeinsam mit der Digitalisierung und protek-     in vielen Ländern unter die 20-Prozent-Marke
tionistischen Handelspolitiken – zu einem weit-     gesunken. In Frankreich beträgt er nur noch acht
reichenden Umbau des Wertschöpfungssystems          Prozent. Parallel dazu ist auch die Tarifbindung
Automobil führen. Die Transformation der Auto-      der Unternehmen in den meisten EU-Ländern
mobil- und Zulieferindustrie geht schon zu ihrem    rückläufig. Während in Österreich immerhin 98
Beginn schwerpunktmäßig zulasten der Beschäf-       Prozent der Beschäftigten in Unternehmen mit
tigten. In den Belegschaften und bei einem Teil     Tarifbindung arbeiten, sind es in Griechenland
der Betriebsräte setzt dies verständlicherweise     nur noch 40 Prozent, in Ungarn 23 Prozent und
Beharrungskräfte frei. Je näher man an betroffene   in Polen nur noch 15 Prozent.16 Entscheidend ist
Belegschaften heranrückt, desto lauter werden       jedoch die Gesamttendenz, die sich in den meis-
Stimmen, die von Klimahysterie sprechen, um         ten EU-Staaten über viele Jahre hinweg in Rich-
die Geschwindigkeit bei der Umsetzung ökolo-        tung Desorganisation und Entkollektivierung
gischer Nachhaltigkeitsziele zu drosseln. Wie bei   der Arbeitsbeziehungen bewegt hat. Zugespitzt
radikalen Strukturbrüchen häufig der Fall, ten-     formuliert: Die organisierten Arbeitsbezie-
dieren Sicherheitsinteressen von Beschäftigten      hungen erodieren. Nicht nur die gewerkschaft-
zur Konservierung des Bestehenden.                  liche Organisationsmacht, auch die Repräsen-
                                                    tationsfähigkeit der Wirtschaftsverbände sinkt,
    Das ist aber nur die eine Seite der Medail-     gleichzeitig nimmt die Bindekraft von Kollektiv-
le. An Nachhaltigkeitszielen gemessen, ist die      vereinbarungen und tariflichen Normen ab.
Umstellung auf Elektromobilität völlig unzu-
reichend, um den Klimawandel wirksam zu                Deutschland stellt diesbezüglich keine Aus-
bekämpfen. Benötigt werden völlig neue Mobi-        nahme dar. Der gewerkschaftliche Organisa-
litätssysteme. Es geht um eine allmähliche Ab-      tionsgrad liegt allenfalls noch bei 18 Prozent
kehr vom privaten PKW und den Ausbau des            der abhängig Erwerbstätigen. Obwohl sich der
öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, um einen        Mitgliederbestand einiger Gewerkschaften (IG
vollständigen Bruch mit lange hegemonialen          Metall, GEW, GdP) über einige Jahre hinweg
Verkehrskonzepten. Ohne die Rückkehr zu öf-         wieder konsolidiert hat, schwindet der Organi-
fentlichem Eigentum, etwa bei der Bahn, ohne        sationsanreiz auf der Kapital- bzw. auf der Ar-
öffentliche und zugleich gerechtere Finanzie-       beitgeberseite. Industrieverbände ermöglichen
rungen von Mobilität und eine an solchen zielen     Unternehmen eine Mitgliedschaft ohne Tarif-
orientierte Industriepolitik dürfte eine nachhal-   bindung. Das hat die Verbindlichkeit tariflicher
tige Verkehrswende nicht zu haben sein. Mit         Normen zusätzlich geschwächt. Die Prägekraft
Blick auf die Automobil- und Zulieferindustrie      von Flächentarifverträgen und der Tarifbin-
sprechen selbst Wirtschaftsvertreter deshalb        dung allgemein – ein wichtiger Indikator für
nicht mehr nur über Transformation, sondern         institutionelle Lohnabhängigenmacht – hat in
über Konversion, über alternative Produkte und      der gesamten Bundesrepublik seit den 1990er
Produktionen, Arbeits- und Lebensweisen.            Jahren kontinuierlich abgenommen und ist in
                                                    den ostdeutschen Bundesländern besonders
2 Gewerkschaftliche Machtressourcen ero-            schwach. 2017 arbeiteten 43 Prozent der Be-
  dieren, sind aber zu erneuern                     schäftigten im Westen und 56 Prozent der Ost-

   Welche Machtressourcen können die Ge-
werkschaften einsetzen, um Nachhaltigkeits-         16 Lehndorff, St., Dribbusch, H., Schulten, T. (2018). In schwerer See. Europä-
                                                       ische Gewerkschaften in Krisenzeiten. IAQ-Forschung 2018-05: Duisburg-
ziele durchzusetzen? Auf den ersten Blick er-          Essen: IAQ.
42   Schwerpunkt                                                                                                                                        spw 4 | 2019

     Arbeitnehmer in Betrieben, in denen es keine                                       erscheint Selbstbeschränkung auch vielen Mit-
     Tarifbindung mehr gab.                                                             gliedern der gewerkschaftlichen Führungsgrup-
                                                                                        pen als einzig realistische Strategie. Bestärkt
        Mit der Erosion des Flächentarifs geht dem                                      werden sie von Teilen der Mitgliedschaft. Was
     dualen System der Interessenrepräsentation                                         ökologisch zwingend geboten ist, löst bei vie-
     ein wichtiges Standbein verloren. Die alte Ar-                                     len Beschäftigten in den Karbonbranchen, die
     beitsteilung zwischen Betriebsräten und Ge-                                        sich mit neuer Unsicherheit konfrontiert sehen,
     werkschaften steht zur Disposition. Wo den                                         Ängste und Abwehrreaktionen aus. Was das
     Gewerkschaften oberhalb der Betriebs- und                                          bedeutet, lässt sich anhand der Auseinanderset-
     Unternehmensebene die Konfliktpartner fehlen,                                      zungen in den deutschen Braunkohlerevieren
     kann der „demokratische Klassenkampf “ (Ralf                                       exemplarisch verdeutlichen. 18
     Dahrendorf) – gemeint sind nach den Regeln
     organisierter Arbeitsbeziehungen geführte und                                      Kohleausstieg und konservierende Interes-
     ausgehandelte Arbeitskonflikte und Tarifausein-                                    senpolitik im Lausitzer Revier
     andersetzungen – nicht mehr aus dem Betrieb
     ausgelagert werden. Teilweise sind die Tarifpar-                                       Von uns befragte Beschäftigte im Lausitzer
     teien gar nicht mehr handlungsmächtig und die                                      Braunkohlerevier erzählen nahezu ausnahmslos
     Gewerkschaften benötigen, wie beim allgemei-                                       eine Tiefengeschichte, die sich für sie subjek-
     nen gesetzlichen Mindestlohn, den interventi-                                      tiv anfühlt, als sei sie die eigentliche Wahrheit.
     onistischen Staat, um überhaupt noch verbind-                                      Danach haben die Braunkohle und das Un-
     liche soziale Regeln setzen zu können. Was wie                                     ternehmen LEAG (Braunkohleförderung und
     ein geradliniger Niedergang organisierter Ar-                                      -verstromung) für die Region eine herausra-
     beitsbeziehungen wirken könnte, kann aber auch                                     gende Bedeutung. Von den „leuchtturmartigen“
     als Übergang zu einer neuen Konfliktformation                                      Arbeitsbedingungen und dem vergleichsweise
     interpretiert werden, in der neben betrieblicher                                   hohen Lohnniveau über die guten Arbeits- und
     Handlungsfähigkeit und Organisationsmacht                                          Ausbildungsbedingungen und die Abhängigkeit
     vor allem gesellschaftliche Bündnisfähigkeit und                                   nicht nur der Zulieferbetriebe, sondern auch von
     Diskursmacht über die Durchsetzungsfähigkeit                                       Handwerk und Dienstleistungen, bis hin zur
     von Gewerkschaften entscheiden.17 Ist es unter                                     Förderung des kulturellen Lebens und der Be-
     solchen Bedingungen überhaupt sinnvoll und                                         deutung für die kommunalen Finanzen ist in der
     realistisch, die Erwartung zu formulieren, Ge-                                     Lausitz vieles mit der LEAG verbunden. Deshalb
     werkschaften könnten zu Protagonisten einer                                        können sich die Beschäftigten, ihre Familien
     sozialökologischen Nachhaltigkeitsrevolution                                       und Freunde eine positive Zukunft jenseits der
     werden? Laufen sie nicht vielmehr Gefahr, die                                      Braunkohle kaum vorstellen. Der – ökologisch
     letzten verbliebenen Hochburgen ihrer Organi-                                      notwendige und politisch beschlossene – Aus-
     sationsmacht zu verlieren? Sind deshalb nicht                                      stieg aus der Braunkohleförderung wird deshalb
     zuallererst politische Bescheidenheit und Kon-                                     als Bedrohung der eigenen Zukunft und als Ver-
     zentration auf das tarifliche und arbeitspolitische                                lust an Kontrolle über den eigenen Lebenszu-
     Kerngeschäft in den Betrieben angesagt?                                            sammenhang wahrgenommen. Nichts fürchten
                                                                                        die Befragten mehr als eine zweite Wende. Dar-
     3 Gewerkschaftliche Politik kann konservie-                                        in werden sie durch eine Unternehmens- und
       rend oder transformativ ausgerichtet sein                                        Gewerkschaftspolitik bestärkt, die alles daran-
                                                                                        setzt, den Kohleausstieg so lange wie möglich
        Es wäre töricht zu bestreiten, dass solche Hal-                                 hinauszuzögern. Im Resultat entsteht eine Wa-
     tungen in den hauptamtlichen Apparaten der                                         genburg-Mentalität der LEAG-Belegschaft. Zur
     Gewerkschaften verbreitet sind. Von der Fülle
     unbewältigter Zukunftsaufgaben überwältigt,
                                                                                        18 Bose, Sophie/ Dörre, Klaus/Köster, Jakob/ Lütten, John/ Dörre, Nelson/
                                                                                           Szauer, Armin (2019): Braunkohleausstieg im Lausitzer Revier. Sichtweisen
                                                                                           von Beschäftigten. In: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.): Nach der Kohle.
     17 Vgl.: Dörre, Klaus (2017): Vor neuen Herausforderungen – Gewerkschaften            Alternativen für einen Strukturwandel in der Lausitz, S. 89-112. Gegenwär-
        in fragmentierten Arbeitsbeziehungen. In: spw. Zeitschrift für sozialistische      tig befragen wir in einer zweiten Studie Repräsentanten des Widerstandes
        Politik und Wirtschaft. Heft Nr. 222 5/2017.                                       gegen die Braunkohleförderung.
spw 4 | 2019                                                                                               Schwerpunkt                  43

unsicheren Zukunftsperspektive gesellt sich das      Gesellschaft dahin gedrückt. Weil die Mitte der
Gefühl kollektiver Abwertung: „In DDR-Zeiten,        Gesellschaft denkt eben: Ich gehe auf Arbeit, um
da waren wir die Helden der Nation[...] Und jetzt    meine Familie durchzubringen, und hier weiß ich,
sind wir die Deppen oder die Bösewichte der Na-      dass dieses Kraftwerk jeden Tag gebraucht wird“
tion, weil wir mussten uns ja schon beschimpfen      (Beschäftigter aus dem Kraftwerk Jänschwalde).
lassen als Nazis, als Mörder, als Umwelt-Verpes-
ter und ich weiß nicht, was alles! [...] Und das         Die Verfestigung solcher Haltungen ist sowohl
schmerzt.“ (LEAG-Beschäftigter).                     das Ergebnis von konservierenden Interessenpo-
                                                     litiken, die vor allem auf den Erhalt des Status quo
   Aus Sicht mancher Braunkohlegegner handelt        gerichtet sind, als auch Resultat eines Feindbildes
es sich bei dieser Tiefengeschichte um eine von      von Minderheiten in den ökologischen Bewe-
Unternehmen und IG BCE geschickt inszenierte         gungen, die Beschäftigte in den Braunkohlere-
Erzählung, die dazu beitragen soll, den Ausstieg     vieren im Kampf um ökologische Nachhaltigkeit
aus der Kohleförderung und -verstromung so           pauschal als Gegner qualifizieren. Doch so ver-
lange wie möglich hinauszuzögern. Über viele         ständlich das Interesse an Beschäftigungssiche-
Jahre hinweg habe sich die mediale Öffentlich-       rung und vor allem am Erhalt des erreichten Le-
keit nahezu ausschließlich an der Braunkohle         bensniveaus auf Seiten der LEAG-Belegschaften
orientiert. Deren wirtschaftliche Bedeutung          auch sein mag – konservierende Interessenpoli-
für die Region werde dramatisch überzeichnet.        tik schmälert letztendlich die Zukunftschancen
Angesichts des Arbeits- und Fachkräftemangels        der Beschäftigten. Wie eine Minderheit von Be-
seien große Verwerfungen am Arbeitsmarkt             fragten aus der LEAG durchaus einräumt, hat das
kaum zu erwarten. Technisch lasse sich die Ein-      Unternehmen die Chance verpasst, frühzeitig auf
stellung der Braunkohleförderung und -verstro-       die Karte erneuerbarer Energien zu setzen. Das
mung durchaus rasch realisieren.                     rächt sich nun in Gestalt eines bevorstehenden
                                                     radikalen Strukturbruchs. Umgekehrt muss sich
    Bei allem, was an dieser Gegenerzählung          das Lager der Braunkohlegegner fragen lassen,
zweifellos zutreffen mag, stoßen wir in gewisser     ob sie den Betroffenen tatsächlich eine Aussicht
Weise aber auch im Lager der Braunkohlegegner        auf Alternativen bieten können, die nicht mit
auf Wagenburgmentalitäten. Gespräche zwi-            monetären Einbußen, Status- und Anerken-
schen Braunkohlegegnern und LEAG-Beschäf-            nungsverlusten verbunden sind. Wechselseitige
tigten seien sinnlos, weil jeder produktive Ansatz   Abschottungen der Lager tragen hingegen dazu
ohnehin von der Presseabteilung des Unterneh-        bei, dass die politische Suche nach einem klima-
mens und der IG BCE „kaputt gemacht“ werde,          schützenden Notausgang zusätzlich erschwert
erklärt ein Protagonist des Widerstandes gegen       wird. Für nicht wenige LEAG-Beschäftigte und
die Braunkohleförderung im Interview.                deren sozialen Netzwerke erscheint stattdessen
                                                     die Wahl der AfD als Notwehrakt, um der angeb-
    Als Folge dieser wechselseitigen Abschottungs-   lichen Klimahysterie Grenzen zu setzen.19
tendenzen verselbstständigen sich ökologische
und soziale bzw. beschäftigungspolitische Kon-       4 Für einen globalen Green New Deal
fliktachsen gegeneinander. Braunkohlegegner,
die sich in allen demokratischen Parteien finden,       Was sich in den Braunkohlerevieren in einer
setzen darauf, dass mit neuen politischen Mehr-      geschrumpften Branche abspielt, könnte sich in
heiten (Regierungsbeteiligung der Grünen) ein
Ende der Braunkohleförderung schon 2030 mög-
lich werden könnte. Umgekehrt drohen Teile der       19 Das Ende der Braunkohle ist gewiss nicht der einzige Grund für Wahl-
                                                        erfolge der AfD. Es gibt jedoch Daten, die nachdenklich stimmen. In der
LEAG-Belegschaft, der „Klimahysterie“ mit Hilfe         Lausitz hat die AfD deutlich überdurchschnittliche Wahlergebnisse erzielt.
                                                        In Brandenburg wählten sage und schreibe 44 Prozent der Arbeiter AfD, in
der AfD begegnen zu wollen: „Ich bin zum ersten         Sachsen 35 Prozent. Die AfD wird vor allem von Männern gewählt. Bei den
Mal fast vor der Entscheidung zu sagen: Ich gehe        Gewerkschaftsmitgliedern entsprach das AfD-Ergebnis in Brandenburg und
                                                        in Sachsen in etwa dem Durchschnitt. Markant sind aber die Geschlechter-
nicht wählen. Wen soll ich denn wählen? Aus Pro-        unterschiede. 34,1 Prozent der männlichen Gewerkschaftsmitglieder wählten
test müsste ich AfD wählen. Das sehen viele so.         AfD; die radikale Rechte ist in dieser Gruppe stärkste Kraft (Forschungsgrup-
                                                        pe Wahlen Mannheim; DGB 2019. Vgl. auch: Kahrs, Horst: Die Wahl zum 7.
Das haben sie geschafft, die haben die Mitte der        Landtag Brandenburg und zum 7. sächsischen Landtag. MS: Berlin 2019).
44   Schwerpunkt                                                                                                           spw 4 | 2019

     weit größerem Ausmaß und mit einer gleich-           175-fache. Die Eindämmung des Klimawandels
     sam unkalkulierbaren Dynamik im Wertschöp-           und die Abkehr von extensiver Ressourcennut-
     fungssystem Automobil wiederholen. Das wäre          zung werden daher ohne materielle Umvertei-
     fatal, denn das Beispiel Braunkohle lehrt, dass      lung von den reichen zu den armen Ländern
     eine Interessenpolitik, die sich auf die betrieb-    und von den Privilegierten zu den verwund-
     liche und Unternehmensebene konzentriert             barsten Klassenfraktionen nicht zu realisieren
     und Organisationsmacht vor allem einsetzt, um        sein. Zugespitzt formuliert: Auch in den reichen
     partikulare Beschäftigteninteressen zu wahren,       Ländern geht es nicht um allgemeinen Verzicht.
     gesellschaftlich rasch an Akzeptanz verlieren        Es ist keineswegs erforderlich, der Putzfrau die
     kann. Die LEAG-Beschäftigten bringen eine            Mallorca-Reise und dem Daimler-Arbeiter das
     solche Entwicklung unbeabsichtigt auf den            Häuschen zu nehmen oder gar dem Hartz-IV-
     Punkt, wenn sie kritisieren, dass sich schon         Bezieher den Regelsatz zu beschneiden. Wer den
     wenige Kilometer von ihrem Revier entfernt           Gürtel enger schnallen soll, muss erwarten kön-
     niemand mehr für ihre Belange interessiere.          nen, dass dergleichen auch von der wachsenden
     Eine weitsichtige, transformierende Interes-         Gruppe der Reichen und Superreichen verlangt
     senpolitik, mit der sich die Gewerkschaften          wird – eingeschlossen Milliardäre vom Typus
     zu Hauptakteuren bei der Durchsetzung von            Roman Arkadjewitsch Abramowitsch, Besitzer
     Nachhaltigkeitszielen und Klimagerechtigkeit         einer 162,5-Meter Yacht mit eingebautem Rake-
     machen, könnte einem Verlust an Zukunftsfä-          tenwerfer und einem Mini-U-Boot bestückt.21
     higkeit entgegenwirken. An dieser Stelle ist es
     unmöglich, das dafür nötige Programm umfas-             Dies bedeutet zweitens, dass Gewerkschaften
     send darzustellen. Ich beschränke mich deshalb       Politiken, die dem Klimawandel in erster Linie
     auf vier wichtige Punkte.                            oder gar ausschließlich mit marktkonformen
                                                          Mitteln (CO2-Bepreisung, Emissionshandel) zu
         Erstens sollten sich die Gewerkschaften in ih-   Leibe rücken wollen, äußerst kritisch begegnen
     ren Organisationsbereichen an einer neuen Auf-       sollten.22 Wahrscheinlich führt kurzfristig an ei-
     klärung beteiligen, die – ohne in apokalyptische     ner CO2-Steuer kein Weg vorbei. Auch Fridays
     Klagen zu verfallen – die Notwendigkeit einer        for Future fordert die rasche Einführung einer
     Nachhaltigkeitsrevolution offensiv begründet.        solchen Steuer. Doch auch wenn diese Abgabe
     Dabei ist es wichtig, dass gewerkschaftliche In-     mit Ausgleichzahlungen verbunden ist, handelt
     teressenpolitik die von Umweltverbänden und          es sich weder um eine ökologisch zureichende,
     Klimaaktivisten häufig unterschätzte soziale         noch um eine sozial nachhaltige Maßnahme.
     Dimension des ökologischen Gesellschaftskon-         Die Schweiz hat bereits beides – eine CO2-Steuer
     flikts stärker ins gesellschaftliche Bewusstsein     und einen sozialen Ausgleich. Nachhaltig sind
     rückt. Nehmen wir das Beispiel Klimawandel.          das Wirtschaftsmodell und die Lebensweisen
     Während die reichsten zehn Prozent der er-           des Landes dennoch nicht. Der ökologische
     wachsenen Weltbevölkerung, die sich im Üb-           Fußabdruck der Schweiz bewegt sich auf dem
     rigen auf allen Kontinenten finden, 49 Prozent       Niveau von drei Planeten und die Emissionen
     der klimaschädlichen Emissionen verursachen,         lassen Schülerbewegungen nach einem Klima-
     emittiert die untere Hälfte gerade einmal drei       notstand rufen.
     Prozent.20 Seit der Jahrtausendwende geht die
     Steigerung klimaschädlicher Emissionen nahezu           Generell gilt, dass die Realisierung ökolo-
     ausschließlich auf das Konto von Luxuskonsum         gischer Nachhaltigkeitsziele die Preise z. B. für
     und entsprechenden Lebensstilen. Beim Res-           Naturressourcen und Lebensmittel in die Höhe
     sourcenverbrauch verhält es sich ähnlich. Der        treiben wird. Schon deshalb sind Plädoyers zu-
     ökologische Fußabdruck eines Vermögenden
     aus dem obersten einen Prozent der Weltbe-           21 Pinzler, Petra (2019): Darauf ein Gläschen CO2. In: Die Zeit vom 18.07.2019,
                                                             Den Hinweis verdanke ich Hans-Jürgen Urban.
     völkerung übertrifft den eines Angehörigen der
                                                          22 Das gilt gerade auch für die Arbeitgeberpositionen. Gesamtmetall plädiert
     ärmsten zehn Prozent durchschnittlich um das            bezeichnenderweise für wettbewerbskonforme Lösungen und „nicht: hier
                                                             eine staatliche Maßnahme und dort eine andere“ (vgl. Dulger 2019). Fol-
                                                             gerichtig wird der soziale Ausgleich bei der Durchsetzung von Klimazielen
     20 Gallagher/Kozul-Wright 2019, S. 22                   gegen die Abkehr von Hartz IV ausgespielt.
spw 4 | 2019                                                                                                              Schwerpunkt         45

gunsten einer ökologischen Austerität, die Ge-                                             In diesem Zusammenhang sollten die Ge-
werkschaften zur Mäßigung bei Löhnen und                                                werkschaften drittens aber auch deutlich ma-
Einkommen mahnt23, schlicht kontraproduktiv.                                            chen, dass es angesichts der dringend erforder-
Unter kapitalistischen Bedingungen würden sie                                           lichen Nachhaltigkeitsrevolution keine bloße
allenfalls eine Steigerung der Unternehmens-                                            Rückkehr zu klassischer wohlfahrtsstaatlicher
gewinne bewirken, das Ungerechtigkeitsemp-                                              Umverteilungspolitik geben kann. Im Grunde
finden bei großen Teilen der Lohnabhängi-                                               geht es um die Rückverteilung gesellschaftlichen
gen steigern und Beschäftigte wie im Falle der                                          Reichtums und vor allem um eine Neuvertei-
Braunkohle der radikalen Rechten in die Hände                                           lung von Entscheidungsmacht in Wirtschaft,
treiben. Das Gegenteil ist richtig. Löhne und                                           Betrieben und Unternehmen. Um es zugespitzt
Einkommen eines Großteils der Lohnabhängi-                                              zu formulieren: Besser als auf das Fahren von
gen müssen steigen, damit z.B. faire Preise für                                         SUVs zu verzichten, ist, sie gar nicht erst zu pro-
Ressourcen oder Lebensmittel aus ökologischem                                           duzieren. Angesichts ihrer lebensbedrohenden
Anbau für große Mehrheiten bezahlbar bleiben                                            Konsequenzen dürfen Entscheidungen über
oder überhaupt bezahlbar werden. Gute, ökolo-                                           das Was, das Wie und das Wozu der Produktion
gisch nachhaltige Arbeitsbedingungen entlang                                            von Gütern und Dienstleistungen nicht länger
von Wertschöpfungsketten und in den Ländern                                             kleinen Managereliten in Großunternehmen
des Südens sind leichter durchzusetzen, wenn                                            vorbehalten bleiben. Soziale und ökologische
Schmutzkonkurrenz aus dem Norden unter-                                                 Nachhaltigkeit benötigt Wirtschaftsdemokratie
bunden wird. Nötig sind deshalb – national wie                                          und Wirtschaftsdemokratie ist mehr als Mitbe-
international – Löhne zum Leben, die deutlich                                           stimmung. Sie muss alle relevanten gesellschaft-
oberhalb der Niedriglohngrenze liegen.24 Da                                             lichen Gruppen an Produktionsentscheidungen
fraglich ist, ob die Gewerkschaften noch genü-                                          beteiligen. Der Ökonom Atkinson schlägt des-
gend Kraft haben, solche Löhne durchzusetzen,                                           halb die Einrichtung von Wirtschafts- und Sozi-
benötigt Einkommensgerechtigkeit Unterstüt-                                             alräten vor, die aber nicht mehr nur mit Vertre-
zung aus Politik und Zivilgesellschaft. Kommis-                                         tern aus Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften
sionen, die unter wissenschaftlicher Beteiligung                                        besetzt sein sollen, sondern zivilgesellschaftliche
regionale Standards für living wages ermitteln                                          Akteure wie Umweltverbände, ökologische Be-
sowie eine Stiftung mit Gütesiegel für beteilig-                                        wegungen, Fraueninitiativen etc. einbeziehen,
te Unternehmen, die nach britischem Vorbild                                             um ein annäherndes Kräftegleichgewicht über-
agiert, könnten Schritte in diese Richtung sein.                                        haupt erst wiederherzustellen. Eine Aufgabe
Dass sich Löhne zum Leben mit qualitativen                                              solcher Räte könnte es sein, die Umsetzung von
Forderungen nach guter Arbeit und Arbeitszeit-                                          Nachhaltigkeitszielen zu überwachen, die Pro-
verkürzung verbinden lassen, liegt auf der Hand,                                        duktion langlebiger Güter zu fordern und neue
denn je besser die Einkommen sind, desto wich-                                          Formen eines kollektiven Selbsteigentums etwa
tiger werden auch subjektiv Zeitwohlstand und                                           in Genossenschaften zu erproben, die vom Ge-
gute Arbeitsbedingungen.25                                                              winnmotiv als Hauptzweck abgekoppelt sind.

                                                                                           Eine solche Politik ließe sich viertens fördern,
                                                                                        indem ökologische und soziale Nachhaltigkeits-
23 Auf solche Stimmen sind wir beispielweise im Lager der Braunkohlegegner              ziele Verfassungsrang erhalten. Sie müssen im
   immer wieder gestoßen. Einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft habe
   bereits in den 1950er Jahren von einer Sättigung des Konsums gesprochen,
                                                                                        Grundgesetz, in den Länderverfassungen und
   lautet eines der Argumente für Verzicht.                                             in der europäischen Grundrechtscharta veran-
24 Living wages sollen es erlauben, Ansprüche an Kultur und Bildung zu verwirk-
   lichen. Sie stellen eine arbeitgeberseitige Selbstverpflichtung dar, keinen recht-
                                                                                        kert werden. Und sie sollten auch Eingang in
   lichen Anspruch. Dennoch gewinnen sie z. B. in Großbritannien seit Jahren            das Arbeitsrecht, die Betriebs- und Unterneh-
   an Bedeutung. Regionale Kommissionen könnten ermitteln, wie solche Löhne
   vor Ort zu gestalten sind. In Großbritannien liegt der living wage 23 Prozent (in
                                                                                        mensverfassung und möglichst in Tarifverträge
   London 40 Prozent) über dem gesetzlichen Mindestlohn. Regionale Kommissi-            finden. Durch eine Verankerung von Nachhal-
   onen könnten Unternehmen auch über Zertifizierungen („living wage employ-
   er“) für solche Löhne gewinnen. Vgl: G.I.B.-Info 2_18, S. 76-105.                    tigkeitszielen in Artikel 13 (2), GG würde die
25 Viele anregende Ideen für die Realisierung ökologischer Nachhaltigkeit in            Sozialbindung des Eigentums erweitert. Wirt-
   der Arbeitswelt finden sich in: Schröder, Lothar/Urban, Hans-Jürgen (Hrsg.)
   (2018): Gute Arbeit Ausgabe 2018: Ökologie der Arbeit - Impulse für einen
                                                                                        schaftsakteure, die das Nachhaltigkeitsgebot
   nachhaltigen Umbau. Frankfurt am Main: Bund Verlag.                                  missachten, hätten mit Enteignung, vor allem
46   Schwerpunkt                                                                                                                                          spw 4 | 2019

     aber mit der Umverteilung und Demokratisie-                                       Bullshit-Jobs sondern gesellschaftlich sinnvolle
     rung wirtschaftlicher Entscheidungsmacht zu                                       Arbeitstätigkeiten, die gut bezahlt sind und
     rechnen. Auf diese Weise entstünden Institu-                                      ohne Statusverlust ausgeübt werden können.
     tionen einer transformativen Demokratie, die                                      Noch scheuen die deutschen Gewerkschaften
     wirtschaftliche Strukturen einschlössen. Ihre                                     vor solchen Forderungen zurück28, weil, so heißt
     Einführung ließe bewusst Spielraum für die Er-                                    es, entsprechende Garantien im Kapitalismus
     probung nicht- und nachkapitalistischer Wirt-                                     nicht zu realisieren seien. Macht aber nicht ge-
     schaftsweisen. Sie würde eine Abkehr vom BIP                                      rade dieser utopische Überschuss, die implizite
     als herausragender wirtschaftlicher Steuerungs-                                   Thematisierung der Grenzen eines auf „Besitz-
     größe und deren Ersetzung durch Entwick-                                          akkumulation“ (Hannah Arendt) beruhenden
     lungsindikatoren befördern, die ökologische                                       expansiven Gesellschaftssystems, das letztend-
     Schäden des Wirtschaftswachstums transparent                                      lich nicht nachhaltig sein kann, den eigentlichen
     machen. Die Nachhaltigkeitsrevolution wäre da-                                    Reiz solcher Forderungen überhaupt erst aus?
     mit noch lange nicht Wirklichkeit, es gäbe aber                                   Durchsetzen lässt sich ein Green New Deal nur
     zusätzliche rechtliche und institutionelle Spiel-                                 in neuen Bündniskonstellationen, durch Ausbau
     räume, die faktisch auf eine Erweiterung auch                                     von Bündnisbeziehungen zu ökologischen und
     von gesellschaftlicher Lohnabhängigenmacht                                        Klimaschutz-Bewegungen wie Fridays for Fu-
     hinausliefen.26                                                                   ture oder auch Extinction Rebellion, also mit-
                                                                                       tels Ausbaus gesellschaftlicher und diskursiver
         Dergleichen ist gegenwärtig Zukunftsmusik.                                    Machtressourcen von Gewerkschaften. Wird
     Für die IG Metall ist es schon ein Fortschritt,                                   dieser Weg konsequent beschritten, kann er,
     dass sie nicht mehr für eine Korrektur europä-                                    ähnlich wie etwa im Gefolge der 1968er-Bewe-
     ischer Emissionsziele nach unten eintritt. Der                                    gungen, zur Stärkung von Organisationsmacht
     Aufruf des ver.di-Vorsitzenden Bsirske an die                                     beitragen. Konfliktfähige Gewerkschaften ha-
     Mitglieder seiner Organisation, sich mit eigenen                                  ben solch belebende Impulse aus den Klima-
     Aktionen am Klimastreik zu beteiligen, den u.a.                                   schutzbewegungen jedenfalls bitter nötig; aber
     Fridays for Future vorschlägt, geht einen deut-                                   auch die Umwelt- und Klimabewegungen wür-
     lichen Schritt weiter. Noch besser wäre es freilich,                              den profitieren, wenn sie soziale Nachhaltigkeit
     wenn in Sachen Klimawandel und Klimagerech-                                       stärker als bisher zum ureigenen Thema machen
     tigkeit möglichst rasch Streikfähigkeit hergestellt                               könnten.29 	                                   ó
     würde. Dazu bedarf es eines political organising,
     wie es beispielsweise Jane McAlevey erprobt und
     in mehreren Büchern beschrieben hat.27 Streiks
     für Klimagerechtigkeit könnten zu einem wich-
     tigen Mittel werden, um Nachhaltigkeitsziele in
     Unternehmen und Gesellschaft durchzusetzen.
     Ein Green New Deal, wie er von der UNCTAD
     oder den Democratic Socialists in den USA
     vorgeschlagen wird, bietet auch den deutschen
     Gewerkschaften ein Anregungspotential, das sie
     nutzen sollten. So fordern Ocasio-Cortez und
     Verbündete eine rasche, radikale Dekarbonisie-
     rung der Wirtschaft, verbunden mit Job- und
     Sicherheitsgarantien für Beschäftigte aus den
     Karbon-Branchen, die ihren Arbeitsplatz ver-                                      28 Die IG Metall, schlägt stattdessen Langzeitkurzarbeit als Mittel der Wahl vor,
     lieren. Verlangt werden nicht schlecht bezahlte                                      um Strukturbrüche abzufedern.
                                                                                       29 In Teilen dieser Bewegungen können ökologisch engagierte Gewerkschaften
                                                                                          schon jetzt mit Sympathie rechnen. Den größten Beifall auf der schon er-
                                                                                          wähnten Leipziger Vollversammlung erhielt ein Betriebsrat der öffentlichen
     26 In einer studentischen Vollversammlung in Leipzig zur Gründung von Stu-           Verkehrsbetriebe, der seine Zustimmung zu einem ermäßigten Ticket für den
        dents for Future, an der mehr als 1.500 Studierende teilnahmen, stießen ent-      öffentlichen Nahverkehr mit dem Hinweis verband, dass dies nicht zulasten
        sprechende Vorschläge auf tosenden Applaus.                                       von Löhnen und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten gehen dürfe. Er lud
     27 McAlevey, Jane (2019): A Collective Bargain. Unions, Organizing and the           die Studierenden deshalb ein, die Gewerkschaft ver.di in der kommenden Ta-
        Fight for Democracy. New York: HarperCollins.                                     rifrunde zu unterstützen.
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