Die Gewerkschaften - progressive Akteure einer Nachhaltigkeitsrevolution? - spw
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38 Schwerpunkt spw 4 | 2019 Die Gewerkschaften – progressive Akteure einer Nachhaltigkeitsrevolution? von Klaus Dörre Sprachen nach der großen Krise von 2007- dung und rechtspopulistische Orientierungen 2009 zumindest in der Bundesrepublik einige An- in Teilen der Mitgliedschaft. Hinzu kommen zeichen für ein Comeback der Gewerkschaften, interner Generationswandel und die Neubeset- trüben sich die Aussichten gegenwärtig wieder zung von Führungspositionen. Die politische ein. Nach zehn Jahren wirtschaftlicher Prosperi- Generation der (Post-)Achtundsechziger tritt tät schwächt sich die Konjunktur ab. Zwar exis- auch in den Gewerkschaften ab oder ist schon tiert kein ehernes Gesetz, wonach ökonomische abgetreten, neue Führungspersönlichkeiten Konjunkturkrisen unweigerlich zu einer Schwä- müssen sich bewähren. All das wird in einem chung gewerkschaftlicher Machtressourcen sozialen Umfeld zu bewerkstelligen sein, das im- führen, doch punktgenau mit den ersten Anzei- mer weniger bereit ist, formale Hierarchien und chen für eine Rezession formuliert der Arbeit- zentralistische Politikstile zu akzeptieren. Solch geberverband Gesamtmetall eine Kampfansage. interne Veränderungen binden Kräfte. Sind Die IG Metall solle auf „Höchstkonditionen“ die Gewerkschaften in einer solchen Situation verzichten, Krisenbetrieben mehr Ausnahme- überhaupt noch in der Lage, die im Gange be- regelungen bieten und Tagesstreiks unterlassen. findlichen Veränderungen von Arbeitswelt und Geschehe das nicht, müsse die Gewerkschaft Gesellschaft zu meistern? Können sie wieder zu mit dem Ende des Branchentarifs rechnen: „[…] einer Kraft werden, die über eine bloße Vertei- wenn alle Unternehmen die Tarifbindung verlas- digung unmittelbarer sozioökonomischer Inter- sen, kann die Gewerkschaft zusehen, wie sie sich essen von Lohnabhängigen hinaus emanzipato- im Häuserkampf durchschlägt“. rische Anliegen zu fördern in der Lage ist? Oder werden sie immer mehr zum willigen Bestandteil Man könnte das als Theaterdonner abtun und einer großen Partei für Wirtschaft, Industrie und zur Tagesordnung übergehen, wäre da nicht eine Arbeit, die dafür sorgen will, Besitzstände so lan- Anhäufung von Problemen, die vielen gewerk- ge wie möglich zu erhalten und deshalb wichtige schaftlich Aktiven in der Summe als kaum bewäl- Entscheidungen über gesellschaftliche Zukünfte tigbar erscheint. Zum Auslaufen der Konjunktur auf die lange Bank schiebt? gesellen sich strukturelle Veränderungen – die zweite Phase der Digitalisierung, Klimawandel, Um es klar zu sagen: Eine Entscheidung über Ressourcenproblematik, wachsende Ungleich- die politische Ausrichtung der Gewerkschaften heit, Mitgliederverluste, erodierende Tarifbin- ist – auch in Deutschland – noch nicht gefallen. Gegenwärtig bewegen sich die Mitgliedsorga- nisationen des DGB im weiten Spannungsfeld Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziolo- zwischen konservierender und transformie- gie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber der spw. Schmalz, Stefan/Dörre, Klaus (Hrsg.) (2013): Comeback der Gewerk- render Interessenpolitik. Die eine Tendenz führt schaften. Machtressourcen, innovative Praktiken, internationale Perspekti- in Richtung einer fraktalen Organisation, die ven. Frankfurt am Main/New York: Campus. den Anspruch einer Repräsentation aller Lohn- Gewerkschaftliche Interessenpolitik mit Machtressourcen in Verbindung zu bringen, ist inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Dabei setzt abhängigen aufgibt, um nur noch die Partikula- sich jedoch mehr und mehr durch, Machressourcen auf ein formales Vier- Felder-Schema zu begrenzen (strukturelle, organisationale, institutionelle und rinteressen bestimmter Beschäftigtengruppen in gesellschaftliche Macht), das über gewerkschaftliche Praktiken wenig aussagt. einzelnen Branchen zu vertreten. Die Gegen- Mit dem Jenaer Machtressourcenansatz haben solch formale Heuristiken wenig gemein. Der Jenaer Ansatz beinhaltet ein kapitalismustheoretisches Fundament (Landnahme des Sozialen), empirisch fundierte Fallstudien in Ich habe diese Tendenz bereits vor Jahren als möglichen Funktionswandel unterschiedlichen Sektoren sowie das methodologische Selbstverständnis einer von Gewerkschaften beschrieben. Vgl. Dörre, Klaus (2011): Funktionswan- organischen öffentlichen Soziologie. Vgl. dazu: Dörre, Klaus (2017): Gewerk- del von Gewerkschaften. Von der intermediären zur fraktalen Organisation. schaften, Machtressourcen und öffentliche Soziologie. Ein Selbstversuch. In: In: Haipeter, Thomas/Dörre, Klaus: Gewerkschaftliche Modernisierung. Österreichische Zeitschrift für Soziologie. 42 Jg., H. 2, S. 105-128. Wiesbaden: VS Verlag, S. 267-302. Das stillschweigende „Opfern“ von Leih- Dulger, Rainer (2019): „Das war einfach zu viel für uns“. Interview in: Süd- arbeitern und befristet Beschäftigten während der großen Krise von 2008- deutsche Zeitung vom 23. Juli 2019, S. 22. 2009 war Ausdruck einer solchen Tendenz; Die schroffe Ablehnung von
spw 4 | 2019 Schwerpunkt 39 tendenz beinhaltet, dass sich Gewerkschaften tische Interessenpolitik mit der Idee und Praxis wieder stärker als soziale Bewegung verstehen, einer Nachhaltigkeitsrevolution verbindet. die ihre Machtressourcen offensiv nutzt, Mit- gliederpartizipation ausbaut und ihr politisches 1 Die ökonomisch-ökologische Zangenkrise Mandat auch und gerade bei der Durchsetzung erfasst das Wirtschafts- und Industrie- ökologischer und sozialer Nachhaltigkeitsziele modell offensiv wahrnimmt. Für eine solche Tendenz gibt es ebenfalls Beispiele. Der Begriff ökonomisch-ökologische Zan- genkrise besagt, dass das wichtigste Mittel zur Will man die progressive Richtung stärken, Überwindung wirtschaftlicher Krisen im Ka- so müssen die Rahmenbedingungen, die thema- pitalismus, die Erzeugung von Wirtschafts- tischen Anknüpfungspunkte und vor allem die wachstum nach den Kriterien des Bruttoin- verfügbaren Machtressourcen von Lohnabhängi- landsprodukts (BIP), auf der Grundlage fossiler gen genauer inspiziert werden, denn Fatalismus Energieträger sowie bei steigendem Ressourcen- ist kaum weniger problematisch als ein Volunta- und Energieverbrauch unweigerlich zu einer rismus, der die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Kumulation ökologischer Großgefahren führt. Interessenpolitik deutlich überschätzt. Unter den Die Früchte des Wirtschaftswachstums werden Bedingungen einer ökonomisch-ökologischen innerhalb der nationalen Gesellschaften, aber Zangenkrise, so meine These, können die Ge- auch zwischen kapitalistischen Zentren und werkschaften eine progressive gesellschaftliche (Semi)Peripherien nicht nur höchst ungleich Rolle nur spielen, wenn sie sich zu Protagonisten verteilt, der vorherrschende Wachstumstyp, einer Nachhaltigkeitsrevolution entwickeln. Ihre seine Produktions- und Lebensweisen erweisen besondere Aufgabe besteht darin, ökologische sich zunehmend als ökologische Destruktiv- Nachhaltigkeit durch einen Kampf auch und kräfte, die vor allem die alten kapitalistischen gerade für soziale Nachhaltigkeit zu befördern Hauptländer zu einer großen Transformation oder überhaupt erst möglich zu machen. Von zwingen. Diese Transformation ist spätestens der Ausübung einer solchen Rolle sind die re- seit der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise alen Gewerkschaften gegenwärtig noch ein gutes von 2008-2009 im Gange, sie lässt sich nicht Stück entfernt. Doch es gibt Ansätze, die hoff- aufhalten. Für einen begrenzten Zeitraum ist es nungsvoll stimmen. Vor allem jedoch gilt, dass jedoch noch möglich, Weichen zu stellen, um gesellschaftliche Mehrheiten für die dringend ge- die Richtung des Wandels zu beeinflussen. botene Nachhaltigkeitsrevolution ohne die Inter- essenorganisationen der Lohnabhängigen kaum Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der zu erreichen sind. Dieses Bewusstsein setzt sich alte industrielle Klassenkonflikt unwiderruflich allmählich auch bei Umweltverbänden und öko- in einen sozialökologischen Transformations- logischen Bewegungen durch, die für „koordi- konflikt zu verwandeln beginnt. Präziser: Die nierte Politikansätze“ werben. Zur Begründung reichen Gesellschaften des globalen Nordens dieser These skizziere ich die Herausforderungen werden von den Auseinandersetzungen, die an der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, der ökologischen und der sozialen Frage auf- gehe auf gewerkschaftliche Machtressourcen ein brechen, gleichsam in die Zange genommen. und illustriere am Beispiel des Braunkohleaus- So sehen sich alle kapitalistischen Zentren mit stiegs in der Lausitz Konsequenzen einer kon- wachsenden klassenspezifischen Ungleichheiten servierenden Interessenpolitik, um abschließend konfrontiert. Die Profite der Top-2000 unter den einen Green New Deal vorzuschlagen, der realis- transnationalen Unternehmen und die Anteile von Arbeitseinkommen am Bruttoinlandspro- Sozialisierungsideen durch führende IGM-Betriebsräte kann als aktuelles dukt entwickeln sich, wie der sogenannte „cro- Beispiel gewertet werden. codile graph“ für die Jahre von 1995 bis 2005 Vgl. dazu: Dörre, Klaus (2018): Neue Perspektive für Arbeitszeitverkürzung: Der Tarifabschluss der IG Metall. In: SPW. Zeitschrift für sozialistische Politik und belegt, umgekehrt proportional. Während die Wirtschaft Heft 226-2018, S. 74-77. Der Frauenstreik ist ein anders gelagertes, Gewinne der transnationalen Unternehmen seit ermutigendes Beispiel, das wissenschaftlich noch gar nicht ausgeleuchtet ist. Petschow, Ulrich et al. (2019): Handlungsempfehlungen zur Stärkung von Koo- der Jahrtausendwende bis 2013 mit Ausnahme perationen für die sozialökologische Transformation, MS: Berlin/Heidelberg. des Krisenjahres 2009 permanent gestiegen sind,
40 Schwerpunkt spw 4 | 2019 befinden sich die Anteile der Lohneinkommen seither in Gang gesetzten raschen, permanenten am BIP, die Krisenjahre ausgenommen, bis 2013 Wirtschaftswachstums korrigieren muss. im Sinkflug. Seither steigen sie leicht, verharren aber auf relativ niedrigem Niveau. Die Grün- Zugespitzt formuliert: Benötigt wird eine de für diese Entwicklung hat der Internationale Nachhaltigkeitsrevolution. Künftig sind ökolo- Währungsfonds mit technologischem Wandel, gische und soziale Nachhaltigkeitsziele daher der Marktmacht großer Unternehmen und der ein Lackmustest gewerkschaftlicher Interes- anhaltenden Schwäche von Gewerkschaften prä- senpolitik. Für diesen Lackmustest gibt es zwei zise benannt. einfache Kriterien. Erstens: Reduziert sich der ökologische Fußabdruck und sinken die Emissi- Zeitgleich mit der Zunahme sozialer Un- onen? Zweitens: Steigt – für jede und jeden frei gleichheit bricht sich aber auch die Erkenntnis zugänglich und auch für künftige Generationen bahn, dass ein „‚Aufschließen‘ aller nationalen – die Lebensqualität? Daran muss sich Nachhal- Ökonomien zu den Produktions- und Kon- tigkeit „messen lassen“13. Mit den Nachhaltig- sumptionsweisen der am stärksten entwickelten keitszielen der UNO (Sustainable Developement Industriegesellschaften […] den Planeten unbe- Goals/SDGs) gibt es – trotz aller berechtigten wohnbar machen“ würde.10 Zwischen 1980 und Kritik am Zustandekommen, dem Kompromis- 2016 haben sich die klimaschädlichen Emissi- scharakter und der relativen Unverbindlichkeit onen weltweit verdoppelt.11 Absolut gesunken dieser Ziele – gute Chancen, Nachhaltigkeitskri- sind die Emissionen letztmalig im Krisenjahr terien für gewerkschaftliche Politik zu operatio- 2009, weil die industrielle Produktion einge- nalisieren. Dabei ist allerdings zu beachten, dass brochen war. Der Energieverbrauch ist absolut sich aus den Spannungen, die zwischen sozialen letztmalig in den 1980er Jahren zurückgegan- und ökologischen Nachhaltigkeitszielen bestehen gen und auch die Ressourcenbilanzen tendieren können, Zielkonflikte ergeben, in denen sich die gegenwärtig zu einer irreversiblen Schädigung Gewerkschaften zu verorten haben. Die daraus nahezu geschlossener ökologischer Kreislauf- resultierende Konfliktdynamik hat hierzulande systeme. Ist all das seit langem bekannt, erlangt inzwischen Schlüsselbranchen des Industrie- und der ökologische Gesellschaftskonflikt eine neue Wirtschaftsmodells erreicht.14 Qualität, weil die Zeit für ein Gegensteuern knapp zu werden beginnt. Nach einer Studie Zunächst Vorreiter bei der Umstellung auf er- des IPCC für ein 1,5-Grad-Erderwärmungss- neuerbare Energien, haben die klimaschädlichen zenario benötigen wir bis spätestens 2050 voll- Treibhausgasemissionen auch in Deutschland ständig dekarbonisierte Wirtschaftssysteme.12 wieder zugenommen15. Hauptverursacher ist Selbiges zu realisieren ist gleichbedeutend mit neben dem Energiesektor, den Gebäudeemis- Veränderungen, die in ihrem historischen Aus- sionen und der Landwirtschaft vor allem der maß mit jenen der ersten industriellen Revo- Verkehr. Als einziger Wirtschaftssektor hat er lution vergleichbar sind. Dies jedoch mit dem bislang nichts zur Emissionsreduktion beigetra- gravierenden Unterschied, dass es nunmehr um gen. Die Emissionen der Fahrzeugflotten steigen. die Suche nach einem Notausstieg geht, der die Europaweit verbindliche Dekarbonisierungs- gesellschaftszerstörenden Konsequenzen des ziele sorgen nun für Veränderungsdruck. In der neuen weltpolitischen Konstellation, die die Hy- Gallagher, Kevin P./Kozul-Wright, Richard (2019): A New Multilateralism for Shared Prosperity. Geneva Principles for a Global Green New Deal, Genf: 13 Grober, Ulrich (2013). Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte UNCTAD, S. 12. eines Begriffs. München: Verlag Antje Kunstmann, S. 269. International Monetary Fund (IMF) (2017). World Economic Outlook. Gai- 14 Die im deutschen Produktionsregime mit seiner dominanten Exportori- ning Momentum. Washington: IMF Publication Services. entierung vernachlässigten sozialen Dienstleistungen (Pflege, Erziehung, Therapieberufe etc.) sind für eine sozialökologische Transformation von 10 McCarthy, Thomas (2015). Rassismus, Imperialismus und die Idee mensch- zentraler Bedeutung. Sie müssen auskömmlich finanziert und gesellschaft- licher Entwicklung. Berlin: Suhrkamp, S. 375. lich aufgewertet werden. Siehe dazu u. a. spw 231 (2019) Schwerpunkt „Soli- 11 Gallagher/Kozul-Wright 2019, S. 7. darischer und moderner Wohlfahrtsstaat). 12 IPCC (2018): Special Report. Global Warming of 1.5 º C. Bonn: UN Climate 15 Ausnahme war das Jahr 2018. Ein „Sommer der Dürre“ ermöglichte Einspa- Change. Andere Szenarien halten die verfügbaren Zeitbugets für deutlich ge- rungen bei der Heizung und erhöhte wegen niedriger Wasserpegel der Flüsse ringer. Die Rede ist von neun bis elf Jahren, um gegenzusteuern. Fridays for und dadurch steigender Transportkosten die Benzinpreise, was wiederum zu Future geht von einem solchen Szenario aus. geringerem Verbrauch führte.
spw 4 | 2019 Schwerpunkt 41 perglobalisierung mit sich gebracht hat, sind die scheint die Lage trostlos. Überall in Europa ökologischen Repulsionen des Automobilsektors verlieren die Gewerkschaften nicht nur an Or- Gegenstand imperialer Rivalitäten. Geplante Ver- ganisations-, sondern auch an institutioneller bote für Verbrennungsmotoren in ökonomisch Macht. Ein genauerer Blick fördert eine große starken Ländern (England, Frankreich) und die länderspezifische Varianz zutage. Während der beschleunigte Umstellung auf Elektro-Mobilität gewerkschaftliche Netto-Organisationsgrad in im wichtigsten Wachstumsmarkt China werden Schweden noch bei etwa 67 Prozent liegt, ist er – gemeinsam mit der Digitalisierung und protek- in vielen Ländern unter die 20-Prozent-Marke tionistischen Handelspolitiken – zu einem weit- gesunken. In Frankreich beträgt er nur noch acht reichenden Umbau des Wertschöpfungssystems Prozent. Parallel dazu ist auch die Tarifbindung Automobil führen. Die Transformation der Auto- der Unternehmen in den meisten EU-Ländern mobil- und Zulieferindustrie geht schon zu ihrem rückläufig. Während in Österreich immerhin 98 Beginn schwerpunktmäßig zulasten der Beschäf- Prozent der Beschäftigten in Unternehmen mit tigten. In den Belegschaften und bei einem Teil Tarifbindung arbeiten, sind es in Griechenland der Betriebsräte setzt dies verständlicherweise nur noch 40 Prozent, in Ungarn 23 Prozent und Beharrungskräfte frei. Je näher man an betroffene in Polen nur noch 15 Prozent.16 Entscheidend ist Belegschaften heranrückt, desto lauter werden jedoch die Gesamttendenz, die sich in den meis- Stimmen, die von Klimahysterie sprechen, um ten EU-Staaten über viele Jahre hinweg in Rich- die Geschwindigkeit bei der Umsetzung ökolo- tung Desorganisation und Entkollektivierung gischer Nachhaltigkeitsziele zu drosseln. Wie bei der Arbeitsbeziehungen bewegt hat. Zugespitzt radikalen Strukturbrüchen häufig der Fall, ten- formuliert: Die organisierten Arbeitsbezie- dieren Sicherheitsinteressen von Beschäftigten hungen erodieren. Nicht nur die gewerkschaft- zur Konservierung des Bestehenden. liche Organisationsmacht, auch die Repräsen- tationsfähigkeit der Wirtschaftsverbände sinkt, Das ist aber nur die eine Seite der Medail- gleichzeitig nimmt die Bindekraft von Kollektiv- le. An Nachhaltigkeitszielen gemessen, ist die vereinbarungen und tariflichen Normen ab. Umstellung auf Elektromobilität völlig unzu- reichend, um den Klimawandel wirksam zu Deutschland stellt diesbezüglich keine Aus- bekämpfen. Benötigt werden völlig neue Mobi- nahme dar. Der gewerkschaftliche Organisa- litätssysteme. Es geht um eine allmähliche Ab- tionsgrad liegt allenfalls noch bei 18 Prozent kehr vom privaten PKW und den Ausbau des der abhängig Erwerbstätigen. Obwohl sich der öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, um einen Mitgliederbestand einiger Gewerkschaften (IG vollständigen Bruch mit lange hegemonialen Metall, GEW, GdP) über einige Jahre hinweg Verkehrskonzepten. Ohne die Rückkehr zu öf- wieder konsolidiert hat, schwindet der Organi- fentlichem Eigentum, etwa bei der Bahn, ohne sationsanreiz auf der Kapital- bzw. auf der Ar- öffentliche und zugleich gerechtere Finanzie- beitgeberseite. Industrieverbände ermöglichen rungen von Mobilität und eine an solchen zielen Unternehmen eine Mitgliedschaft ohne Tarif- orientierte Industriepolitik dürfte eine nachhal- bindung. Das hat die Verbindlichkeit tariflicher tige Verkehrswende nicht zu haben sein. Mit Normen zusätzlich geschwächt. Die Prägekraft Blick auf die Automobil- und Zulieferindustrie von Flächentarifverträgen und der Tarifbin- sprechen selbst Wirtschaftsvertreter deshalb dung allgemein – ein wichtiger Indikator für nicht mehr nur über Transformation, sondern institutionelle Lohnabhängigenmacht – hat in über Konversion, über alternative Produkte und der gesamten Bundesrepublik seit den 1990er Produktionen, Arbeits- und Lebensweisen. Jahren kontinuierlich abgenommen und ist in den ostdeutschen Bundesländern besonders 2 Gewerkschaftliche Machtressourcen ero- schwach. 2017 arbeiteten 43 Prozent der Be- dieren, sind aber zu erneuern schäftigten im Westen und 56 Prozent der Ost- Welche Machtressourcen können die Ge- werkschaften einsetzen, um Nachhaltigkeits- 16 Lehndorff, St., Dribbusch, H., Schulten, T. (2018). In schwerer See. Europä- ische Gewerkschaften in Krisenzeiten. IAQ-Forschung 2018-05: Duisburg- ziele durchzusetzen? Auf den ersten Blick er- Essen: IAQ.
42 Schwerpunkt spw 4 | 2019 Arbeitnehmer in Betrieben, in denen es keine erscheint Selbstbeschränkung auch vielen Mit- Tarifbindung mehr gab. gliedern der gewerkschaftlichen Führungsgrup- pen als einzig realistische Strategie. Bestärkt Mit der Erosion des Flächentarifs geht dem werden sie von Teilen der Mitgliedschaft. Was dualen System der Interessenrepräsentation ökologisch zwingend geboten ist, löst bei vie- ein wichtiges Standbein verloren. Die alte Ar- len Beschäftigten in den Karbonbranchen, die beitsteilung zwischen Betriebsräten und Ge- sich mit neuer Unsicherheit konfrontiert sehen, werkschaften steht zur Disposition. Wo den Ängste und Abwehrreaktionen aus. Was das Gewerkschaften oberhalb der Betriebs- und bedeutet, lässt sich anhand der Auseinanderset- Unternehmensebene die Konfliktpartner fehlen, zungen in den deutschen Braunkohlerevieren kann der „demokratische Klassenkampf “ (Ralf exemplarisch verdeutlichen. 18 Dahrendorf) – gemeint sind nach den Regeln organisierter Arbeitsbeziehungen geführte und Kohleausstieg und konservierende Interes- ausgehandelte Arbeitskonflikte und Tarifausein- senpolitik im Lausitzer Revier andersetzungen – nicht mehr aus dem Betrieb ausgelagert werden. Teilweise sind die Tarifpar- Von uns befragte Beschäftigte im Lausitzer teien gar nicht mehr handlungsmächtig und die Braunkohlerevier erzählen nahezu ausnahmslos Gewerkschaften benötigen, wie beim allgemei- eine Tiefengeschichte, die sich für sie subjek- nen gesetzlichen Mindestlohn, den interventi- tiv anfühlt, als sei sie die eigentliche Wahrheit. onistischen Staat, um überhaupt noch verbind- Danach haben die Braunkohle und das Un- liche soziale Regeln setzen zu können. Was wie ternehmen LEAG (Braunkohleförderung und ein geradliniger Niedergang organisierter Ar- -verstromung) für die Region eine herausra- beitsbeziehungen wirken könnte, kann aber auch gende Bedeutung. Von den „leuchtturmartigen“ als Übergang zu einer neuen Konfliktformation Arbeitsbedingungen und dem vergleichsweise interpretiert werden, in der neben betrieblicher hohen Lohnniveau über die guten Arbeits- und Handlungsfähigkeit und Organisationsmacht Ausbildungsbedingungen und die Abhängigkeit vor allem gesellschaftliche Bündnisfähigkeit und nicht nur der Zulieferbetriebe, sondern auch von Diskursmacht über die Durchsetzungsfähigkeit Handwerk und Dienstleistungen, bis hin zur von Gewerkschaften entscheiden.17 Ist es unter Förderung des kulturellen Lebens und der Be- solchen Bedingungen überhaupt sinnvoll und deutung für die kommunalen Finanzen ist in der realistisch, die Erwartung zu formulieren, Ge- Lausitz vieles mit der LEAG verbunden. Deshalb werkschaften könnten zu Protagonisten einer können sich die Beschäftigten, ihre Familien sozialökologischen Nachhaltigkeitsrevolution und Freunde eine positive Zukunft jenseits der werden? Laufen sie nicht vielmehr Gefahr, die Braunkohle kaum vorstellen. Der – ökologisch letzten verbliebenen Hochburgen ihrer Organi- notwendige und politisch beschlossene – Aus- sationsmacht zu verlieren? Sind deshalb nicht stieg aus der Braunkohleförderung wird deshalb zuallererst politische Bescheidenheit und Kon- als Bedrohung der eigenen Zukunft und als Ver- zentration auf das tarifliche und arbeitspolitische lust an Kontrolle über den eigenen Lebenszu- Kerngeschäft in den Betrieben angesagt? sammenhang wahrgenommen. Nichts fürchten die Befragten mehr als eine zweite Wende. Dar- 3 Gewerkschaftliche Politik kann konservie- in werden sie durch eine Unternehmens- und rend oder transformativ ausgerichtet sein Gewerkschaftspolitik bestärkt, die alles daran- setzt, den Kohleausstieg so lange wie möglich Es wäre töricht zu bestreiten, dass solche Hal- hinauszuzögern. Im Resultat entsteht eine Wa- tungen in den hauptamtlichen Apparaten der genburg-Mentalität der LEAG-Belegschaft. Zur Gewerkschaften verbreitet sind. Von der Fülle unbewältigter Zukunftsaufgaben überwältigt, 18 Bose, Sophie/ Dörre, Klaus/Köster, Jakob/ Lütten, John/ Dörre, Nelson/ Szauer, Armin (2019): Braunkohleausstieg im Lausitzer Revier. Sichtweisen von Beschäftigten. In: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.): Nach der Kohle. 17 Vgl.: Dörre, Klaus (2017): Vor neuen Herausforderungen – Gewerkschaften Alternativen für einen Strukturwandel in der Lausitz, S. 89-112. Gegenwär- in fragmentierten Arbeitsbeziehungen. In: spw. Zeitschrift für sozialistische tig befragen wir in einer zweiten Studie Repräsentanten des Widerstandes Politik und Wirtschaft. Heft Nr. 222 5/2017. gegen die Braunkohleförderung.
spw 4 | 2019 Schwerpunkt 43 unsicheren Zukunftsperspektive gesellt sich das Gesellschaft dahin gedrückt. Weil die Mitte der Gefühl kollektiver Abwertung: „In DDR-Zeiten, Gesellschaft denkt eben: Ich gehe auf Arbeit, um da waren wir die Helden der Nation[...] Und jetzt meine Familie durchzubringen, und hier weiß ich, sind wir die Deppen oder die Bösewichte der Na- dass dieses Kraftwerk jeden Tag gebraucht wird“ tion, weil wir mussten uns ja schon beschimpfen (Beschäftigter aus dem Kraftwerk Jänschwalde). lassen als Nazis, als Mörder, als Umwelt-Verpes- ter und ich weiß nicht, was alles! [...] Und das Die Verfestigung solcher Haltungen ist sowohl schmerzt.“ (LEAG-Beschäftigter). das Ergebnis von konservierenden Interessenpo- litiken, die vor allem auf den Erhalt des Status quo Aus Sicht mancher Braunkohlegegner handelt gerichtet sind, als auch Resultat eines Feindbildes es sich bei dieser Tiefengeschichte um eine von von Minderheiten in den ökologischen Bewe- Unternehmen und IG BCE geschickt inszenierte gungen, die Beschäftigte in den Braunkohlere- Erzählung, die dazu beitragen soll, den Ausstieg vieren im Kampf um ökologische Nachhaltigkeit aus der Kohleförderung und -verstromung so pauschal als Gegner qualifizieren. Doch so ver- lange wie möglich hinauszuzögern. Über viele ständlich das Interesse an Beschäftigungssiche- Jahre hinweg habe sich die mediale Öffentlich- rung und vor allem am Erhalt des erreichten Le- keit nahezu ausschließlich an der Braunkohle bensniveaus auf Seiten der LEAG-Belegschaften orientiert. Deren wirtschaftliche Bedeutung auch sein mag – konservierende Interessenpoli- für die Region werde dramatisch überzeichnet. tik schmälert letztendlich die Zukunftschancen Angesichts des Arbeits- und Fachkräftemangels der Beschäftigten. Wie eine Minderheit von Be- seien große Verwerfungen am Arbeitsmarkt fragten aus der LEAG durchaus einräumt, hat das kaum zu erwarten. Technisch lasse sich die Ein- Unternehmen die Chance verpasst, frühzeitig auf stellung der Braunkohleförderung und -verstro- die Karte erneuerbarer Energien zu setzen. Das mung durchaus rasch realisieren. rächt sich nun in Gestalt eines bevorstehenden radikalen Strukturbruchs. Umgekehrt muss sich Bei allem, was an dieser Gegenerzählung das Lager der Braunkohlegegner fragen lassen, zweifellos zutreffen mag, stoßen wir in gewisser ob sie den Betroffenen tatsächlich eine Aussicht Weise aber auch im Lager der Braunkohlegegner auf Alternativen bieten können, die nicht mit auf Wagenburgmentalitäten. Gespräche zwi- monetären Einbußen, Status- und Anerken- schen Braunkohlegegnern und LEAG-Beschäf- nungsverlusten verbunden sind. Wechselseitige tigten seien sinnlos, weil jeder produktive Ansatz Abschottungen der Lager tragen hingegen dazu ohnehin von der Presseabteilung des Unterneh- bei, dass die politische Suche nach einem klima- mens und der IG BCE „kaputt gemacht“ werde, schützenden Notausgang zusätzlich erschwert erklärt ein Protagonist des Widerstandes gegen wird. Für nicht wenige LEAG-Beschäftigte und die Braunkohleförderung im Interview. deren sozialen Netzwerke erscheint stattdessen die Wahl der AfD als Notwehrakt, um der angeb- Als Folge dieser wechselseitigen Abschottungs- lichen Klimahysterie Grenzen zu setzen.19 tendenzen verselbstständigen sich ökologische und soziale bzw. beschäftigungspolitische Kon- 4 Für einen globalen Green New Deal fliktachsen gegeneinander. Braunkohlegegner, die sich in allen demokratischen Parteien finden, Was sich in den Braunkohlerevieren in einer setzen darauf, dass mit neuen politischen Mehr- geschrumpften Branche abspielt, könnte sich in heiten (Regierungsbeteiligung der Grünen) ein Ende der Braunkohleförderung schon 2030 mög- lich werden könnte. Umgekehrt drohen Teile der 19 Das Ende der Braunkohle ist gewiss nicht der einzige Grund für Wahl- erfolge der AfD. Es gibt jedoch Daten, die nachdenklich stimmen. In der LEAG-Belegschaft, der „Klimahysterie“ mit Hilfe Lausitz hat die AfD deutlich überdurchschnittliche Wahlergebnisse erzielt. In Brandenburg wählten sage und schreibe 44 Prozent der Arbeiter AfD, in der AfD begegnen zu wollen: „Ich bin zum ersten Sachsen 35 Prozent. Die AfD wird vor allem von Männern gewählt. Bei den Mal fast vor der Entscheidung zu sagen: Ich gehe Gewerkschaftsmitgliedern entsprach das AfD-Ergebnis in Brandenburg und in Sachsen in etwa dem Durchschnitt. Markant sind aber die Geschlechter- nicht wählen. Wen soll ich denn wählen? Aus Pro- unterschiede. 34,1 Prozent der männlichen Gewerkschaftsmitglieder wählten test müsste ich AfD wählen. Das sehen viele so. AfD; die radikale Rechte ist in dieser Gruppe stärkste Kraft (Forschungsgrup- pe Wahlen Mannheim; DGB 2019. Vgl. auch: Kahrs, Horst: Die Wahl zum 7. Das haben sie geschafft, die haben die Mitte der Landtag Brandenburg und zum 7. sächsischen Landtag. MS: Berlin 2019).
44 Schwerpunkt spw 4 | 2019 weit größerem Ausmaß und mit einer gleich- 175-fache. Die Eindämmung des Klimawandels sam unkalkulierbaren Dynamik im Wertschöp- und die Abkehr von extensiver Ressourcennut- fungssystem Automobil wiederholen. Das wäre zung werden daher ohne materielle Umvertei- fatal, denn das Beispiel Braunkohle lehrt, dass lung von den reichen zu den armen Ländern eine Interessenpolitik, die sich auf die betrieb- und von den Privilegierten zu den verwund- liche und Unternehmensebene konzentriert barsten Klassenfraktionen nicht zu realisieren und Organisationsmacht vor allem einsetzt, um sein. Zugespitzt formuliert: Auch in den reichen partikulare Beschäftigteninteressen zu wahren, Ländern geht es nicht um allgemeinen Verzicht. gesellschaftlich rasch an Akzeptanz verlieren Es ist keineswegs erforderlich, der Putzfrau die kann. Die LEAG-Beschäftigten bringen eine Mallorca-Reise und dem Daimler-Arbeiter das solche Entwicklung unbeabsichtigt auf den Häuschen zu nehmen oder gar dem Hartz-IV- Punkt, wenn sie kritisieren, dass sich schon Bezieher den Regelsatz zu beschneiden. Wer den wenige Kilometer von ihrem Revier entfernt Gürtel enger schnallen soll, muss erwarten kön- niemand mehr für ihre Belange interessiere. nen, dass dergleichen auch von der wachsenden Eine weitsichtige, transformierende Interes- Gruppe der Reichen und Superreichen verlangt senpolitik, mit der sich die Gewerkschaften wird – eingeschlossen Milliardäre vom Typus zu Hauptakteuren bei der Durchsetzung von Roman Arkadjewitsch Abramowitsch, Besitzer Nachhaltigkeitszielen und Klimagerechtigkeit einer 162,5-Meter Yacht mit eingebautem Rake- machen, könnte einem Verlust an Zukunftsfä- tenwerfer und einem Mini-U-Boot bestückt.21 higkeit entgegenwirken. An dieser Stelle ist es unmöglich, das dafür nötige Programm umfas- Dies bedeutet zweitens, dass Gewerkschaften send darzustellen. Ich beschränke mich deshalb Politiken, die dem Klimawandel in erster Linie auf vier wichtige Punkte. oder gar ausschließlich mit marktkonformen Mitteln (CO2-Bepreisung, Emissionshandel) zu Erstens sollten sich die Gewerkschaften in ih- Leibe rücken wollen, äußerst kritisch begegnen ren Organisationsbereichen an einer neuen Auf- sollten.22 Wahrscheinlich führt kurzfristig an ei- klärung beteiligen, die – ohne in apokalyptische ner CO2-Steuer kein Weg vorbei. Auch Fridays Klagen zu verfallen – die Notwendigkeit einer for Future fordert die rasche Einführung einer Nachhaltigkeitsrevolution offensiv begründet. solchen Steuer. Doch auch wenn diese Abgabe Dabei ist es wichtig, dass gewerkschaftliche In- mit Ausgleichzahlungen verbunden ist, handelt teressenpolitik die von Umweltverbänden und es sich weder um eine ökologisch zureichende, Klimaaktivisten häufig unterschätzte soziale noch um eine sozial nachhaltige Maßnahme. Dimension des ökologischen Gesellschaftskon- Die Schweiz hat bereits beides – eine CO2-Steuer flikts stärker ins gesellschaftliche Bewusstsein und einen sozialen Ausgleich. Nachhaltig sind rückt. Nehmen wir das Beispiel Klimawandel. das Wirtschaftsmodell und die Lebensweisen Während die reichsten zehn Prozent der er- des Landes dennoch nicht. Der ökologische wachsenen Weltbevölkerung, die sich im Üb- Fußabdruck der Schweiz bewegt sich auf dem rigen auf allen Kontinenten finden, 49 Prozent Niveau von drei Planeten und die Emissionen der klimaschädlichen Emissionen verursachen, lassen Schülerbewegungen nach einem Klima- emittiert die untere Hälfte gerade einmal drei notstand rufen. Prozent.20 Seit der Jahrtausendwende geht die Steigerung klimaschädlicher Emissionen nahezu Generell gilt, dass die Realisierung ökolo- ausschließlich auf das Konto von Luxuskonsum gischer Nachhaltigkeitsziele die Preise z. B. für und entsprechenden Lebensstilen. Beim Res- Naturressourcen und Lebensmittel in die Höhe sourcenverbrauch verhält es sich ähnlich. Der treiben wird. Schon deshalb sind Plädoyers zu- ökologische Fußabdruck eines Vermögenden aus dem obersten einen Prozent der Weltbe- 21 Pinzler, Petra (2019): Darauf ein Gläschen CO2. In: Die Zeit vom 18.07.2019, Den Hinweis verdanke ich Hans-Jürgen Urban. völkerung übertrifft den eines Angehörigen der 22 Das gilt gerade auch für die Arbeitgeberpositionen. Gesamtmetall plädiert ärmsten zehn Prozent durchschnittlich um das bezeichnenderweise für wettbewerbskonforme Lösungen und „nicht: hier eine staatliche Maßnahme und dort eine andere“ (vgl. Dulger 2019). Fol- gerichtig wird der soziale Ausgleich bei der Durchsetzung von Klimazielen 20 Gallagher/Kozul-Wright 2019, S. 22 gegen die Abkehr von Hartz IV ausgespielt.
spw 4 | 2019 Schwerpunkt 45 gunsten einer ökologischen Austerität, die Ge- In diesem Zusammenhang sollten die Ge- werkschaften zur Mäßigung bei Löhnen und werkschaften drittens aber auch deutlich ma- Einkommen mahnt23, schlicht kontraproduktiv. chen, dass es angesichts der dringend erforder- Unter kapitalistischen Bedingungen würden sie lichen Nachhaltigkeitsrevolution keine bloße allenfalls eine Steigerung der Unternehmens- Rückkehr zu klassischer wohlfahrtsstaatlicher gewinne bewirken, das Ungerechtigkeitsemp- Umverteilungspolitik geben kann. Im Grunde finden bei großen Teilen der Lohnabhängi- geht es um die Rückverteilung gesellschaftlichen gen steigern und Beschäftigte wie im Falle der Reichtums und vor allem um eine Neuvertei- Braunkohle der radikalen Rechten in die Hände lung von Entscheidungsmacht in Wirtschaft, treiben. Das Gegenteil ist richtig. Löhne und Betrieben und Unternehmen. Um es zugespitzt Einkommen eines Großteils der Lohnabhängi- zu formulieren: Besser als auf das Fahren von gen müssen steigen, damit z.B. faire Preise für SUVs zu verzichten, ist, sie gar nicht erst zu pro- Ressourcen oder Lebensmittel aus ökologischem duzieren. Angesichts ihrer lebensbedrohenden Anbau für große Mehrheiten bezahlbar bleiben Konsequenzen dürfen Entscheidungen über oder überhaupt bezahlbar werden. Gute, ökolo- das Was, das Wie und das Wozu der Produktion gisch nachhaltige Arbeitsbedingungen entlang von Gütern und Dienstleistungen nicht länger von Wertschöpfungsketten und in den Ländern kleinen Managereliten in Großunternehmen des Südens sind leichter durchzusetzen, wenn vorbehalten bleiben. Soziale und ökologische Schmutzkonkurrenz aus dem Norden unter- Nachhaltigkeit benötigt Wirtschaftsdemokratie bunden wird. Nötig sind deshalb – national wie und Wirtschaftsdemokratie ist mehr als Mitbe- international – Löhne zum Leben, die deutlich stimmung. Sie muss alle relevanten gesellschaft- oberhalb der Niedriglohngrenze liegen.24 Da lichen Gruppen an Produktionsentscheidungen fraglich ist, ob die Gewerkschaften noch genü- beteiligen. Der Ökonom Atkinson schlägt des- gend Kraft haben, solche Löhne durchzusetzen, halb die Einrichtung von Wirtschafts- und Sozi- benötigt Einkommensgerechtigkeit Unterstüt- alräten vor, die aber nicht mehr nur mit Vertre- zung aus Politik und Zivilgesellschaft. Kommis- tern aus Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften sionen, die unter wissenschaftlicher Beteiligung besetzt sein sollen, sondern zivilgesellschaftliche regionale Standards für living wages ermitteln Akteure wie Umweltverbände, ökologische Be- sowie eine Stiftung mit Gütesiegel für beteilig- wegungen, Fraueninitiativen etc. einbeziehen, te Unternehmen, die nach britischem Vorbild um ein annäherndes Kräftegleichgewicht über- agiert, könnten Schritte in diese Richtung sein. haupt erst wiederherzustellen. Eine Aufgabe Dass sich Löhne zum Leben mit qualitativen solcher Räte könnte es sein, die Umsetzung von Forderungen nach guter Arbeit und Arbeitszeit- Nachhaltigkeitszielen zu überwachen, die Pro- verkürzung verbinden lassen, liegt auf der Hand, duktion langlebiger Güter zu fordern und neue denn je besser die Einkommen sind, desto wich- Formen eines kollektiven Selbsteigentums etwa tiger werden auch subjektiv Zeitwohlstand und in Genossenschaften zu erproben, die vom Ge- gute Arbeitsbedingungen.25 winnmotiv als Hauptzweck abgekoppelt sind. Eine solche Politik ließe sich viertens fördern, indem ökologische und soziale Nachhaltigkeits- 23 Auf solche Stimmen sind wir beispielweise im Lager der Braunkohlegegner ziele Verfassungsrang erhalten. Sie müssen im immer wieder gestoßen. Einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft habe bereits in den 1950er Jahren von einer Sättigung des Konsums gesprochen, Grundgesetz, in den Länderverfassungen und lautet eines der Argumente für Verzicht. in der europäischen Grundrechtscharta veran- 24 Living wages sollen es erlauben, Ansprüche an Kultur und Bildung zu verwirk- lichen. Sie stellen eine arbeitgeberseitige Selbstverpflichtung dar, keinen recht- kert werden. Und sie sollten auch Eingang in lichen Anspruch. Dennoch gewinnen sie z. B. in Großbritannien seit Jahren das Arbeitsrecht, die Betriebs- und Unterneh- an Bedeutung. Regionale Kommissionen könnten ermitteln, wie solche Löhne vor Ort zu gestalten sind. In Großbritannien liegt der living wage 23 Prozent (in mensverfassung und möglichst in Tarifverträge London 40 Prozent) über dem gesetzlichen Mindestlohn. Regionale Kommissi- finden. Durch eine Verankerung von Nachhal- onen könnten Unternehmen auch über Zertifizierungen („living wage employ- er“) für solche Löhne gewinnen. Vgl: G.I.B.-Info 2_18, S. 76-105. tigkeitszielen in Artikel 13 (2), GG würde die 25 Viele anregende Ideen für die Realisierung ökologischer Nachhaltigkeit in Sozialbindung des Eigentums erweitert. Wirt- der Arbeitswelt finden sich in: Schröder, Lothar/Urban, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2018): Gute Arbeit Ausgabe 2018: Ökologie der Arbeit - Impulse für einen schaftsakteure, die das Nachhaltigkeitsgebot nachhaltigen Umbau. Frankfurt am Main: Bund Verlag. missachten, hätten mit Enteignung, vor allem
46 Schwerpunkt spw 4 | 2019 aber mit der Umverteilung und Demokratisie- Bullshit-Jobs sondern gesellschaftlich sinnvolle rung wirtschaftlicher Entscheidungsmacht zu Arbeitstätigkeiten, die gut bezahlt sind und rechnen. Auf diese Weise entstünden Institu- ohne Statusverlust ausgeübt werden können. tionen einer transformativen Demokratie, die Noch scheuen die deutschen Gewerkschaften wirtschaftliche Strukturen einschlössen. Ihre vor solchen Forderungen zurück28, weil, so heißt Einführung ließe bewusst Spielraum für die Er- es, entsprechende Garantien im Kapitalismus probung nicht- und nachkapitalistischer Wirt- nicht zu realisieren seien. Macht aber nicht ge- schaftsweisen. Sie würde eine Abkehr vom BIP rade dieser utopische Überschuss, die implizite als herausragender wirtschaftlicher Steuerungs- Thematisierung der Grenzen eines auf „Besitz- größe und deren Ersetzung durch Entwick- akkumulation“ (Hannah Arendt) beruhenden lungsindikatoren befördern, die ökologische expansiven Gesellschaftssystems, das letztend- Schäden des Wirtschaftswachstums transparent lich nicht nachhaltig sein kann, den eigentlichen machen. Die Nachhaltigkeitsrevolution wäre da- Reiz solcher Forderungen überhaupt erst aus? mit noch lange nicht Wirklichkeit, es gäbe aber Durchsetzen lässt sich ein Green New Deal nur zusätzliche rechtliche und institutionelle Spiel- in neuen Bündniskonstellationen, durch Ausbau räume, die faktisch auf eine Erweiterung auch von Bündnisbeziehungen zu ökologischen und von gesellschaftlicher Lohnabhängigenmacht Klimaschutz-Bewegungen wie Fridays for Fu- hinausliefen.26 ture oder auch Extinction Rebellion, also mit- tels Ausbaus gesellschaftlicher und diskursiver Dergleichen ist gegenwärtig Zukunftsmusik. Machtressourcen von Gewerkschaften. Wird Für die IG Metall ist es schon ein Fortschritt, dieser Weg konsequent beschritten, kann er, dass sie nicht mehr für eine Korrektur europä- ähnlich wie etwa im Gefolge der 1968er-Bewe- ischer Emissionsziele nach unten eintritt. Der gungen, zur Stärkung von Organisationsmacht Aufruf des ver.di-Vorsitzenden Bsirske an die beitragen. Konfliktfähige Gewerkschaften ha- Mitglieder seiner Organisation, sich mit eigenen ben solch belebende Impulse aus den Klima- Aktionen am Klimastreik zu beteiligen, den u.a. schutzbewegungen jedenfalls bitter nötig; aber Fridays for Future vorschlägt, geht einen deut- auch die Umwelt- und Klimabewegungen wür- lichen Schritt weiter. Noch besser wäre es freilich, den profitieren, wenn sie soziale Nachhaltigkeit wenn in Sachen Klimawandel und Klimagerech- stärker als bisher zum ureigenen Thema machen tigkeit möglichst rasch Streikfähigkeit hergestellt könnten.29 ó würde. Dazu bedarf es eines political organising, wie es beispielsweise Jane McAlevey erprobt und in mehreren Büchern beschrieben hat.27 Streiks für Klimagerechtigkeit könnten zu einem wich- tigen Mittel werden, um Nachhaltigkeitsziele in Unternehmen und Gesellschaft durchzusetzen. Ein Green New Deal, wie er von der UNCTAD oder den Democratic Socialists in den USA vorgeschlagen wird, bietet auch den deutschen Gewerkschaften ein Anregungspotential, das sie nutzen sollten. So fordern Ocasio-Cortez und Verbündete eine rasche, radikale Dekarbonisie- rung der Wirtschaft, verbunden mit Job- und Sicherheitsgarantien für Beschäftigte aus den Karbon-Branchen, die ihren Arbeitsplatz ver- 28 Die IG Metall, schlägt stattdessen Langzeitkurzarbeit als Mittel der Wahl vor, lieren. Verlangt werden nicht schlecht bezahlte um Strukturbrüche abzufedern. 29 In Teilen dieser Bewegungen können ökologisch engagierte Gewerkschaften schon jetzt mit Sympathie rechnen. Den größten Beifall auf der schon er- wähnten Leipziger Vollversammlung erhielt ein Betriebsrat der öffentlichen 26 In einer studentischen Vollversammlung in Leipzig zur Gründung von Stu- Verkehrsbetriebe, der seine Zustimmung zu einem ermäßigten Ticket für den dents for Future, an der mehr als 1.500 Studierende teilnahmen, stießen ent- öffentlichen Nahverkehr mit dem Hinweis verband, dass dies nicht zulasten sprechende Vorschläge auf tosenden Applaus. von Löhnen und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten gehen dürfe. Er lud 27 McAlevey, Jane (2019): A Collective Bargain. Unions, Organizing and the die Studierenden deshalb ein, die Gewerkschaft ver.di in der kommenden Ta- Fight for Democracy. New York: HarperCollins. rifrunde zu unterstützen.
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