Wohlstand, armut & umverteilung in Österreich - "NUR WER IM WOHLSTAND LEBT, SCHIMPFT AUF IHN"
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Wohlstand, Armut & Umverteilung in Österreich Fakten und Mythen „NUR WER IM WOHLSTAND LEBT, SCHIMPFT AUF IHN“ Ludwig Marcuse
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort 4 Fakten zum Wohlstand 6 Wohlstand – das viertreichste Land der EU 7 Arbeitnehmerentgelte – die Arbeitskraft wird immer besser vergütet 8 Arbeitsplätze – Beschäftigungsrekorde durch EU-Beitritt und EU-Erweiterung 9 Verfügbares Einkommen – wir haben mehr in der Tasche 10 Kaufkraft – wir können uns mehr leisten 11 Mehr Freizeit durch mehr Produktivität 14 Mehr Lebensqualität 16 Fakten zur Armut 21 Was bedeutet „Armutsgefährdung“? 22 „Armutsgefährdung“ ist nicht gleich „Armut“ 25 Wie kann Armut weiter verringert werden? 26 Bereitschaft zu Leistung und Arbeit schwindet 29 Der Mythos der sinkenden Reallöhne 30 Der Mythos der Binnennachfrage durch Löhnerhöhungen 31 Der Mythos „Lohnquote“ 32 Fakten zur Umverteilung 36 Nettotransferzahler und Nettotransferbezieher 37 Umverteilung historisch betrachtet 41 Umverteilung durch das Steuersystem 42 Mythos über die Besteuerung von Arbeit und Kapital 44 Fakten zur Vermögensbesteuerung 46 Umverteilung durch Staatsausgaben 47 Umverteilung durch die Sozialversicherung 52 Der stille Beitrag der Unternehmen 56 Umverteilung einmal anders betrachtet 58 Gespaltene Gesellschaft durch Schutzschirm des Staates 60 Zusammenfassung: Die wichtigsten Fakten zur Umverteilung 61 Inhalt | 3
Vorwort
Ein zentrales Ziel der Wirtschaftspolitik ist die Erhöhung des Wohlstandes und damit einhergehend die Steigerung der Lebensqualität und die Verringerung von Armut. Der wichtigste Hebel zu mehr Wohlstand ist eine höhere Produktivität als Ergebnis von Innovationsgeist, individueller Verantwortungsbereitschaft und richtigen Rahmenbedingungen. In Österreich existiert „Armut im Wohlstand“- um diese weiter zu verringern und damit den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu erhalten, bedarf es auch eines gewissen Maßes an Umverteilung. Österreich gehört heute zu den am meisten umverteilten Ländern der Welt. Vor diesem Hintergrund stehen wir vor zweierlei Herausforderungen: Erstens werden die Mittel nicht immer dorthin verteilt, wo sie der Allgemeinheit im Sinne von mehr Wohlstand für Alle am besten dienen. Zweitens – und diesem Phänomen widmet sich die vorliegende Broschüre – wird der hohe Grad an Umver- teilung von den Begünstigten nur selten wahrgenommen. Umverteilung kann nie die in jeder Gesellschaft vorhandene Ungleichheit und Vielfalt zur Gänze nach oben nivellieren, und so bleibt trotz erheblicher Umverteilungsmechanismen in den meisten Fällen immer noch ein subjektives Gefühl von Ungerechtigkeit – das ist zumeist weder für die Transferzahler noch für die Empfänger zufriedenstellend. Die vorliegende Broschüre soll einen Beitrag dazu leisten, die Fakten zum Thema Umverteilung in Öster- reich transparenter zu machen. Sie zeigt den aktuellen Status quo von Wohlstand, Armut und Umvertei- lung. Es zeigt sich dabei, dass eine Minderheit in Österreich die Masse des umzuverteilenden allgemeinen Wohlstands erwirtschaftet und damit im Wesentlichen das Sozialsystem aufrecht erhält. Das vorliegende IV-Papier ist frei von Forderungen oder normativen Zielvorstellungen, sondern verfolgt das Ziel, oft unwi- dersprochenen politischen Mythen Fakten gegenüberzustellen. Mag. Markus Beyrer Dr. Clemens Wallner Generalsekretär Wirtschaftspolitischer Koordinator der Industriellenvereinigung der Industriellenvereinigung Vorwort | 5
Ausgaben für die lokale Polizei und das Feuerwehrwesen sAowie verschiedene andere Gemeinde- dienstleistungen. Fakten zum Wohlstand 6 | Aufgaben
Wohlstand – das viertreichste Land der EU Österreich ist das viertreichste Land der EU und um 23 Prozent reicher als der EU-Duchschnitt. Nur Luxem- burg, Irland (massives Aufholen durch EU-Fördermittel) und die Niederlande liegen in Punkto Wohlstand (BIP pro Kopf in Kaufkraftstandards) laut Eurostat vor Österreich. Wenn man die Ausnahmefälle Luxemburg (als sehr kleiner Staat profitieren sie übermäßig von Pendlern) und Irland (haben durch EU-Fördermittel in den vergangenen Jahren massiv aufgeholt) wegrechnet, wäre Österreich sogar das zweitreichste Land der EU. Weltweit hat sich Österreich vor allem durch die positiven Effekten der Ostöffnung im Wohlstands- Ranking (Internationaler Währungsfonds) von Platz 15 (10,626 USD pro Kopf in KKP) im Jahr 1980 auf Platz 12 im Jahr 2008 (39,634 USD pro Kopf in KKP) verbessert (IWF Outlook vom April 2009). Laut Weltbank liegt Österreich heute sogar weltweit auf Platz 7 weil Länder wie Katar, Brunei, oder Island nicht verglichen wer- den oder hinter Österreich zurückfallen. Eines sollte auch nicht vergessen werden: Dieser Wohlstand wird heute bereits zu fast 60 Prozent durch unsere Exporte erwirtschaftet. WOHLSTANDSENTWICKLING (BIP in Mrd. Euro) Mehr als jeder zweite Euro (59%) unseres Wohlstandes wird heute bereits durch die Exporte der österreichischen Unternehmen erwirtschaftet 300 285 Mrd. BIP-pro-Kopf Entwicklung seit der Ostöffnung (in Tsd. Euro) 36 Österreich 250 34 Frankreich Japan 32 Deutschland Italien 200 30 28 170 Mrd. 59 % 150 26 24 BIP davon Exporte 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 100 46 % Quelle: Statistik Austria 50 37 % 3,8 Mrd. 24 % 14% 31 % 33 % 0 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2008 Wohlstand – das viertreichste Land der EU | 7
Arbeitnehmerentgelte – die Arbeitskraft wird immer besser vergütet Die Arbeitnehmerentgelte (Bruttolöhne und Gehälter plus Sozialbeiträge der Dienstgeber) sind von 1986 bis heute um 80,4 Mrd. Euro auf 138,5 Mrd. Euro gestiegen. Das durchschnittliche Arbeitnehmerentgelt ist pro Arbeitnehmer teilzeitbereinigt von 1.810 auf 3.600 Euro pro Monat gestiegen und damit wurden die Leis- tungen der Arbeitnehmer um 99 Prozent oder um 21.500 Euro pro Jahr mehr vom Arbeitgeber entlohnt. Die Inflation (VPI) ist in diesem Zeitraum nur um knapp 63 Prozent gestiegen. ARBEITNEHMERENTGELTE PRO ARBEITNEHMER in Euro pro Monat (1/12 des Jahreseinkommens) 3.800 200 3.600 Arbeitnehmerentgelt pro Beschäftigten 3.400 180 3.200 3.000 160 2.800 Inflation (VPI 1986) 140 2.600 2.400 Quelle: Statistik Austria 120 2.200 2.000 100 1.800 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 Besonders vergütet werden die Arbeitnehmer übrigens in der Industrie: Laut Verdienststrukturerhebung der Statistik Austria liegen die mittleren Bruttostundenverdienste (ohne Mehr- und Überstunden) im produ- zierenden Bereich um 15 Prozent über den Verdiensten im Dienstleistungssektor. 8 | Arbeitnehmerentgelte – die Arbeitskraft wird immer besser vergütet
Arbeitsplätze – Beschäftigungsrekorde durch EU-Beitritt und EU-Erweiterung Die Arbeitnehmerentgelte sind insgesamt auch deswegen so stark gestiegen, weil sich die Beschäftigung ausgeweitet hat. Seit dem EU-Beitritt sind 350.000 neue Jobs in Österreich entstanden und seit der Ostöff- nung 1989 sogar über 550.000. Laut WIFO sind rund 170.000 Jobs allein auf EU-Beitritt und Ostöffnung (der „europäischen Globalisierung“) zurückzuführen und 237.000 Arbeitsplätze auf ausländische Investitionen in Österreich. Allein durch die gestiegene Exporttätigkeit der heimischen Unternehmen entstehen direkt und indirekt jährlich rund 37.000 zusätzliche Arbeitsplätze in Österreich. BESCHÄFTIGUNGSENTWICKLUNG IN ÖSTERREICH mit und ohne Ostöffnung und EU-Beitritt in Mio. 3.500 170.000 zusätzlich 3.400 3.300 3.200 unselbständige Beschäftigte insgesamt 3.100 Quelle: Hauptverband, WIFO, IV 3.000 ohne Ostöffnung und EU-Beitritt 2.900 2.800 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 Arbeitsplätze – Beschäftigungsrekorde durch EU-Beitritt und EU-Erweiterung | 9
Verfügbares Einkommen – wir haben mehr in der Tasche Wir haben mehr Einkommen, müssen weniger Steuern zahlen und bekommen mehr Sozialtransfers. Daher ist das verfügbare Einkommen der Privathaushalte in Österreich seit dem EU-Beitritt 1995 von 112 Mrd. Euro auf 171 Mrd. Euro (2008) um über 59 Mrd. Euro gestiegen. Statistisch gesehen bedeutet das pro Österreicher im Durchschnitt über 7.000 Euro pro Jahr mehr an verfügbaren Einkommen seit dem Jahr 1995. An dieser Stelle sollte mit einem weit verbreiteten Missverständnis aufgeräumt werden: Nicht die Veränderung der realen Nettolöhne (inflationsbereinigt und minus Steuern) einer Person – also das, was jeder Arbeitnehmer als Arbeitseinkommen erzielt, ist ausschlaggebend dafür, ob er mehr Kaufkraft und damit mehr Wohlstand besitzt als zuvor, sondern sein „verfügbares Haushaltseinkommen“ – also das was er inklusive sozialer Transfers in einem gemeinsamen Haushalt zur Verfügung hat (je mehr Personen in einem Haushalt wohnen, desto geringer sind die Lebenserhaltungskosten und desto höher ist die Kauf- kraft jedes Einzelnen). Der Unterschied zwischen diesen beiden Einkommensmesslatten ist bedeutend: Zwar stiegen die Netto- reallöhne laut WIFO seit 1999 nur um 2,2 Prozent (auf 1.710 Euro pro Monat im Jahr 2008), die „verfügbaren Haushaltseinkommen“ (ebenfalls inflationsbereinigt) jedoch bereits um 8,9 Prozent auf 3.381 Euro pro Monat im Jahr 2008). REALE EINKOMMENSENTWICKLUNG SEIT 1999 (indexiert, 100=1999) 110 3.381 Euro/Monat 109 verfügbares Haushaltseinkommen 108 107 106 105 plus 104 Sozialtransfers und 103 Haushaltsbereinigung 102 Nettoreallohn Quelle: WIFO 101 1.710 Euro/Monat 100 1999 2008 10 | Verfügbares Einkommen – wir haben mehr in der Tasche
Kaufkraft – wir können uns mehr leisten Die Österreicherinnen und Österreicher haben nach Irland und Dänemark mit rund 20.045 Euro pro Kopf an verfügbaren Einkommen die dritthöchste Kaufkraft der EU. Der EU-Schnitt liegt bei rund 12.500 Euro (GfK- Kaufkraft-Studie Europa 2008). Seit dem EU-Beitritt sind die Konsumausgaben der österreichischen Privat- haushalte (laut VGR) von 97 Mrd. Euro auf 149 Mrd. Euro (2008) gestiegen. Die Österreicher können also im Schnitt seit 1995 um 6.500 Euro pro Person mehr von den Angeboten der Wirtschaft profitierten. KAUFKRAFTVERGLEICH IN DER EU* So viel steht den Verbrauchern aus ihrem Haushalts-Nettoeinkommen für Konsumausgaben zur Verfügung (inkl. sozialer Transfers) *in Euro pro Jahr (ohne Luxemburg) 25.000 22.500 20.000 17.500 15.000 12.500 10.000 7.500 5.000 Quelle: GfK 2008 2.500 0 Irland Dänemark Österreich Frankreich Deutschland Großbritannien Belgien Schweden Finnland Italien Niederlande Spanien Griechenland Zypern Portugal Slowenien Malta Tschechien Estland Lettland Slowakei Litauen Ungarn Polen Rumänien Bulgarien Mehr Kaufkraft bedeutet, dass immer neue und verbesserte Produkte zu einem immer niedrigeren Preis für die Menschen erhältlich sind. Die vergangenen Jahre waren dabei äußerst erfolgreich: Für viele Leistungen muss ein Industriearbeiter heute weniger arbeiten als noch im Jahr 1980: Aus der Tabelle auf der nächsten Seit wird besonders gut sichtbar, dass vor allem Waren, die global gehandelt werden (und davon besonders die Industrieprodukte) immer günstiger, und jene Dienstleistungen (vor allem öffentliche aber auch priva- te), die international kaum handelbar sind, auf Grund der niedrigeren Produktivitätsentwicklung und hoher Abgaben auf den Faktor Arbeit immer teurer wurden. Das ist ein deutlich sichtbares Plädoyer für Globali- sierung und die internationale Arbeitsteilung zu Gunsten der Kaufkraft der Menschen. Auch das IHS ist übrigens in der Studie „Wettbewerb und Wohlstand“ zum Schluss gekommen, dass in Österreich die Kaufkraft beim Erwerb jener Produkte und Leistungen am stärksten gestiegen ist, die dem Wettbewerb ausgesetzt sind. Wo kein Wettbewerb herrscht, gibt es die stärksten Preisanstiege (Wasser- versorgung, Bahntarife, Krankenhäuser etc.). Billiger geworden sind vor allem jene Produkte, die auf stark umkämpften Märkten abgesetzt werden. Kaufkraft – wir können uns mehr leisten | 11
So viel musste ein Industriearbeiter in Österreich arbeiten, um sich folgende Produkte leisten zu können (in Stunden bzw. Minuten, Quelle: WIFO): 1980 1985 1990 1995 19951) 2000 2005 2007 2008 1 Stk. Semmel (maschinengeformt) 1.2 min 1.2 min 1.1 min 1.1 min 1.1 min 1.2 min 1.3 min 1.4 min 1,4 min 1 kg Mischbrot, Wecken 9.8 min 10.2 min 10.5 min 10 min 9.8 min 10.3 min 11.1 min 11.4 min 11,8 min 1 kg Rindfleisch, Beiried 1 h 48.9 min 1 h 51.2 min 1 h 39.4 min 1 h 34.3 min 1 h 32.2 min 1 h 23.3 min 1 h 21.4 min 1 h 21.8 min 1 h 24,6 min 1 kg Schweinefleisch, Schnitzel 1 h 32.7 min 1 h 9.5 min 58.6 min 48.9 min 47.8 min 40.2 min 42.5 min 40.2 min 41,3 min 1 Portion Wiener Schnitzel 50.3 min 50.7 min 44.7 min 42.5 min 41.5 min 40.8 min 40 min 39.8 min 40,2 min im Restaurant Spinat, tiefgekühlt 600 g 12.9 min 12.6 min 9.6 min 10.3 min 10.1 min 8.6 min 8.6 min 8.1 min 8 min Dorschfilet, tiefgekühlt, 400 g - - 26.5 min 21.1 min 20.6 min 23.2 min 19.8 min 20.9 min 20,7 min 1 l Vollmilch 8.8 min 8 min 5.6 min 4.3 min 4.2 min 3.8 min 3.9 min 4.1 min 4,1 min 250 g Teebutter 17 min 15.1 min 11 min 7.7 min 7.5 min 6.6 min 6.3 min 6.8 min 7 min Emmentaler - - 6.9 min 5.5 min 5.3 min 4.3 min 4.3 min 4.6 min 5 min Schmelzkäse 13.6 min 13.6 min 10.9 min 8.9 min 8.7 min 7.3 min 6.7 min - - 1 kg Kartoffeln 4.4 min 4.5 min 5.1 min 5.3 min 5.2 min 4.2 min 3.9 min 4.7 min 4,4 min 1 kg Feinkristallzucker 10.8 min 11.5 min 8.2 min 6.5 min 6.4 min 5.8 min 5.2 min 5 min 4,8 min 250 g Bohnenkaffee 31.1 min 21.1 min 15.4 min 15.6 min 15.2 min 9.8 min 8.1 min 7.9 min 8 min 2 l Weißwein 33.4 min 25.2 min 24.9 min 19.8 min 19.3 min 14.9 min 12.3 min 12.1 min 12,1 min Bier im Restaurant 0,5 - - 13.3 min 13.4 min 13.1 min 14.3 min 14.5 min 14.5 min 14,6 min 1 Packung Filterzigaretten, Milde 15.5 min 17.1 min 14 min 12.8 min 12.5 min 13.7 min 16.4 min 16.4 min 17 min Sorte 1 Damenkleid 19 h 2.3 min 16 h 38.1 min 15 h 24.5 min 13 h 4.7 min 12 h 47.2 min 13 h 3.1 min 7 h 23.3 min 6 h 50.9 min 6 h 53,3 min 1 Herrenhemd 5 h 8 min 4 h 58.4 min 4 h 25.5 min 4 h 12.2 min 4 h 6.5 min 3 h 35.4 min 3 h 8.7 min 2 h 59 min 2 h 54,4 min 1 Paar Herrenhalbschuhe 8 h 11.7 min 8 h 41.6 min 8 h 3.7 min 7 h 42.9 min 7 h 32.5 min 8 h 11.7 min 6 h 53.3 min 6 h 16.8 min 6 h 11,2 min 1 Stunde Arbeitszeit, Gas- und Wasserleitungs installateur: 6 h 35.7 min 6 h 49.5 min 6 h 21.1 min 6 h 53.5 min 6 h 44.3 min 7 h 34.7 min 8 h 21.8 min 8 h 33.4 min 8 h 40,4 min Monteur und Helfer 1 Stunde Arbeitszeit, - 5 h 13.1 min 5 h 1.5 min 5 h 43.4 min 5 h 35.7 min 6 h 18.4 min 6 h 40.2 min 6 h 52.8 min 6 h 59,1 min Kfz-Mechaniker Putzerei (Anzug, chemische 1 h 22.6 min 1 h 7.2 min 58.6 min 1 h 3.7 min 1 h 2.3 min 1 h 1.5 min 1 h 1.2 min 1 h 0.6 min 1 h 0,8 min Reinigung) Farbfernsehgerät 228 h 55.4 min 149 h 8.2 min 117 h 20.9 min 90 h 22.7 min 88 h 21.2 min 82 h 17 min 59 h 28 min 60 h 12.9 min 54 h 20,8 min Rezeptgebühr - - 14 min 15 min 14.7 min 18.7 min 21.5 min 21.6 min 21,3 min 1 l Normalbenzin 7.5 min 7.9 min 4.9 min 4.6 min 4.5 min 5.1 min 4.9 min 5.1 min 5,5 min 1 l Superbenzin - - 5.3 min 4.9 min 4.8 min 5.2 min 5 min 5.2 min 5,5 min 1 l Diesel - - 4.4 min 3.7 min 3.6 min 4.3 min 4.6 min 4.8 min 5,7 min 100 km Bahntarif 2. Klasse 1 h 14.9 min 1 h 38.2 min 1 h 8.8 min 1 h 8.8 min 1 h 7.2 min 1 h 10.2 min 1 h 12.9 min 1 h 14.5 min 1 h 15.5 min Briefporto, Inland 3.7 min 3.3 min 2.7 min 2.6 min 2.6 min 2.8 min 2.7 min 2.5 min 2.5 min Friseur, waschen und legen 1 h 10.7 min 1 h 16.9 min 1 h 19.5 min 1 h 27.3 min 1 h 25.3 min 1 h 31.2 min 1 h 43.5 min 1 h 45.7 min 1 h 46,1 min Damenhaarschnitt - - - - - - 3 h 6.3 min 3 h 7.1 min 3 h 6,5 min Weißwein, Bouteille - - 21.6 min 18.5 min 18.1 min 15 min 16.4 min 16.1 min 16,2 min Quelle: WIFO - Preisentwicklung lt. VPI, Stundenverdienste: Durchschnittlicher Netto-Stundenverdienst eines Industriearbeiters inklusive Sonderzahlungen. - 1) Umstellung der Datengrundlage für die Lohnentwicklung. 12 | Kaufkraft – wir können uns mehr leisten
Die längerfristige historische Kaufkraftentwicklung wird durch den sogenannten „Mannerschnitten-Index“ am deutlichsten sichtbar: Die „10er Packung“ Mannerschnitte ist jenes Produkt der österreichischen Indus- trie, das sich für die Darstellung der langfristigen Kaufkraftentwicklung der Österreicher am besten eignet, weil sie seit ihrer Markteinführung im Jahr 1898 als einziges Produkt unverändert blieb. Das Ergebnis: Für eine Stunde Arbeitszeit konnte sich ein männlicher Industriearbeiter im Jahr 1926 3,3 Packungen Manner- schnitten leisten. Im Jahr 1953 konnte die Kaufkraft der Zwischenkriegszeit mit 3,2 Packungen pro Arbeits- stunde wieder hergestellt werden. Nach den Wirtschaftswunderjahren stieg die Kaufkraft auf 15 Packungen im Jahr 1975 und liegt heute (2007) bereits bei 24,1 Packungen. Würde man allerdings die Sozialtransfers, die seit Anfang der 70er Jahre stark ausgeweitet wurden, zu den Stundenlöhnen dazurechnen, würde die Säulen noch steiler anwachsen und im Jahr 2007 schon 33 Manner- schnittenpackungen hoch sein1, also mehr als 10 Mal höher als noch in der Vorkriegszeit. inkl. sozialer Transfers 1) Um den verfügbaren Nettostundenlohn (das sogernannte Sekundäreinkommen (inkl. sozialer Transfers) des Industriearbeiters zu berechnen, müssten zu den 13 Euro Nettostundenlohn im Jahr 2007 noch die durchschnittliche soziale Transferleistung der aktiven Bevölkerung (ohne Pensionen) dazugerechnet werden. Das war laut OECD im Jahr 2007 27,4% des Nettolohns – also zusätzlich noch 4,9 Euro. Mehr zum Thema Primäreinkommen und Sekundäreinkom- men inkl. sozialer Transfers siehe auch Kapitel „Umverteilung“. Kaufkraft – wir können uns mehr leisten | 13
Mehr Freizeit durch mehr Produktivität Mit der gestiegenen Produktivität der Unternehmen und der Arbeitnehmer können immer mehr und bessere Güter erzeugt werden, und wir müssen dafür immer weniger arbeiten. In Österreich wurden gemäß dem „europäischen Lebensmodell“ die Produktivitätszugewinne vor allem in mehr Freizeit investiert und weni- ger in einem Konsumzuwachs wie z.B. in den USA. Die gesetzliche Regelung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr in Richtung mehr Freizeit entwickelt. Mit 25 Mindesturlaubstagen liegt Österreich EU-weit an der Spitze, ebenso wie mit 13 gesetzlichen Feiertagen. Bei der tatsächlich geleisteten Jahresarbeitszeit rangieren Österreichs unselbstständig Erwerbstätige laut OECD bei einer durchschnittlichen Jahresarbeitszeit pro Erwerbstätigen von 1.483 Stunden (das sind durch- schnittlich 28,5 Stunden pro Woche) – mit stark sinkender Tendenz auf Rang 5 aller OECD-Staaten von unten gesehen. Nur Frankreich, Belgien und Deutschland und die Niederlande liegen unter dem österrei- chischen Durchschnittswert. GESETZLICHER RAHMEN SEIT 1950 TATSÄCHLICH GELEISTETE ARBEITSZEIT 29,6 SEIT 1995* 1950 1960 WENIGER WOCHENSTUNDEN 48 Wochenarbeitszeit in Stunden 29,4 45 1970 29,3 43 1972 42 1975 29,2 40 1986 38 29,0 1986 28,8 1985 1984 30 1 1977 28 TAGE 28,6 26 TAGE 1965 24 TAGE 28,5 TAGE 28,4 18 1950 TAGE Quelle: OECD, IV MEHR URLAUBSTAGE 28,2 12 Jahresurlaub in Werktagen TAGE 1) In einzelnen Branchen 28,0 1995 2000 2005 2008 *durchschnittliche Wochenarbeitszeit inkl. Urlaub, Feiertage, Krankenstand und Überstunden 14 | Mehr Freizeit durch mehr Produktivität
Aber auch die Lebensarbeitszeit hat sich im Laufe der vergangenen 40 Jahre dramatisch verkürzt. Heute ist die Lebensarbeitszeit bereits kürzer als die Zeit der nicht Erwerbstätigkeit (unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Lebenserwartung im Alter von 60 Jahren). ENTWICKLUNG DER LEBENSARBEITSZEIT IN ÖSTERREICH VON 1970-2005 (in Jahre) 90 80 70 24,6 8,8 17,5 60 50 Quelle: Hauptverband der Sozialversicherungen 40 44,1 38,1 36,1 30 20 10 20 22 17 0 1970 1990 2005 durchschnittliche durchschnittliche durchschnittliche Ausbildungszeit Lebensarbeitszeit Pensionsbezugsdauer Mehr Freizeit durch mehr Produktivität | 15
Mehr Lebensqualität In Punkto Lebensqualität liegt Österreich laut World Competitiveness Report (2009) schon seit 10 Jahren ununterbrochen und unangefochten weltweit auf Platz 1 (außer in den Jahren 2005 und 2009, wo Österreich kurzfristig von Australien bzw. der Schweiz überholt wurde). Österreich ist somit das lebenswerteste Land der Welt. Außerdem ist Österreich laut World Competitiveness Report ununterbrochen seit dem Jahr 2000 das Land mit den weltweit geringsten Umweltbelastungsproblemen (außer 2006 und 2009), dem zweitbes- ten Gesundheitssystem (außer 2005 und 2009 auf Platz 2) und ständig unter den Ländern mit der besten Verteilungsinfrastruktur der Welt. Anhand zahlreicher Parameter lässt sich nachweisen, dass sich Österreich diesen Platz an der Sonne redlich verdient hat, denn das Mehr an Wohlstand in Laufe der vergangen Jahrzehnte hat auch für ein beträchtli- ches Mehr an Lebensqualität gesorgt. Die folgenden Beispiele von mehr Lebensqualität werden von Vielen von uns entweder bereits als eine Selbstverständlichkeit angesehen und verschwinden daher allzu oft aus unserem Bewusstsein, oder wir waren uns ihrer noch gar nicht bewusst: Wir können großzügiger leben… Wir können den Lebensabend länger genießen… WOHNFLÄCHE PRO PERSON VERBLEIBENDE PENSIONSJAHRE (Hauptwohnsitz, in m2) (Lebenserwartung mit 60 Jahren abzüglich durchschnittliches Pensionsantrittsalter) 50 25,0 24,2 45 22,5 41,5 m2 22,4 Frauen 40 20,0 Männer 35 17,5 Quelle: Hauptverband, Statistik Austria 14,5 30 15,0 Quelle: Statistik Austria 25 12,5 13,0 22,5 m2 20 10,0 2000 2008 2005 2000 2005 1995 1995 1980 1985 1990 1975 1980 1985 1990 1970 1975 1970 16 | Mehr Lebensqualität
Wir haben mehr Jobs… Wir sind mobiler geworden (v.a. im ländlichen Raum)… BESCHÄFTIGUNGSQUOTE SEIT 1960 HAUSHALTE MIT AUTO (unselbstständig aktiv Beschäftigte in % der 15-64 Jährigen) (in % der Gesamthaushalte) 60 80 58,6 % 76 % 75 58 70 56 65 54 60 55 Quelle: Statistik Austria, Mikrozensus 52 50 49 % 50 45 Quelle: WIFO 48,3 % 48 40 2000 2005 1984 1989 1998 2008 1979 1993 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Wir können immer reisen… Wir atmen eine sauberere Luft ein... REISEINTENSITÄT LUFTVERSCHMUTZUNG (Personen mit mindestens einer Haupturlaubsreise, in % der Bevölkerung) (Emissionen indexiert 100 = 1985) 70 100 90 59 % 60 80 70 50 60 Kohlenmonoxid 50 40 40 30 Quelle: Umweltbundesamt Schwefel Quelle: Statistik Austria 30 20 Blei 27,5 % 10 20 0 1969 2007 1999 1975 1987 1981 2000 2006 1990 1985 1995 Mehr Lebensqualität | 17
Wir haben sauberere Flüsse… Wir ernähren uns gesünder... WASSERQUALITÄT VERBRAUCH AN FISCH SEIT 1950 (Güteklasse der Fließgewässer, in %) (kg pro Kopf und Jahr) 100 1% 10 3/4 bis 4 11 % 10 % 9 80 2/3 bis 3 8 25 % 7,5 7 60 6 GÜTEKLASSE 89 % 5 1 und 2 40 64 % 4 Quelle: Österr. Ernährungsbericht 2008 3 Quelle: Umweltbundesamt 20 2 2,0 1 0 0 2000 2006 1990 1960 1980 1850 1970 1966 2001 Wir sind breiter gebildet… Wir sind breiter ausgebildet... ENTWICKLUNG DES BILDUNGSNIVEAUS STUDIERENDE AN ÖFFENTLICHEN UNIVERSITÄTEN (in % der 25-64 jährigen) (in Tsd.) 100 250 90 218 81,5 Gesamt 80 200 mindestesten Sekundarstufe 70 60 57,8 150 50 117 Männer 40 42,2 100 Pflichtschulabschluss 101 30 Frauen Quelle: Statistik Austria Quelle: Statistik Austria 20 18,5 50 10 19 15 0 0 4 2000 2006 1990 1985 1995 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2007 18 | Mehr Lebensqualität
Wir sind immer besser vernetzt… Wir können unseren Horizont unmittelbarer erweitern... HAUSHALTE MIT INTERNETZUGANG FLUGREISEN (in % der Gesamthaushalte) (Anzahl der Flugreisen pro 100 Einwohner) 80 40 76 % 75 30 70 30 65 60 20 55 50 10 Quelle: Statistik Austria Quelle: Statistik Austria 49 % 45 1 40 0 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 1969 2007 1975 1999 1987 1981 Wir werden besser versorgt… Wir leben in einem stabileren politischen Umfeld… ÄRZTEDICHTE SEIT 1960 ANZAHL DER DEMOKRATIEN WELTWEIT (Ärztinnen und Ärzte pro 100.000 Einwohner) 500 100 453 88 90 80 400 70 60 300 50 40 Quelle: Human Security Report 2005 30 200 Quelle: Statistik Austria 159 20 20 10 100 0 2000 1985 1990 1995 2007 1995 1955 1946 2003 1965 1960 1988 1965 1980 1975 1970 1975 Mehr Lebensqualität | 19
Wir müssen nicht um unser Wir nutzen den Wohlstand Leben bangen... immer verantwortungsvoller… OPFERQUOTE BEWAFFNETER KONFLIKTE FORSCHUNGSAUSGABEN (Kampfopfer pro 1 Mio. Weltbevölkerung)) (F&E-Ausgaben in % des BIP) Prognose 500 2,9 2,73 400 2,7 400 2,5 300 2,3 Österreich 200 2,1 Quelle: Human Security Report 2005 Quelle: Eurostat; Statistik Austria 1,9 1,83 1,79 100 EU Durchschnitt 1,78 1,7 30 0 1,5 2002 1992 1997 1982 1972 1967 1987 1977 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 20 | Mehr Lebensqualität
Fakten zur Armut Aufgaben | 21
Was bedeutet „Armutsgefährdung“? Armutsgefährdet ist laut EU jeder, dessen Haushaltseinkommen inkl. Sozialleistungen unter der Armutsge- fährdungsschwelle von 60 Prozent des Medianeinkommens seines EU-Mitgliedstaates liegt. Aus dem Ergeb- nis von EU-SILC 2007 wurde die Zahl der armutsgefährdeten Personen in Österreich auf knapp zwischen 917.000 und 1.060.000 Menschen bzw. zwischen 11,2 Prozent und 12,9 Prozent (Mittelwert: 12,0 Prozent der Bevölkerung) hochgerechnet. 2006 waren es noch rund 40.000 Personen mehr. Der EU-Durchschnitt liegt bei 16 Prozent. ARMUTSGEFÄHRDUNGSQUOTEN IN DER EU 2007 in % 26 25 24 22 22 21 20 20 20 20 19 19 19 18 18 18 17 16 16 EU-Durchschnitt: 16% 15 15 14 14 14 13 13 12 12 12 12 12 11 11 10 10 10 8 Quelle: Eurostat, EU-SILC 2007 6 4 2 0 Tschechien Niederlande Schweden Slowakei Slowenien Österreich Ungarn Dänemark Finnland Frankreich Luxemburg Malta Deutschland Belgien Zypern Polen Irland Portugal Ver. Königreich Estland Litauen Spanien Italien Griechenland Lettland Bulgarien Rumänien Wichtig ist aber: Die Armutsgefährdung in Österreich sinkt tendenziell – vom Mittelwert 13,2 Prozent im Jahr 2003 (erste Erhebung nach EU-SILC) auf 12,0 Prozent 2007 obwohl sie im EU-15-Schnitt im gleichen Zeitraum sogar tendenziell steigt – von 15 Prozent auf 17 Prozent. 22 | Was bedeutet „Armutsgefährdung“?
ARMUTSGEFÄHRDUNG IN ÖSTERREICH UND EU-15 (in % der Gesamtbevölkerung) 20 18 EU-Durchschnitt 17,0 % 16 15,0 % 14 13,2 % Österreich 12 12,0 % Quelle: Eurostat 10 2003 2004 2005 2006 2007 Noch wichtiger ist aufzuzeigen, dass, selbst wenn die Armutsgefährdungsquote stagnieren würde, es uns trotzdem immer besser ginge. Und das aus drei Gründen: 1. Erstens zeigt die Armutsgefährdungsquote die „relative“ Armut an. Damit würde es aber selbst in einer fiktiven Volkswirtschaft, in der nur Millionäre leben, offiziell noch immer eine Armutsgefähr- dung geben. Faktum ist: Einem Armutsgefährdeten in Österreich geht es besser als einem Armutsge- fährdeten in Ungarn, wo das Medianeinkommen niedriger ist. Dazu die Vergleichszahlen: Während die Einkommensschwelle ab der ein Haushaltsmitglied als ar- mutsgefährdet gilt, in Österreich bei 912 Euro pro Monat liegt, gelten in weniger reichen EU-Mitglied- staaten wie z.B. in Griechenland Haushaltsmitglieder mit knapp 510 Euro oder in der Slowakei bereits mit 199 Euro als armutsgefährdet. Auch viele wohlhabende Volkswirtschaften der EU haben einen geringeren Schwellenwert als Österreich. In Deutschland liegt er bei 885 Euro, in Frankreich bei 828 Euro, Italien bei 750 Euro und im Durchschnitt der EU25 bei knapp 700 Euro pro Monat. Damit ist man in Österreich bei gleichem Einkommen deutlich schneller armutsgefährdet als in anderen EU-Mit- gliedstaaten. Am Rande bemerkt: Sogar die Niederlande, die ein höheres BIP pro Kopf als Österreich aufweisen, haben mit 910 Euro eine etwas niedrigere Armutsgefährdungsschwelle als Österreich. Was bedeutet „Armutsgefährdung“? | 23
Ein/e armutsgefährdete/r Österreicher/in mit 912 Euro an verfügbaren Haushaltseinkommen, wäre nicht gefährdet in: 1.000 (in Euro) Armutsgefährdet in Österreich = unter 912 Euro 900 910 885 800 828 700 750 600 500 510 400 300 200 199 100 Quelle: k.A. 0 Niederlande Deutschland Frankreich Italien Griechenland Slowakei 2. Zweitens geht es einen Armutsgefährdeten heute deutlich besser als einen Armutsgefährdeten vor einigen Jahren. Allein von 1995 bis heute ist die Armutsgefährdungsschwelle von knapp 700 Euro mo- natlich auf rund 912 Euro gestiegen. Mit einem gewichteten Haushaltseinkommen von 800 Euro wäre man demnach vor 10 Jahren noch nicht armutsgefährdet, heute hingegen schon. 3. Drittens verzerrt die steigende Anzahl von Single-Haushalten die Armutsgefährdungsquote. Die Armutsgefährdungsschwelle wird nämlich vom Haushaltseinkommen – noch genauer: vom Äqui- valenzeinkommen berechnet. Dieses fiktive Einkommen wird durch die Zahl der Haushaltsmitglieder dividiert und gewichtet; mit dem Argument: Je mehr Personen in einem Haushalt wohnen, desto geringer sind die Lebenserhaltungskosten jedes Einzelnen – ein klassischer Effekt der „Economies of Scale“. Der kollektive Wohlstandsgewinn durch gemeinsame Haushaltführungen wird durch die Statistik Austria für Österreich übrigens mit sage und schreibe 48 Mrd. Euro berechnet – also sogar um 10 Mrd. Euro mehr als die gesamten Transferleistungen durch den Staat (außer Pensionen). Die Haus- haltseinkommen führen laut IHS dazu, dass mehr als 900.000 individuell armutsgefährdete Personen nicht mehr armutsgefährdet sind. Durch immer mehr Single-Haushalte (von 450.000 im Jahr 1961 auf 1,24 Mio. im Jahr 2007) und immer weniger Großfamilien sollte die Armutsgefährdungsquote seit Jahr- zehnten eigentlich rasant steigen. Aber sie tut es nicht – im Gegenteil. Es geht uns heute also besser obwohl wir uns seit Jahrzehnten freiwillig für mehr persönliche Freiheit und gegen mehr Sicherheit im Familienverbund entscheiden. 24 | Was bedeutet „Armutsgefährdung“?
„Armutsgefährdung“ ist nicht gleich „Armut“ In der Armutsdiskussion besteht auf EU-Ebene Konsens, dass Einkommen als alleiniger Indikator zur Messung von Armut unzureichend ist. Armut ausschließlich über niedriges Einkommen zu definieren, be- rücksichtigt nicht das subjektive Empfinden der sozialen Ausgrenzung. Von „manifester Armut“ wird daher nur dann gesprochen, wenn zusätzlich zu niedrigem Einkommen gewisse Mängel oder Einschränkungen in grundlegenden Lebensbereichen auftreten (wie keine angemessene Wohnung oder Heizmöglichkeit, Kleidung oder Ernährung). Wer ein Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle hat und in mindestens einem von fünf Berei- chen (z.B. Lebensführung, Wohnung, Gesundheit) mindestens zwei Benachteiligungen hat (z.B. Lebensfüh- rung: Wohnung kann nicht warm gehalten werden und unerwartet anfallende Ausgaben sind ein Problem. Wohnung: kein Bad oder WC in der Wohnung und Belastung durch Schimmel und Feuchtigkeit), gilt als „arm“. 2007 konnten bei 5 Prozent der Bevölkerung in Privathaushalten gleichzeitig niedriges Einkommen (Armutsgefährdung) sowie Probleme in zentralen Lebensbereichen beobachtet werden. Hochgerechnet sind also etwa 400.000 (und damit immerhin rund 60.000 weniger als im Jahr davor) Menschen in Österreich „arm“, und nicht über eine Million, wie oft behauptet wird. ARMUTSGEFÄHRDUNG UND „MANIFEST ARM“ (in %) 14 13,2 % 12 Armutsgefährdet 12,0 % 10 8 6 6,0 % 5,0 % Quelle: Statistik Austria, EU-SILC „manifest arm“ 4 2 0 2003 2004 2005 2006 2007 „Armutsgefährdung“ ist nicht gleich „Armut“ | 25
Die jährliche persönliche Haushaltsbefragung im Zuge der Erhebung der manifesten Armut (an der über 4.500 Haushalte teilnehmen) macht aber im Umkehrschluss eines deutlich sichtbar: Der technische und soziale Fortschritt und der Wohlstand in Österreich ist bemerkenswert, wovon letztlich auch die armutsge- fährdeten Hauhalte profitieren: Von den 8,2 Millionen Österreicherinnen und Österreichern können sich laut EU-SILC Umfrage heute nur eine verschwindende Minderheit jene Produkte nicht leisten, die vor eini- ger Zeit noch unter die Kategorie „Luxus“ gefallen wären, heute aber laut EU-SILC ein Indikator für soziale Ausgrenzung sind: 471.000 Österreicher (nur 6 Prozent der Bevölkerung) können sich kein eigenes Auto; und 456.000 keinen eigenen PC leisten (5 Prozent der Bevölkerung). Überhaupt nur 91.000 können sich kein eigenes Handy und 37.000 keine eigene Waschmaschine leisten (1 Prozent bzw. sogar unter 1 Prozent der Bevölkerung). 2,1 Mio. Österreicher (26 Prozent der Gesamtbevölkerung) können es sich nicht leisten, Urlaub zu machen. SO VIELE ÖSTERREICHER/INNEN KÖNNEN SICH NICHT LEISTEN... ...Urlaub zu machen ...eigenes Auto ...eigenes Handy 6% 1% 26 % Quelle: EU-SILC 2009 Wie kann Armut weiter verringert werden? Ein direkter, kurzfristiger Hebel zur Verringerung von Armut sind soziale Transfers. Österreichs Sozialquote (Sozialausgaben in Prozent des BIP) ist mit 28,5Prozent eine der höchsten in der EU. Der Durchschnitt der EU-27 liegt bei 26,9 Prozent des BIP. Damit werden in Österreich fast drei Viertel aller heimischen Steuer- und Abgabeneinahmen im Sozialbereich ausgegeben. (Näheres dazu im Kapitel „Umverteilung“.) 26 | Wie kann Armut weiter verringert werden?
Sozialausgabenquoten in der EU (2006) (Quelle: Eurostat) 35 31,1 30,7 30 30,1 29,3 29,1 28,7 28,5 27,5 27,5 26,9 26,6 26,4 25,4 25 24,2 22,8 22,3 20,9 20,4 20 19,2 18,7 18,4 18,2 18,1 Prozent 15,9 15 15,0 14,0 13,2 12,4 12,2 10 5 0 Frankreich Schweden Belgien Niederlande Dänemark Deutschland Österreich EU-15 Eurozone EU-27 Italien UK Finnland Portugal Griechenland Slowenien Ungarn Spanien Luxemburg Polen Tschechien Zypern Irland Malta Slowakei Bulgarien Rumänien Litauen Lettland Ohne Sozialtransfers würde die Armutsgefährdungsquote in Österreich statt bei 12 Prozent mehr als doppelt so hoch bei 25 Prozent liegen. Ohne Sozialtransfers und Pensionen sogar bei 43 Prozent. Mit einer Reduktion der Armutsgefährdungsquote um über 50 Prozent durch die Transfers ist das österreichische Sozialsystem eines der effektivsten der EU. In nur fünf weiteren EU-Mitgliedstaaten wird die Armutsge- fährdung durch soziale Transfers um über 50 Prozent verringert. Langfristig muss aber vor allem an nachhaltigeren, strukturellen Schrauben gedreht werden, um die Ar- mut weiter zu verringern. 1. Mehr Beschäftigung: Bei Arbeitlosen liegt die Armutsgefährdungsquote in Österreich bei 35 Prozent (bei Langzeitarbeitslo- sigkeit sogar bei 52 Prozent bei Erwerbstätigen hingegen nur bei 6 Prozent (Vollzeit 6 Prozent Teilzeit 9 Prozent) – im EU-Durchschnitt bei 8%. Ohne Sozialleistungen hätten Arbeitslose in Österreich sogar eine Armutsgefährdungsquote von 69 Prozent. In diesem Bereich hat Österreich mit der zweit- niedrigsten Arbeitslosenrate innerhalb der EU eine besonders gute Ausgangsposition. 2. Mehr Bildung und Ausbildung: Eine gute Qualifikation gewährleistet eine besser bezahlte Erwerbsarbeit und verringert das Armuts- gefährdungsrisiko: Für Personen mit max. Pflichtschulabschluss liegt das Armutsgefährdungsrisiko bei 20 Prozent, mit Lehre/mittlerer Schule bei 9 Prozent, mit Matura bei 10 Prozent, mit Universitätsab- schluss bei 6 Prozent. 3. Bessere Integration und qualifizierte Zuwanderung: Für in Österreich geborene Menschen beträgt das Armutsrisiko 11 Prozent, bei eingebürgerten Perso- nen 22 Prozent, bei Migrantinnen und Migranten sogar 28 Prozent. Eine qualifizierte Zuwanderung würde daher nicht nur den heimischen Fachkräftemangel abmildern, sondern auch die Armutsgefähr- dungsquote in Österreich – vor allem bei Migrantinnen und Migranten – deutlich verringern. Wie kann Armut weiter verringert werden? | 27
Außerdem: Mehr Zukunftsinvestitionen und mehr Eigenverantwortung Verantwortung für die eigene Zukunft liegt nicht nur bei der Allgemeinheit, sondern auch beim Einzel- nen selbst. Der in den Konsumerhebungen gemessene durchschnittliche Warenkorb der österreichi- schen Haushalte hat sich historisch betrachtet enorm verändert, wobei sich mit gestiegener Kaufkraft das Schwergewicht weg von den Grundbedürfnissen wie Ernährung und Bekleidung hin zu den Ausgaben für Freizeit und Verkehr verschoben hat. Während 1954 noch 64 Prozent des Haushaltsein- kommens für Ernährung und Bekleidung verwendet werden musste, waren es im Jahr 2004 nur noch 27 Prozent. KONSUMAUSGABEN DER HAUSHALTE SEIT DER NACHKRIEGSZEIT in % der Gesamtausgaben 70 60 Ernährung und Bekleidung 50 Quelle: Statistik Austria, Konsumerhebungen seit 1954 40 30 Freizeit und Verkehr 20 10 0 1954 1964 1974 1984 1994 2004 Damit haben die Haushalte heute mehr denn je die Möglichkeit, die frei gewordene Kaufkraft in Regene- ration und Bildung zu investieren, um sich für Selbstfindung, für gesellschaftliche Aufgaben oder für den Arbeitsmarkt zu rüsten. Tatsächlich fallen jedoch unter den steigenden Ausgaben für Freizeit und Verkehr heute nur erschreckende 0,8 Prozent (20 Euro pro Monat) für die Zukunftsinvestition „Bildung“ an. Auffällig dabei ist (laut jüngster Konsumerhebung aus dem Jahr 2004), dass gerade der Bereich „Bildung“ die größ- te Schwankung je nach Qualifikationsgrad des Haushaltes aufweist. Bei niedrigqualifizierten Haushalten (Pflichtschulabgänger) werden nur 0,4 Prozent der Gesamtausgaben für Bildung aufgewendet, bei hoch- qualifizierten Haushalten (Akademiker) sind es mit noch immer schlappen 1,6 Prozent immerhin vier Mal mehr. Dabei sollten gerade niedrig Qualifizierte einen Aufholprozess bei der Weiterbildung starten, um der Armutsfalle zu entkommen. Konsumfähigkeit verhindert nur dann nachhaltig die Armut, wenn auch Teile des Konsums in Zukunftsinvestitionen fließen. Können sich die Menschen mehr leisten, steigt auch ihre Verantwortung dafür, wofür sie die zusätzlich gewonnene Kaufkraft ausgeben. 28 | Wie kann Armut weiter verringert werden?
Bereitschaft zu Leistung und Arbeit schwindet Nicht nur mehr Eigenverantwortung, sondern auch eine gesunde Einstellung zu gesellschaftlicher Teilhabe, Leistung und Arbeit würde die Neigung zur Armutsgefährdung verringern. Das Meinungsforschungsinstitut GfK Fessel hat jedoch in einer Evaluierung der Lifestyle-Studien der vergangenen zwanzig Jahre festgestellt, dass Arbeit und Beruf im Leben der Österreicherinnen und Österreicher nicht mehr die zentrale, sinnstif- tende Stellung haben. Die Zustimmung zu der Aussage „erst durch Arbeit bekommt das Leben einen Sinn“ sank von 60 Prozent in 1988 auf 54 Prozent in 2007. Dass ein sinnerfülltes Leben ohne Arbeit nicht möglich ist, bestätigten noch 1997 84 Prozent 2007 dagegen nur mehr 58 Prozent. Jeder fünfte (1997: 15 Prozent) glaubt bereits, nur in der Freizeit ein sinnvolles Leben führen zu können. Dazu passt auch, dass klassische Leitsätze der Arbeits- und Leistungsgesellschaft offenbar vermehrt hinterfragt werden. So schwand die Zustimmung zu der Aussage „man muss bereit sein, für seine Arbeit auch private Opfer zu bringen“ von 71 Prozent in 1987 auf 34 Prozent in 2007, im gleichen Zeitraum stieg die Ablehnung von 8 Prozent auf 28 Prozent. Rund die Hälfte der Bevölkerung stimmte sowohl 1987 als auch 1992 der Aussage „nur durch Leistung bringt man es wirklich zu was“ voll und ganz zu, 2007 war es lediglich knapp ein Viertel. Auch davon, dass Wohlstand und Reichtum meist hart erarbeitet sind, waren vor 20 Jah- ren noch 57 Prozent der Bevölkerung überzeugt (36 Prozent voll und ganz), 2007 aber nur mehr 48 Prozent (davon 18 Prozent voll und ganz). WERTVERÄNDERUNG ÜBER DEN SINN DER ARBEIT „NUR DURCH LEISTUNG BRINGT MAN ES ZU ETWAS.“ 1987 46 % 1992 48 % Quelle: GfK, Lifestyle Studien 1987-2007 2007 24 % Stimme voll und ganz zu Bereitschaft zu Leistung und Arbeit schwindet | 29
Der Mythos der sinkenden Reallöhne Der wichtigste nachhaltige Hebel zur Reduktion der Armut ist natürlich der Anreiz zu einem steigenden Primäreinkommen – also jenes Einkommens, das durch persönliche Leistung und Arbeitslohn erwirtschaf- tet wird. Der wichtigste Anteil des Primäreinkommens der österreichischen Haushalte ist der Arbeitneh- merlohn und dementsprechend wichtig für den persönlichen Wohlstand der Haushalte ist der stetige Zu- wachs des (inflationsbereinigten) Realeinkommens. An dieser Stelle ist es Zeit, mit einem weitverbreiteten Mythos aufzuräumen, der die öffentliche Debatte über Wachstum und Wohlstand seit vielen Jahren geprägt hat: Der Mythos der „sinkenden Reallöhne“. Wenn behauptet wird, dass die „Reallöhne sinken“, dann bezieht man sich nur auf den Durchschnittslohn oder den Medianlohn, der u.a. deswegen sinkt, weil sich die Anzahl der Lohneinkommen vergrößert (Be- schäftigungszuwachs) und die neuen Arbeitnehmer eher mit Löhnen unter dem Durchschnitts- bzw. des Medianlohns in den Arbeitsmarkt einsteigen. Die kollektivvertraglichen Lohnabschlüsse (Mindestlöhne bzw. „Soll-Löhne“) waren, kumuliert betrachtet, immer über der kumulierten Inflationsrate (blaue Linie), wie die Graphik unten bestätigt. Daher kann keinesfalls von Reallohneinbußen für den einzelnen Arbeitnehmer die Rede sein. Die kumulierten Reallohneinkommen (d.h. die kumulierten Lohneinkommen im Vergleich zum kumulierten VPI) sind, im Gegenteil, in Österreich ohne Ausnahme ständig gestiegen. Die Industrie kann sogar auf höhere Lohnabschlüsse (sowohl für Facharbeiter, als auch für Hilfsarbeiter) verweisen als der Durchschnitt aller Kollektivverträge. ENTWICKLUNG DES TARIFLOHNINDEX (MINDESTLÖHNE) VERGLICHEN MIT DEM VPI 1988-2008 Index 100 = 1988 220 200 Hilfsarbeiter Industrie 180 Facharbeiter Industrie 160 Beschäftigte insgesamt VPI 140 120 Quelle: WIFO 100 2006 2000 2004 2008 2005 2002 2003 2007 1988 1996 1989 1998 1990 1994 1999 1995 2001 1992 1993 1997 1991 30 | Der Mythos der sinkenden Reallöhne
Der Mythos der Binnennachfrage durch Löhnerhöhungen Ein kleiner Abstecher: Oft wird argumentiert, höhere Löhne seien nicht nur ein Mittel zur Bekämpfung der Armut, sondern auch – über den Umweg einer steigenden Binnennachfrage – eine Maßnahme zu mehr Wertschöpfung und mehr Wohlstand, und damit indirekt auch wieder ein Beitrag zur Verringerung der Armut. Diese „kaufkraftorientierte Lohnpolitik“ ist jedoch ein Relikt aus der Zeit geschlossener „Binnen- volkswirtschaften“ und hat in der heutigen Zeit nur mehr eine bedingte Aktualität. Bereits zwei Drittel einer Lohnerhöhung in Österreich fließt nicht mehr direkt in den Konsum heimischer Produkte, wie die untenste- hende Graphik erläutert: EINE LOHNERHÖHUNG UM 1%... ergibt Kosten für Unternehmen von 1,1 Mrd. Euro (1 % der Arbeitnehmerentgelte der Unternehmen) Steuern und Abgaben Davon fließen 41 % in den Steuern- und Abgabentopf (implizierter Steuersatz auf Arbeit in Österreich laut OECD) 650 Mio. Euro verbleiben den privaten Haushalten als verfügbares Einkommen Sparen Davon fließen 12 % ins Sparen (durschnittliche Sparquote) 570 Mio. Euro beleben die Endnachfrage Ausland Davon wiederum fließen 32 % in den Import (durschnittliche Importlastigkeit des Konsums laut VGR) Berechnungen: IV 390 Mio. Euro (35%) sind direkt in Österreich nachfragewirksam ...STEIGERT DIE BINNENNACHFRAGE IN ÖSTERREICH UM 0,35 % Was Löhne und Wettbewerbsfähigkeit betrifft, so wird oft das unreflektierte Argument gebracht, dass die Löhne in Österreich im Vergleich zu anderen Industriestaaten deswegen nicht hoch seien, weil die Lohn- stückkosten gering sind (Produktivität höher als Löhne). Niedrige Lohnstückkosten besagen aber nur, dass die Produktivität der vorhandenen Arbeitsplätze hoch ist und die Unternehmen damit konkurrenzfähig sind. Wären sie es nicht, wären diese Arbeitsplätze verschwunden. Nach einer Verdoppelung der Löhne wären die dann verbliebenen Arbeitsplätze zwar noch immer profitabel – es wären halt nur viel weniger. Die inter- nationale Erfahrung zeigt, dass dauerhaftes Wachstum aus Investitionen in Kapital und Wissen resultiert. Ein steigender Konsum steht erst am Ende dieser Kette. Auf dem Weg zu mehr wirtschaftlicher Dynamik gibt es eben keine Abkürzung. Der Mythos der Binnennachfrage durch Löhnerhöhungen | 31
Der Mythos „Lohnquote“ Ein weiterer Mythos, der das Thema Löhne und Armutsgefährdung verbindet, ist die Debatte um die soge- nannte „Lohnquote“. Die „Lohnquote“ wird gerne als Spiegelbild einer angeblichen wachsenden Einkom- mensschere zwischen Arm und Reich missbraucht, obwohl sie nicht die Einkommensverteilung zwischen Arm und Reich misst, sondern die Verteilung zwischen Lohneinkommen und Kapitaleinkommen. Die sinkende Lohnquote der vergangenen Jahrzehnte bedeutet nicht, dass Arbeitnehmer weniger wohlhabend wurden als Unternehmen, oder dass die reale Lohnentwicklung mit der Produktivitätsentwicklung nicht mithalten konnte, sondern die sinkenden Lohnquote hat strukturelle Gründe: Die Lohnquote sinkt… … weil sie sich seit dem rasanten Anstieg der 70er Jahre wieder normalisiert. In den 50er und 60er Jahren hatte die heimische Lohnquote einen ähnlichen Wert wie heute, bis überproportionale Lohner- höhungen und höhere Steuern und Abgaben sie auf ein Rekordmaß aufblähten. Erst allmählich nähert sie sich nun wieder einem Normalmaß. Heute hat Österreich immer noch eine wesentlich höhere Lohnquote (Lohnsumme in Prozent des BIP) als der OECD- oder der Euroland-Durchschnitt (siehe Graphik). Lohnquote international privater Sektor 60 58 56 In % des BIP 54 52 50 48 46 1970 1980 1990 1995 2000 2004 2005 Österreich OECD EURO-Land 32 | Der Mythos „Lohnquote“
…weil es in einer modernen Gesellschaft bei Arbeits- und Kapitaleinkommen immer größere Überschneidungen gibt. Kapitaleinkommen (Zins-, Dividenden- und Mieterträge, private Pensions- vorsorge, Bausparen) werden in der Lohnquote den „Gewinnen“ zugerechnet, obwohl sie vermehrt das verfügbare Einkommen der Arbeitnehmer erhöhen. In den vergangenen zehn Jahren haben sich alleine die Kapitalerträge der privaten Haushalten von 13 Mrd. Euro auf 26 Mrd. Euro verdoppelt. … weil sogar die private Nutzung einer Eigentumswohnung monetär bewertet wird („fiktive Mieterträge“) und in die Kategorie „Betriebsüberschüsse“ fällt. Da immer mehr Eigentumswohnungen privat genutzt werden, stiegen die „Betriebsüberschüsse“ alleine aus dieser Kategorie seit 1995 um mehr als 2,6 Mrd. Euro. … weil jedes zusätzlich geschaffene Unternehmen und jeder neue „Freiberufler“ dazu beiträgt, die Lohnquote zu senken. Heute werden jährlich bereits doppelt so viele Unternehmen neu gegründet wie noch vor zehn Jahren. Auch der Anteil der Einkommen der freien Berufe am Gesamteinkommen der Volkswirtschaft hat sich seit den 60er Jahren mehr als verdoppelt. …weil hingegen die steigenden Sozialtransfers (Pensionen, Arbeitslosen- und Familienleistungen) in der Lohnquote nicht enthalten sind. Mit der demographischen Entwicklung sinkt die Lohnquote schon allein dadurch, dass tendenziell immer mehr Löhne und Gehälter durch Pensionstransfers ersetzt werden. Ein Beweis: Während die Summe der Arbeitnehmerentgelte seit 1995 um 32 Prozent gestiegen ist, ist die Summe der Pensionstransfers (Pensionsleistungen plus Ausgleichszulage) um fast 50 Prozent regelrecht explodiert. … weil zunehmende Schwarzarbeit, die meist einen Zuverdienst für Arbeitnehmer oder Transferbe- zieher darstellt, die Gewinnquote (also die „Betriebsüberschüsse und Selbstständigeneinkommen“) und nicht die Lohnquote erhöht. … weil Unternehmensgewinne aus dem Ausland eins zu eins in die Gewinnquote einfließen, obwohl ein großer Teil davon im Ausland reinvestiert wird (Fiktion der Vollausschüttung). Daher steigt die heimische Gewinnquote statistisch gesehen, obwohl die Gewinne im Ausland erwirtschaftet werden, dort verbleiben und auch dort verbleiben müssen, um die hochwertigen Arbeitsplätze in Österreich zu sichern. … weil insbesondere Arbeitnehmerinnen vermehrt die Möglichkeit von Teilzeitbeschäftigung in Anspruch nehmen, die Berechung der Lohnquote aber nicht vollzeitbereinigt ist. Um darzustellen wie die Wertschöpfung in Österreich zwischen privaten Haushalten und Unternehmen tatsächlich verteilt wird, müsste man daher konsequenterweise jene drei Teile des Volkseinkommens zur Lohnquote dazurechnen, die den privaten Haushalten zugute kommen, aber aus erhebungstechnischen Gründen im „Restposten“ der Unternehmensgewinne erfasst werden: 1. Die Vermögenseinkommen der privaten Haushalte (Einkommen aus Sparguthaben, Wertpapieren oder Anlagefonds) von 27,8 Mrd. Euro im Jahr 2007. 2. Die Einkommen aus selbstständiger Arbeit (Freiberufler, neue Selbstständige, Nebeneinkommen aus Vermietung, Verpachtung oder sonstiger Nebenbeschäftigung) von 25,7 Mrd. Euro im Jahr 2007. Der Mythos „Lohnquote“ | 33
3. Die „fiktiven Mieten“: Dabei wird unterstellt, dass jeder Eigenheimnutzer an sich selbst vermietet. Die so ermittelten, fiktiven Einnahmen werden den „Unternehmensgewinnen“ zugeschlagen, obwohl die privaten Haushalte die Nutznießer sind. Summe 2007: 6,8 Mrd. Euro. Gerade diese Einnahmen sind in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich gewachsen und täuschen eine drastisch sinkende Lohnquote vor. Bereinigt man diese Werte und fügt sie dem Lohneinkommen hinzu, so sieht man, dass die dadurch neu geschaffene „Einkommensquote“ erstens mit 83 Prozent deutlich höher ist, und dass sie zweitens seit 1995 mit knappen 0,9 Prozentpunkte kaum gesunken ist, wie mit der her- kömmlich berechneten „Lohnquote“ fälschlicherweise vermittelt wird (seit 1995 um 6,5 Prozentpunkte gesunken). ANTEIL AM VOLKSEINKOMMEN 100 Unternehmensgewinne 17 % 90 "EINKOMMENS- QUOTE" 80 83,0% Vermögenseinkommen der privaten Haushalte 12,1 % 70 Nebenerwerb und selbstständige Einkünfte 11,2 % 60 Fiktive Mieten der privaten Haushalte 2,7 % "LOHNQUOTE" 56,8 % Löhne 56,8 % 50 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 Die geringe Abwärtsdynamik der „Einkommensquote“ hängt damit zusammen, dass durch die demographi- sche Entwicklung ein Struktureffekt eintritt: bei jedem zusätzlichen Pensionsantritt wird aus einem Lohn- einkommen ein Transfereinkommen (Pension), das statistisch nicht unter „Arbeitnehmerentgelt“ erfasst wird. Ohne diesen Struktureffekt wäre die „Einkommensquote“ in den vergangenen Jahren sogar konstant geblieben. 34 | Der Mythos „Lohnquote“
Was sagt nun eine sinkende Lohnquote wirklich aus? Eine sinkende Lohnquote reflektiert eher eine steigende Krisenfestigkeit und die Expansionsfähig- keit der heimischen Unternehmen, die zwecks Absicherung gegen Globalisierungsrisken heute mehr in Forschung, Entwicklung und Innovation investieren. Da Fremdkapital weitgehend ungeeignet ist, die wachsenden Risken abzufedern, müssen die Unternehmen ihre Eigenkapitalausstattung verbes- sern, sodass die Lohnquote sinkt. Eine sinkende Lohnquote signalisiert auch eine Normalisierung der Selbstfinanzierungskraft der österreichischen Unternehmen. Unter der extrem geringen, nur noch von Frankreich unterbotenen Gewinnquote von unter 33 Prozent Anfang der achtziger Jahre hat die Krisenfestigkeit wie auch die Fähigkeit der Unternehmen in Österreich, internationale Märkte durch Direktinvestitionen zu erschließen, jahrzehntelang gelitten. Eine sinkende Lohnquote signalisiert außerdem einen konjunkturellen Aufschwung. Im aufstreben- den Konjunkturzyklus nehmen immer zunächst die Gewinne zu und erst später ziehen die Löhne nach. Dafür verhält es sich bei einem Abschwung umgekehrt: die Löhne sinken nicht so rasch wie die Gewin- ne, ja sie steigen sogar zunächst noch weiter, obwohl die Unternehmensgewinne und Kapitaleinkom- men bereits absolut zurückgehen. Die Finanzmarktkrise ist dafür leider ein erstes reales Beispiel: Das WIFO hat in seiner Prognose vom Juni 2009 ein Sinken der Betriebsüberschüsse und Selbstständigen- einkommen um 4,6% bzw. 6,4 Mrd. Euro (von 115,9 Mrd. Euro im Jahr 2008 auf 109,5 Mrd. Euro im Jahr 2009) prognostiziert. Bei den Arbeitnehmerentgelten wurde hingegen sogar ein Anstieg von 1,67% (137,2 Mrd. Euro im Jahr 2008 auf 138,9 Mrd. Euro im Jahr 2009) prognostiziert. Die Lohnquote wird sich damit im Krisenjahr 2009 um mindestens 1,5 Prozentpunkte erhöhen. Damit beweist auch die Praxis, dass Arbeitsnehmerentgelte wesentlich krisenstabiler sind als Unternehmensgewinne. Eine sinkende Lohnquote bedeutet daher keinesfalls, dass die Löhne zu Lasten der Unternehmens- gewinne sinken. Bei anhaltendem Wachstum steigen beide: Löhne und Gewinne. Konkret: Obwohl die Lohnquote in den vergangenen 30 Jahren gesunken ist, sind im selben Zeitraum die Arbeitnehmerent- gelte in Summe um über 100 Mrd. Euro gestiegen (doppelt so schnell wie die Inflation). Eine sinkende Lohnquote bedeutet aber auch nicht, dass das Sozialversicherungssystem unfinanzierbar wird. Die Finanzierung der Sozialversicherung ist keine Frage der Lohnquote – also des Verhältnisses der Löhne zu „den Einkünften aus Besitz und Unternehmung“ – sondern eine Frage der absoluten Lohnsumme und der Erwerbs- und Beschäftigungsquote (wie viele Menschen in das System einzahlen) – beide Größen weisen eine positive Dynamik auf. Und schließlich bedeutet eine sinkende Lohnquote auf keinen Fall eine ungleichere Einkommens- verteilung unter den Arbeitnehmern selbst. Die Lohnquote vergleicht die Einkommen des Faktors Arbeit (alle Arbeitnehmer) mit jenen des Faktors Kapital und nicht die Einkommen der Beschäftig- ten untereinander, und schon gar nicht die verfügbaren Einkommen der Haushalte. Das relevante Maß hierfür ist der „Gini-Koeffizient“ bei dem Österreich in den vergangenen 10 Jahren von 27 auf 25 gesunken ist. Die Einkommensverteilung wurde hierzulande also tendenziell gleicher, obwohl die Lohnquote sank. Aber näheres dazu im nächsten Kapitel zum Thema Umverteilung. Der Mythos „Lohnquote“ | 35
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