Queer Denken - bbzBerliner Bildungszeitschrift - GEW Berlin
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bbz BERLIN 72. (87.) JAHRGANG MAI 2020 Berliner Bildungszeitschrift Queer Denken SCHULE GEWERKSCHAFT TENDENZEN Tipps für mehr Mitbestimmung Ein halbes Jahr- Ruhe im Unterricht in Corona-Zeiten hundert Theater MAI 2020 | bbz SCHULE 1
I I C A R T O O N D E S M O N AT S I I KO L U M N E Leider mangelhaft men, mit denen man dem Lehrkräftemangel zu (und Ausgang aus) dem Berufsfeld von Joshua Schultheis begegnen will, zu einem Prestigegewinn kombinieren würde, könnte man die Ar- des Berufsstands beitragen, ist sehr zwei- beit vor der Klasse für viel mehr Menschen felhaft. Die beiden Wege in den Job sind interessant machen. Dass sich die Attrak- A ngesichts Zehntausender fehlender Lehrkräfte setzt Berlin neben Querein- steiger*innen auch auf sogenannte LovLs, nämlich gleichermaßen unattraktiv: Entwe- der man wird als Quereinsteiger*in mehr oder weniger ins kalte Wasser geschmis- tivität des Lehrer*in-Seins vor allem an der Höhe der Besoldung und dem Beamtensta- tus messen lasse, ist Unsinn. Solange die- Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung. Bei- sen oder man muss sich, gerade aus der ser Beruf als lebenslange Verpflichtung nahe zwei Drittel der eingestellten Lehr- Schule raus, sogleich für eine siebenjähri- ohne Widerruf einerseits und letzte Hoff- kräfte im Jahr 2018 hatten keine pädago- ge Lehrer*innenausbildung entscheiden. nung verkrachter Existenzen andererseits gische Ausbildung. Als weitere Maßnahme Wer daher nicht schon immer unbedingt erscheint, wird die Krise, in der er steckt, hat Berlin die Studienplätze für Lehramts- Lehrer*in werden wollte, dem bleibt nur nicht bewältigt werden. ZEICHNUNG: RAINER DEMATTIO studierende kurzerhand verdoppelt, frei- die Alternative, sich entweder zu früh oder lich ohne das Personal an den Universitä- zu spät für diesen Beruf zu entscheiden. ten entsprechend zu erhöhen. Dabei bestünde vermutlich gerade jetzt Joshua ist Lehramtsstudent in Berlin. Die Politik beteuert zwar stets, wie wichtig die Chance, den Lehrer*innenberuf neu zu In seiner Kolumne schreibt er über es sei, das Ansehen des Lehrer*innenbe- definieren. Wenn man Jobgarantie und gu- Widersprüchliches und Kurioses in rufs aufzupolieren; ob aber die Maßnah- tes Gehalt mit einem flexibleren Zugang der Lehrer*innen-Ausbildung 2 CARTOON DES MONATS I KOLUMNE bbz | MAI 2020
I I S TA N D P U N K T Digitale Schulgemeinschaft Die Schließungen in Folge der Corona-Krise zwingen unsere Schulen in ein unfreiwilliges Experiment Lydia Puschnerus, Leiterin des Vorstandsbereiches Schule in der GEW BERLIN D igitalisierung als Notlösung? Digitales Arbeiten als Selbstverständlichkeit! Das wäre auch schon vor März schön gewesen, bevor plötzlich bundes- Aber genau das ist der Horizont bisheriger Bemü- hungen der Bildungsverwaltung und des Bundes. Der Digitalpakt soll Schulen seit 2018 technisch auf weit alle Schulen aufgrund der COVID-19-Pandemie den Weg bringen, mit Geldern für WLAN und Endge- schließen mussten. Plötzlich kein Unterricht mehr, räte – exklusive Wartung versteht sich, und nur ge- keine Postfächer im Kollegiumszimmer, kein Mittei- gen ein individuell ausgearbeitetes Medienkonzept. lungsbuch, keine Aushänge – Traum oder Albtraum? Was den Schulen als Autonomie verkauft wird, ist Schulgemeinschaften, die zuvor analog arbeiteten, nichts anderes als abgewälzte Mehrarbeit seitens der fanden schnell Übergangslösungen, von Kommuni- Verantwortlichen. Auch bei der landeseigenen Lern- kation per Mail-Verteiler und Schulhomepage, über plattform, Lernraum Berlin, besteht Nachbesserungs- Koordination der Lerngruppen in Schulclouds, bis bedarf. Nutzer*innen klagen über umständliche Be- zu Unterricht per Videokonferenz. Die Berliner Lehr- dienung und sorgen sich um langfristige Updates. kräfte haben alles daran gesetzt, ihre Schützlinge Unter dem massiven Zulauf im Zuge der Schulschlie- beim unfreiwilligen Selbststudium bestmöglich zu ßungen brach die Plattform zusammen. Zwar wur- betreuen – freiwillig, denn eine arbeitsrechtliche den die Kapazitäten schnell angepasst. Das allein Grundlage gibt es dafür nicht, von Dienstgeräten reicht jedoch nicht aus. Nicht ohne Grund nutzen ganz zu schweigen. etliche Schulen lieber kommerzielle Angebote. In dieser Ausnahmesituation hat ein ganzes Land, das sich schon im Alltag 2.0 wähnte, bestehende Lücken in der Digitalisierung verstärkt zu spüren bekommen. Insbesondere staatliche Institutionen N un gilt es, aus dem unvorhergesehen Stresstest zu lernen, Lücken zu schließen und den Begriff digitale Schule breiter zu denken – und entsprechen- waren nicht auf das vorbereitet, was auch ohne Krise de Standards zu schaffen. Die Leitfrage muss lauten: bereits Standard sein sollte – flächendeckend digital Worin liegt der Mehrwert der digitalen Erweiterung? zu kommunizieren. Was die Schulgemeinschaften Eine Ausstattung mit mehr Klassen-PCs, Projektoren, akut geleistet haben, darf nun nicht zur Lösung Lautsprechern und WLAN muss den Zugang zu In- eines strukturellen Problems – frei nach dem Motto: halten vereinfachen, nicht zu mehr Wartung führen. FOTO: FOTOSTUDIO CHARLOTTENBURG »Geht doch!« – umetikettiert werden. Nach wie vor Schul-E-Mails müssen effizientere Kommunikation braucht es mehr digitale Infrastruktur und geregelte und Kollaboration der Schulgemeinschaft ermöglichen, Kommunikationskultur. Digital ist eben mehr als nur nicht mehr Post generieren. Nur wenn die Antwort das interaktive Whiteboard und ein bisschen Lern- Entlastung und besserer Zugang zu Bildung lautet, plattform. hat sich der Einsatz digitaler Lösungen gelohnt. MAI 2020 | bbz STANDPUNKT 3
TITELBILD: ADOBE STOCK / NITO; OBEN LINKS: ADOBE STOCK / CONTRASTWERKSTATT; OBEN RECHTS: ADOBE STOCK / ZERA RUZGAR; UNTEN LINKS: IMAGO IMAGES / JOCHEN TACK; UNTEN RECHT: PRIVAT 26 SCHULE Lärm ist eine große Arbeitsbelastung für Pädagog*innen. Die Erkenntnis, dass mehr Schreien nicht zu mehr Ruhe führt, brachte Amrei Bullerdiek dazu, Lärm mit anderen Augen zu sehen. Seitdem sind ihre Schüler*innen ruhiger. 28 GEWERKSCHAFT Seit Ausbruch der Corona- 32 TENDENZEN Pandemie ist nichts mehr Seit über 55 Jahren schreibt wie es war. Trotzdem geht Hans-Wolfgang Nickel die Arbeit weiter; sowohl Theaterkritiken für die bbz. in den Bildungseinrichtungen Jetzt will er den Staffelstab der Stadt als auch bei den übergeben und sucht nach Beschäftigtenvertretungen – einer Nachfolge. Im Interview unter erschwerten Bedingungen. blickt er zurück. 4 INHALT bbz | MAI 2020
I I I N H A LT Kolumne | Standpunkt | kurz & bündig | Impressum | Leser*innenforum______________________________________________________________ 2-7/36 TITEL Queer Denken ____________________________________________________________________________________________________ 8 Genderbewusste Pädagogik Petra Focks____________________________________________________________ 9 Intergeschlechtlichkeit in der Grundschule Yan Feuge _______________________________ 12 Freiwillig reicht nicht – Vielfalt gehört in den Unterricht Alexander Lotz_____ 14 Hilfe, wir haben queere Menschen unter uns Stefan Hierholzer____________________ 16 Jede Person hat ihre eigene Geschichte Sheikha Gross__________________________________ 18 Schleppende Inklusion geschlechtlicher Vielfalt Ryan Plocher____________________ 19 SENIORITA Interview mit Dagmar Poetzsch: »Es dauerte einige Zeit, bis alle ihren Platz gefunden hatten« D. Haase/K. Will___________________________________ 21 Zehn Jahre GEW-Chor und -Singkreis Monika Rebitzki____________________________________ 23 8 TITEL Obwohl sich Berlin dem Wer war Lotte Eifert? Klaus Will________________________________________________________________________ 24 Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt verpflichtet hat, hapert es SCHULE oft an der Umsetzung. Das muss sich ändern, sollen Schule und Kita diskri- Das Corona-Wunder Lenka Kersting___________________________________________________________________ 20 minierungsfreie Orte werden, an denen Querbesteiger*innen Ralf Schiweck___________________________________________________________________ 25 sich alle verwirklichen und entwickeln Seid doch endlich leise! Amrei Bullerdiek__________________________________________________________ 26 können. GEWERKSCHAFT Wir arbeiten weiter Udo Mertens_______________________________________________________________________ 28 Alles anders mit Corona … Christiane Weißhoff________________________________________________ 29 INTERNATIONALES Denk ich an Frankreich in der Nacht … Frank-J. Sutter__________________________________ 30 TENDENZEN Interview mit Hans-Wolfgang Nickel: »Lehrer*innen müssen erzählen können« Markus Hanisch___________________________ 32 Großwerden auf der Leinwand Joshua Schultheis ____________________________________________ 34 Der Lebensweg von Hermann Schulz Eckhard Rieke______________________________________ 35 SERVICE Theater | Bücher | Materialien | Aktivitäten ____________________________________________________ 37 MAI 2020 | bbz INHALT 5
I IK U R Z & B Ü N D I G 100 Millionen Euro in die Hand genom- men werden, um die in der Corona-Krise so wichtigen Online-Plattformen auszu- bauen. Darauf haben sich die Länder und das Bundesbildungsministerium geeinigt. »Mit diesen Mitteln können die Länder den schnellen Aufbau der Infrastruktur und die Ausweitung des digitalen Unter- richts in Zeiten bundesweit geschlosse- ner Schulen umsetzen«, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. ■■ Doreen Beer neue Anti-Mobbing- Beauftragte Die Psychologin und systemische Familien therapeutin Doreen Beer ist Berlins erste Antimobbing-Beauftragte der Senatsbil- dungsverwaltung. Seit dem 1. April soll sie gemeinsam mit dem Beschwerdemanage- ment und dem Antidiskriminierungs be auftragten »Beschwerden klären, nach den ■■ GEW betrachtet Fokus auf ■■ Hochschulen in Zeiten von Corona Ursachen von Mobbing suchen und Prob- Prüfungen mit Sorge Die Berliner Hochschulen sind am 20. April lemlösungen für die Betroffenen finden«. Die Senatsbildungsverwaltung setzt beim in die digitale Vorlesungszeit gestartet. Wir freuen uns sehr, dass unsere Redakti- schrittweisen Neustart des Schulbetriebs Dabei unterstützt der Senat die Universi- onskollegin Doreen diese anspruchsvolle vor allem darauf, die Prüfungen zu Abitur täten und Fachhochschulen mit einem und wichtige Stelle angetreten hat und und MSA erfolgreich durchzuführen. Die Sofort-Programm in Höhe von zehn Milli- wünschen ihr in dieser herausfordernden GEW BERLIN hält dieses Kurs für falsch. onen Euro. Dieses Geld ist unter anderem Tätigkeit viel Erfolg und Unterstützung! »Auch wenn die Schule wieder startet, für zusätzliche IT-Infrastruktur wie neue wird der Unterricht im herkömmlichen Server, Videokonferenzanlagen oder Soft- Sinne nachrangig sein«, betonte Tom Erd- warelizenzen vorgesehen. Für die Studie- ■■ Kleidungsstil darf bei Uni-Prüfung mann, Vorsitzender der GEW BERLIN. renden, Lehrenden und Beschäftigten nicht bewertet werden »Viele Kinder und Jugendliche leben in verspricht die Politik ein größtmögliches Wegen ihrer Kleidung hat eine Berliner schwierigen häuslichen Bedingungen. Es Maß an Verlässlichkeit und Planungssi- Jura-Studentin bei der Prüfung an einer muss bei der Rückkehr in den Schulbe- cherheit. Unter anderem soll das Semes- Hochschule in Berlin Punktabzug in der trieb in erster Linie darum gehen, alle ter nicht auf die Fachstudienzeit ange- Kategorie »Präsentation« bekommen. Das Kinder und Jugendlichen wieder zu errei- rechnet werden. Die GEW BERLIN drängt Verwaltungsgericht hat diese Bewertung chen. Es ist pädagogisch nicht vertretbar, darauf, dass die sozial- und arbeitsrecht- jetzt für unzulässig erklärt. Die Frau war dass Frau Scheeres an die Schulen die lichen Herausforderungen durch die Co- in Jeans und gepunktetem Oberteil zur Losung ausgibt, Prüfungen hätten Vor- rona-Pandemie für die Studierenden, die Prüfung erschienen. Laut Urteilsbegrün- rang vor Unterricht.« Erdmann stellte in Beschäftigten und alle anderen Hoch- dung vom 19. Februar habe die Hoch- einer Erklärung am 17. April klar: »Nach schulangehörigen keine negativen Folgen schule nicht dargelegt, inwiefern die Klei- wie vor ermöglichen die geltenden Be- haben. Alle für das Sommersemester er- dung der Studierenden unangemessen schränkungen keine vertretbaren fairen teilten Lehraufträge an den staatlichen gewesen sei. Eine Prüfung anhand der und gleichwertigen Prüfungen. Viele Ju- und privaten Hochschulen sollen in vol- Kleidung zu bewerten, sei zwar nicht gendliche konnten sich nicht ausreichend ler Höhe vergütet werden, auch wenn die grundsätzlich ausgeschlossen. Dies gelte vorbereiten. Der Gesundheitsschutz der vorgesehenen Lehrveranstaltungen nicht aber nur für Fälle, in denen die Kleidung Schüler*innen und der Lehrkräfte kann oder nicht in dem geplanten Umfang selbst Prüfungsgegenstand sei wie etwa darüber hinaus nicht ausreichend ge- durchgeführt werden können. Zum Forde- im Fach Modedesign. währleistet werden. Wir halten eine Absa- rungspapier der GEW: www.gew-berlin.de/ ge der Prüfungen in Abstimmungen mit corona-hochschulen der Kultusministerkonferenz daher weiter ■■ Probejahr an Berliner Gymnasien für den sinnvollen Weg. Wenigstens die wird verlängert Prüfungen zum mittleren Schulabschluss ■■ Digitalpakt: Geld darf für Lern Wegen der Schulschließungen in der Co- sollte für die zehnten Klassen abgesagt plattformen verwendet werden rona-Pandemie wird das Probejahr an werden.« Zudem fordert die GEW BERLIN Für die »Verbesserung der digitalen Bil- Gymnasien für Berlins Siebtklässler*in- mehr Schulautonomie bei der Frage, wel- dungsinfrastruktur« in Deutschland ste- nen verlängert. Dies teilte Bildungssena- che Schüler*innen zuerst wieder in die hen mit dem Digitalpakt fünf Milliarden torin Sandra Scheeres mit. Zur Begrün- Schulen zurückkehren sollen. Euro zur Verfügung. Davon sollen jetzt dung verwies die Senatorin darauf, dass 6 KURZ & BÜNDIG bbz | MAI 2020
I IÜ B R I G E N S Fernunterricht »natürlich etwas anderes ist als Präsenzunterricht, gerade wenn es um eine Bildungsgangempfehlung geht«. der Coronavirus-Pandemie in Leistungs- beziehungen stehen. www.gew-berlin.de/aktuelles/detailseite/ G ewöhnungsbedürftige Zeiten. Alles ist anders, häufig komplizierter, aber trotzdem muss es irgendwie weiter- Die Frage, um welchen Zeitraum das Pro- neuigkeiten/einsatzgesetz-fuer-soziale- gehen. Wie sicherlich einige von euch bejahr verlängert wird, ist indes noch dienstleister auch hat die bbz-Redaktion sich im Um- offen. Die Bildungsverwaltung behält es gang mit Telefon- und Videokonferenzen sich vor, die Probezeit sogar um ein gan- ausprobiert. zes Jahr auf das Ende der achten Klasse ■■ Neue Regeln zu Referendariat zu verschieben. Im vergangenen Jahr er- reichte die Zahl der Schüler*innen, die wegen ihrer Leistungen vom Gymnasium und Prüfung Die Senatsbildungsverwaltung hat neue Vorgaben an die Seminarleitungen her- E s war sicherlich weniger Austausch möglich als sonst. Wir sind es ge- wohnt, auch mal wild durcheinander auf die Integrierte Sekundarschule (ISS) ausgegeben, wie das Referendariat nach zu diskutieren. Das ist bei solchen gewechselt sind, mit acht Prozent den den Osterferien weiterlaufen könnte. Dazu Konferenzen zu anstrengend, da muss höchsten Wert der vergangenen Jahre. In gehören auch Änderungen bei den Staats es etwas gesitteter zugehen. Aber … absoluten Zahlen haben von 9.967 Gym- prüfungen. Zuvor hatte sich die Kultus- nasiast*innen 793 Schüler*innen das so- genannte Probejahr in der 7. Jahrgangs- stufe nicht bestanden. ministerkonferenz (KMK) auf die Anerken nung alternativer Prüfungsformen geeinigt. Nach dem KMK-Beschluss stehen andere W ir haben uns ausgetauscht und bis auf einen waren auch alle dabei. Wir hoffen, das Ergebnis gefällt Prüfungsformate oder Prüfungsersatzleis- euch. Passt auf euch auf! tungen der gegenseitigen Anerkennung CMdR ■■ Finanzielle Hilfen für Freiberufler der Abschlüsse zwischen den Ländern *innen und Honorarlehrkräfte nicht entgegen. »Darüber hinaus haben die Die GEW hat dringenden Handlungs- und Länder die Möglichkeit, für das Er gebnis Regelungsbedarf für Einrichtungen und der Staatsprüfung Vorleistungen aus dem Kurse der Integration sowie der Weiterbil- Vorbereitungsdienst stärker als bisher zu VON MITGLIEDERN FÜR MITGLIEDER dung ebenso wie Schutzmaßnahmen für berücksichtigen«, heißt es vom Senat. die Honorarlehrkräfte angemahnt. Die In Die Redaktion freut sich über Beiträge zu ter vention hatte Erfolg: Die Träger der vielfältigen Themen, von jedem Maßnahmen erhalten jetzt Zuschüsse von ■■ Finanzierungszusage für Kita- und GEW-Mitglied. Also schreibt für die bbz! bis zu 75 Prozent, wenn sie Arbeitskräfte, Hortträger Schickt eure Texte an bbz@gew-berlin.de Räume und Sachmittel zur Bewältigung Die Entgeltfinanzierung der freien Kita- und bringt euch ein! der Corona-Krise zur Verfügung stellen und Hortträger ist trotz der Corona-Pan- REDAKTIONSSCHLUSS – sowie neue Lernformen und digitale For- demie gesichert. Darauf haben sich die IMMER MITTWOCH mate einsetzen. Die Träger haben zudem Senatsverwaltung für Bildung, Jugend Juli/August 2020: 27. Mai die Möglichkeit, das Krisen-Kurzarbeiter- und Familie und die Senatsverwaltung für September 2020: 29. Juli geld zu beantragen. Soloselbstständige Finanzen Ende März verständigt. Es sollten Lehrkräfte können bei den Landesbanken daher keine Erzieher*innen Lohneinbußen eine Soforthilfe von bis zu 9.000 Euro be- fürchten oder gar Kurzarbeit beantragen kommen. Mehr: www.gew-berlin.de/ müssen. aktuelles/detailseite/neuigkeiten/ I II M P R E S S U M finanzielle-hilfen-fuer-freiberuflerinnen ■■ Offener Brief für Lehrbeauftragte Die bbz ist die Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Landesverband Berlin, Ahornstr. 5, 10787 Berlin und Die Corona-Krise stellt auch die Lehren- erscheint monatlich (10 Ausgaben) als Beilage der E&W. Für Mit ■■ Neues Einsatzgesetz für soziale den an den Berliner Hochschulen vor gro- glieder ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten. Für Nicht mitglieder beträgt der Bezugspreis jährlich 18 Euro (inkl. Versand). Dienstleister ße Herausforderungen. In einem offenen Redaktion: Caroline Muñoz del Rio (verantwortlich), Markus Für die Träger der sozialen Arbeit etwa in Brief hat eine Initiative von Professor*in- Hanisch (geschäftsführend), Janina Bähre, Doreen Beer, Josef Hof man, Manuel Honisch, Antje Jessa, Arne Schaller, Ralf Schiweck, der ambulanten Jugendhilfe zeichnet sich nen der Hochschule für Wirtschaft und Folker Schmidt, Joshua Schultheis, Bertolt Prächt (Fotos), Doreen mit dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz Recht Berlin (HWR) und GEW BERLIN sich Stabenau (Sekretariat). Redaktionsanschrift: Ahornstraße 5, 10787 Berlin, Tel. 21 99 93-46, (SodEG) eine Auffanglösung durch die mit den Lehrbeauftragten solidarisiert Fax –49, E-Mail bbz@gew-berlin.de Bundesregierung ab: Alle Träger könnten und die Hochschulen aufgerufen, den Zu- Verlag: GEWIVA GmbH, erreichbar wie Redaktion. Zuschüsse von 75 Prozent erhalten. Im satzaufwand, der den Lehrbeauftragten Anzeigen: bleifrei Medien + Kommunikation, info@bleifrei-berlin.de, Tel. 030/613936-30. Es gilt die Preisliste Nr. 15 vom 1.11.2018 Gegenzug sollen die sozialen Dienstleis- durch die Umstellung von Präsenz- auf Satz, Layout und Konzept: bleifrei Texte + Grafik/Judith Miller/ ter bei der Krisenbewältigung mit den Online-Lehre entsteht, angemessen zu Jürgen Brauweiler, Erkelenzdamm 9, 10999 Berlin, Tel. 61 39 36-0, Fax -18, E-Mail info@bleifrei-berlin.de ihnen zur Verfügung stehenden Kapazi- vergüten; die Mindestteilnehmer*innen- Druck: Bloch & Co, Grenzgrabenstr. 4, 13053 Berlin täten unterstützen. Die gesetzliche Rege- Zahl für Lehr veranstaltungen herab zu lung umfasst alle sozialen Dienstleister setzen; Lehrveranstaltungen, die abgesagt ISSN 0944-3207 05/2020: 31.100 und Einrichtungen, die mit den Leistungs- werden müssen, dennoch zu vergüten und Unverlangt eingesandte Besprechungsexemplare und Beiträge trägern im Zeitraum des Inkrafttretens von perspektivisch Maßnahmen einzuleiten, werden nicht zurückgeschickt. Die Redaktion behält sich bei allen Beiträgen Änderungen vor. Beiträge nur per E-Mail einsenden. Die Maßnahmen nach dem Infektionsschutz- die der Prekarität des Lehrbeauftragten- in der bbz veröffentlichten Artikel sind keine verbandsoffiziellen gesetz zur Bekämpfung der Auswirkungen Status entgegenwirken. Mitteilungen, sofern sie nicht als solche gekennzeichnet sind. MAI 2020 | bbz KURZ & BÜNDIG 7
Genderbewusste Pädagogik Kinder sind ständig und überall mit Geschlechterstereotypen konfrontiert. Deshalb ist es umso wichtiger, individuelle Geschlechtsentwicklungen zu fördern von Petra Focks G eschlechtersymbole und Geschlechterstereotype sind überall in gesellschaftliche Strukturen und in Organisationen eingewoben und sie beeinflussen reflektiert damit auseinandersetzen, reproduzieren wir meist die vorherrschenden Geschlechterverhält- nisse, ob wir wollen oder nicht. Dies führt jedoch die Geschlechtsidentitätsentwicklung von Kindern häufig zu einer Einschränkung der Entfaltungsmög- maßgeblich. Alle Menschen, die in dieser Kultur auf- lichkeiten von Kindern auf das, was jeweils als gewachsen sind und leben, sind beeinflusst und ge- »weiblich« oder als »männlich« gilt. Außerdem füh- prägt von den allgegenwärtigen Symbolen, Strukturen ren die herrschenden Geschlechterverhältnisse im- und Identitätskonstruktionen von Geschlecht. Wie mer wieder zur Ausgrenzung von Kindern, die den die Gesellschaft aufgebaut und strukturiert ist, Ver- geschlechtstypischen Vorgaben nicht entsprechen. haltensweisen, Gefühlsäußerungen, Spielmaterial Die vorherrschende Geschlechterkonstruktion birgt und vieles mehr ist »vergeschlechtlicht«. Wir sind außerdem soziale Ungleichheiten, wie beispielswei- unausweichlich damit konfrontiert und zwar in allen se die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern Lebensbereichen. Wenn wir uns nicht bewusst und und die Abwertung pädagogischer Berufe. FOTO: ADOBE STOCK / SCOTT GRIESSEL Eine Reihe von Definitionen wichtiger Fachbegriffe haben wir der Seite www.genderdings.de entnommen und als Glossar über den Themenschwerpunkt verteilt. Aus Platzgründen konnten die Definitionen teilweise leider nur gekürzt wieder gegeben werden, ein Nachlesen auf der Seite lohnt sich für interessierte Leser*innen also unbedingt. MAI 2020 | bbz QUEER DENKEN TITEL 9
»Früher war mein Outing mit Ängsten verbunden. Heute antworte ich, wenn mich Schüler*innen fragen, ob ich einen Freund habe, ganz offen und ehrlich, dass ich es bevorzuge, mit Frauen in einer Partnerschaft zu leben. Ich möchte die Kinder ermutigen, zu sich selbst zu stehen und ihnen das Gefühl geben, dass sie richtig sind, so wie sie sind.« Lydia Habertag, Erzieherin an der Jane-Goodall-Grundschule vorstellungen und der alltäglichen Handlungspraxis, der alte Geschlechterbilder innewohnen, kaum wahr. Widerspricht zum Beispiel ein kleiner Junge den ge- schlechtstypischen Vorstellungen in weiten Teilen, indem er beispielsweise als ängstlich-unsicher wahr- genommen wird, erhält das Kind besondere Auf- merksamkeit. »Darüber hinaus ist teilweise auch eine unterschwellige (und durchaus homophobe) Form der Sexualisierung des Jungenverhaltens zu konstatieren.«, so Hunger. In zahlreichen Studien wird deutlich, dass Kinder, die sich nicht den Geschlechterstereotypen entspre- chend verhalten, zum Beispiel Jungen, die von ande- ren für zu feminin und unmännlich gehalten werden und Mädchen, die als jungenhaft gelten, häufig schon auf dem Spielplatz Hänseleien aushalten müs- sen. Auch Kinder aus sogenannten Regenbogenfami- lien, also Familien in denen mindestens ein Eltern- teil lesbisch, schwul, bisexuell oder trans* lebt, sind trans* Kinder sind in ihren Lebenswelten von Anfang an Diskriminierungen ausgesetzt. Trans* sind Menschen, überall mit Stereotypen konfrontiert, in der Familie, deren Geschlechts in der Kindertagesstätte, im Kontakt mit anderen, identität nicht dem über Spielwaren, Kinderbücher und andere mediale Erwachsene haben Modellfunktion Geschlecht entspricht, Einflüsse. das bei Geburt in ihre Geburtsurkunde Wenngleich sich Eltern und pädagogische Fach- Neben Geschlechterstereotypen wird die Entwick- eingetragen wurde. kräfte an Werten wie Gleichbehandlung und Indivi- lung von Kindern vor allem auch davon beeinflusst, Das heißt beispielsweise: dualität orientieren, zeigen wissenschaftliche Studi- welche konkreten Verhaltensweisen von Erwachse- Ein Mensch, der bei en, dass sie sich im konkreten Alltagshandeln den- nen sie beobachten. Kinder erleben, dass Frauen und Geburt weiblich noch an traditionellen Geschlechterbildern orientie- Männer in unterschiedlichen beruflichen Bereichen eingeordnet wurde und ren. So zeigt eine Studie zur Körper- und Bewe- tätig sind. Sie beobachten, dass Frauen eher für den später als Mann lebt, gungssozialisation, dass Kinder geschlechtstypisie- Bereich der Pflege und der Erziehungsarbeit zustän- ist ein trans* Mann. rend ausgestattet werden. So werden beispielsweise dig sind, während Männer eher die entscheidenden Kleidung, Spielsachen, Brotdosen, Getränkeflaschen Positionen in Politik, Kultur und Wirtschaft inneha- oder Hausschuhe geschlechtstypisch ausgewählt. ben. Sie erleben immer auch, dass die Bereiche un- Laut Ina Hunger realisiere sich die allgegenwärtige terschiedlich bewertet werden. Diese unterschiedli- Symbolik »bei Jungen – neben klassischen Motiven che Bewertung erleben auch pädagogische Fachkräf- wie Fußball, Feuerwehr – in Form von Figuren, wie te, indem sie mit hohen, immer neuen Anforderun- Lighting MCQueen und Spider-Man sowie aus Moti- gen im Berufsalltag und zugleich mit den meist ven von Star Wars, die jeweils Actionbereitschaft fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten, dem häufig ge- und Stärke, Raumexploration und Wettbewerbsbe- ringen sozialen Ansehen und den niedrigen Gehäl- reitschaft, Technik und Angriff symbolisieren. Bei tern umgehen müssen. Viele wünschen sich heute Mädchen dominieren derzeit im späten Kindergar- die Balance zwischen Beruf und Familie, die Wirk- tenalter abgebildete Motive, wie Prinzessin Lillifee, lichkeit sieht jedoch anders aus. So formulieren zu- FOTO: BERTOLT PRÄCHT Hello Kitty, Filly Minipferde, die in ihren prägenden nehmend mehr Männer in vielen Studien, dass sie Eigenschaften jeweils Harmonie, Ästhetik und Phan- weniger Zeit für Lohnarbeit verwenden möchten und tasie verkörpern.« Dabei nähmen die untersuchten diese Zeit stattdessen beispielsweise mit sich selbst, Eltern den Widerspruch zwischen den von ihnen mit Freunden oder mit ihren Kindern verbringen formulierten geschlechtsunabhängigen Erziehungs- wollen. Auch junge Frauen stehen heute enorm un- 10 TITEL QUEER DENKEN bbz | MAI 2020
ter Druck, den ganzen Anforderungen zu entspre- Nachteile hatte ich aufgrund meines Geschlechts? Material chen und sie fühlen sich bei der Vereinbarung von Zu Beginn wäre auch eine Bestandsaufnahme sinn- Die Broschüre »Murat Beruf und Familie von Politik und Männern zu wenig voll: Was ist an Material in der Kita vorhanden? Wird spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie unterstützt. Kinder erleben diese Aufgabenvertei- die Vielfalt der Lebensweisen der Kinder in der Kita heißt jetzt Ben. Sexuelle lung auch dadurch, dass in Kitas oder dem Hort sichtbar? Werden alle Familienkulturen in der Ein- und Geschlechtliche kaum Männer als pädagogische Fachkräfte tätig sind. richtung einbezogen. Welche Klischees werden bei- Vielfalt als Themen früh- Kinder müssen sich die Regeln der Geschlechterun- spielsweise von den vorhandenen Bilderbüchern kindlicher Inklusionspä- terscheidung erst aneignen. Dies geschieht zunächst bedient? dagogik« der Bildungs über äußere Symbolisierungen, wie etwa Spielmate- In der pädagogischen Arbeit mit Kindern ist es au- initiative QUEERFORMAT rialien, Spielvorlieben, Kleidung, Schmuck, Frisuren ßerdem wichtig, »vergeschlechtlichte« soziale Prak- liefert viele praxisbezo- gene Anregungen für die und Farben. Die Differenzierung anhand von Ge- tiken zu vermeiden beziehungsweise bewusst mit alltägliche Arbeit mit schlechtersymbolen ist dabei typisch für die frühe diesen umzugehen. Beispielsweise sollten hand- Kindern und auch ihren Kindheit. Später geschieht dies zunehmend durch werkliche, technische oder sportliche Tätigkeiten Eltern. verschiedene Verhaltensweisen, Arten der Gefühls- nicht automatisch dem Kollegen, den Vätern oder äußerung und Körperpraxen. Vor allem im Spiel er- den Jungen in der Gruppe zugewiesen werden. Auch proben Kinder, was es heißt »männlich« oder »weib- sollte es regelmäßig Möglichkeiten geben, dass Kin- lich« zu sein. Kinder achten dabei sehr auf ein »ge- der mit geschlechtsun- schlechterangemessenes Verhalten« und zeigen da- typischen Spielen und mit auch, dass sie gelernt haben, was in unserer Verhaltensweisen ex- Gesellschaft als weiblich beziehungsweise männlich perimentieren können. »Die herrschenden Geschlechter- gilt. Sie imitieren Gesehenes, übertreiben und setzen Dabei geht es nicht um vor allem auch eigene Impulse. Kinder stellen dabei einen Rollentausch, verhältnisse führen zur bewusst im Alltag Geschlechterverhältnisse her, sie sondern darum, viele Ausgrenzung von Kindern, die probieren und dramatisieren und schauen, was von Bereiche auszuprobie- den geschlechtstypischen den Vorgaben ihren eigenen Interessen entspricht ren und dann zu er- Vorgaben nicht entsprechen.« und wie die Umwelt reagiert, wenn sie Geschlechter- fahren, was dem jewei- zuweisungen überschreiten. Im Alter von vier bis ligen Kind entspricht. fünf Jahren inszenieren sie »Weiblichkeit« und Um Kinder in ihrer »Männlichkeit« besonders rigide. So wird beispiels- Vielfalt zu fördern ist es wichtig, Verallgemeinerun- weise der Junge, der ein Kleid anzieht und tanzt, gen, wie »die Mädchen« beziehungsweise »die Jun- von den anderen Kindern ausgelacht oder darauf gen« oder auch »typisch weiblich« beziehungsweise hingewiesen, dass Jungen keine Kleider anziehen. »typisch männlich«, die meist unreflektiert verwen- det werden, zu hinterfragen. Statt zum Beispiel zu sagen: »Ich brauche drei starke Jungen, die mir hel- Mit einer Bestandsaufnahme beginnen fen...« ist es besser zu fragen »Wer kann mir hel- fen?«. Formulierungen wie »für ein Mädchen spielst Gendersensible Pädagogik hat es zum Ziel, Kinder du sehr gut Fußball« oder »die Jungen sind jetzt mal unabhängig von Geschlechterklischees in ihren indi- ruhig« sollten vermieden werden. Besser ist es, jene viduellen Interessen und Fähigkeiten zu fördern. Kinder direkt beim Namen zu nennen. Ziel ist es also, sie bei der Ausgestaltung ihrer indi- viduellen Geschlechtsidentitäten zu unterstützen, Der Artikel wurde in ähnlicher Weise bereits veröffentlicht in: unabhängig von den jeweils herrschenden Vorstel- Petra Focks (2016): Starke Mädchen*, starke Jungen*. Gender bewusste Pädagogik in der Kita. Hier finden sich auch weitere Hin- lungen was ein »richtiges Mädchen« oder ein »rich- weise zur Umsetzung einer geschlechterreflektierten Pädagogik tiger Junge« ist. Geschlechterreflektierte Pädagogik sowie die Quellenangaben zu den Studien und zur Literatur. beruht auf einer Haltung, die auf der Akzeptanz ver- schiedener Lebensweisen basiert und Chancenge- rechtigkeit und inklusive Ansätze betont. Um die allgegenwärtigen Geschlechterstereotype Petra Focks, nicht ungewollt zu reproduzieren, ist es notwendig Professorin für Soziale Arbeit an sich bewusst damit auseinanderzusetzen: Wo nehme der Katholischen Hochschule für ich Geschlechterstereotype im Alltag wahr? Wie bin Sozialwesen Berlin ich aufgewachsen? Welche Vor- beziehungsweise MAI 2020 | bbz QUEER DENKEN TITEL 11
Intergeschlechtlichkeit in der Grundschule Kinder sollten bereits früh erfahren, wie vielfältig Geschlecht ist. Das schafft mehr gesellschaftliche Akzeptanz und stärkt Kinder bereits in jungem Alter von Yan Feuge I ch habe »sowohl etwas von einem Mädchen als auch von einem Jungen« erklärt Bella am ersten Schultag den Mitschüler*innen. Bella, mit dem selbst sungsgerichts das Personenstandsgesetz ändern, denn seit dem Jahr 2019 gibt es neben »männlich« und »weiblich« auch den Geschlechtseintrag »divers« gewählten Pronomen »er«, ist intergeschlechtlich. ( S. 19). Der zentrale Kampf einer stetig wachsenden Und Hauptfigur des Kinderbuches »P.S: Es gibt Lieb- Zahl von Inter*Aktivist*innen und Inter*Organisati- lingseis«, dem im Jahr 2019 das KIMI-Siegel für Viel- onen stößt jedoch auf den Beton eines patriarchalen falt in Kinderbüchern verliehen wurde. Bellas erste Systems. Weiterhin behandeln und operieren Ärzt inter* Schulwochen haben Höhen und Tiefen. Sowohl von *innen als intergeschlechtlich klassifizierte Kinder Inter* sind Menschen, der Mädchen-, als auch Jungen-Toilette verjagen ihn bereits in einem nicht einwilligungsfähigen Alter. die mit Variationen die Mitschüler*innen. Er erfährt aber auch solidari- Ziel ist, sie der Vorstellung eines »eindeutigen ge- der körperlichen sche Gemeinschaft, als alle Kinder die Abschaffung schlechtlichen Körpers« anzupassen. Diese Maßnah- Geschlechtsmerkmale der Geschlechtertrennung im Sportunterricht er- men sind zumeist rein kosmetisch. Verunsichert auf die Welt kommen. Das heißt, sie ent kämpfen. Mit Unterstützung der Eltern von Bella durch Ärzt*innen und aus Angst vor Diskriminierung sprechen nicht eindeutig begreifen alle, dass die Welt mit mehr als zwei Mög- in Kitas und Schulen willigen viele Eltern in die Be- den medizinischen lichkeiten viel schöner ist. handlungen ein. Diese Eingriffe haben schwere kör- Normen bezüglich Intergeschlechtliche Menschen werden mit Ge- perliche und psychische Auswirkungen und sind als Anatomie, Hormonen schlechtsmerkmalen geboren, die sich nicht in die Verstoß gegen das Recht auf Unversehrtheit des Kör- oder Chromosomen, gängigen Kategorien von »männlich« und »weiblich« pers zu werten. Auch haben die traumatisierenden die für das weibliche einordnen lassen oder die zu beiden Kategorien ge- Operationen und nachfolgenden Behandlungen oft und das männliche Geschlecht festgelegt hören. Dies betrifft unter anderem Chromosomen, schlechtere Schulleistungen zur Folge. Zu den psy- wurden. Die Eltern Genitalien oder auch die Hormone. Bei manchen chisch-emotionalen Belastungen kommen lange entscheiden, welcher Menschen wird Intergeschlechtlichkeit bei der Ge- Fehlzeiten wegen Krankenhausaufenthalten oder Geschlechtseintrag burt festgestellt. Bei anderen in der Jugend oder im mangelnde Erholung in den Schulferien. Schulische vorgenommen wird. Erwachsenenalter oder nie. Den Vereinten Nationen Aufklärung über geschlechtliche Vielfalt kann dazu zufolge sind knapp zwei Prozent aller Menschen in- beitragen, dass bald alle Kinder, wie Bella, ohne ge- tergeschlechtlich. Das entspricht in etwa der Zahl an schlechtsnormierende Eingriffe selbstbestimmt auf- Menschen, die Zwillinge sind. Die Vorstellung von wachsen können. zwei Geschlechtern, zwischen denen eine klare bio- Lehrkräfte müssen davon ausgehen, dass in ihren logische Grenze verläuft, wird durch neuere wissen- Klassen inter* Kinder anwesend sind. Auch wenn sie schaftliche Studien widerlegt. Viele Biolog*innen meistens nicht geoutet und daher unsichtbar sind. begreifen Geschlecht als Spektrum, in dem die zahl- Deswegen müssen proaktiv inklusive Räume ge- reichen Formen von Intergeschlechtlichkeit ebenso schaffen werden. Hierzu fordert sogar der Rahmen- wie Endogeschlechtlichkeit mögliche Varianten sind. lehrplan Berlin-Brandenburg auf, denn die Interes- Übrigens: »Endogeschlechtlich sind Menschen, die sen von Jungen und Mädchen und weiteren Ge- Material nie mit der medizinischen Norm konfrontiert wur- schlechtern sollen berücksichtigt werden. Alle Kin- Zu dem Kinderbuch der den, dass ihr Körper nicht »männlich« oder »weib- der sollten spätestens in der Grundschule erfahren, Autor*in Luzie Loda lich« einzuordnen sei. dass Geschlecht vielfältig ist. Dazu brauchen die »PS: Es gibt Lieblingseis« Lehrkräfte Wissen und die Bereitschaft, sich mit den gibt es Unterrichtsbau- eigenen Geschlechterbildern auseinanderzusetzen. steine für die 1. und 2. Menschenrechtswidrige medizinische Praxis Oft wollen Lehrkräfte Intergeschlechtlichkeit nur Klasse, die kostenlos thematisieren, wenn Kinder diese zum Thema ma- heruntergeladen werden können unter: Die gesellschaftliche Praxis bleibt weit hinter den chen. So wird die gesellschaftliche Tabuisierung von www.queerformat.de/ biologischen Erkenntnissen zurück. Zwar musste die Inter* nicht durchbrochen. Inter* Kindern wird es p-s-es-gibt-lieblingseis Bundesregierung auf Weisung des Bundesverfas- schwergemacht, über sich selbst zu sprechen. Nicht 12 TITEL QUEER DENKEN bbz | MAI 2020
»Queer sein heißt Coming out. Ein Leben lang. Queer denken heißt Fragen stellen, irritieren. Ein Leben lang. Queer handeln heißt die Cis- Heteronorm herausfordern und sichtbar sein. Ein Leben lang. In der Gewerkschaft. In der Schule. In der Senatsverwaltung.« Conny-Hendrik Kempe-Schälicke, Referent*in für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und Antidiskriminierung bei SenBJF, Sprecher*in der AG LSBTI der GEW (Bund) nur der Sachkundeunterricht verfestigt bisher die Vorstellungen einer eindeutigen Aufteilung der Men- schen in zwei Geschlechter. Dies ruft bei inter* Kin- dern starke Gefühle von Scham und Selbstzweifel hervor. Zuweilen wird von Pädagog*innen die Sorge angegeben, dass Kinder mit dem Thema überfordert seien. Dahinter verbirgt sich oft die Unsicherheit der Erwachsenen. Kinder verstehen meist die Realität von mehr als zwei Geschlechtern schnell. Lehrkräfte sind hier in ihrer Vorbildfunktion gefragt, denn Stu- dienergebnisse zeigen, dass die Akzeptanz für ge- schlechtliche Vielfalt von Schüler*innen umso höher verzichtete ein Sportlehrer auf die Formulierung Die trans*Fahne enthält ist, je häufiger diese im Unterricht thematisiert wird. »die Jungs gehen jetzt darüber und die Mädchen da- zwischen zwei rosa und rüber«, sondern wird von einer Mutter so zitiert: zwei blauen Streifen, den traditionellen Farben »Wer jetzt in die Jungsumkleide geht, der geht bitte für Jungs und Mädchen, Empfehlungen für eine inter*inklusive Praxis hier lang und wer in die Mädchenumkleide geht, bit- in der Mitte einen te hier lang.« Hinterfragen Sie, ob die Angabe des weißen Streifen. Die Kinderbücher wie »P.S. Es gibt Lieblingseis« können Geschlechts in Formularen notwendig ist. Wenn ja, Farbe weiß steht für alle, dabei hilfreich sein. Die Thematisierung ist aber nur ist die Option »divers« vorhanden? Verwenden Sie die intersexuell sind, Teil einer schulischen Praxis, die weitere Barrieren geschlechtergerechte Sprache: Genderstern* oder das Geschlecht ändern für inter* aber auch für beispielsweise trans* ( S. 10) Gendergap _, denn sie machen Menschen sichtbar, oder sich keinem der Geschlechter zuordnen. und genderqueere ( S. 16) Kinder in den Blick neh- die nicht in die Schublade von »weiblich« oder men muss. Informieren Sie sich selbst und das Kol- »männlich« passen. Arbeiten Sie im Unterricht mit legium der Schule über Intergeschlechtlichkeit. Hilf- Materialien, in denen inter* Menschen selbstver- reich können hier externe Expert*innen wie OII und ständlich vorkommen und über sich selbst spre- QUEERFORMAT – QUEERFORMAT sein. Berücksichtigen Sie unbedingt chen. Alle Aspekte des Menschseins sollten vorkom- Fachstelle Queere Vertraulichkeit, wenn Sie von der Intergeschlecht- men. Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen Bildung führt Fortbildun lichkeit eines Kindes wissen. Überlassen Sie dem sind ebenso verschieden, wie die von endoge- gen zu sexueller und Kind, welche Informationen es anderen über sich schlechtlichen Menschen auch. Unterschiede können geschlechtlicher Vielfalt geben will. Verwenden Sie den Namen und Prono- individuell oder auch abhängig von anderen Un- durch. Zahlreiche Infor- men, den die Kinder für sich selbst wählen (zum gleichheitsdimensionen wie Herkunft, Religion oder mationen, Unterrichts- Beispiel sie, er, sie*er). Vermeiden Sie stereotype Behinderung sein. hilfen und Handrei- chungen finden sich auf: Rollenzuweisungen wie »Ich brauche vier starke Jun- www.queerformat.de gen, die mir helfen«. Widersprechen Sie, wenn Sie Ich danke Ev-Blaine Matthigack für die hilfreichen Hinweise zu diese in der Schule mitbekommen. diesem Artikel. Lassen Sie Kinder die Toiletten und Umkleideräume IVIM / OII Germany e.V. Ausführliche weiterführende Informationen, Hinweise für die nutzen, die für sie selbst stimmig sind. Stellen Sie Die Internationale Verei- pädagogische Arbeit und den Unterricht finden Sie in dem neuen nach Möglichkeit die Nutzung einer Einzelkabine zur nigung Intergeschlecht Informationsportal zu Intergeschlechtlichkeit unter: Wahl. Richten Sie zusätzlich zu Mädchen- und Jun- licher Menschen ist eine inter-nrw.de/category/educators Inter* Menschenrechts- FOTO: BERTOLT PRÄCHT gen-Toiletten Unisex-Toiletten ein, die alle Menschen organisation und bietet benutzen können. Beratungen und Fort Vermeiden Sie Einteilungen in Jungen und Mäd- Yan Feuge, Bildungsreferent*in von bildungen zum Thema chen. Suchen Sie nach individuellen Lösungen, die QUEERFORMAT Fachstelle Queere Bildung, Intergeschlechtlichkeit: inter* Kinder nicht in einen Zwiespalt bringen. So Lehrkraft für Biologie und Französisch www.oiigermany.org MAI 2020 | bbz QUEER DENKEN TITEL 13
D er Rahmenlehrplan für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule unterstreicht schon seit dem Jahr 2001, dass »offen homosexuell lebende Lehrkräfte und deren Akzeptanz im Kollegium […] zu einer schulischen Atmosphäre bei[tragen], die die sexuelle Identitätsentwicklung von Schüler*innen erleichtert« und betont damit deren Vorbildcharak- ter. Dennoch gehören offen queere Pädagog*innen fast 20 Jahre später noch immer nicht selbstver- ständlich zum Schulalltag. In einer Befragung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2017 gaben nur etwa elf Prozent der befragten queeren Lehrkräfte an, dass »mehr oder weniger alle« Schüler*innen wüssten, dass sie queer leben. Knapp ein Viertel gab an, dass dies zumindest ein Teil der Schüler*innen wüsste. Die Mehrheit der befragten Lehrkräfte verheimlicht ihre geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Ori- entierung vor den Schüler*innen. Als häufigste Gründe für diese Entscheidung nannten sie unter anderem Unsicherheit, Angst vor Stigmatisierung und Respektverlust. Aktuelle Zahlen zur Situation von queeren Schü- ler*innen gibt es derzeit nicht. Die letzten Daten für Berlin stammen aus dem Jahr 1999. Zwar hat die Senatsbildungsverwaltung vor drei Jahren eine ent- sprechende Befragung von Lehrkräften in Auftrag gegeben, eine Veröffentlichung der Ergebnisse steht »Schule soll ein geschützter Raum für aber noch aus. In einer Befragung des Deutschen alle Schüler*innen sein und ein solcher Raum Jugendinstitutes aus dem Jahr 2015 gab fast die Hälfte der befragten Jugendlichen an, in der Vergan- kann nur ein queerer Raum sein! Warum? genheit Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ori- Na, weil nur in einem queeren Raum nicht entierung oder geschlechtlichen Identität im Bil- diskriminiert wird und alle Menschen so dungs- oder Arbeitskontext erlebt zu haben. angenommen werden, wie sie sind, ohne auf Vor dem Hintergrund dieser Zahlen stellt sich die ihre Sexualität oder geschlechtliche Identität Frage, warum sich für queere Pädagog*innen wie auch queere Schüler*innen offenbar so wenig getan reduziert zu werden.« hat, in einer Zeit, in der die Ehe für gleichgeschlecht- Martin Helbig, Lehrer an der Jane-Goodall-Grundschule, liche Paare geöffnet worden ist, in der in der Bun- AG Schwule Lehrer desrepublik nach §175 Strafgesetzbuch verurteilte schwule Männer rehabilitiert worden sind und in der ein dritter Geschlechtseintrag im Personenstands- recht eingeführt worden ist. Eine Antwort auf diese Frage lässt sich vermutlich am besten finden, wenn man sich die Situation an queer konkreten Beispielen ansieht: Als ich vor sechs Jah- Heute bezeichnen sich viele Menschen als queer, ren an eine Sport-Eliteschule in Köpenick versetzt die in ihrer sexuellen Orien- werden sollte, fragte mich die Schulleiterin beim tierung und/oder ihrer Kennenlerngespräch, ob »wir die Sache soft ange- Geschlechtsidentität von hen« könnten. Vor allem die Fußballer brächten doch der Norm abweichen und so viel Homophobie aus dem Stadion mit. Wenig sich nicht in die vorgege- FOTO: BERTOLT PRÄCHT später kam es in einer Chemiestunde dazu, dass ge- benen Schubladen – wie nau diese Schüler ganz viele Fragen von sich aus Mann oder Frau, hetero sexuell oder homosexuell – zum Thema Homosexualität, Coming out und so einordnen wollen oder weiter stellten, die ich ihnen beantwortete. Dem können. Klassenlehrer berichteten sie anschließend ganz be- 14 TITEL QUEER DENKEN bbz | MAI 2020
Freiwillig reicht nicht Immer noch hängt es von einzelnen engagierten Lehrkräften und Schulleitungen ab, ob und wie sexuelle Vielfalt unterrichtet und gelebt wird von Alexander Lotz geistert von dieser Unterrichtsstunde. Vor einiger Lebensweisen Teil der in der Schule gelebten und Zeit traf ich zufällig eine Mutter eines Schülers aus positiv besetzten Vielfalt sind. einer anderen Fußballer-Klasse, die sich bei mir da- Das Schulgesetz für das Land Berlin in §2 legt in- für bedankte, dass ich so offen mit meinem Schwul- zwischen fest, dass alle Schüler*innen ein Recht auf sein umgegangen sei. Als ich dann drei Jahre später diskriminierungsfreie Bildung und Erziehung unab- an eine Gemeinschaftsschule in Kreuzberg versetzt hängig von Geschlecht, Geschlechtsidentität und wurde, war ich wieder meines Wissens nach der ein- sexueller Orientierung haben. Auch der aktuelle Rah- zige, offen schwul lebende Lehrer. Eine Kollegin menlehrplan regelt in Teil B hinsichtlich der über- greifenden Themen, dass Akzeptanz von Vielfalt ein wesentliches Bildungs- und Erziehungsziel in allen Unterrichtsfächern darstellt. Aber in fast allen Un- »Schüler*innen bedanken terrichtsfächern fehlt es an verbindlichen Vorgaben sich bei mir dafür, dass ich mein zu den entsprechenden Inhalten. Der Handlungsrah- Schwulsein nicht verstecke.« men Schulqualität berücksichtigt die Dimension se- xuelle und geschlechtliche Vielfalt nicht obligato- risch. In den Modulen des Vorbereitungsdienstes ist warnte mich noch: »Oute dich nicht! Ein anderer Kol- die Behandlung nur fakultativ festgelegt, wenige lege wurde so stark von den Schüler*innen gemobbt, Seminarleiter*innen bieten freiwillig zu belegende dass er die Schule verlassen musste.« Ich outete Wahlbausteine dazu an. Auch für die Ausbildung in Material mich natürlich trotzdem. Dabei machte ich überwie- den Fachseminaren gibt es so gut wie keine verbind- Die Handreichung gend positive Erfahrungen mit den Schüler*innen, lichen Vorgaben diesbezüglich. Der Orientierungs- »Diversität im Klassen- zimmer: Geschlechtliche die ich selbst unterrichtete. Bis heute bedanken sich und Handlungsrahmen »Sexualerziehung/Bildung zu und sexuelle Vielfalt in immer wieder Schüler*innen bei mir dafür, dass ich sexueller Selbstbestimmung« als Nachfolger für den Schule und Unterricht« mein Schwulsein nicht verstecke. Allerdings belei- Rahmenlehrplan zur Sexualerziehung aus dem Jahr gibt einen Überblick digte mich ein Schüler gleich zu Beginn meiner Tä- 2001 ist seit mehr als vier Jahren Bearbeitungszeit über Begriffe, Rahmen tigkeit an der Schule so heftig, dass die Schulleitung immer noch nicht veröffentlicht. bedingungen und pä gemeinsam mit mir Strafanzeige gestellt hat. Zudem Die Bildungsverwaltung und Bildungspolitik soll- dagogische Richtlinien wurde er als Ordnungsmaßnahme von der Schulauf- ten das Recht auf diskriminierungsfreie Bildung und und zeigt, wie die Akzep- tanz von geschlechtlicher sicht an eine andere Schule versetzt. Erziehung für queere Schüler*innen, aber auch das und sexueller Vielfalt Meine »schwule« Lehrerbiografie zeigt relativ Recht auf einen diskriminierungsfreien Arbeitsplatz in Schule und Unterricht deutlich, dass Outing im schulischen Rahmen immer für queere Pädagog*innen nicht nur fordern, son- gefördert werden kann. noch großen Mut erfordert, die überwiegende Mehr- dern müssen auch dessen Umsetzung sicherstellen. heit der Schüler*innen aber sehr positiv und offen Dies kann nur dann funktionieren, wenn die dafür darauf reagiert. Außerdem ist die persönlich und notwendigen Schritte nicht ausschließlich auf Frei- öffentlich versicherte Unterstützung der Schullei- willigkeit beruhen. Eine möglichst diskriminierungs- tung eine ganz wichtige Stütze für offen queere freie Schule darf nicht überwiegend vom Mut und Lehrkräfte an Schulen und trägt maßgeblich zu ihrer dem Engagement einzelner Lehrkräfte und Schullei- Akzeptanz bei. Leider hängt die Unterstützung quee- tungen abhängen, sondern ist eine Aufgabe, der sich AG Schwule Lehrer rer Lehrkräfte durch die Schulleitung maßgeblich alle an Unterricht und Erziehung Beteiligte zu stellen Die Kollegen der AG von deren persönlicher Haltung ab. Ähnliche haben. Schwule Lehrer in der Schlussfolgerungen können für die Situation von GEW Berlin treffen sich queeren Schüler*innen gezogen werden. Ob queere während der Schulzeit Themen expliziter wie auch impliziter und damit Alexander Lotz, alle 14 Tage mit um AG Schwule Lehrer der die 20 Kollegen. Wir selbstverständlicher Bestandteil der Unterrichtsin- freuen uns jederzeit halte sind, hängt vom Engagement einzelner Lehr- GEW BERLIN über weitere Kollegen, kräfte ab. Von ihnen, aber auch von den Schulleitun- die mitmachen wollen. gen hängt es auch ab, ob queere Identitäten und www.schwulelehrer.de MAI 2020 | bbz QUEER DENKEN TITEL 15
Hilfe, wir haben queere Menschen unter uns Schulhöfen. Dieser Um- stand fördert nicht gerade ein Miteinander. Denn die hinter diesen Begriffen Schulsozialarbeit kommt eine wichtige Rolle für die Erarbeitung liegenden Beleidigungen einer gemeinsamen schulischen Praxis geschlechtlicher Vielfalt zu wiegen schwer, da sich Kinder und Jugendliche in schulischen Kontexten zu- meist in der Pubertät und von Stefan Hierholzer damit in der Selbstfin- dung befinden. Jene, die sich nicht den so mit I n der Schule kommen Menschen aus verschiede- geprägten Normen unterwerfen, können verunsichert nen Ethnien, Milieus, Schichten und kulturellen werden oder sich nicht zugehörig fühlen. Wie weit Hintergründen zusammen. Kurz gesagt: Schule ist diese Verunsicherung geht, zeigen Studien, die auf ein pluraler Ort. Die aktive Teilhabe am gesellschaft- eine bis zu achtfach erhöhte Selbstmordrate bei lichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen queeren Jugendlichen verweisen. Leben ist durch die Schule zu fördern. Diese, vom Queere Lebensweisen sind im schulischen Kontext Gesetzgeber geforderte Teilhabe ist aber nicht häufig direkten Anfeindungen ausgesetzt oder sie durchgängig für alle am Schulleben Beteiligten glei- sind unsichtbar und damit tendenziell von kulturel- chermaßen möglich. Für queere ( S. 14) Personen ler Teilhabe ausgeschlossen. Gerade der Umstand liegt das unter anderem an den heteronormativen nicht vorzukommen und damit unsichtbar zu sein, Lebensgewohnheiten der Allgemeinbevölkerung. Das stellt sich als äußerst prekär für die betroffenen Kin- meint, dass Heterosexualität die Norm darstellt und der und Jugendlichen dar. Auch im unterrichtlichen als Lebensstandard verstanden wird. Kontext findet ihre Art zu leben und zu lieben kaum An einem Beispiel wird die Wirkungsmacht von Anklang. So zeigt eine Untersuchung der GEW, dass genderqueer/ heteronormativen Standards deutlich. Paul, 16 Jahre, queere Lebensweisen in Schulbüchern höchst mar- nicht-binär wird von seinem Onkel gefragt, ob er schon eine ginal vorkommen. Unsichtbar machen ist ebenfalls Genderqueer ist eine Freundin hat. Der Onkel geht automatisch davon eine Form heteronormativer Machtrepräsentation. In Geschlechtsidentität. aus, dass Paul heterosexuell sein muss. Paul, der Studien wird deutlich, dass sich queere Jugendliche Genderqueere Menschen vielleicht gar nicht heterosexuell orientiert ist, kann oft einsam und alleine fühlen, da in ihrer näheren identifizieren sich weder durch diese Frage in eine unangenehme Situation Umgebung scheinbar keine gleichgesinnten Perso- als männlich, noch als weiblich, sondern geraten und sich zum Outen gezwungen fühlen. Pauls nen anzutreffen sind. dazwischen oder ganz Patenonkel hätte schlicht eine Brücke bauen können, anders. indem er gefragt hätte: »Na Paul, wie sieht's aus, bist du schon vergeben?« Queere Menschen sichtbar machen Das eigentliche Problem besteht nicht in der Exis- tenz von Heteronormativität, sondern im Konglome- Entscheidend ist, dass sowohl Lehrende als auch rat von heteronormativer Annahme und Abwer- Schulleitungen nicht wegsehen, wenn die Würde des tungsmechanismen des »Andersseins«. Knapp ein Einzelnen herabgewürdigt oder ganze Personengrup- Drittel der Bundesbürger*innen stimmen der Aussa- pen unsichtbar gemacht werden. Ein Klima des Res- ge zu, dass sie gleichgeschlechtlich liebende Men- pektes und der Anerkennung von Diversität muss schen nicht beim Küssen sehen wollen. Zeitgleich ist gelernt werden. Zu begreifen, dass Vielfalt keine »schwul« beziehungsweise »Schwuchtel« immer noch Bedrohung, sondern Bereicherung ist, muss trainiert eines der häufigsten Schimpfwörter auf deutschen und letztlich durch die Akteur*innen der Schule ver- innerlicht werden. Laut Schulgesetz liegt die Verantwortlichkeit für alle schulischen Belange bei den Schulleitenden. Sie müssen dafür Sorge tragen, dass alle am Schulleben beteiligten Personen gleichwertige Chancen zur Teil- habe und Sichtbarkeit im schulischen Kontext ha- ben. Die Schulleitungen sind selbstverständlich FOTO: BERTOLT PRÄCHT nicht alleine bei der Bewältigung des Schulalltages. Im Gegensatz zu den Lehrenden hat Schulsozial- arbeit die Möglichkeit, Lernende ohne Leistungsbe- urteilung kennenzulernen. Die stärkere Gleichwertig- keit der Akteur*innen nimmt erste Berührungsängste. 16 TITEL QUEER DENKEN bbz | MAI 2020
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