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www.ssoar.info Der Westen am Westbalkan - die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region Dzihic, Vedran Veröffentlichungsversion / Published Version Stellungnahme / comment Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Dzihic, V. (2021). Der Westen am Westbalkan - die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region. (Kurzanalyse / Österreichisches Institut für Internationale Politik, 6). Wien: Österreichisches Institut für Internationale Politik (oiip). https://nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0168-ssoar-77353-6 Nutzungsbedingungen: Terms of use: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine This document is made available under Deposit Licence (No Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. Redistribution - no modifications). We grant a non-exclusive, non- Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, transferable, individual and limited right to using this document. persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses This document is solely intended for your personal, non- Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für commercial use. All of the copies of this documents must retain den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. all copyright information and other information regarding legal Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle protection. You are not allowed to alter this document in any Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen way, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit the Schutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokument document in public, to perform, distribute or otherwise use the nicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Sie document in public. dieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zwecke By using this particular document, you accept the above-stated vervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oder conditions of use. anderweitig nutzen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.
6 / Dezember 2021 Der Westen am Westbalkan - Die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region Vedran Dzihic Kurzanalyse verfasst im Rahmen der Kooperation mit dem Bundesministerium für Landesverteidigung
Der Westen am Westbalkan – Die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region Zusammenfassung Am Westbalkan setzte der Westen – die EU und die USA – nach dem Ende des Krieges im Kosovo auf die EU-Integrationsperspektive und die Demokratisierung der Region. Die Region sollte langfristig in der politischen, wirtschaftlichen und auch geopolitischen Einflusssphäre des Westens abgesichert wer- den. Längst werden aber dem Traum von einer demokratischen Wiedervereinigung Europas und der westlichen Dominanz in Regionen wie dem Westbalkan Grenzen aufgezeigt. Vor allem die beiden gro- ßen geopolitischen Player Russland und China positionieren sich immer deutlicher in der Region und suchen offene Konkurrenz zum Westen. Aus den inneren strukturellen Problemen der Staaten am Westbalkan sowie eines offensichtlichen strategischen und normativen Vakuums in der Region sehen wir seit einigen Jahren eine Abfolge von politischen Krisen, alten Animositäten und Nationalismen, die teils in akuten und sehr gefährlichen Krisen enden, wie jener im Herbst 2021 in Bosnien und Herzego- wina. All dies geschieht inmitten einer weiter andauernden Covid-19-Pandemie, die wie unter einem Vergrößerungsglas alle Schwächen und Probleme der Region offenbart. Die vorliegende Kurzanalyse versucht folgende Fragen zu beantworten: Wie sieht es heute angesichts der regionalen Herausforde- rungen und europäischer bzw. westlicher Grabenkämpfe um die Westbalkanpolitik des Westens aus? Wo liegen denn die strukturellen Schwächen, wo die großen Herausforderungen für die kommenden Jahre? Und vor allem, gibt es allen Krisen und Unkenrufen zum Trotz doch einen Silberstreifen am Horizont? Keywords: Westbalkan, Russland, China, Geopolitik, Demokratie Autor Dr. Vedran Dzihic ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am oiip und lehrt am Institut für Politikwissen- schaft der Universität Wien. Zu seinen thematischen Schwerpunkten gehören Südosteuropa, EU-Er- weiterung, Demokratie- und Autoritarismusforschung und Nationalismus. Impressum: Österreichisches Institut für Internationale Politik – oiip, 1090 Wien, Währinger Straße 3/12, www.oiip.ac.at, info@oiip.ac.at Copyright © 2021 2
Der Westen am Westbalkan – Die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region Als vor mehr als 30 Jahren die neue Ära der De- Diskussion über Polen zeigt, längst zu einem lästi- mokratie, der universellen Menschenrechte und gen Anhängsel verkommen. Die Union selbst der Marktwirtschaft anbrach, schien der Traum scheint nur schwer Antworten auf diese Heraus- von der demokratischen Wiedervereinigung des forderungen zu finden, bleibt zerrissen zwischen Kontinents zum Greifen nahe. Die viel apostro- unterschiedlichen Interessen der einzelnen Mit- phierte These vom „Ende der Geschichte“ (Fuku- gliedsstaaten und ist verunsichert durch die Pan- yama) fand in den Kriegen auf dem Gebiet des demie. Am Westbalkan erleben wir eine quel- ehemaligen Jugoslawiens ab 1991 eine erste Test- lende Abfolge von politischen Krisen, alte Animo- probe. In weiten Teilen Osteuropas sprangen die sitäten und Nationalismen, bei denen die Wider- meisten Staaten mit Begeisterung und Verve auf sacher der EU und des Westens, die neuen auto- den funkelnden Zug der Demokratie und der ritären Global Players wie das Putinsche Russland Marktwirtschaft nach dem westlichen Vorbild oder China, aktiv mitmischen. Und dies alles in- auf. Die EU-Mitgliedschaft wurde zur Verheißung mitten einer weiter andauernden Covid-19-Pan- für eine bessere Zukunft. Auf dem Gebiet des demie, die wie unter einem Vergrößerungsglas ehemaligen Jugoslawiens war man zeitgleich mit alle Schwächen und Probleme der Region offen- blutigen Kriegen und ihren Folgen beschäftigt. bart. Mit Srebrenica erlebte man den ersten Völker- mord auf europäischem Boden seit dem Holo- Wie sieht es heute angesichts der regionalen Her- caust. Nach dem Ende des Krieges in Bosnien und ausforderungen und europäischer bzw. westli- Herzegowina im Jahr 1995 und dem durch die cher Grabenkämpfe um die Westbalkanpolitik NATO-Intervention erzwungenem Ende des Krie- des Westens aus? Wo liegen denn die strukturel- ges im Kosovo im Jahr 1999, war das Rezept je- len Schwächen, wo die großen Herausforderun- nem in Osteuropa ähnlich – man setzte auf die gen für die kommenden Jahre? Und vor allem, EU-Integrationsperspektive und damit nahtlos an gibt es allen Krisen und Unkenrufen zum Trotz das Narrativ von einer demokratischen Wieder- doch einen Silberstreifen am Horizont? vereinigung Europas an. Längst ist aber sowohl für die zunächst in den fun- Strukturelle Verschiebung – Der Wes- kelnden europäischen Zug eingestiegenen Passa- giere im Osten Europas aber auch für jene etwas ten wird am Balkan herausgefordert später und vom Krieg geplagten neu hinzugekom- Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das menen Passagiere im europäischen Südosten das damit einhergehende Ende des Kalten Krieges große Erwachen eingetreten. Die vielen Krisen wurden nicht nur als Sieg des Kapitalismus über der letzten nahezu zwei Jahrzehnte haben an der den Kommunismus, sondern von vielen auch als hoffnungsfrohen Vision eines demokratischen der Anbruch eines neuen demokratischen und li- und vereinten Kontinents tiefe Spuren hinterlas- beralen Zeitalters gefeiert, das von westlicher De- sen. Globalisierte Marktwirtschaft stellt man mokratie und Marktwirtschaft geprägt werden heute nicht mehr in Frage, die Demokratie in Tei- würde. Den USA fiel als einzige weiterhin beste- len EUropas aber sehr wohl. Für Orbán in Ungarn, hende Supermacht in diesem neuen liberalen Kaczyński in Polen oder Janša in Slowenien inner- Zeitalter eine zentrale Rolle in der Gewährleis- halb der EU aber auch Vučić in Serbien, Milorad tung der internationalen Ordnung zu. In Europa Dodik in Bosnien und Herzegowina oder Edi Rama löste das Ende des Kalten Krieges die Spaltung des in Albanien, allesamt beinharte Machtpragmati- Kontinents in West und Ost auf. Schnell sollten ker, sind Rechtsstaatlichkeit und liberale Demo- die Staaten Osteuropas in eine demokratische kratie, wie auch die im Herbst 2021 heiß geführte 3
Der Westen am Westbalkan – Die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region und marktwirtschaftliche Ordnung geführt wer- das, was man sich nach den schwierigen 1990er den. Die Europäische Union spielte durch die Jahren sehnlich wünschte – Frieden und Stabi- Eröffnung der Beitrittsperspektive in den Transiti- lität, Wohlstand und Prosperität, und letztlich onsprozessen der ehemaligen kommunistischen auch Freiheit und Demokratie. Insgesamt wurde Staaten Osteuropas eine wichtige unterstützende die EU ab 1999/2000 – gemeinsam mit den USA – Rolle. Die Heranführung Osteuropas an westeu- zum einflussreichsten Akteur am Westbalkan. Sie ropäische Standards und Institutionen gilt als wurde gemeinsam mit den USA und anderen Ausdruck der transformativen und normativen NATO-Staaten zum dominanten Sicherheitsprovi- Kraft der EU. Dies führte auch dazu, dass nach der der, zum wirtschaftlich größten Investor und zum erfolgreichen Osterweiterung, der Westen und normativen Role-Model bei der Demokratisie- die EU ihre transformative Kraft auch auf den rung der Region. Man kann also zu Beginn der Westbalkan und die weitere Nachbarschaft aus- 2000er Jahre von einer EU, die als dominante zuweiten versuchte. Eine nachhaltige Demokrati- Hard- aber auch Soft-Power in der Region agiert, sierung schien – so die Rechnung in der EU und sprechen. den USA – der beste Weg zu sein, um die Region nachhaltig im sogenannten „euro-atlantischen“ – Ab den 2000er Jahren hat sich diese Konstellation substantiell verändert. Die dominante Rolle der also westlichen – Kontext zu verankern. EU wurde zunehmend von anderen internationa- Die globale Finanzkrise im Herbst 2008 bedeutete len Akteuren in Frage gestellt und herausgefor- eine klare Schwächung der westlich geprägten dert. Dies lässt sich einerseits mit vielfältigen Kri- hegemonialen liberalen Ordnung. In Folge der sen in der EU und einer passiven bis ratlosen Er- Krise verringerten sich nicht nur die finanziellen weiterungspolitik erklären, andererseits aber Kapazitäten der USA und der europäischen Staa- durchaus auch aufgrund einer veränderten geo- ten, sondern es zeigte sich immer mehr, dass politischen Situation und der damit verbundenen auch die westlichen Demokratien mit internen stärkeren Aktivitäten von Staaten wie China und Krisen des Demokratischen zu kämpfen haben, Russland, sowie in einer spezifischen Form auch die mitunter die Grundfeste des Westens in Frage jenen der Türkei oder der arabischen Staaten. stellte. Nach 2008 kann auf globaler Ebene eine Entwicklung der De-Demokratisierung beobach- Experten, wie beispielsweise Ivan Krastev, spre- tet werden. Charakterisiert ist diese durch die In- chen vom Balkan als einer wieder geopolitisch fragestellung liberal demokratischer Prozesse umkämpften Zone, in der sich der Westen auf der und Institutionen sowie durch die Schwächung einen Seite (damit sind in erster Linie die EU, die der normativen Kraft, die von liberal demokrati- USA und die NATO gemeint) und China und Russ- schen Werten und Praktiken ausging. Dies wirkte land auf der anderen Seite gegenüberstehen und sich zum einen negativ auf die Konsolidierung von um Einfluss buhlen. Wenn wir dieser These fol- jungen Demokratien aus und zum anderen stellt gen, können wir den Balkan heute mehr denn je es aber auch eine wachsende Bedrohung für als einen politischen, wirtschaftlichen und zum etablierte Demokratien im Zentrum der liberalen Teil auch militärischen Marktplatz betrachten, auf Ordnung dar. Mit der Präsidentschaft von Donald dem sich die EU und die USA im Wettbewerb mit Trump in den USA ist die Bedrohung für Demokra- anderen geopolitischen Akteuren befinden. tien eben auch beim mächtigsten Repräsentan- Ein wichtiger und deutlich selbstbewussterer Ak- ten des Westens und der Demokratie angekom- teur am Balkan ist das Putinsche Russland. In den men. letzten Jahren gehörte die Warnung vor einem Am Westbalkan verkörperte die EU lange Zeit für negativen Einfluss Russlands auf die Region zum die Mehrheit der Menschen auf dem Balkan all allgemeinen Ton zahlreicher Balkan-Experten. 4
Der Westen am Westbalkan – Die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region Der Economist titelte im Jahr 2017 „Moscow is re- Balkan einzumischen und sich als Gegensatz zur gaining sway in the Balkans”, und argumentierte, EU und zur NATO zu positionieren. Dimitar Ba- dass es Moskau mit einer Mischung aus Propa- chev, einer der besten Russland- und Balkan-Ken- ganda und konkreten Investitionen in humanitä- ner, ist der Meinung, dass Russland in der Region rer, ökonomischer und militärischer Art immer stärker präsent ist, dass aber dieser Einfluss nicht besser schafft, sich bei serbischen Bevölke- so stark ist, wie es die starken Sympathien und die rungsteilen am Balkan als „großer Freund und Un- Verbundenheit zu Russland in serbisch besiedel- terstützer“ darzustellen und politisch zu behaup- ten Teilen der Region suggerieren würden. Ba- ten. In der Tat, wenn man in serbisch besiedelten chev sieht aber das Hauptproblem woanders, und Gebieten des Balkans die Frage nach der Popula- zwar in lokalen politischen Eliten, die zunehmend rität bestimmter PolitikerInnen stellt, dann sind Nähe zu Russland suchen und durch deren expli- die Sympathien für Russland und Vladimir Putin zite Hinwendung zu Moskau, in der russland-affi- als das Symbol der russischen Vormacht bis heute nen Öffentlichkeit in Serbien und der Republika sehr groß. Die Politiker in Serbien und in der Re- Srpska, ihre politischen Positionen abzusichern publika Srpska suchen im öffentlichen Diskurs versuchen, auch durch eine direkte Positionie- und im politischen Leben die Nähe zu Russland rung gegenüber der EU und NATO. und Putin, so wie im Dezember 2021, als sowohl der serbische Präsident Vučić als auch Milorad Ein weiterer Akteur, der sich in den letzten Jahren Dodik Moskau besuchten und von Vladimir Putin zunehmend als starker Player am Balkan etabliert hat und nun in Zeiten der Corona-Krise in einigen empfangen wurden. Teilen der Region (vor allem in Serbien) rapide an Jenseits der Sympathie steht der direkte politi- Bedeutung gewonnen hat, ist China. Im Fall des sche, ökonomische oder geheimdienstliche Ein- chinesischen Engagements stellt sich die Lage, im fluss Moskaus. In der letzten Zeit gab es mehrere Vergleich zu Russland, etwas anders dar. China Beispiele einer direkten Einmischung Russlands in verfolgte in der Region bislang vor allem strategi- die innenpolitischen Angelegenheiten einzelner sche infrastrukturelle und wirtschaftliche Interes- Staaten in der Region, ob bei den Wahlen in Mon- sen und positionierte sich zumindest nicht direkt tenegro 2016, bei politischen Veränderungen im und explizit als Gegner oder Konkurrent zur EU heutigen Nord Mazedonien 2017 oder auch am und NATO. Die Investitionen Chinas in die Wirt- Beginn der Covid19-Pandemie im Frühjahr 2020. schaften der Region wurden bislang von allen Russland ist auch im Bereich der militärischen Staaten des Balkans willkommen geheißen. Im bzw. Rüstungsunterstützung für Serbien sehr ak- Rahmen der globalen „Belt and Road Initiative“, tiv. gehören die Investitionen in die Infrastruktur von Griechenland über Nordmazedonien, Mon- Insgesamt lässt sich ein zunehmend stärkerer Ein- tenegro und Serbien bis nach Ungarn zu einem fluss Russlands am Balkan nicht leugnen, wenn zentralen Pfeiler der chinesischen Politik. Zu- auch man noch immer die Frage nicht endgültig gleich springt China auch immer öfter als Kredit- beantworten kann, wie substantiell und nachhal- geber für die Staaten der Region ein, ohne im Ge- tig dieser Einfluss ist. Was sich in den rezenten genzug Reformen zu erwarten. Während der Entwicklungen und angesichts der Zuspitzung des Corona-Krise hat es China vor allem in Serbien ge- Konflikts zwischen Russland und dem Westen schafft, sich als systemische Alternative und zent- (siehe Entwicklungen in der Ukraine, auch im raler Akteur zu positionieren. Winter 2021) sagen lässt, ist dass Russland im si- cherheits- und geopolitischen Bereich seinen Ein- Es gab in den letzten Jahren zahlreiche Bedenken, fluss ausgebaut hat und in den letzten Jahren jede dass das chinesische Engagement nicht transpa- Gelegenheit nutzt, sich in die Entwicklungen am rent genug ist, dass die strikten europäischen 5
Der Westen am Westbalkan – Die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region Vergabegesetze und andere rechtliche Normen Aktuelle Entwicklungen – von Krisen nicht eingehalten oder umgangen werden und und Phantomdemokratien dass auf Umweltkriterien oder auch kritische zivil- gesellschaftliche Stimmen gegen große Infra- Betrachtet man die Situation am Westbalkan ge- strukturprojekte nicht eingegangen wird. China gen Jahresende 2021 und am Beginn des Jahres exponierte sich in der Region – zumindest derzeit 2022 ist der erste Eindruck äußerst ernüchternd. – aber kaum politisch und stellte sich keineswegs In Bosnien und Herzegowina spielt das serbische gegen die EU oder die NATO. Ob hinter den wirt- Mitglied des bosnischen Präsidiums und der schaftlichen Interessen, die derzeit dominieren, starke Mann der Republika Srpska (RS), Milorad in der Zukunft nicht auch andere – und hier Dodik, seit Monaten offen mit Feuer. Er droht mit durchaus auch geo-politische – Interessen Chinas Abzug der RS aus gemeinsamen staatlichen Orga- zum Vorschein kommen werden, bedarf es einge- nen, spricht von Sezession, greift das Amt des Ho- hendere Untersuchungen. hen Repräsentanten, den deutschen Christian Schmidt, frontal an. All dies geschieht mit offener Im Zuge der Corona-Krise und mit der demonstra- bzw. stillschweigender Unterstützung aus Russ- tiv zur Schau gestellten Hinwendung des serbi- land und vom serbischen Präsidenten Aleksandar schen Präsidenten Vučić Richtung China passierte Vučić. Aber auch die anderen „Freunde“ von es nun zum ersten Mal, dass China ganz plakativ Dodik und Vučić schauen nicht tatenlos zu. Viktor als Alternative zur EU dargestellt wird. Die zuneh- Orban eilte zu Dodik auf Besuch nach Banja Luka, mende Präsenz und normative Wirkung anderer Dodik flog daraufhin zum slowenischen Minister- Herrschaftsmodelle, die von China, aber auch an- präsidenten Janez Jansa und dann auch gleich deren geopolitisch wichtigen Staaten wie Russ- nach Ankara, um den türkischen Präsidenten land oder der Türkei repräsentiert werden, stellt Erdogan zu sehen. In der Zwischenzeit reiste Alek- die EU und europäische Demokratie als das pri- sandar Vučić nach Moskau, um Vladimir Putin, märe oder das alleinige Role-Model für die Ent- den derzeit in Serbien und der Republika Srpska wicklung der Gesellschaften am Balkan immer bei weitem populärsten internationalen Politiker, deutlicher in Frage. In Zeiten der zunehmenden zu treffen. Bosnien und Herzegowina war eines Autokratisierung einiger Teile Ost- und Südosteu- der Themen. Auch Milorad Dodik bekam eine Au- ropas stellt sich daher die Frage nach der System- dienz bei Putin. Viele Kommentatoren sehen Bos- konkurrenz zwischen China und dem Westen und nien knapp vor dem 30jährigen Jahrestags des Be- damit zwischen einem demokratischen und auto- ginns des Krieges im Jahr 1992 vor neuen Konflik- ritären Role-Model mit aller Deutlichkeit. Auch ten. Internationale Berichte beschreiben Serbien die Europäische Kommission beschreibt China als einen autoritären Staat. Junge und progressive mittlerweile als „systemischen Rivalen“, der alter- Albaner sehen in Edi Rama einen ebenso autoritär native Governance-Modelle fördert;1 und die For- herrschenden Politiker, der zwar geschickter schung ist gefragt zu beantworten, wie mit die- agiert und sich hinter der Demokratiefassade ver- sem in der Praxis umzugehen ist. Damit verbun- steckt, de facto aber die Demokratie in Albanien den ist auch die große Frage nach der Zukunft li- unterminiert. beraler und demokratischer Ordnungen im ge- samteuropäischen Kontext. 1 European Commission, „EU-China – A strategic out- look“, 12.3.2020. Abrufbar unter: https://ec.eu- ropa.eu/info/sites/default/files/communication-eu- china-a-strategic-outlook.pdf. 6
Der Westen am Westbalkan – Die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region Strukturell können wir diese Entwicklung in wei- dem Hinweis weggewischt wird, dass die Protes- ten Teilen der Region als Phantom-Demokratien tierenden eben keine „echten Serben“ seien und bezeichnen, in denen der Anschein der Demokra- dem Land „nichts Gutes“ wollen. tie bewahrt und vorgegaukelt wird, die Praxis des Regierens aber eine autoritäre ist. Charakteristika der Phantomdemokratien ähneln jenen, die wir aus Ungarn von Viktor Orban kennen: man kon- Wie lassen sich politische Verände- trolliert Gerichte und Medien, verbreitet Fake rungen langfristig absichern? News, organisiert nach außen freie Wahlen, die man aber ebenso unter Kontrolle hat, engagiert Neben diesem dominanten Bild von Phantomde- sich in Klientelismus und Vetternwirtschaft, diffa- mokratien am Westbalkan gibt es auch noch das miert die Opposition und unterdrückt Kritik. Die Bild einer doch dynamischen Region, in der wider starken Männer in den Phantom-Demokratien, Erwarten größere politische Veränderungen in die globalen Orbáns, Erdoğans, Putins oder Xis o- den letzten Jahren möglich waren. Die Frage ist der die balkanischen Versionen a la Vučić, Rama, aber, ob diese Fortschritte an den Wahlurnen in Dodik oder Djukanovic, – berufen sich auf Demo- einem explosiven nationalen und regionalen Kon- kratie und Herrschaft des Rechts, beanspruchen text langfristig abgesichert werden können. In den Demokratie-Begriff und monopolisieren da- Nord Mazedonien, jenem Land der Region, in mit den Anspruchs auf Repräsentation. Hier wird dem 2017 der Sturz der autoritären Regierung auch am Balkan das populistische Muster offen- von Nikola Gruevska gelang, steht die Regierung sichtlich. Man gibt vor, alles für das Volk zu tun. des Sozialdemokraten Zoran Zaev Ende des Jah- Dabei wird die Kategorie des Volkes moralisiert res 2021 weiterhin an der Kippe. Das Land, das und ein binärer Code eingeführt, der da immer seinen Namen verändert und zahlreichen An- lautet: wir, die wir an der Macht sind, repräsen- strengungen unternommen hat, um endlich auf tieren das „richtige“, „gute“ Volk – die richtigen den europäischen Zug aufzuspringen und Ver- Serben, Bosniaken, Mazedonier, Albaner. Die an- handlungen mit der EU aufzunehmen, wird nun deren, also die politischen Gegner und insgesamt seit einiger Zeit vom Nachbarland und dem EU- all diejenigen, die uns, die Regierung und die Mitglied Bulgarien auf diesem Weg blockiert. Die Machthaber kritisieren, sind das „falsche“ Volk, EU und die Mehrheit der Mitgliedsstaaten beto- die Verräter des Landes. Diese Moralisierung des nen zwar, dass man Mazedoniern die Aufnahme Volkes verstärkt die Polarisierung der gesamten der Verhandlungen schuldig ist, Härte und Konse- Bevölkerung und schafft nahezu separate Reali- quenz in Bezug auf die bulgarische Blockadepoli- tätssphären, in denen die politischen Gegner und tik lässt man aber bislang (Winter 2021) vermis- ihre Anhänger mit Hass und Verachtung auf die sen. In Montenegro konnte 2020 die Macht der jeweils anderen blicken und von einer tiefen in- nahezu dreißig Jahre regierenden DPS von Milo neren Überzeugung getragen sind, im Recht zu Djukanovic gebrochen werden. Eine neue Regie- sein. Bei der Verkündung so eines fingierten rung konnte gebildet werden, die aber auf Grund Volkswillens wird somit jede real existierende ge- der extremen Polarisierung in der Gesellschaft sellschaftliche Pluralität als Resultat von Verrat, kaum Fuß fasst. Das Land steuert wohl über kurz Manipulation und Irreführung der politischen oder lang auf neue Wahlen im Jahr 2022 zu. Im Gegner denunziert. Die Folgen einer solchen Po- Kosovo ist es Anfang des Jahres 2021 Albin Kurti larisierung sieht man gerade in Serbien, wo seit mit seiner Vetevendosje und seiner Wahlpartne- Ende November 2021 eine neue Welle an Protes- rin, der neuen kosovarischen Präsidentin Vjosa ten von Umweltschützern und Regimekritikern Osmani, gelungen, in freien und demokratischen ausgebrochen ist, die vom Regime bislang mit Wahlen den Sieg davon zu tragen und eine neue 7
Der Westen am Westbalkan – Die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region Regierungskoalition zu bilden, die den Kampf ge- sant und besorgniserregend zugleich ist die Tatsa- gen die Korruption und den Einsatz für die alltäg- che, dass 16% der SerbInnen und 15% der Bewoh- lichen Probleme der Menschen in den Mittel- ner von Nord Mazedonien sich dafür ausspre- punkt stellt. Einfach ist es nicht und die großen Er- chen, dass man auf den EU-Beitrittsprozess kom- folge bleiben in der Pandemie bislang aus. Um plett verzichtet. den Dialog zwischen Serbien und dem Kosovo ist es sehr schlecht bestellt, am Beginn des Herbstes eskalierte die Situation im Norden des Kosovo Pragmatische EU-Erweiterungspolitik kurzfristig. Die EU schuldet dem Kosovo auch im Jahr 2021 die versprochene und eigentlich längst und negative Folgen davon verdiente Visa-Liberalisierung, deren Ausbleiben Dieses Bild zeigt eines ganz deutlich – die EU ist dem Ansehen der Union im Kosovo schadet. weiterhin ein wichtiger Akteur am Balkan aber Dennoch, die albanisch sprachige Bevölkerung kein alleiniger. Die weiterhin vorhandenen EU- der Region bleibt der EU verbunden. Die Unter- Hoffnungen in einigen Teilen der Region treffen stützung für eine potentielle EU-Mitgliedschaft ist auf steigenden EU-Skeptizismus und dem Zweifel in den albanisch besiedelten Gebieten des West- daran, dass der Beitritt zur Union überhaupt je- balkans am stärksten und beträgt in Albanien 94% mals stattfinden wird. Die EU-Erweiterungspolitik bzw. im Kosovo 90%. Auch in Bosnien und Herze- befindet sich seit längerer Zeit in einem Dämmer- gowina und Montenegro mit jeweils 83% sowie in zustand. Man bekräftigt noch immer rhetorisch Nord Mazedonien mit 79% überwiegt ein weiter- die Perspektive des Westbalkans auf einen Betritt hin starker positiver Bezug zum EU-Beitritt. In Ser- in der EU, hinter den Kulissen wird aber heftig da- bien, dem Land mit stärksten Autokratisierungs- rum gerungen, dass man diese Perspektive auf- tendenzen am Balkan und mit einer grundsätzli- rechterhält. Die zentrale Antriebsfeder dafür ist chen außenpolitischen Orientierung, die stets derzeit vor allem die Sorge vor einem stärkeren zwischen der EU und den USA einerseits sowie Einfluss Russlands, der Türkei oder Chinas in der China und Russland andererseits laviert, sieht es Region. Überhaupt wird die Notwendigkeit der hingegen ganz anders aus. Hier sind es im Herbst Beitrittsperspektive und des Engagements der EU 2021 nur 53% der Befragten, die einen möglichen am Westbalkan seit einigen Jahren nur noch äu- EU-Beitritt Serbiens unterstützen. Interessant ßerst pragmatisch begründet – wenn wir als sind auch die Antworten auf die Frage, welche Union uns am Balkan nicht engagieren, sind an- Form der Assoziation mit der EU in der Zukunft dere geopolitische Player da, bricht der von der angestrebt werden soll. Die Option der Vollmit- EU forcierte Damm gegen Flucht und Migration gliedschaft ist für alle Staaten mit Ausnahme Ser- zusammen, neue Konflikte drohen und über- biens die attraktivste. Im Kosovo und in Albanien haupt wird dann Unsicherheit nach Kerneuropa befürworten 75% bzw. 69% diese Option, in Bos- transportiert, lauten einige der gängigen Argu- nien und Herzegowina und Montenegro jeweils mente. Unlängst hat sich die EU beim Westbalk- 59% sowie 44% in Nord Mazedonien. In Serbien angipfeltreffen in Slowenien durchgerungen, die sind es nur 28% der Bevölkerung. In Serbien hin- EU-Perspektive zu versprechen, die man schon gegen ist mit 40% die Option einer engeren An- vor 18 Jahren in Thessaloniki versprochen hat. bindung an die EU bzw. einer engeren Wirt- Diese lauwarme EU-Erweiterungspolitik wird be- schaftsintegration die Option Nr. 1. Im Kosovo ist gleitet von einer Beschwichtigungsrhetorik in dies nur für 8% der Bewohner interessant, in an- Richtung jener Autokraten in der Region, die deren Staaten sind es jeweils in etwa 20% der Be- selbst einen großen Anteil an der Schwächung der völkerung, die diese Option bevorzugt. Interes- EU-Integration in ihren Ländern haben. Dies ist in 8
Der Westen am Westbalkan – Die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region den letzten Monaten vor allem in Bezug auf Ser- den prowestlichen Staaten und Nationen am bien und den serbischen Präsidenten Aleksandar Westbalkan und hier vor allem in Bosnien und Vučić sichtbar gewesen. Angela Merkel besuchte Herzegowina und im Kosovo die Hoffnung ge- im September 2021 ausgerechnet Vučić und dann nährt, dass sich die USA stärker auf die Seite des Edi Rama in Albanien. Ursula von der Leyen be- Gesamtstaates Bosnien bzw. der Kosovo-Albaner suchte Ende September die Region und fand aus- stellen würde. Vor allem setzte man darauf, dass gerechnet in Belgrad beim „lieben Aleksandar“ lo- die Biden-Administration die von Trump ge- bende Worte für die angeblichen Reformfort- pflegte engere Beziehung zu Vucic und zu Serbien schritte Serbiens bei der Rechtsstaatlichkeitsre- nicht mehr als prioritär betrachten und sogar form. Bei dieser Art der Politik spricht man in den Druck auf den autoritär regierenden Vucic ausü- akademischen und Policy-Kreisen von einer Poli- ben wird. Allerdings ist auch die neue US-Admi- tik der Stabilitokratie – für die Stabilität in der Re- nistration mit der neuen konflikthaften geopoliti- gion ist man bereit, faule Kompromisse mit herr- schen Konstellation konfrontiert, die die Bezie- schenden Eliten einzugehen und auch eigene eu- hung USA-China und das Verhältnis Russland-USA ropäische Werte und Werte der Demokratie zu als zentrale globale Herausforderungen sieht. opfern. Kurzum, solcher Pragmatismus im Um- Diese beiden Konstellationen sind auch – wie im gang mit Autokraten ist das letzte, was die EU Verlauf der Studie geschildert – am Westbalkan derzeit benötigt. abgebildet. Zur Politik der Stabilitokratie kommen auch Prob- Die erste große Krise und damit auch Prüfung für leme innerhalb der EU selbst. Just wenige Tage die Politik der neuen Administration war die aktu- vor dem Gipfeltreffen in Slowenien wurden Ge- elle Krise in Bosnien-Herzegowina. Die USA rea- rüchte über Missstände in der zuständigen Erwei- gierten auf die ersten Drohungen von Dodik recht terungsabteilung der EU-Kommission publik. Der verhalten und blieben bei rhetorischen Ermah- ungarische Erweiterungskommissar und ehemals nungen. Der EU-amerikanische Sonderbeauf- enger Mitarbeiter von Viktor Orban, Oliver Ver- tragte für die Frage der Wahlrechtsreform in Bos- helyi, soll den Lieblingspartner des ungarischen nien-Herzegowina, Mathew Palmer, versuchte Premierministers in der Region, nämlich Serbien, mit der EU, einen Kompromiss in dieser Frage zu bevorzugt behandelt haben. Verhelyi, der von ei- finden, allerdings folgte man hier sehr stark dem nem EU-Mitarbeiter anonym als „Valdemort of Diktat der großen ethno-nationalen Parteien und enlargement“ bezeichnet wird, scheint sich sei- vor allem der kroatischen HDZ. Die Initiative ner Sache recht sicher zu sein. scheiterte am gesamtstaatlichen Konsensus, so dass die Mitte Dezember geplante neuerliche Die USA haben nach dem Machtwechsel auch Mission von Palmer und der europäischen hohen eine neue außenpolitische Schwerpunktsetzung Beamtin Angelina Eichhorst abgesagt wurde. In vorgenommen, in der der Westbalkan wieder – der Zwischenzeit installierten die USA einen zumindest deklarativ – eine wichtige Rolle ein- neuen Beauftragten für den gesamten Westbal- nimmt. Der US-amerikanische Präsident Biden kan, Gabriel Escobar, der im Herbst und Winter kennt die Region sehr gut und sieht sie in der Ein- 2021 mehrmals die Region bereiste und sich hier flusszone des Westens. Viele enge Mitarbeiter insbesondere auf die Lösung der politischen Krise von Biden inkl. des neuen Secretary of State in Bosnien fokussierte. Da Milorad Dodik mit sei- Anthony Blinken kennen die Konstellationen am ner SNSD die Eskalation sucht und dabei von Westbalkan sehr genau. Diese Nähe und Kenntnis Russland unterstützt wird, ist der lokale Konflikt der Region sowie bewusste Abkehr von errati- gewissermaßen ein Teil der globalen Konflikt- scher Außenpolitik der Trump-Ära in der Region konstellation zwischen Russland und dem Wes- haben am Beginn der Biden-Präsidentschaft bei ten geworden. Die USA kündigen Ende des Jahres 9
Der Westen am Westbalkan – Die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region 2021, gemeinsam mit Großbritannien aber auch Kriegsrhetorik wie jener von Milorad Dodik Sank- der neuen deutschen Regierung sowie Staaten tionen in Betracht ziehen muss, dass man bei Re- wie Niederlande, neue Sanktionen gegen Dodik pression gegen Protestierende wie derzeit in Ser- und seine Strukturen in der RS an. Dies ist ein star- bien deutliche Worte an Vučić richten muss und kes Zeichen der transatlantischen Kooperation, dass man generell rote Linien bei Verletzungen die aber in der Umsetzung auf Widerstand stößt. der Rechtsstaatlichkeit und der Grundfreiheiten Ungarn z.B. kündigte auf der EU-Ebene ein Veto ziehen wird müssen. Auch in Bezug auf die neuen gegen Sanktionen der EU gegen die RS an. Das globalen autoritären Widersacher der EU und des russische Außenministerium kündigte ebenfalls Westens wie Russland und China muss man sich an, dass der Westen im Falle der Sanktionen ge- dessen bewusst sein, dass diese – und hier vor al- gen die RS mit starken Gegenreaktionen rechnen lem derzeit Russland – den Westbalkan als eine müsse. Gewiss wird man seitens der USA inmitten Region sehen, wo man einen offenen Kampf ge- der heißen Phase im Konflikt mit Moskau wegen gen die EU, die USA und liberale Demokratien des der Ukraine stark überlegen, wie man in der klei- Westens wagt. Die EU und die USA müssen an ei- neren aber ebenso wichtigen Konstellation am nem Strang ziehen, liberale Demokratien aber Westbalkan agiert und ob man hier einen deutli- auch eigene Interessen in einer genuin europäi- cheren Ton gegen Russland einstimmten möchte. schen Region verteidigen, wo man in den letzten drei Jahrzehnten so viel investiert hat und auch eine direkte Verantwortung für die Sicherheit der Chancen und Möglichkeiten für eine Staaten wie Bosnien und Kosovo übernommen hat. Ein Scheitern des Westens am Balkan hätte neue progressive Politik des Westens globale Konsequenzen. und der EU am Westbalkan Im Bereich der Erweiterungspolitik, die meiner „Entweder wir kämpfen für den Rechtsstaat oder Meinung nach weiterhin der einzige politische wir kennen ihn bald nur mehr aus Büchern oder Prozess ist, der eine demokratische und positive anderen Ländern“, schrieb der Jurist Oliver Zukunftsvision für die Region darstellt, braucht es Schreiber unlängst auf Twitter. Der Showdown auch einer offensiven Neuorientierung. Es ist an mit Polen wird die EU auch in den nächsten Wo- der Zeit, einen neuen Konsens innerhalb der chen und Monaten begleiten. Die Erweiterungs- Union zu suchen und einen abgestuften Integrati- debatte hingegen wird nach dem jüngsten West- onsplan zu erarbeiten, der Fortschritte belohnt balkangipfel und den neuen Berichten der Kom- und Reformverweigerung und Verletzungen der mission, die im Oktober 2021 vorgestellt wurden, europäischen Werte bestraft. Bei den Entschei- bald wieder an den Rand europäischer Debatten dungsmechanismen im Bereich der EU-Erweite- verdrängt werden. Was aber im Fokus bleiben rungspolitik sollte man sich zum Prinzip der Mehr- wird, sind jene akuten Probleme, die derzeit die heitsentscheidungen im Rat durchringen. Letzt- Region prägen und immer wieder an den Rand lich muss man auch innerhalb jener Teile des EU- der Gewalt bringen. Hier denke ich derzeit vor al- Apparats, die den Erweiterungsprozess steuern, lem an Bosnien und Herzegowina, an den „kalten begleiten und unterstützen – konkret im Direkto- Krieg“ zwischen Belgrad und Prishtina und auch rat für Erweiterung und Nachbarschaft DG NEAR an die extreme Polarisierung und die zunehmend – alles daran setzen, dass es einen objektiven, repressive Politik des Regimes in Belgrad gegen nachvollziehbaren und an demokratischen Werte jene Teile der Bevölkerung, die sich dem Regime orientierten Grundkonsens über die Arbeitsweise kritisch gegenüberstellen. Hier wird sich die EU gibt, der von höchsten Beamten und auch Kom- unmissverständlich positionieren müssen. Im missären nicht in Frage gestellt werden darf. Konkreten bedeutet dies, dass man bei der 10
Der Westen am Westbalkan – Die EU und die USA zwischen neuen geopolitischen Herausforderungen und der Frage nach der Zukunftsvision für die Region Am Ende und noch wichtiger ist es sowohl im Os- Staaten der Region, wo wir nicht nur Zeugen von ten- als auch im Südosten Europas nicht zu ver- Massenprotesten sondern auch von vielen loka- gessen, dass Orbán, Kaczyński, Janša oder Vučić len Initiativen von mutigen BürgerInnen sind, die eben nicht das sind, was sie ständig in ihrer popu- gegen die Luftverschmutzung und Umweltzerstö- listisch-moralisierenden Rhetorik behaupten – rung, für den freien öffentlichen Raum, gegen die alleinigen Vertreter des Volkes. Es gibt ein an- Korruption und Willkür der Behörden oder für Ar- deres Polen, Ungarn, Serbien oder Slowenien. So beiterInnenrechte kämpfen. Neue solidarische viele BürgerInnen in all diesen Staaten kämpfen Allianzen mit all diesen Bewegungen und Bürge- tagtäglich für Demokratie, tragen die Fahne der rInnen am Westbalkan zu schmieden wäre der Rechtsstaatlichkeit und der Emanzipation vor beste Dienst, den die EU und der Westen an die sich, setzten sich zur Wehr gegen die populistisch- Region leisten könnten.i autoritären Wende. Im Herbst und Winter 2021 zeigen das zahlreiche BürgerInnen in Serbien aber auch in Bosnien und Herzegowina und anderen i Diese Kurzanalyse baut zum Teil auf Überlegungen des Autors, die in der Zeitschrift „International“ im Verlauf des Jahres 2021 veröffentlicht wurden. 11
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