Dialog Handwerk Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks am 18. Januar 2018 Innovation und Wettbewerb in digitalen Zeiten Land der ...

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Dialog Handwerk

Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen
Handwerks am 18. Januar 2018

Innovation und Wettbewerb
in digitalen Zeiten

Land der Chancen – Neue Wege in der
Migrations- und Integrationspolitik

                   01 | 2018
Schriftenreihe:
Dialog Handwerk 1 | 2018

Herausgeber:
Handwerk.NRW e. V.

Verantwortlich:
Josef Zipfel

Stenografische Protokollierung und Rednerkorrekturen:
Günter Labes

Bilder:
Wilfried Meyer

Gestaltung:
Jessica Handke
Innovation und Wettbewerb
in digitalen Zeiten

Land der Chancen – Neue Wege in
der Migrations- und Integrationspolitik

Dreikönigstreffen 2018
des nordrhein-westfälischen
Handwerks

Dokumentation des Dreikönigsforums mit

Andreas Ehlert
Prof. Dr. Justus Haucap
Sebastian Grethe
Prof. Dr. Frank Czaja
Prof. Dr. Hans Jörg Hennecke
Hans-Joachim Hering
Holger Steltzner, Moderator

und des Dreikönigsessens mit

Andreas Ehlert
Wolfgang Kirsch
Dr. Joachim Stamp MdL,
stellvertretender Ministerpräsident des Landes NRW und
Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration

in der DZ BANK AG
Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank
Ludwig-Erhard-Allee 20, Düsseldorf
am Donnerstag, 18. Januar 2018

Dialog Handwerk 1 | 2018
Inhalt

3    Zum Geleit

4    Dreikönigsforum
     Begrüßung
     Andreas Ehlert
     Präsident HANDWERK.NRW

9    Podiumsdiskussion

     Professor Dr. Justus Haucap
     Direktor des Duesseldorf Institute for Competition Economics (DICE) der
     Heinrich-Heine-Universiät Düsseldorf

     Sebastian Grethe
     Mitgründer und Geschäftsführer der Mapudo GmbH

     Professor Dr. Frank Czaja
     Professor für Technische Logistik an der SRH Hochschule für Logistik und Wirt-
     schaft Hamm

     Professor Dr. Hans Jörg Hennecke
     Geschäftsführer HANDWERK.NRW

     Holger Steltzner, Moderation
     Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)

33   Schlusswort
     Hans-Joachim Hering
     Vizepräsident HANDWERK.NRW

36   Dreikönigsessen
     Begrüßung und Einführung
     Andreas Ehlert
     Präsident HANDWERK.NRW

41   Grußwort
     Wolfgang Kirsch
     Vorstandsvorsitzender der DZ BANK AG Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank

45   Festansprache
     „Land der Chancen –
     Neue Wege in der Migrations- und Integrationspolitik“
     Dr. Joachim Stamp MdL, stellvertretender Ministerpräsident des Landes NRW
     und Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration

53   Bisherige Veröffentlichungen
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

Zum Geleit

Unser diesjähriges Dreikönigsforum stand im Zeichen von zwei Mega-Themen, die uns gerade
im Handwerk intensiv beschäftigen und noch lange begleiten werden.

Wenn im politischen Raum von Digitalisierung die Rede ist, denkt man oft an Start-ups mit
cleveren Plattformideen und an eine neu aufblühende Digitalwirtschaft, vielleicht auch noch
an „Industrie 4.0“ mit ihren digitalen Produktionsprozessen. Aber das Thema revolutioniert
die Wirtschaft in allen Bereichen. Auch das Handwerk ist betroffen. Und mehr als das: Hand-
werk ist Ausrüster und Dienstleister für „Industrie 4.0.“, es bringt eigene Innovationen voran,
es positioniert sich mit neuen Angeboten auf dem Markt, es entwickelt seine Berufsbilder und
seine Qualifikationsangebote dynamisch weiter. Gerade bei uns in Nordrhein-Westfalen setzt
das Handwerk selbstbewusst auf Innovation, es will nicht nur verändert werden, es will selber
Veränderungen anstoßen und mitgestalten, es will die Chancen der Digitalisierung ergreifen.
Dafür ist es aber auf ordnungspolitische Rahmenbedingungen angewiesen, die dafür sorgen,
dass die Digitalisierung den Wettbewerb belebt, aber nicht eingeschränkt wird. Schon an der
Frage „Wem gehören die Kundendaten?“ entscheidet sich, ob für das Handwerk beispielsweise
in der Haus- und Gebäudetechnik, im Kfz-Gewerbe oder im Gesundheitsgewerbe offene Märkte
gewährleistet werden. Unsere Podiumsdiskussion am Nachmittag beleuchtete auf lebendige
Weise Chancen und Gefahren der Digitalisierung und ging auch auf ordnungs- und innovati-
onspolitische Rahmenbedingungen ein.

Der Abend war dem nicht minder drängenden Thema Integration gewidmet. Viele Zuwanderer
sind seit 2015 zu uns gekommen, viele von ihnen werden bleiben. Wenn wir wollen, dass die
Integration dieser Menschen gelingen soll, verlangt das den guten Willen beider Seiten. Gerade
die jungen Menschen, die zu uns gekommen sind, müssen wir durch passgenaue Bildungsange-
bote, zu denen zuallererst Werteerziehung und Sprachförderung gehören, auf eine Ausbildung
vorbereiten. Ebenso großer Anstrengungen bedarf es, sie erfolgreich durch die Ausbildung
zu führen und ihnen Kompetenzen zu vermitteln, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind. Der
Weg über Bildung und Arbeitsmarkt ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass kulturelle
Integration gelingt. Wir im nordrhein-westfälischen Handwerk haben das zu unserer Aufgabe
gemacht. Allein aus den acht wichtigsten Herkunftsländern der Flüchtlinge befanden sich Ende
2017 rund 2000 in einer Ausbildung. Innungen, Fachverbände und Kammern tun viel dafür,
dass aus möglichst jedem Fall eine Erfolgsstory wird. Man kann lange darüber streiten, ob der
Islam zu Deutschland gehört. Entscheidend ist am Ende, ob die, die bleiben dürfen, zu Deutsch-
land gehören wollen. Wir finden: Wer sich für eine Ausbildung entscheidet und mit einer guten
Qualifikation im Berufsleben Fuß fassen will, ist auf dem richtigen Weg. Denn bei uns im Hand-
werk kommt es nicht darauf an, woher jemand kommt, sondern wohin er will.

Düsseldorf, im Mai 2018

HANDWERK.NRW

Andreas Ehlert						Dipl.-Volksw. Josef Zipfel
Präsident						Hauptgeschäftsführer

                                                                               Dialog Handwerk 1 | 2018      3
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

    Dreikönigsforum
    Begrüßung                                                      Lieber Herr Kirsch, dieses Dreikönigsforum ist
                                                                   immer eine wunderbare Gelegenheit, die Ge-
                                                                   meinsamkeiten zwischen dem Genossenschafts-
    Andreas Ehlert,                                                wesen – insbesondere auch den Genossenschafts-
    Präsident HANDWERK.NRW                                         banken – und dem Handwerk herauszustellen. Es
                                                                   gibt eine sehr lange gemeinsame Tradition. Auch
    Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es                      Sie feiern in diesem Jahr „200 Jahre Friedrich
    ist eine wunderschöne Tradition, dass sich das                 Wilhelm Raiffeisen – Der großartige genossen-
    nordrhein-westfälische Handwerk einmal im                      schaftliche Leitgedanke“. Insofern ist das heute
    Jahr in der DZ BANK versammelt, um gemein-                     eine schöne Gelegenheit, noch einmal deutlich
    sam sein Dreikönigsforum abzuhalten, das Drei-                 zu machen, dass uns viele gemeinsame Themen
    königsabendessen einzunehmen und in diesem                     verbinden. Ich denke bei den Genossenschafts-
    Haus seine Gremiensitzungen durchzuführen.                     banken etwa an die Themen der Geldpolitik, der
                                                                   Bankenregulierung, der Unternehmensfinanzie-
    Heute begrüße ich eine „Persönlichkeit“, die                   rung und der sozialen Vorsorge. Bei diesen The-
    „Friederike“ heißt, die zwar nicht in diesem Saal              men haben wir gemeinsame Positionen, die wir
    anwesend ist, aber ziemlich viel Unheil angerich-              auch im politischen Raum zusammen vertreten
    tet hat. Sie aber sind gekommen. Das soll nicht                sollten.
    zu Ihrem Schaden sein. Wir werden gemeinsam
    eine wunderschöne Veranstaltung erleben.                       Ein Dank geht auch an unseren Präsidenten
                                                                   des Zentralverbandes des Deutschen Hand-
    Mir ist soeben von Herrn Kindermann gesagt                     werks, Hans Peter Wollseifer, unserem ersten
    worden, dass es heute Morgen mächtig gestürmt                  Handwerker in Deutschland. Ihn begrüße ich
    habe. Dachziegel seien vom Dach gefallen. Er                   stellvertretend für all die Präsidenten, Landes-
    habe seinen Dachdecker angerufen, der inner-                   innungsmeister und Obermeister aus unseren
    halb von zwei Stunden da gewesen sei. Ich ver-                 Handwerkskammern, Zentralfachverbänden, Lan-
    mute, dass das der gleiche Dachdecker gewesen                  desinnungsverbänden, Kreishandwerkerschaften
    ist, der mir dann eine Mail geschickt hat, mit dem             und Innungen.
    Inhalt: „Hör mal, die Kunden rufen ohne Ende
    an. Ich kann nicht kommen.“                                                         (Beifall)

    Also: Alles, was oberhalb der Dächer arbeitet, hat             Dass der Arbeitstag von Hans Peter Wollseifer
    für heute absagen müssen und ist nicht bei die-                seit der Bundestagswahl in Berlin nicht mehr ent-
    sem Forum. Sie aber sind da, worüber ich mich                  spannt ist, muss ich wohl niemandem erzählen.
    sehr freue.                                                    Erst kam die Niedersachsenwahl. Anschließend
                                                                   folgten die Jamaika-Sondierungen. Danach ka-
    Mein erster Gruß und Dank gilt dem Hausherrn,                  men die Sondierungen für eine Große Koalition.
    Wolfgang Kirsch, dem Vorstandsvorsitzenden                     Was am Sonntag geschieht – darüber hat er eben
    der DZ BANK. Lieber Herr Kirsch, vielen Dank,                  im Vorstand berichtet –, ist anscheinend völlig
    dass wir auch heute wieder bei Ihnen im Haus                   offen.
    unser Dreikönigsforum und unsere Gremiensit-
    zungen abhalten dürfen. Ich bitte Sie, unseren                 Für uns im Handwerk ist es gut zu wissen, dass
    Dank an all Ihre Mitarbeiterinnen und Mitar-                   in Berlin ein Mann für Mittelstand und Hand-
    beiter weiterzugeben, die sich fürsorglich und                 werk unterwegs ist, der ein Standing hat, der
    professionell im Hintergrund darum kümmern,                    über die entsprechende Vernetzung verfügt und
    dass wir uns bei Ihnen wohlfühlen.                             der in der Lage ist, die Themen zu setzen, die
                                                                   für Mittelstand und Handwerk in Berlin wichtig
    Sie sind aus Frankfurt gekommen, um einige                     sind. Auch wenn es gelegentlich nur dazu dient,
    Stunden am heutigen Nachmittag und Abend                       den größten Unfug zu vermeiden. Das ist Dir
    mit uns zu verbringen. Darüber freuen wir uns                  gelungen. Wir wünschen Dir vom nordrhein-
    sehr. Danke schön, lieber Herr Kirsch!                         westfälischen Handwerk auch für das Jahr 2018
                                                                   viel Kraft und Gesundheit für die Wahrnehmung
                               (Beifall)                           dieser wichtigen Aufgabe für Mittelstand und

4   Dialog Handwerk 1 | 2018
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

Handwerk in Berlin. Schön, dass Du da bist, Pe-      Ich freue mich sehr, dass wir Vertreter befreun-
ter.                                                 deter Kammern und Institutionen begrüßen kön-
                                                     nen. Ich nenne die Industrie- und Handelskam-
                     (Beifall)                       mern, die Architektenkammer und die weiteren
                                                     Freien Berufe. Ganz besonders freue ich mich,
Für die Institutionen, die dem Handwerk sehr         dass der Präsident der Industrie- und Handels-
nahe stehen, darf ich zwei Persönlichkeiten be-      kammer zu Düsseldorf, Andreas Schmitz, bei uns
grüßen, die die DNA des Handwerks in sich            ist. Herzlich willkommen, lieber Herr Schmitz.
tragen. Von der SIGNAL IDUNA Gruppe begrü-           Schön, dass Sie dabei sind. Ich kenne Ihren en-
ße ich den Aufsichtsratsvorsitzenden Reinhold        gen Terminplan.
Schulte und den Vorstandsvorsitzenden Ulrich
Leitermann. Es ist wunderbar, dass Sie beide die     Ich war bei Ihrer Jahreseröffnungsveranstaltung.
Zeit finden – wir haben gerade schon gemeinsam       Ich weiß, Sie sind ein Mann der klaren Worte. Mir
die Vorstandssitzung wahrgenommen –, an die-         hat das sehr gut gefallen. Sie haben eine wichti-
ser Diskussionsveranstaltung teilzunehmen. Ich       ge Diskussion in Düsseldorf in Gang gesetzt, die
kann Ihnen im Grunde das Gleiche sagen, was          lange noch nicht abgeschlossen ist. Schön, dass
ich schon zum Genossenschaftswesen gesagt            Sie die Zeit für die Teilnahme hier gefunden ha-
habe: Uns verbindet so viel, dass wir diese Ge-      ben.
meinsamkeiten auch in öffentlichen Veranstal-
tungen immer wieder postulieren müssen. Wenn         Ansonsten muss ich etwas vorsichtig mit Begrü-
ich sehe, dass wir in Zeiten leben, in denen die     ßungen sein, weil der eine oder andere entweder
private Vorsorge für das Alter oder für Krankheit    im Laufe des Nachmittags oder spätestens zum
auf dem Altar des Populismus geopfert wird,          Abendessen hinzukommt. Angemeldet haben
dann erscheint es mir wichtiger als je zuvor, dass   sich der handwerkspolitische Sprecher der CDU-
wir ganz eng beieinanderstehen, um diesen Un-        Landtagsfraktion, Matthias Goeken, und der
sinn, wo immer die Möglichkeit besteht, laut-        wirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Land-
stark anzuprangern.                                  tagsfraktion, Ralph Bombis, verschiedene Abge-
                                                     ordnete und Mitglieder der Enquetekommission,
                     (Beifall)                       die hoffentlich alle nach und nach eintrudeln

                                                                                       Dialog Handwerk 1 | 2018      5
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

    werden. Wir werden sicher Gelegenheit haben,                   Lieber Peter Eul, ich komme darauf, weil auch
    miteinander zu sprechen.                                       die Friseure oder Kosmetiker am Ende natürlich
                                                                   von Digitalisierung berührt sind. Gerade hat ein
    Bekanntlich gibt es nichts Langweiligeres als Be-              großes Düsseldorfer Familienunternehmen, das
    grüßungen. Vor allem ist es immer dann beson-                  sein Geld auch mit dem Verkauf von Wasch-
    ders langweilig, wenn man selber nicht begrüßt                 mitteln und Haarshampoo verdient, eine Gerät-
    wird. In diesem Fall gibt es zwei Möglichkeiten.               schaft entwickelt, mit der Friseure die Haare ih-
    Ich entscheide mich jetzt für die zweite. Ich heiße            rer Kunden scannen, diese dann analysieren und
    Sie alle noch einmal sehr herzlich willkommen                  anschließend ein persönliches Shampoo zusam-
    beim Handwerk.                                                 menmischen können. Ich will damit sagen, dass
                                                                   die Digitalisierung wirklich alle Bereiche in der
    Wir haben uns heute ein spannendes Thema vor-                  gesamten Bandbreite berührt. Das ist dann viel-
    genommen. Ich bitte Sie, gleich nicht nur die Teil-            leicht auch eine Chance für uns.
    nehmer auf dem Podium diskutieren zu lassen,
    sondern sich auch selbst mit Ihrem Fachwissen                  Zweitens. Es ist verständlich, dass die Politik von
    einzubringen. Hier sitzt aus den einzelnen Fach-               dieser Start-up-Kultur begeistert ist. Das meine
    bereichen sehr viel Kompetenz. Ich bitte, Ihre                 ich gar nicht despektierlich. Es ist wunderbar,
    Themen und Wünsche auch an die Podiumsteil-                    dass wir ein hohes Innovationspotenzial durch
    nehmer heranzutragen, um dann miteinander                      Gründungen haben und viel Kreativität neu in
    diskutieren zu können.                                         die Märkte kommt. Aber am Ende geht es bei
                                                                   kluger Wirtschaftspolitik nicht nur darum, Rah-
    Aufgerufen haben wir das Thema „Innovation                     menbedingungen für einzelne Unternehmen zu
    und Wettbewerb in digitalen Zeiten“. Das ist für               verbessern. Wir müssen immer dafür sorgen,
    das Handwerk ein hochspannendes Thema. Es                      dass wir faire Wettbewerbsbedingungen für alle
    gibt keine politische Partei mehr, die das Thema               Unternehmen am Markt haben – ob es sich um
    nicht für sich entdeckt hätte. Hinter Glasfaser-               Neugründungen handelt oder um bestehende
    ausbau – Kupferkabel sind mittlerweile komplett                Betriebe. Es darf keine Begünstigungen und kei-
    out – und glänzender, hochinnovativer Start-up-                ne Privilegierungen für einzelne Formen von Un-
    Kultur schart sich jeder Politiker gerne. Das ist              ternehmen geben.
    auch für das Handwerk wichtig.
                                                                   In der „Neuen Zürcher Zeitung“ ist vor einiger
    Bevor wir in die Diskussion einsteigen, möchte                 Zeit hierzu die Gretchenfrage gestellt worden:
    ich ganz wenige Punkte vorweg nennen, um sie                   Nützt eine geplante Maßnahme auch einem seit
    schon ein wenig „aufzuwärmen“.                                 zwanzig Jahren hart arbeitenden Bäckermeister
                                                                   oder einer Werkzeugmanufaktur?
    Erstens. Bei der Digitalisierung geht es nicht
    nur um die Digitalwirtschaft. Am Ende geht es                  Das finde ich, ist die richtige Frage. So richtig es
    nämlich um die Realwirtschaft in ihrer gesamten                ist, dass wir Gründungen durch Digitalisierung
    Bandbreite. Man muss dafür nicht den Versiche-                 vereinfachen, so richtig es ist, dass wir ein büro-
    rungsbereich oder den Bankenbereich bemühen.                   kratiefreies erstes Jahr schaffen wollen – was ma-
    Ein Blick ins Handwerk selbst reicht. Die Digitali-            chen wir eigentlich mit dem zweiten, dritten oder
    sierung durchdringt alle Märkte des Handwerks.                 vierten Jahr? –, so wichtig ist es aber auch, dass
                                                                   Unternehmen während ihrer gesamten Lebens-
    Im Baubereich etwa soll „Building Information                  dauer am Markt von unnötigen Dokumentati-
    Modeling“ für den Bau- und Liegenschaftsbe-                    onspflichten entlastet werden, dass sie von be-
    trieb Nordrhein-Westfalen oder für Straßen.NRW                 schleunigten Genehmigungsverfahren und von
    ab dem Jahr 2020 verpflichtend werden. Im Kfz-                 E-Government profitieren können. Es muss wäh-
    Bereich führen die neuen Technologien enorme                   rend der gesamten Lebensdauer eines Betriebes
    Veränderungen herbei. Das gilt auch für die Ge-                am Markt gleiche Wettbewerbsbedingungen ge-
    sundheitswirtschaft. Im gesamten Bereich des                   ben. Ich denke, die neue Landesregierung – das
    Handwerks ist das so.                                          sei nebenbei gesagt – ist hier auf einem ziemlich
                                                                   guten Weg.

6   Dialog Handwerk 1 | 2018
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

Drittens. Digitalisierung verändert natürlich auch    tische Distanz erhalten und nicht nur unkritisch
die Anforderungen an unsere Betriebe, verändert       mit reiner Technikeuphorie auf diese Verände-
die Anforderungen, die die Marktteilnehmer an         rungen schauen. Wir sollten nicht alles, weil es
uns als Unternehmer stellen, und verändert die        digital ist, als besser und richtig empfinden. Ein
Anforderungen an unsere Mitarbeiter. Im Kern          bisschen Nüchternheit gehört dazu.
gibt es darauf eine ganz einfache Antwort. Diese
heißt „Qualifizierung“. Wir kommen nicht um-          Es gibt von Konrad Adenauer einen wunder-
hin, die Menschen für die neuen Herausforde-          schönen Spruch, den Sie alle kennen – zumin-
rungen zu qualifizieren, die sich am Markt und        dest haben wir ihn alle schon mal auf irgendei-
in den Unternehmen ergeben. Wir müssen die            ner Postkarte gelesen –: „Die Wirtschaft soll dem
Schulabgangsreife und die Ausbildungsreife der        Menschen dienen, nicht der Mensch der Wirt-
Schulabgänger verbessern. Wir müssen schauen,         schaft.“ Das kann man eins zu eins auf Digitali-
dass unsere Berufsschulen vernünftig ausgestat-       sierung übertragen. Am Ende soll Digitalisierung
tet sind, ferner die überbetrieblichen Werkstätten    den Menschen dienen, sie soll für uns vieles ver-
des Handwerks, dass wir genügend Berufsschul-         einfachen. Wir sollten die Chancen sehen und die
lehrer haben, dass nicht fachfremd unterrichtet       Möglichkeiten nutzen, die sich daraus ergeben.
wird, dass es keinen Unterrichtsausfall in den
Schulen gibt. All diese Punkte sind enorm wich-       Ich will das an dem Beispiel des autonomen Fah-
tig, damit junge Menschen nach ihrer Ausbildung       rens deutlich machen: „Autonomes Fahren“ be-
für die Arbeitsmärkte qualifiziert sind. Auf dieses   deutet auf der einen Seite, dass wir vermutlich
Fundament von qualifizierten jungen Menschen          bessere Verkehrsflüsse haben werden. Das be-
können wir dann auch hochinnovative Angebote          deutet auch, dass es vermutlich weniger Unfälle
der Fort- und Weiterbildung aufsetzen.                geben wird. Auf der anderen Seite bedeutet auto-
                                                      nomes Fahren auch, dass uns ein Stück weit Au-
Viertens. Wenn Märkte durch Digitalisierung           tonomie genommen wird. Das heißt, bestimmte
verändert werden, sollten wir genau hinschauen.       Entscheidungen treffen nicht mehr wir, sondern
Ist es wirklich so, dass Digitalisierung immer und    trifft irgendeine künstliche Intelligenz. Wir müs-
jederzeit für mehr Wettbewerb und mehr Innova-        sen zumindest als Gesellschaft darüber diskutie-
tion sorgt? Oder ist es gelegentlich auch so, dass    ren, was wir wollen, damit wir am Ende einen
sie freien Wettbewerb behindern kann? Kommt           Konsens in der Gesellschaft darüber haben, was
es in Teilen gegebenenfalls zur Vermachtung,          Digitalisierung für uns bedeuten und leisten soll.
Monopolbildung oder zum Marktversagen? Ich            Ich will damit nur sagen: Digitalisierung ist keine
meine, Politik darf sich nicht von kurzfristigen      neue Religion.
Effekten leiten lassen, sondern muss genau hin-
schauen. Das ist am Ende auch eine ordnungspo-        Das sollen nur wenige Denkanstöße vor der Dis-
litische Aufgabe.                                     kussionsrunde gewesen sein. Ich bitte jetzt die
                                                      Teilnehmer auf die Bühne. Zuerst begrüße ich
Ich weiß nicht, Herr Leitermann, ob der CEO der       meinen Unternehmerkollegen Sebastian Grethe.
„Allianz“, Herr Oliver Bäte, recht hat, der dieser    Herzlich willkommen, Herr Grethe.
Tage in einer großen überregionalen Zeitung ge-
sagt hat, die Hälfte der Geschäftsmodelle, die im                              (Beifall)
digitalen Bereich stattfänden, würden, wenn wir
sie in die analoge Welt übertrügen, dazu führen,      Sebastian Grethe ist ein richtiger Start-up-Un-
dass wir alle im Gefängnis säßen. Ich weiß nicht,     ternehmer. Er hat eine digitale Plattform für
ob das so richtig ist, aber zumindest stößt er da-    den Stahlhandel ins Leben gerufen und damit
mit eine Debatte an, ob man manche Geschäfts-         die Märkte mächtig aufgemischt. Wir haben uns
modelle, die online stattfinden, auf die Offline-     schon an anderer Stelle kennenlernen können
Version eins zu eins übertragen kann.                 und uns ausgetauscht. Ich finde seine Geschichte
                                                      hochspannend. Das ist eine kluge Geschäftsidee.
Ein letzter Punkt: Digitalisierung ist – daran        Ich denke, dass diese auch für das Handwerk
führt kein Weg vorbei – eine gewaltige Chance.        sehr interessant ist.
Sie kann das Leben und das Arbeiten vereinfa-
chen. Dennoch sollten wir alle uns auch eine kri-

                                                                                           Dialog Handwerk 1 | 2018   7
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

    Ich freue mich, dass wir Prof. Dr. Frank Czaja zu              Hennecke hat die Themen der Digitalisierung so
    Gast haben. Er ist ein unternehmerischer Kopf.                 tief in sich, dass er die Stimme des Handwerks
    Herr Prof. Czaja, Sie sind tätig an der SRH Hoch-              hier sein wird. Außerdem sitzen hier so viele
    schule für Logistik und Wirtschaft in Hamm. Die                Handwerksmeister, die ihn auch inhaltsstark un-
    Digitalisierung, haben Sie gesagt, revolutioniert              terstützen werden. Herzlich willkommen, Hans
    die Logistikbranche. Aus Ihrer Sicht müssen sich               Jörg Hennecke.
    politische Rahmenbedingungen diesbezüglich
    verändern. Etablierte Geschäftsmodelle werden                                       (Beifall)
    über den Haufen geworfen. Wir müssen neu
    denken und vermutlich auch über neue Qualifi-                  Weiter darf ich Prof. Dr. Justus Haucap begrü-
    kationen nachdenken, die daraus hervorgehen.                   ßen. Er kommt von der Heinrich-Heine-Univer-
    Sie haben auch gesagt, die Anforderungen an                    sität Düsseldorf und ist einer der profiliertesten
    unsere Infrastruktur werden sich gewaltig ver-                 Ökonomen Deutschlands. Darüber hinaus ist
    ändern. Auch die intelligente Vernetzung der                   Prof. Haucap ein großer Freund des Handwerks.
    Verkehrsträger ist sicherlich ein Thema. Für uns               Ich freue mich sehr, lieber Herr Haucap, dass Sie
    im Handwerk ist das hochspannend. Herr Prof.                   heute an dieser Diskussion teilnehmen. Sie ha-
    Czaja, schön, dass Sie dabei sind.                             ben schon verschiedentlich ordnungspolitische
                                                                   Hinweise in Fragen der Digitalisierung gegeben.
                               (Beifall)                           Herzlich willkommen, Prof. Haucap.

    Einen für unsere Podiumsrunde ursprüng-                                             (Beifall)
    lich vorgesehenen Teilnehmer hat „Friederike“
    dann doch davon abgehalten, hierher zu kom-                    Schließlich darf ich noch den Mitherausgeber
    men, nämlich Dr. Alexander Barthel. Wir dür-                   der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Holger
    fen an seiner Stelle Herrn Prof. Dr. Hans Jörg                 Steltzner, begrüßen. Herrn Steltzner muss ich
    Hennecke begrüßen. Er ist Geschäftsführer bei                  in dieser Runde nicht besonders vorstellen. Er
    HANDWERK.NRW und Geschäftsführer in der                        macht das schon seit vielen Jahren und ist immer
    Handwerkskammer Düsseldorf. Er ist ein heller                  in der Lage, die Fäden zusammenzuhalten. Mal
    Kopf. Ich habe zwei Jahre lang mit ihm zusam-                  sehen, ob Ihnen das heute wieder gelingt. Ich
    menarbeiten dürfen in der Enquetekommission                    freue mich sehr, lieber Herr Steltzner, dass Sie
    über die Herausforderungen der Digitalisierung                 auch am heutigen Tag wieder die Aufgabe der
    für Mittelstand und Handwerk. Er ist so tief in                Moderation übernehmen.
    diesen Themen drin, dass er nicht nur als Ersatz
    für Herrn Barthel angesehen werden kann. Herr                  Ich überlasse Ihnen jetzt das Podium.
    Barthel ist derjenige, bei dem in Berlin alle Fäden
    der Digitalisierung zusammenlaufen. Aber Prof.                                      (Beifall)

8   Dialog Handwerk 1 | 2018
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

Podiumsdiskussion                                    Prof. Dr. Justus Haucap,
                                                     Direktor des Duesseldorf Institute for
                                                     Competition Economics (DICE):
Moderator Holger Steltzner,
Mitherausgeber der „Frankfurter                      Wenig, wie ich leider sagen muss. Das Papier ist
Allgemeinen Zeitung“:                                bekanntlich 28 Seiten lang. Ich versuche einmal
                                                     zu rekonstruieren, auf welcher Seite das Thema
Herzlichen Dank, lieber Herr Ehlert, für diese       „Digitalisierung“ vorkommt. Es befindet sich re-
freundliche Begrüßung.                               lativ weit hinten in dem Papier.

„Innovation und Wettbewerb in digitalen Zei-         Im Wesentlichen sind es zwei Punkte: erstens
ten“ ist ein weites Feld. Das hat verschiedene Di-   Breitbandausbau. Das ist hinreichend wenig
mensionen. Es weist politische Dimensionen auf.      kontrovers. Es gibt wahrscheinlich niemanden,
Wer sind die Treiber der Digitalisierung? Natür-     der sagt: „Nein, bitte das Breitband nicht bei uns
lich die Internetkonzerne aus den USA und zu-        ausbauen.“ Breitbandausbau ist populär. Als
nehmend auch aus China. Man könnte fragen:           zweites steht E-Government in dem Papier. E-
Wo bleibt eigentlich Europa?                         Government ist in der Tat wichtig. Selbst von der
                                                     Europäischen Kommission wird uns jedes Jahr
Es gibt eine sozialpolitische Dimension. Die ha-     vorgehalten, dass Deutschland im E-Govern-
ben Sie, Herr Ehlert, schon angetippt mit der        ment-Bereich eines der Schlusslichter ist. Viele
Erwähnung der Frage nach den Wettbewerbs-            Länder sind auf diesem Gebiet weiter.
bedingungen. Weiter gibt es rechtliche Dimensi-
onen. Außerdem geht es um Datenfragen. Wem           Was mir ein bisschen fehlt ist Folgendes: Es
gehören eigentlich die Daten? Weiter enthält es      stimmt zwar, dass die Breitbandpenetration nicht
unternehmerische Dimensionen. Welche Folgen          überall so hoch ist wie in anderen Ländern. Aber
hat das für Geschäftsmodelle und für Branchen-       auch dort, wo es Breitband gibt, ist der Take-up
entwicklungen? Es gibt technische Dimensionen.       in Deutschland sehr gering. Bei der Verbreitung
                                                     des Breitbandangebots sieht es eigentlich gar
Was bedeutet das eigentlich, dass jetzt die künst-   nicht so schlecht bei uns aus. Schlecht ist vor al-
liche Intelligenz als Großthema beginnt, die         lem der Take-up. Ungefähr ein Viertel der Leute,
Digitalisierung in den Schatten zu stellen? Was      bei denen Breitband vor dem Haus verfügbar ist,
passiert denn da mit den Arbeitsplätzen? Und so      hat den Anschluss auch bestellt. Drei Viertel hin-
weiter. Es gibt demografische Dimensionen und        gegen bestellen das Breitband nicht. Sie sagen:
vieles andere mehr.                                  „Nein. Danke schön, dass bei mir vor der Haus-
                                                     tür Breitband verfügbar ist, aber ich brauche es
Um das ein bisschen einzuhegen, wäre es viel-        eigentlich gar nicht.“
leicht sinnvoll, die Debatte hier auf die handfes-
ten Bereiche sozialpolitische Dimensionen, recht-    Es stellt sich natürlich die Frage, warum das so
liche Dimensionen und das Unternehmerische           ist. Das liegt wohl auch daran, dass in vielen
zu konzentrieren.                                    Bereichen die Inhalte, die angeboten werden,
                                                     noch nicht interessant genug sind oder auch Ge-
Aber eine politische Frage muss ich doch an die      schäftsmodelle durch ganz unterschiedliche As-
Runde zu Beginn stellen. Am Sonntag findet in        pekte verhindert werden. Teils haben wir hohe
Bonn der Sonderparteitag der SPD statt. Es ist       regulatorische Barrieren, teils fehlt es an Anrei-
völlig offen, wie er ausgeht. Herr Haucap, wie       zen. Ich denke an den Bereich E-Health, wo es
bewerten Sie denn dieses Sondierungspapier mit       teils fehlende Abrechnungsmöglichkeiten für die
Blick auf das, was uns hier thematisch umtreibt?     Leistungserbringer gibt etc.
Was steckt darin für Digitalisierung, für Innova-
tion und Wettbewerb?                                 Was ich mir gewünscht hätte? Wir haben fol-
                                                     genden Vorschlag im Kronberger Kreis, also im
                                                     Beirat der Stiftung Marktwirtschaft, gemacht:
                                                     Warum schaffen wir nicht nach der Bundestags-
                                                     wahl eine Kommission, die einmal versucht, sys-

                                                                                       Dialog Handwerk 1 | 2018      9
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

     tematisch, also nicht einzeln für einen kleinen                weicht werden – geschieht. Er hat gesagt, es gehe
     Bereich, sondern für die gesamte Wirtschaft oder               vor allem um die digitale Bildung – das ist wie-
     auch für den Gesamtbereich Staat und Wirtschaft                der so ein schwammiger Begriff, Herr Grethe –
     zu erheben, was eigentlich die Barrieren für die               mit Blick auf die Jugend und die Nachwachsen-
     Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen                    den. Sind die digital gut gebildet, oder wünscht
     und digitalen Angeboten sind, und festzustellen,               man sich da viel mehr?
     woran es fehlt, und die überlegt, wie wir Pake-
     te schnüren können, um das mit zentralisierter
     Kompetenz voranzubringen?
                                                                    Sebastian Grethe, Mitgründer und
     Im Sondierungspapier werden viele Kommissio-                   Geschäftsführer der Mapudo GmbH:
     nen vorgeschlagen: eine Kommission für Demo-
     kratie, eine Kommission für Wachstum und eine                  Das ist eine gute Frage. Ich will einmal aus un-
     Kommission für Klimaschutz, nur Digitalisie-                   serer Erfahrung sprechen. Als Start-up sind für
     rung wird nach wie vor doch ziemlich stiefmüt-                 uns die Entwickler, die wir bei uns sitzen haben
     terlich behandelt. Bezüglich dieses Themas fehlt               und die für uns die Codes umsetzen, eine ganz
     mir ein bisschen mehr Schwung.                                 wichtige Ressource. Für uns ist es sehr schwie-
                                                                    rig, dafür junge Leute für unser Unternehmen
                                                                    zu gewinnen, die tatsächlich in kürzester Zeit
                                                                    an bestimmten Problemen arbeiten können und
     Moderator Holger Steltzner:                                    selbstständig zu Lösungen kommen.

     Aus dem Nähkästchen geplaudert: Wir hatten                     Ich habe intern viele Gespräche darüber geführt,
     uns mit Herrn Schulz am Freitagabend für das                   woran das liegt. Tatsächlich ist es so, dass viele
     Interview für die Sonntagszeitung getroffen.                   Leute, die zu uns auch von den Hochschulen
     Phänomenal war erst einmal, dass er nach 36                    kommen, Theoretiker sind. Wir brauchen aber
     Stunden total fit war. Ich war überrascht. Ich                 viel mehr Praktiker. Wir haben ganz konkrete
     wäre wahrscheinlich während des Interviews                     Anwendungsfälle und Probleme, die gelöst wer-
     weggenickt. Er war aber vielleicht noch eupho-                 den möchten. Wir brauchen jemanden, der im
     risiert von den Erfolgen, die seine Partei heute ja            Tagesgeschäft dafür Ergebnisse abliefert.
     anders sieht.
                                                                    Gerade junge Leute nutzen sehr viel Technik, die
     Ich habe ihn danach gefragt, was digital und mit               vorhanden ist, aber bei vielen fehlt ein tieferes
     Blick auf die Bildung – das Kooperationsverbot                 technisches Verständnis. Die Personen, die bei
     soll zwar nicht fallen, aber ein bisschen aufge-               uns von den Universitäten kommen, sind halt

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Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

sehr theoretisch ausgebildet. Da fehlt wirklich        Als private Uni sind wir hier ganz anders aufge-
für uns der praktische Mehrwert. Wir brauchen          stellt. Wir haben ein hohes Interesse daran, un-
eine Mischung bei den Personen, die intellektuell      sere Studenten zu einem erfolgreichen Abschluss
verstehen, worin das Problem besteht, die gleich-      zu bringen. Insofern besteht da ein wesentlicher
zeitig aber auch Praktiker sind, um das Problem        Unterschied. Die Studentenzahlen sind logi-
ganz konkret lösen zu können.                          scherweise da etwas anders.

                                                       Ich meine, es geht aber schon viel früher los. Wir
                                                       müssen nämlich die Leute rechtzeitig dafür inte-
Moderator Holger Steltzner:                            ressieren, was sie denn studieren. Viele Leute –
                                                       ich führe relativ viele Beratungsgespräche – wis-
Herr Czaja, nun wird ja schon lange über die IT-       sen nach dem Abitur gar nicht, was sie studieren
Entwickler, die Software-Ingenieure gesprochen.        sollen.
Es wird schon lange darüber geklagt, dass es uns
an einer ausreichenden Zahl fehlt.                     Ich möchte deshalb dieses Gremium nutzen, um
                                                       für eine Idee zu werben: Wir versuchen gemein-
Mein Jüngster hat angefangen, in Würzburg              sam mit der Wirtschaftsförderung im Kreis Unna
Wirtschaftsinformatik zu studieren. Er war im          eine Broschüre zu erstellen, in der gerade mit-
ersten Semester mit vielen seiner Kommilitonen         telständische Unternehmen darstellen können,
extrem gefrustet, dass er in der ersten Klausur in     welche Ausbildungsplätze zur Verfügung ste-
Wirtschaftsinformatik eine Durchfallquote von          hen und welche Studiermöglichkeiten in diesen
86 Prozent hatte. Muss man das so machen, muss         Unternehmen bestehen, um Jugendliche – das
man diejenigen, die ein gutes Abi haben, mit           ist kein neues Phänomen – und auch Auszubil-
Durchfallquoten von 86 Prozent erschrecken? Ich        dende zu finden und dafür zu begeistern, sich in
hatte die gleiche Frage gestern bei einer Diskussi-    den Unternehmen zu bewerben und dort anzu-
on mit Heike Schmoll, unserer Bildungsexpertin         fangen.
aus der Politik. Wir hatten die Preisverleihung
„Jugend schreibt“ und debattierten mit Lehrern.        Wir haben das relativ intensiv gemacht. Dazu
Die sagten: Man muss die im ersten Semester            haben wir über 300 Unternehmen mehrfach an-
gleich „rauskegeln“. Ich würde sagen: Will man         geschrieben. Es war wirklich schwierig, für eine
nicht erst einmal versuchen, sie auszubilden?          Broschüre, welche für die Unternehmen kosten-
Muss man mit so hohen Quoten da hineingehen?           los ist, auch nur 30 Unternehmen zu finden, die
                                                       sich in einer solchen Broschüre, die an potenziel-
                                                       le Interessenten ausgegeben wird, darstellen. Da
                                                       bedarf es noch eines Umdenkens. Das hat auch
Prof. Dr. Frank Czaja, SRH Hochschule                  mit der Digitalisierung zu tun, wenn wir uns an-
für Logistik und Wirtschaft, Hamm:                     sehen, welche Medien heute junge Leute nutzen.
                                                       Die sind in den Tools der Weiterbildung – das ist
Vielen Dank für diese Frage. Ich muss ein biss-        ein weiteres Thema – „Digitalisierung“ auch ab-
chen aufpassen, was ich dazu sage. Ich komme           gebildet.
von einer privaten Universität. Wir sind natür-
lich etwas anders aufgestellt als eine öffentliche     Wenn man sich ansieht, welche Weiterbildungs-
Hochschule.                                            maßnahmen oder Tools unter den Top Ten
                                                       stehen, sieht man auf Platz 1 YouTube und auf
Von der privaten Universität aus sage ich: Das         Platz 5 Twitter. Wenn ich mich selber frage, wo
System in der Wissenskultur ist heute so ange-         wir als Hochschule aktuell YouTube oder Twitter
legt, dass ich als Universität eine Kopfprämie         für Weiterbildung nutzen, wenn wir etwa über
dafür bekomme, dass ich einen Studenten werbe.         EdTech (Educational Technology) reden, ist fest-
Ich bekomme diese Kopfprämie dafür, dass er            zustellen, es gibt Studien und Prognosen, dass im
bei mir anfängt. Dass er erfolgreich abschließt, ist   Jahr 2030 das größte Internetunternehmen eine
keine Bedingung. Das heißt, ich bekomme mei-           digitale Weiterbildungsinstitution sein wird. Auf
ne finanzielle Prämie. Ich denke, dazu wird es         diesem Gebiet gibt es viele Möglichkeiten, die
gleich eine Ergänzung geben.

                                                                                         Dialog Handwerk 1 | 2018      11
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

     wir heute alle gemeinsam inhaltlich noch nicht                 Wenn man wirklich etwas tun wollte, sollte man
     nutzen.                                                        in die Wirtschaftsinformatik investieren: Das ist
                                                                    meine Erfahrung aus Nürnberg. Dort war ich
                                                                    zwei Jahre, bevor ich nach Düsseldorf kam. In
                                                                    Nürnberg hatten wir an der Fakultät drei Profes-
     Moderator Holger Steltzner:                                    soren für Wirtschaftsinformatik. Wenn wir die
                                                                    auch in Düsseldorf hätten, dann würden wir – da
     Herr Haucap, Sie wollen direkt dazu etwas sa-                  bin ich mir sicher – auch mehr Start-ups haben.
     gen.                                                           Das ist nämlich das typische Umfeld, aus dem
                                                                    heraus Start-ups entstehen. Wenn also die Stadt
                                                                    Düsseldorf für die Start-up-Kultur etwas tun
                                                                    will, sollte sie dazu beitragen, drei Professuren
     Prof. Dr. Justus Haucap:                                       für Wirtschaftsinformatik an die HHU zu holen.
                                                                    Dann wird nach ein paar Jahren etwas passieren.
     Ich will dazu in Kombination zu Ihrer Frage et-                Als Dekan der Fakultät denke ich, dass man da-
     was sagen. Die Steuerung an Hochschulen ist                    durch etwas bewegen könnte.
     sicherlich auch im öffentlichen Bereich sehr un-
     terschiedlich.

     Bei uns an der Heinrich-Heine-Universität ist es               Moderator Holger Steltzner:
     wie folgt: Ich bin momentan auch Dekan der Fa-
     kultät. Nicht für jeden Studienanfänger bekom-                 Das war der Werbeblock. – Aber jetzt zum Hand-
     men wir Geld, sondern nur für bestimmte, näm-                  werk und zum Mittelstand, Herr Hennecke. In
     lich für diejenigen, die vorher noch nicht studiert            der veröffentlichten Meinung, aber auch in der
     haben. Für Leute, die aus einem anderen Studi-                 politischen Debatte, dominiert das Schlagwort
     engang zu uns wechseln, bekommen wir nichts.                   „Industrie 4.0“. Dabei ist Digitalisierung viel
     Wir erhalten als Fakultät momentan rund 6.500                  mehr. Sie erfasst die ganze Gesellschaft und die
     Euro für einen Studienanfänger. Wir können bei                 komplette Wirtschaft. Kommen in der Debatte
     der Zulassung nicht differenzieren, ob es ein Stu-             das Handwerk und der Mittelstand zu kurz? Ich
     dienanfänger oder ein Studienfachwechsler ist.                 würde sagen: Ja. Folgefrage: Was muss man da-
     Im Erwartungswert bekommen wir daher etwa                      gegen tun?
     4.500 bis 4.800 Euro pro Studienanfänger. Für ei-
     nen Absolventen bekommen wir 4.000 Euro, also
     ein bisschen weniger. Aber wir erhalten auch für
     die Absolventen Geld. Das mag helfen zu erklä-                 Prof. Dr. Hans Jörg Hennecke,
     ren, warum wir keine Durchfallquoten von 85                    Geschäftsführer HANDWERK.NRW:
     Prozent haben. Aber es ist wohl auch eine Frage
     der Philosophie. Bei uns an der Fakultät haben                 Zuvor noch eine Anmerkung zur Bildungsde-
     wir kein Interesse, die Leute an die Hochschule                batte: Die Hochschulen bekommen Geld für die
     zu locken, nur damit sie nach einem Jahr frus-                 jungen Leute, die sie ausbilden. Im Handwerk
     triert wieder gehen. Wir haben vielmehr schon                  zahlen die Betriebe den Auszubildenden etwas.
     den Anspruch, Leuten etwas beizubringen und                    Das ist eine ganz andere Anreizkultur, die viel
     erfolgreich zu sein.                                           ausmacht.

     Man kann es nicht ganz abstellen, dass es immer                In der Tat ist es so, dass die politische Debatte
     wieder Kollegen gibt, die „tollwütig“ sind und                 sehr stark auf die Industrie fixiert ist, auf die
     um sich beißen und Leute aus dem Studiengang                   Forschungskultur, die es zum Thema „Digitali-
     „rausprüfen“. Man muss als Dekan versuchen,                    sierung“ gibt. Das ist insofern auch nachvollzieh-
     das zu verhindern, dass es dazu kommt. Wir ha-                 bar, weil es da um große Einheiten geht. Da geht
     ben bei uns dieses Problem Gott sei Dank nicht.                es um serielle Prozesse. Das heißt, man kann eine
     Ich weiß aber von anderen Fakultäten, dass es                  Innovation sehr schnell anwenden in einem gro-
     manchmal gar nicht so einfach ist, solche Kolle-               ßen Feld und mit einfachen Lösungen relativ viel
     gen davon abzuhalten, so vorzugehen.                           an Innovation und an Wertschöpfung erzeugen.

12   Dialog Handwerk 1 | 2018
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

Handwerk und Mittelstand sind sehr viel klein-        die es gibt, diese neuen Oberflächen, viel stärker
teiliger. Das heißt, wenn Sie Digitalisierung in      herausstellen sollte und könnte?
einen Betrieb mit fünf bis zehn Mitarbeitern brin-
gen wollen, wenn Sie die sehr vielfältigen Kun-
denkontakte und Geschäftsbeziehungen eines
solch kleinen Unternehmens begreifen wollen,          Prof. Dr. Hans Jörg Hennecke:
dann können Sie nicht mit Standardlösungen
kommen, sondern dafür müssen Sie Lösungen             Ganz klar. Herr Czaja hat das eben angedeutet
anbieten, die an diese konkrete Situation ange-       mit den Unternehmen im Umfeld seiner Hoch-
passt und flexibel sind. Das ist eine Sache, an der   schule. Wenn man junge Leute für eine Branche
viele wissenschaftliche Innovationen scheitern,       gewinnen möchte, dann muss man denen attrak-
weil sie einfach nicht diese Umsetzungsgenauig-       tive Perspektiven bieten können. Das ist sicher
keit hinbekommen, nicht so sehr die Märkte ken-       eine Frage der Entlohnung, aber viel wichtiger
nen, auf denen sich das abspielt. Deswegen ist es     sind, denke ich, die Sinnerfüllung, die man im
eine ganz wichtige Aufgabe, dass man das, was         Berufsleben hat, und die Offenheit der Perspekti-
an Innovationspolitik und Forschungspolitik be-       ven. Das heißt, es ist ganz wichtig für das Hand-
trieben wird, sehr viel stärker an die Realität von   werk, auch diese Karriereperspektiven und diese
kleinen und mittleren Unternehmen heranführt          Bildungsperspektiven, ausgehend von der Aus-
und auch an das, was bei diesen in den Kunden-        bildung, darzustellen und zu verstärken.
beziehungen passiert.
                                                      Wir reden im Augenblick sehr viel über Integra-
                                                      tion. Gerne wird gesagt, die Flüchtlinge könnten
                                                      alle ins Handwerk kommen. Wir könnten dafür
Moderator Holger Steltzner:                           die Standards senken, dann würde das schon pas-
                                                      sen. Wir sind da manchmal in einer Diskussion,
Aber wie kann man denn das stärker in die Köp-        bei der wir uns zu sehr mit diesen Themen befas-
fe des Publikums bringen? Das ist ja auch eine        sen. Dabei geht etwas unter, dass wir mittlerweile
Frage der Nachwuchsgewinnung.                         in vielen Gewerken hochinnovative Berufsbilder
                                                      haben, dass da inzwischen auch sehr viel passiert
In der Vorbereitung des heutigen Nachmittages         im Bereich der höheren Berufsbildung, wo man
habe ich gelernt – ich wusste das vorher gar nicht,   auch jenseits des Meisters bis hin zur Promoti-
bis auf das Zahnlabor aus familiären Gründen –,       on innerhalb der Berufsbildung aufsteigen kann.
dass es schon hochinnovativ und digital im            Dort gibt es auch sehr viele akademische Mög-
Handwerk zugeht, nämlich mit dem 3D-Druck             lichkeiten in dualen und trialen Studiengängen.
im Zahnlabor oder selbst in der Konditorei mit        Das sind sicher Themen, die das Handwerk im
Gussformen für Pralinen, wie Sie es vorgetra-         Ganzen nach außen stärker darstellen und intern
gen haben, Herr Wollseifer, vom 3D-Scanner            auch noch stärker entwickeln muss. Darin gibt es
im Gesundheitswesen für Prothesen, über den           noch sehr viel Dynamik. Jedes Gewerk muss für
Schuhmacher, der damit seine Leisten anfertigt,       sich selber entscheiden, wie es seine Strategie der
oder den Maßschneider, der damit seinen An-           Qualifizierung auch im Wettbewerb mit akade-
zug vorbereitet, zu den 3D-Brillen als Werkzeug,      mischen Angeboten versteht.
wenn man Werkstücke herstellt, oder, wenn man
Gebäude entwerfen möchte, dass man Drohnen
der Dachdecker einsetzt, bis zum Roboter, den
die Tischler schon nutzen. Das war mir alles gar      Moderator Holger Steltzner:
nicht bekannt.
                                                      Zu den Gründerdebatten noch ein kleiner Schlen-
Ist es nicht vielleicht auch so, wenn Medienleu-      ker: Sie werden wahrscheinlich denken, als Start-
te Nachwuchskräfte und auch die Öffentlichkeit        up-Unternehmer rollt mir jeder Politiker in den
begeistern möchten, zeigen möchten, was das           Sonntagsreden den roten Teppich aus. Man hat
Handwerk alles kann, dass man diese Faszinati-        so das Gefühl, wir befinden uns in einem Grün-
on von Technik und auch die neuen Werkstoffe,         derparadies.

                                                                                        Dialog Handwerk 1 | 2018      13
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

     Wir haben vorher kurz miteinander telefoniert.                 dafür eigentlich notwendig sind, um so etwas
     Da klang das nicht ganz so nach paradiesischen                 auch gesellschaftlich umzusetzen. Häufig höre
     Zuständen. Wo hakt es denn? Wie können wir                     ich dann Vergleiche mit den USA, was die dort al-
     Gründer besser unterstützen?                                   les auf die Beine stellen und wie toll es dort ist in
                                                                    Bezug auf das Unternehmertum und hinsichtlich
                                                                    der größer als in Deutschland ausgeprägten Risi-
                                                                    kobereitschaft. Das mag alles sein. Aber es wird
     Sebastian Grethe:                                              übersehen, dass in den USA oder in den ameri-
                                                                    kanischen Unternehmen, die so erfolgreich sind,
     Man muss unterscheiden, aus welchen Situatio-                  es gelingt, weltweit die besten Kräfte ins Land zu
     nen heraus Gründungen vollzogen werden. Wir                    holen. Das ist für eine Start-up-Kultur sehr wich-
     reden ja im weitesten Sinne über Industrie 4.0.                tig. Als Start-up hat man nicht viele Ressourcen.
     Dies bedeutet für mich, dass dort reife Ideen aus              Jeder Einzelne, der ins Team kommt, muss pro-
     dem Tagesgeschäft in neue Konzepte eingebracht                 duktiv sein und gleich einen Beitrag leisten. Wir
     werden.                                                        können nicht jemanden ein Jahr lang einweisen.
                                                                    Das bedeutet aber für uns hier, dass der Zugang
     Ich denke, die Innovationen im Handwerk sind                   zu Programmierern ein enormer Kampf um we-
     welche, die aus dem Tagesgeschäft heraus kom-                  nige schlaue Köpfe ist.
     men. Es ist nicht ein Genius, der von der Hoch-
     schule kommt, der sagt: „Ich erfinde im Ge-                    Wir haben in Düsseldorf mit Trivago das bekann-
     sundheitswesen neu, wie man Zahnprothesen                      teste deutsche Start-up. Die räumen den Markt
     abbilden kann.“ Das sind vielmehr Ideen, die                   erst einmal leer. Auch Trivago hat Probleme,
     aus dem Tagesgeschäft heraus entstehen. Für                    hier Leute zu bekommen. Alle anderen, die dann
     mich besteht darin gerade die Stärke Deutsch-                  klein anfangen, können zusehen, wie sie das auf
     lands.                                                         die Beine stellen.

     Letztlich bedeutet das aber, dass die Personen,                Letztlich ist die Situation im Alltag so: Personal-
     die diese Gründungen vornehmen – dazu zähle                    berater rufen bei mir an. Sie fragen mich, ob ich
     ich mich auch –, schon einen bestimmten Karri-                 Entwickler brauche. Gleichzeitig erhalten die
     ereweg hinter sich haben. Das Risiko, dann aus                 Entwickler Anrufe, in denen gefragt wird, ob sie
     einem sicheren, gut bezahlten Job herauszuge-                  einen neuen Job suchen. So ist das dann ein gro-
     hen und ein Unternehmen zu gründen, ist schon                  ßer Kreislauf. So sieht die Situation aus, die wir
     erheblich. Jeder muss das für sich gut überlegen               haben.
     und entscheiden, ob er bereit ist, diesen Schritt
     zu gehen.                                                      Das heißt, wenn wir in Deutschland über Indus-
                                                                    trie 4.0 sprechen – Digitalisierung – dann denke
     Für diese Art der Gründung gibt es in Deutsch-                 ich immer: Ja, mit welchen Leuten? Wo sollen die
     land keinerlei Programme. Man hat die Möglich-                 herkommen? Das ist eine etwas andere Frage als
     keit, sich entweder arbeitslos zu melden, was                  die, warum die nicht von Universitäten kommen
     aber bei einer Eigenkündigung bedeutet, dass                   oder ob nicht mehr auf Schulebene gemacht wer-
     man eine bestimmte Sperrfrist hat, oder man fi-                den muss. Jetzt ist das aber die Situation, in der
     nanziert sich aus eigenen Mitteln, was ich letztlich           wir uns befinden. Die Frage ist, wie man damit
     gemacht habe. Es gibt aber nicht, wie für Hoch-                umgeht.
     schulstudenten solche EXIST-Förderprogramme,
     bei denen für einen bestimmten Zeitraum vom                    Das heißt, wenn Sie für Ihre Betriebe schon alle
     Staat Geld bereitgestellt wird und womit eine be-              die tollen digitalen Ideen und Ihre Konzepte auf
     stimmte Gründungsphase überbrückt wird. Ich                    dem Tisch haben, wünsche ich Ihnen viel Spaß
     denke, das ist einmal das, wenn man auf reife                  bei der Umsetzung. Wo wollen Sie die Leute her-
     Ideen sieht, was in Deutschland besser gemacht                 bekommen? Das wird in Deutschland bei vielen
     werden kann.                                                   Debatten übersehen.

     Wenn wir in Deutschland über Industrie 4.0 spre-
     chen, dann wird übersehen, welche Ressourcen

14   Dialog Handwerk 1 | 2018
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

Moderator Holger Steltzner:                         In Deutschland gibt es eine große Plattform, die
                                                    sich mytaxi nennt. Sie ist von Daimler für wohl
Gibt es nicht auch noch ein Problem beim Kapi-      70 Millionen gekauft worden. Mytaxi hätte viel-
tal?                                                leicht das Potenzial gehabt, ein Uber, die große
                                                    Plattform aus den USA, zu werden. Das ist aber
                                                    für unsere deutsche Risikomentalität eine riesige
Sebastian Grethe:                                   Geldverbrennungsmaschine. Geschäftsmodelle
                                                    wie Amazon, die über zehn Jahre Verluste ge-
Ja, auch beim Kapital gibt es hier ein Problem.     macht haben, in Deutschland durchzuschleppen,
Aber inzwischen hat sich das ein wenig gemil-       ist, glaube ich, undenkbar. Da herrscht eher die
dert. Wir sind gut aufgestellt. Das ist nicht der   Idee vor, in drei Jahren muss ein Profit heraus-
Punkt. Wir brauchen aber neue Leute. Um neue        kommen. Die Wagnisbereitschaft ist insoweit in
Leute zu bekommen, brauchen wir erst einmal         den USA deutlich größer. Deshalb kommen auch
neues Geld. Sie sind letztlich der Engpass bei      diese großen Plattformen aus den USA, weil da-
vielen Vorhaben, die wir gerne umsetzen wür-        für dort das Geld bereitgestellt wird. Es ist zu fra-
den. Kapital ist in Deutschland zwar vorhanden,     gen, wo kommt das Facebook aus Deutschland
aber da heranzukommen, das geht alles nur in        her oder woher kommt das nächste Google, das
kleinen Schritten. In anderen Ländern – ich habe    sind Digitalunternehmen. Aber woher sollen die
gerade die USA angeführt, die in dieser Hinsicht    kommen? Weder sind hier IT-seitig die Ressour-
Vorbild sind – ist mehr Kapital vorhanden. Dort     cen noch ist das Kapital dafür vorhanden.
wird auch für Ideen mehr Geld in die Hand ge-
nommen, auch wenn sie noch mit einem großen
Risiko behaftet sind.                               Moderator Holger Steltzner:

                                                    Sind Sie auch so pessimistisch?

                                                                                      Dialog Handwerk 1 | 2018      15
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

     Prof. Dr. Justus Haucap:                                       Deutschland verhindert, weil das von jedem der
                                                                    Nutzer eine schriftliche Einwilligung für die Zu-
     Mein Optimismus hält sich auch ein bisschen in                 sammenführung der drei Plattformen erfordert
     Grenzen, wenn auch aus anderen Gründen. Ka-                    hätte, wahrscheinlich noch mit einem Postident-
     pital mag einerseits ein gewisses Problem sein.                Verfahren.
     Jedoch sehe ich das ein bisschen entspannter,
     und zwar aus dem Grunde, weil man sich Ka-                     Da gibt es bei uns Barrieren. Dann muss man sich
     pital nicht zwangsläufig aus Deutschland besor-                nicht wundern, dass andere vielleicht sagen: „Na
     gen muss, auch wenn es schwieriger sein mag,                   gut, ich muss ja nicht in Deutschland beginnen.“
     ausländische Investoren zu gewinnen. Aber es
     gibt auch kalifornische Investoren, die durchaus
     bereit sind, in deutsche Start-ups zu investieren
     und das auch tatsächlich tun.                                  Moderator Holger Steltzner:

     Facebook und Google sind angesprochen wor-                     Aber es gibt doch auf der anderen Seite auch
     den. Wir haben aber natürlich unheimliche regu-                schöne Erfolgsgeschichten. FlixBus ist so eine,
     latorische Beschränkungen, die mit dem Daten-                  der jetzt Europa aufrollt, und auf französischer
     schutz und anderen Sachverhalten zu tun haben,                 Seite BlaBlaCar, das meine Kinder furchtbar ger-
     die es sehr unattraktiv machen, solche Unter-                  ne nutzen, der auch hier in Deutschland sehr
     nehmen gerade in Deutschland zu gründen. Ich                   erfolgreich ist. Es gibt auch diese Beispiele von
     zeige bei meinen Vorträgen manchmal die Karte,                 Tüftlern und Technikern, von einfach genialen
     wo auf der Welt überall Google Street View vor-                Ideen, sogar von Hochschulen. Ich denke an das
     handen ist. Eigentlich in allen Staaten der Welt               Beispiel von Prof. Günther Schuh, der sagte, weil
     bis auf Deutschland, Österreich, Ukraine, Weiß-                die gesamte Autoindustrie meinte, es würde kei-
     russland. Wahrscheinlich auch Nordkorea, aber                  ne Nachfrage nach Elektrotransportern geben,
     ich verwende immer eine Europakarte.                           dann baue ich doch selbst einen. Die Deutsche
                                                                    Post war das einzige Unternehmen, das daran
     In der Ukraine und in Weißrussland ist es aus an-              auch glaubte. Mittlerweile verkauft die Deutsche
     deren Gründen nicht verfügbar als bei uns. Bei                 Post auch Elektrotransporter, die Prof. Schuh
     uns ist es nicht verfügbar, weil zu viele Leute ihre           mit seinen Studenten entwickelt hat. Das ist eine
     Häuser verpixeln wollten. Daraufhin hat Google                 wunderbare Erfolgsgeschichte. Ist das ein Mus-
     entschieden, dass Google Street View mit zahl-                 terbeispiel, Herr Czaja, für Innovation? Kommt
     reichen verpixelten Häusern zu uninteressant ist.              Innovation, weil ein solcher Professor oder ein
     Aber die Vermessung der Straßen diente natür-                  Tüftler eine geniale Idee hat, oder kann man In-
     lich auch dazu, das automatisierte Fahren deut-                novation auch anreizen, für Innovation sorgen,
     lich zu vereinfachen, indem man alles möglichst                Innovation sozusagen in die Pipeline bringen?
     gut vermisst. Wenn ich alle anderen Länder gut
     vermesse, nur Deutschland nicht, dann stelle ich
     mir als innovativer Unternehmer natürlich schon
     die Frage, wo fange ich an, die nächsten Produk-               Prof. Dr. Frank Czaja:
     te, die wiederum auf diesen Dienstleistungen
     aufbauen, zu entwickeln. Vermutlich fange ich                  Das wäre zu hoffen. Ob das innovativ ist, weiß
     nicht gerade in Deutschland damit an, sondern                  ich gar nicht. Der eigentliche Erfolgsfaktor ist
     eher woanders.                                                 ja, dass ein Bedarf geweckt wurde. Die großen
                                                                    Marktplayer haben ein Elektroauto hingestellt,
     Wir hatten studiVZ oder meinVZ. Es gab sicher-                 das eine geringe Reichweite hat, relativ schwer
     lich verschiedene Gründe, warum das letztlich                  war, eine Klimaanlage und tausend technische
     nichts geworden ist. Wenn Sie mit den damaligen                Gimmicks wie elektrische Fensterheber und der-
     Leuten sprechen, erfahren Sie, dass der Daten-                 gleichen mehr hat. Das war aber nicht typischer-
     schutz tatsächlich ein gravierendes Problem war.               weise die Anforderung des Handwerks, son-
     Das hat eine erfolgreiche Weiterentwicklung, wie               dern man hat gesagt, ich will es einfach haben,
     zum Beispiel die Zusammenführung von mein-                     ich möchte eine Paketversorgung von A nach B.
     VZ, studiVZ und schülerVZ sehr erfolgreich in                  Ich brauche keine elektrischen Fensterheber und

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Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2018

keine Klimaanlage. Und das Fahrzeug wurde            Moderator Holger Steltzner:
gebaut. Die Deutsche Post hat das dann relativ
schnell erkannt, hat das Modell übernommen           Dann haben wir drei Netze, ein traditionelles
und es ausgerollt. Der nächste Innovationsschritt    Tankstellennetz, ein Netz mit Ladestationen für
steht daher unmittelbar bevor. Das ist der nächste   die Elektroautos …
Gedanke. Wenn ich als Logistiker darauf schaue,
ist E-Mobilität eines der treibenden Themen, die
auch von der Bundesregierung momentan ein
bisschen gehypt werden. Das ist aber eigentlich      Prof. Dr. Frank Czaja:
viel zu kurz gesprungen.
                                                     Das haben wir auch noch nicht.
Der nächste Innovationshub ist eigentlich in
der Planung. Elektromobilität kommt gerade in
ländlichen Gebieten, wenn ich mir beispielsweise
eine Postverteilung im Umkreis von Hamm an-          Moderator Holger Steltzner:
sehe – das ist viel zu ländlich, viel zu räumlich
–, mit einer Reichweite von 100 km nicht aus.        … und, wenn das dritte Netz auch noch kommt,
Das, was in dem E-Scooter in dem Modell L ent-       hätten wir dann auch ein Wasserstoffnetz. Das
wickelt wird – das ist auch schon patentiert und     klingt fast wie die Energiewende. Wie wollen wir
wird jetzt auch ausgerollt –, ist ein sogenannter    das finanzieren?
Range Extender, der hinzukommt. Das wird ein
Wasserstoffantrieb sein.

Jeder von uns wird heute sagen: Mensch, Was-         Prof. Dr. Frank Czaja:
serstoffantrieb? Wir haben heute in Deutschland
gerade einmal 20 Tankstellen. Das funktioniert       Ja, das kostet erst einmal etwas. Aber Wasserstoff
doch überhaupt nicht.                                ist mehr oder minder ein Abfallprodukt, das aus
                                                     der Gaserzeugung kommt. Insbesondere Stadt-
Aber da gibt es auch wieder innovative Unter-        werke, also Regionalversorger, und die Politik
nehmen, H2-Mobility beispielsweise, die sich auf     sind gefordert. Dafür gibt es heute Töpfe. Es gibt
die Fahne geschrieben haben, bis zum Jahr 2030       80 Prozent Förderung der Differenz zu dem heu-
1.000 Tankstellen zu installieren und da komplett    tigen Verkehrsträger – eben Diesel. Wenn ich das
neue Geschäftsmodelle – das passt in ein Politi-     umrechne, lassen sich daraus Geschäftsmodelle
kum der Deutschen Post, emissionsneutral bis         generieren. Das kann man dann noch verbin-
zum Jahr 2050 zu sein – zu entwickeln. Da gibt       den. Die asiatischen Hersteller sind uns da vo-
es auch erste Erfolge. Wenn man beispielsweise       raus. Es gibt asiatische Modelle, die eben auch
nach Köln sieht oder nach Heidelberg, wo städ-       Wasserstoffantriebe für Pkws anbieten. Das ist
tische Busflotten geschaffen werden. Wasserstoff     ein zusätzlicher Markt. Ich fahre heute ein Die-
hat eben die Qualität mit Reichweiten bis zu 600     selauto. Momentan würde ich mir das zweimal
km. Wir haben heute in Deutschland 2,9 Mil-          überlegen, ob ich noch einmal einen Diesel neh-
lionen Lkws zugelassen. Wenn ich Sie jetzt fra-      me, weil ich mir nicht so sicher bin, ob ich dem-
ge, wie viele dieser Lkws emissionsfreundlich        nächst damit noch nach Stuttgart problemlos
unterwegs sind, wird der eine oder andere das        hineinkomme. Insofern ist das eine innovative
vielleicht wissen. Es sind genau 30.000 Lkws. Der    Technologie – politisch gewollt oder nicht – für
Rest ist mit Diesel ausgestattet. Das ist also ein   die zu klären ist, wie man diese inhaltlich um-
Riesenmarkt. Aus dem konkreten Marktbedarf           setzen kann.
heraus entsteht also eher eine solche Innovation.
Da sind die nächsten Entwicklungsschritte vor-
handen, die auch schwierig sind, etwa von 20 auf
1.000 Tankstellen und auf ein flächendeckendes       Moderator Holger Steltzner:
Netz mit Wasserstofftankstellen zu kommen. Da-
rüber hat zwar heute noch keiner nachgedacht,        Ich bin ebenfalls Dieselfahrer und würde genau-
aber ich bin mir sicher, dass das kommen wird.       so wie Sie aufgrund der vorhandenen Debatte

                                                                                       Dialog Handwerk 1 | 2018      17
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