Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen aus Anlass der COVID-19-Pandemie - BAGSO
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Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen aus Anlass der COVID-19-Pandemie Rechtsgutachten erstattet von Prof. Dr. Friedhelm Hufen o. Professor für Öffentliches Recht - Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Mainz Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz a.D. im Auftrag der BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen e.V. November 2020
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Inhaltsverzeichnis I. Gegenstand des Gutachtens, Sachverhalt, Problemstellung 5 1. Gegenstand 5 3. Problemstellung – Gutachtenauftrag 8 4. Gang der Untersuchung 10 II. Sachliche und persönliche Schutzbereiche, Adressaten und Funktionen der Grundrechte 11 1. Persönlicher Schutzbereich – Grundrechtsträger 11 2. Sachlicher Schutzbereich – einzelne Grundrechte 11 a. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) 11 b. Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) 11 c. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 GG) 12 d. Freizügigkeit (Art. 11 GG) / freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) 12 e. Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) / Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) 12 f. Religionsfreiheit (Art. 4 GG) 12 g. Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) 12 h. Schutz des Eigentums (Art. 14 GG) 13 i. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) / Diskriminierungsverbote (Art. 3 Abs. 3 GG) 13 3. Grundrechtsadressaten – Drittwirkung 13 a. Staatsorgane, Behörden und öffentliche Heimträger 13 b. Private Träger – Drittwirkung der Grundrechte 14 4. Funktionen der Grundrechte 16 a. Abwehrrechte 16 b. Objektive Schutzpflichten 16 c. Teilhaberechte 16 d. Grundrechtsschutz durch Verfahren 17 III. Grundrechtseingriffe 17 1. Allgemeines 17 2. Besuchsverbote und Isolationsmaßnahmen 18 a. Eingriffe in das Recht auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) 18 b. Eingriffe in Grundrechte Dritter 18 c. Insbesondere: Menschen in Palliativeinrichtungen und Hospizen 19 d. Insbesondere: Demenzpatienten 19 3. Ausgangssperren 19 4. Sonstige Maßnahmen 19 3
IV. Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen 20 1. Allgemeines 20 2. Keine Rechtfertigung für Eingriffe in die Menschenwürde 20 3. Keine Rechtfertigung durch unterstellte oder unter Druck erteilte Einwilligung 20 4. Grundrechtskonforme Verfahren 21 5. Eingriffsgrundlage 21 a. Hausrecht des Trägers 21 b. Normen des Infektionsschutzgesetzes 22 c. Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit – zu weite Ermessens- und Beurteilungsspielräume 23 d. Verpflichtende Ausnahmebestimmungen 24 6. Verhältnismäßigkeit – praktische Konkordanz 25 a. Allgemeine Voraussetzungen 25 b. Grund der Einschränkung – Gemeinwohlziele 25 (1) Leben und Gesundheit der Bewohner 25 (2) Schutz des Personals 26 (3) Schutz der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems 26 c. Eignung 26 d. Erforderlichkeit 27 e. Zumutbarkeit 29 V. Anwendung auf einzelne Maßnahmen und Einrichtungen 29 1. Besuchsverbote 29 2. Insbesondere: Schutz vor Sterben in Einsamkeit – Palliativeinrichtungen und Hospize 30 3. Insbesondere: Demenzkranke 31 4. Getrennte Wohneinheiten / Betreutes Wohnen / Selbstbestimmte Wohngemeinschaften 31 5. Ausgangssperren und Quarantänepflicht bei Rückkehr 32 6. Interne Maßnahmen 33 VI. Rechtsfolgen und Rechtsschutz bei Grundrechtsverletzungen 33 1. Maßnahmen öffentlicher Träger 33 2. Durchsetzung der Schutzpflicht der Aufsichtsbehörden 34 3. Private Träger 34 4. Verfassungsbeschwerde und einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts 35 VII. Zusammenfassungund Ausblick 35 4
I. Gegenstand des Gutachtens, wurde vor allem defensiv mit einer vollstän- Sachverhalt, Problemstellung digen oder partiellen Schließung der Heime reagiert. Fast alle „Corona-Verordnungen“ 1. Gegenstand der Länder enthielten besondere Ein- schränkungen für Alten- und Pflegeheime4. Gegenstand des vorliegenden Rechtsgut- Diese Einschränkungen gehörten zu einer achtens ist die Frage der Rechtmäßigkeit von ganzen Reihe von Maßnahmen, die später Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen so- allgemein als Überreaktionen eingeschätzt wie interner Restriktionen in Einrichtungen wurden5, trafen aber die Bewohner von der stationären Langzeitpflege (Alten- und Alten- und Pflegeheimen sowie deren An- Pflegeheime einschließlich Palliativ- und gehörige besonders hart. Sie führten dazu, Hospizeinrichtungen) im Zusammenhang dass Heimbewohner teilweise über mehrere mit der Bekämpfung der COVID-19-Pande- Monate von ihren Ehepartnern, Eltern und mie. Kindern sowie Geschwistern getrennt waren und darüber hinaus auch keinen Kontakt 2. Sachverhalt zu Ärzten, Therapeuten, Seelsorgern, Be- treuern und Rechtsbeiständen hatten – und Kurz nach dem Ausbruch der „Corona-“ oder das, obwohl die alsbald verabschiedeten auch COVID-19-Pandemie kam es in einzel- Corona-Schutzverordnungen der Bundeslän- nen Alten- und Pflegeheimen zu einigen der durchgehend Ausnahmebestimmungen spektakulären Ausbrüchen der Krankheit1 zugunsten dieses Personenkreises vorsahen. mit zahlreichen toten Heimbewohnern2 Parallel kam es zu scharfen Ausgangsbe- und schwer erkrankten Pflegekräften. Alte schränkungen oder der Androhung einer und Pflegebedürftige wurden als beson- teils mehrwöchigen Quarantäne oder gar ders schutzbedürftige „Risikopatienten“ eines „Zimmerarrests“ nach Rückkehr ins gesehen. Aussagen wie „jeder dritte Tote Heim. Nicht zufällig wurden die Maßnah- ist ein Heimbewohner“3 taten ein Übriges. men mit Vokabeln wie „Einsperren“, „Haus- Da zudem in den wenigsten Einrichtungen arrest“ und „Gefängnis“ in Verbindung hinreichend Testmöglichkeiten, Masken gebracht. Neben den „lock down“ der Wirt- und Schutzkleidung zur Verfügung standen, schaft trat – von der Öffentlichkeit zunächst 1 Drastisch vor allem der Fall „Hanns-Lilje-Heim“ in Wolfsburg mit 100 infizierten Bewohnern und 40 betroffenen Beschäftigten (Angaben nach Hart aber fair: Das Virus kommt mit Macht zurück: Wer schützt jetzt die Alten? 2020 [Fernsehsendung], WDR, Montag, 12.10.2020, 21.00–22.15 Uhr [01:14:58 Std], https://www1. wdr.de/daserste/hartaberfair/videos/video-das-virus-kommt-mit-macht-zurueck-wer-schuetzt-jetzt-die- alten-100.html, letzter Abruf: 04.11.2020). 2 Hier und bei ähnlichen Begriffen sind in der Folge auch weibliche Personen immer einbezogen. 3 Hart aber fair (Fn. 1). 4 Vgl. die Zusammenstellung bei BIVA-Pflegeschutzbund, Übersicht über Besuchseinschränkungen in Alten- und Pflegeheimen wegen Corona, https://www.biva.de/besuchseinschraenkungen-in-alten-und-pflegeheimen- wegen-corona/ (letzter Abruf: 02.10.2020). 5 Barczak, Der nervöse Staat, 2020. 5
kaum beachtet – ein „lock in“ für alte und von Depressionen bis hin zum Suizid. pflegebedürftige Menschen in Heimen. Auch die fehlende Aufsicht und Kontrol- le durch die dafür zuständigen Stellen, die Bald berichteten die Medien von verzwei- mangelhafte Information und der Verlust felten Versuchen von Ehepartnern, Kindern der Kontrolle aufseiten der Angehörigen und und anderen Angehörigen, Isolation und zumindest in Einzelfällen geradezu dikta- Einsamkeit in Pflegeheimen zu durchbre- torisches Verhalten von Heimleitungen und chen. Eine Tochter berichtete davon, dass Pflegern wurden beklagt. Besonders betrof- sie seit Monaten ihre 96-jährige Mutter fen waren die gänzlich auf fremde Hilfe an- nicht sehen konnte, dass ihnen selbst Dis- gewiesenen Personen sowie die an Demenz tanzbesuche mit drei Metern Abstand vor erkrankten Bewohner, die nach überein- der Haustüre untersagt wurden, dass ihre stimmender Expertenmeinung noch mehr Angehörige nach eigener Auskunft nur noch als andere auf persönliche Nähe und Begeg- den Wunsch verspüre zu sterben, weil sie nung mit wenigen vertrauten Personen, ins- „so“ nicht mehr leben wolle6. Gravierend besondere dem Ehepartner, dem Sohn oder waren und sind auch die nachgewiesenen der Tochter angewiesen sind und nicht be- Gesundheitsschäden als unmittelbare Folge greifen konnten, warum diese ausblieben7. der Isolation, die unter anderem dadurch Der lange vor dem physischen Tod eintre- entsteht, dass begleitende Pflege durch An- tende „soziale Tod“ in Einsamkeit8 und ein gehörige, etwa in Form des Anreichens von einsames Sterben – ein Schreckensbild jeder Nahrung und Flüssigkeit, ausbleibt, dass menschenbezogenen Ethik – wurde vielfach die Versorgung durch externe Therapeuten zur Realität. Durch einzelne Landesverord- und Ärzte unzureichend ist und dass es an nungen eingeräumte Besuchszeiten9 reich- frischer Luft, Licht und Bewegung mangelt. ten vielfach nicht aus oder wurden durch Darüber hinaus besteht generell die Gefahr die Heime uneinheitlich und nicht verläss- von geistigem und körperlichem Abbau und lich umgesetzt. Bewohner und Verwandte 6 Ott, Letzter Wille ungewiss, SZ vom 08.04.2020 – „Das Besuchsverbot in Altenheimen lässt Menschen verzweifeln“. Die Auftraggeberin des vorliegenden Rechtsgutachtens verfügt über eine Sammlung von Schilderungen von Betroffenen und deren Angehörigen, denen allen schwerwiegende Klagen über die Isolation und deren Folgen in Pflegeheimen gemeinsam ist. 7 Dämon, Für Demenzkranke ist die Isolation fatal. Der Gießener Soziologe Reimer Gronemeyer beschäftigt sich mit den Corona-Folgen für die Bewohnerinnen und Bewohner von Heimen, Frankfurter Rundschau vom 09.09.2020; Janssens (Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V.): Angehörige für Demenzkranke unabdingbar, in: Hart aber fair (Fn. 1). 8 Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, 8. Aufl. 1995. 9 Vgl. etwa § 7 Abs. 3 der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 17.04.2020, der Eltern, Ehegatten, Seelsorger, Rechtsbeistände und externes medizinisches Personal ausdrücklich von Besuchsverboten ausnimmt, und Abs. 5, der die Begleitung von Schwerkranken oder Sterbenden bzw. von Geburten ebenso ausdrücklich privilegiert; https://msagd.rlp.de/fileadmin/msagd/Gesundheit_und_Pflege/ GP_Dokumente/Informationen_zum_Coronavirus/200420_4_Corona_Bekaempfungsverordnung_konsolidierte_ Fassung.pdf (letzter Abruf: 04.11.2020). 6
sahen sich hilflos fremden Entscheidungen ständigen sozialen Isolation der Betroffenen ausgeliefert und mit Einschränkungen kon- führen dürfen. Ähnliches geschah in der frontiert, mit denen sie beim Einzug in die Gesundheitsministerkonferenz vom 18. Juni Einrichtung nicht rechnen konnten. Folgen- 2020, bei der u. a. die Erarbeitung von Be- reich waren auch der Fortfall von Angebo- suchskonzepten angemahnt wurde. Dies ten der Gesundheitsförderung, Prävention schlug sich in einzelnen Verordnungen der und Rehabilitation sowie der angeordnete Länder nieder, die z.T. feste und erweiterte Verzicht auf gemeinsame Mahlzeiten oder Besuchsmöglichkeiten, die Gewährleistung andere Gemeinschaftsveranstaltungen sowie der Sterbebegleitung sowie den Zugang von die Schließung von Freizeitbereichen und – Seelsorgern, Therapeuten, Rechtsanwälten in zumindest einem berichteten Fall – sogar vorsehen und statt auf Isolation auf Schutz- einer Kapelle in einem katholischen Heim10. maßnahmen wie Händedesinfektion, All- tagsmaske, besondere Besucherzimmer und Diese Härten und teilweise Widersprüch- besondere Schutzbereiche setzen13. Größ- lichkeiten führten schon im Frühjahr 2020 tenteils wurde bei Einhaltung von Schutz- nicht nur zu entschiedenen Stellungnahmen maßnahmen auch das kurzzeitige Verlassen von Verbänden – darunter mehrfach der der Einrichtungen und die Rückkehr ohne Auftraggeberin des vorliegenden Rechts- Quarantäne ermöglicht. gutachtens11 –, sondern bewirkten auch das Aufgreifen des Themas durch Politiker. Die Probleme waren damit allerdings nicht So wurden in der Telefonschaltkonferenz gelöst. Zum einen betrafen die Erleichterun- der Bundeskanzlerin mit den Ministerprä- gen nicht alle Bundesländer und schränkten sidentinnen und ‑präsidenten der Länder auch das Ermessen der Behörden und der am 6. Mai 202012 nicht nur Maßnahmen zur Heimleitungen nicht ein. So wurden teilwei- Eindämmung der Covid‑19-Pandemie be- se innerhalb eines Bundeslandes, ja sogar sprochen, sondern auch explizit Öffnungs- innerhalb einer Stadt oder eines Landkreises schritte für Krankenhäuser, Pflegeheime höchst unterschiedliche Wege beschritten. und Behinderteneinrichtungen vereinbart und betont, dass Regularien nicht zur voll- 10 Badische Zeitung vom 15.10.2020. 11 BAGSO, Soziale Isolation von Menschen in Pflegeheimen beenden!, Stellungnahme vom 27.04.2020, S. 1, https://www.bagso.de/fileadmin/user_upload/bagso/06_Veroeffentlichungen/2020/Stellungnahme_Soziale_ Isolation_Pflegeheime.pdf; BAGSO, Besuche in Pflegeheimen: Einrichtungen brauchen klare Vorgaben und mehr Unterstützung, Stellungnahme vom 25.05.2020, https://www.bagso.de/fileadmin/user_upload/ bagso/06_Veroeffentlichungen/2020/barrierefrei_BAGSO_4_seiter_stellungnahme_besuche_in_pflegeheimen_ corona....pdf (letzter Abruf: jeweils 04.11.2020). 12 https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/corona/beschluss- bund-laender-oeffnungen-6-mai.pdf;jsessionid=F0E56BF59114FAC45D6274265D37E22D.1_cid287?__ blob=publicationFile&v=1 (letzter Abruf: 04.11.2020). 13 BIVA Pflegeschutzbund, Übersicht über Besuchseinschränkungen in Alten- und Pflegeheimen wegen Corona (Fn. 4). 7
Zum anderen wurden wichtige Erleichterun- gen Rechtsgrundlagen erlauben18. Wichtiger gen in etlichen Einrichtungen nicht um- als die verfassungsrechtliche Beurteilung der gesetzt. Einzelne Heimleitungen betonten, Situation im März 2020 ist also die Verhin- dass Besuchsverbote und Ausgangssperren derung erneuter verfassungswidriger Zu- in jedem Fall aufrechterhalten bleiben14. stände. Das betraf sogar so besonders sensible Be- reiche wie das „Sterben in Einsamkeit“ und 3. Problemstellung – Gutachtenauftrag die seelsorgerische Betreuung. Alten- und Pflegeheime geraten gerade seit dem Neu- Die BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der anstieg der Infektionszahlen im Oktober/ Seniorenorganisationen e.V. hat den Ver- November 2020 wieder in den Mittelpunkt. fasser dieses Gutachtens mit der vertieften Zwar betonen der zuständige Minister Überprüfung der Besuchsverbote, Ausgangs- Spahn15 und andere Politiker immer wieder, sperren und vergleichbarer Maßnahmen in dass es nicht zu einer neuen Totalsperre der Alten- und Pflegeheimen unter Einschluss Heime kommen dürfe. Das trifft sich mit von Palliativstationen und Hospizen beauf- erneut erhobenen Forderungen der Ver- tragt. Ebenso geht es um die Erarbeitung bände16 und auch mit Zusicherungen füh- verfassungskonformer Lösungen für die render Politiker und Wissenschaftler, die auf Zukunft und vor dem Hintergrund neuer Schutzmaßnahmen im Einzelfall, insbeson- Entwicklungen. Die genannten Einschrän- dere den Einsatz von Schnelltests setzen und kungen betreffen grundlegende verfas- übereinstimmend betonen, dass eine er- sungsrechtliche Garantien, insbesondere neute Isolation vermieden werden müsse17. der Freiheitsrechte – im schlimmsten Fall Die Rechtslage ist aber insofern nach wie vor sogar die Menschenwürde – der Bewohner, nicht hinreichend bestimmt. Deshalb gibt aber auch der Angehörigen, Seelsorger und es bereits wieder Berichte von Angehörigen, Betreuer. Im Einzelfall können auch Heim- dass die Heime Zugangsbeschränkungen träger grundrechtsbetroffen sein – etwa strenger handhaben, als es die einschlägi- wenn sie sich gegen staatliche Verordnun- 14 So hat die Leiterin einer Mainzer Seniorenresidenz kategorisch erklärt, dass sie Besucher ggf. noch auf Wochen hinaus nicht zulassen will (Allgemeine Zeitung Mainz vom 07.05.2020, S. 9). 15 „Es braucht keine Besuchsverbote in Pflegeheimen mehr“, 02.09.2020, u. a. zitiert von aerzteblatt.de oder zeit.de, siehe auch https://www.tagesschau.de/inland/spahn-corona-123.html (letzter Abruf: 02.10.2020). 16 Vgl. die Meldung der BAGSO „Schnelltests sollen Isolation von Heimbewohnern verhindern“ vom 15.10.2020, https://www.bagso.de/spezial/aktuelles/detailansicht/schnelltests-sollen-isolation-von-heimbewohnern- verhindern/, und das Positionspapier „Jetzt erst recht! – Lebensbedingungen älterer Menschen verbessern“ vom 17.09.2020, https://www.bagso.de/fileadmin/user_upload/bagso/06_Veroeffentlichungen/2020/BAGSO- Positionspapier_Jetzt_erst_recht_Lebensbedingungen_aelterer_Menschen_verbessern.pdf (letzter Abruf: jeweils 04.11.2020). 17 Exemplarisch der Pflegebeauftragte der Bundesregierung Westerfellhaus: „Das darf nicht mehr passieren“, in: Hart aber fair (Fn. 1). 18 Klapsa, Schon wieder Besuchsverbote im Pflegeheim?, Die Welt vom 22.10.2020. 8
gen und Aufsichtsmaßnahmen wenden19. legung von Rechtsmitteln könne möglicher- Auch wenn zwischenzeitlich – mehrheitlich weise den Klägern oder ihren Angehörigen unzureichende – Erleichterungen und strikt schaden. begrenzte Besuchsmöglichkeiten vorgesehen wurden und weitere geplant sind, ist das Dem Verfasser liegen zwei Urteile von Amts- Problem damit nicht „erledigt“. Es bleiben gerichten vor21. Im ersten Urteil wird eine problematische Ermessensspielräume sowie einstweilige Verfügung aufgehoben, mit der vor allem die Wiederholungsgefahr aufgrund die Tochter einer schwer Demenzerkrankten der neueren Entwicklung. den Zugang unter Hinweis auf die schwer- wiegenden psychologischen Folgen gerade In Literatur und Rechtsprechung werden die für Demenzkranke erstritten hatte. Das Ge- genannten verfassungsrechtlichen Probleme richt folgte aber dem Antrag der Heimlei- zwar vereinzelt diskutiert20, aber viele Fra- tung, wonach das Besuchsverbot gerade bei gen für künftige Fälle bleiben offen. Anders einer schwer zu kontrollierenden und mit als zu den vergleichbaren Problemen bei- hohem Bewegungsdrang und geringer Ein- spielsweise der coronabedingten Versamm- sichtsfähigkeit versehenen Demenzkranken lungsverbote, der Einschränkungen von zum Schutz der übrigen Heimbewohner und Gottesdienstbesuchen oder auch der par- des Personals erforderlich sei. tiellen Schließung von Gaststätten, Res- taurants, ja sogar Bars, Bordellen und Im zweiten Urteil setzen sich dagegen die Shisha-Bars existiert bisher zum Problem Töchter eines schwer demenzkranken Ver- der Isolation von Pflegeheimbewohnern fügungsklägers durch und erstreiten einen vergleichsweise wenig Rechtsprechung. Das aus § 862 Abs. 1 BGB begründeten Zugang liegt zum einen daran, dass die Träger der wegen der in der Zugangssperre liegenden Einrichtungen zumeist privatrechtlich sind, Besitzstörung. Ferner weist das Gericht auf also nicht der Sozial- oder Verwaltungs- die Vorsorgevollmacht der Töchter hin, zu rechtsweg, sondern der bei weitem risiko- deren Vollziehung eine Kontrolle über die reichere Zivilrechtsweg eröffnet ist, und die Ausübung der Fachpflege erforderlich sei. Auseinandersetzungen zumeist im Bereich Abgesehen von einem kurzen Hinweis auf des vorläufigen Rechtsschutzes verbleiben. Art. 6 GG im erstgenannten Urteil gehen Zum anderen kann aber vermutet werden, die beiden Zivilgerichte nicht auf die ver- dass wegen des Abhängigkeitsverhältnis- fassungsrechtlichen Probleme von Besuchs- ses der Bewohner von Heimleitungen und regelungen ein. Personal die Befürchtung besteht, die Ein- 19 So war der Badischen Zeitung vom 13.10.2020, S. 5, zu entnehmen, dass sich ein Betreiber gegen möglicherweise drohende Schließungsanordnungen wehren will. 20 Hufen, Verfassungsrechtliche Grenzen der Isolation von Bewohnern in Alten- und Pflegeheimen, Gesundheit und Pflege 2020, S. 93 ff.; Schaltke, Corona-Fälle aus der Rechtsschutzpraxis, NJW 2020, 2759; Kießling, Viele Corona-Maßnahmen sind rechtswidrig, FAZ vom 30.09.2020, S. 2; allg. auch Kersten/Rixen (Hg.), Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2020. 21 AG Schöneberg, Beschluss vom 29.04.2020, C 56/20, und AG Dippoldiswalde, Urteil vom 27.04.2020, 4 C 219/20. 9
In einer weiteren Entscheidung betont das 4. Gang der Untersuchung OVG Berlin-Brandenburg zwar die Unzuläs- sigkeit pauschaler Beschränkungen und die Der Aufbau der folgenden Untersuchung ist menschenrechtliche Dimension des Prob- durch das von Verfassungsgerichten ver- lems, hebt aber den Beurteilungsspielraum wandte Schema der Grundrechtsprüfung be- des Heimträgers hervor und hält im konkre- stimmt. Geklärt wird zunächst der sachliche ten Fall Besuchsregeln im Hinblick auf den und personelle Schutzbereich der Grund- Gesundheitsschutz der Bewohner für ver- rechte der Heimbewohner und Pflegebe- hältnismäßig22. dürftigen, aber auch der Verwandten, Ärzte, Seelsorger und der Heimträger im Verhält- Dagegen hat das VG Minden23 kürzlich ei- nis zur Staatsaufsicht sowie die in Betracht nem Eilantrag gegen Zugangsbeschränkun- kommenden Grundrechtsadressaten (Staat, gen stattgegeben und dies mit dem Fehlen Kommunen, öffentliche und private Heim- einer hinreichenden gesetzlichen Eingriffs- träger) (II). Im Anschluss daran wird geprüft, grundlage für die Isolierung in Pflegeein- inwiefern Besuchsverbote, Ausgangssperren richtungen begründet. und interne Anordnungen Grundrechtsein- griffe darstellen (III). Sodann ist zu fragen, Über die Klärung verfassungsrechtlicher ob und unter welchen Voraussetzungen Fragen hinaus soll das Gutachten zur solche Eingriffe verfassungsrechtlich ge- Rechtssicherheit für alle Beteiligten, Be- rechtfertigt werden können (IV). Es folgt die hörden und Gerichte, aber auch zur Ver- Einzelbeurteilung bestimmter Maßnahmen sachlichung der rechts- und gesundheits- (V). Abschließend wird auf die Rechtsfolgen politischen Diskussion beitragen. Soweit von Grundrechtsverletzungen und Rechts- das Gutachten Grundrechtsverletzungen schutzmöglichkeiten der Betroffenen ein- aufzeigt, wird damit nicht die in Zeiten der gegangen (VI). Pandemie besonders schwierige Situation der Pflegeheime und ihrer Leitungen und der aufopferungsvolle Dienst der Pflege- kräfte infrage gestellt. Auch sei vorab be- tont, dass die Beurteilung vielfach von den besonderen baulichen, finanziellen und personellen Bedingungen der einzel- nen Einrichtungen abhängt. Das beeinflusst selbstverständlich auch die Beurteilung der Maßnahmen im Einzelfall. 22 OVG Berlin-Brandenburg, 03.04.2020, NJW 2020, 1752. 23 Beschluss vom 14.10.2020 – 7 L 729/20. 10
II. Sachliche und persönliche und damit gegen ungerechtfertigte Eingriffe Schutzbereiche, Adressaten gesichert sind25. und Funktionen der Grund- rechte a. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) Unabhängig von Alter, körperlicher und 1. Persönlicher Schutzbereich – seelischer Gesundheit sowie Entscheidungs- Grundrechtsträger fähigkeit schützt die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) den Kernbereich menschlicher Als Grundrechtsträger kommen für die Selbstbestimmung, die persönliche Integri- vorliegende Untersuchung vor allem Heim- tät und auch die Existenz des Menschen als bewohner und Pflegebedürftige in Betracht. „Sozialwesen“26 und damit soziale Kon- Diese sind ungeachtet ihres Lebensalters, takte – vor allem in Grenzsituationen des ihres Gesundheitszustands, ihrer geistigen Lebens und ganz besonders bei der Geburt und körperlichen Fähigkeiten und ihrer und im Sterben. Sowohl das BVerfG27 als Betreuungsbedürftigkeit uneingeschränkt auch der EGMR28 haben immer wieder selbst Träger der Grund- und Freiheitsrechte. für Strafgefangene das Verbot völliger Isola- Dasselbe gilt für Angehörige, Seelsorger, tion und der Kontaktsperre hervorgehoben, Therapeuten und – im Verhältnis zum Ver- und nicht umsonst ist von „Isolationsfolter“ ordnungsgeber und zu staatlichen Behörden und mit ihr von einem klassischen Tatbe- – auch die privaten Heimträger. Grundsätz- stand der Verletzung der Menschenwürde lich gelten die genannten Grundrechte auch die Rede. Was nach dieser Rechtsprechung für demente und nicht einwilligungsfähige selbst für Schwerstverbrecher gilt, muss – Menschen im Rahmen der jeweiligen sub- unter welchen Bedingungen auch immer – jektiven Fähigkeiten24. umso mehr für unschuldig in diese Situation gelangte Pflegebedürftige und Heimbewoh- 2. Sachlicher Schutzbereich – ner gelten. einzelne Grundrechte b. Grundrecht auf Leben und körperliche Der sachliche Schutzbereich eines Grund- Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) rechts umreißt diejenigen Handlungen, Das Grundrecht auf Leben und körperliche Sachverhalte, Lebensräume und ggf. Einrich- Unversehrtheit schützt die physische, aber tungen, die durch ein Grundrecht geschützt auch die seelische Integrität29 der Heim- 24 BVerfG, 29.01.2019, NJW 2019, 1201 – Wahlrechtsausschluss; Deutscher Ethikrat, Demenz und Selbstbestimmung, 2012. 25 Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte. 8. Aufl. 2020, § 6 Rn. 2 ff. 26 Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1, Rn. 59; Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 8. Aufl. 2020, § 10 Rn. 14. 27 BVerfGE 45, 187, 238; BVerfGE 64, 261, 272. 28 EGMR, 10.04.2012, NVwZ 2013, 925. 29 BVerfGE 56, 54, 75; auch EGMR, NJW 2019, 1733 – Kindeswohl; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II Rn. 33 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 223 ff. 11
bewohner und der in diesen Einrichtun- und unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit gen tätigen Menschen. Es umfasst auch erfolgen. die Schutzpflicht des Staates (dazu unten II 4 b und VI 2) und der Träger von Pflege- e. Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 einrichtungen für Leben und Gesundheit. GG) / Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) Die seelische Gesundheit ist der körperli- Der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe chen Gesundheit in der Schutzwirkung des und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) gilt insbeson- Grundrechts nicht nach‑, sondern gleich- dere dem Zusammenleben von Ehepartnern geordnet30. und dem unmittelbaren Kontakt mit Familienmitgliedern32. Das Elternrecht c. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) umfasst den Zugang zu (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 GG) kranken und pflegebedürftigen Kindern. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt u. a. die Selbstbestimmung über das eigene f. Religionsfreiheit (Art. 4 GG) Leben und den eigenen Körper sowie das Die Religionsfreiheit schützt die individuelle Recht auf soziale Kontakte, soweit diese und die kollektive Religionsausübung sowie nicht bereits durch die Menschenwürde den Zugang zu religiösen Einrichtungen verfassungsrechtlich unantastbar geschützt und Gottesdiensten. Der Zugang zu Kirchen, sind. Das kürzlich durch das BVerfG betonte Kapellen und sonstigen religiösen Einrich- Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben31 tungen unterliegt keinem Gesetzesvorbehalt umfasst auch das Recht zum Eingehen von und kann nur eingeschränkt werden, wenn Gesundheitsrisiken – vorbehaltlich des dies zum Schutz anderer Verfassungsgüter Schutzes der Rechte Dritter. zwingend erforderlich ist. Nicht von unge- fähr gehörte die Religionsfreiheit neben d. Freizügigkeit (Art. 11 GG) / freie Entfal- der Versammlungsfreiheit zu den ersten tung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) Grundrechten, die das BVerfG zu Beginn der Das Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG) Corona-Pandemie gegen unverhältnismäßige und das Grundrecht auf freie Entfaltung Einschränkungen schützte, indem es u. a. der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) gelten klarstellte, dass die Teilnahme an Gottes- grundsätzlich für alle Menschen, auch wenn diensten zentraler Bestandteil der Religions- diese sich in Pflegeeinrichtungen aufhalten. freiheit ist33. Beschränkungen sind nach Art. 11 Abs. 2 GG zur Bekämpfung von Seuchengefahr zwar g. Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) möglich, müssen aber auf einer hinrei- Pflegebedürftige und Heimbewohner dürf- chend bestimmten gesetzlichen Grundlage ten gemeinhin andere Sorgen haben, als an 30 BVerfGE 56, 54, 75; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II Rn. 354. 31 BVerfG, 26.02.2020, 2 BvR 2347/15= NVwZ 2020, 1033 (Ls), u. a. BeckRs 2020, 2216; ebenso schon zuvor BVerwG, 02.03.2017, NJW 2017, 2215. 32 BVerfGE 136, 382, 24.06.2014, NVwZ 2015, 295 (LS). 33 BVerfG, Kammer, 10.04.2020, NJW 2020, 1427 = NVwZ 2020, 783; BVerfG, Kammer, 29.4.2020, 1 BvQ 44/20. 12
Demonstrationen teilzunehmen. Gleichwohl der privaten Existenz handelt, ist dieser ist darauf hinzuweisen, dass sie sich wie Rechtsgedanke auf alle vollstationären alle anderen Deutschen friedlich und ohne Pflegeeinrichtungen zu übertragen, auch Waffen im Freien wie auch in geschlossenen wenn die ausschließliche Nutzungsbefug- Räumen versammeln dürfen. Die Versamm- nis nicht wie in § 535 BGB ausgestaltet ist. lungsfreiheit (Art. 8 GG) gehört also zu den Art. 14 GG schützt nicht nur die Substanz, Grundrechten, die durch Ausgangssperren sondern auch die Nutzung des Eigentums35. und interne Maßnahmen in Heimen nicht ohne Grund eingeschränkt werden dürfen. i. Allgemeiner Gleichheitssatz Sie gilt für die Betroffenen ungeachtet ihres (Art. 3 Abs. 1 GG) / Diskriminierungsverbote Alters und ihrer Pflegebedürftigkeit so- (Art. 3 Abs. 3 GG) wohl in geschlossenen Räumen (also auch Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 in der Einrichtung) als auch außerhalb. GG) verbietet jede sachlich nicht begründete Heimbewohner können sich also z. B. zu Ungleichbehandlung, also Diskriminierung, gemeinsamen Aktionen im Heim versam- älterer und pflegebedürftiger Menschen. meln. Versammlungen gegen Isolations- Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG schließt auch die Be- maßnahmen und der Zugang zu externen nachteiligung wegen einer Behinderung Versammlungen können nur nach den aus. Ebenso unzulässig ist die schematische allgemeinen Vorschriften und nicht etwa Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte. durch das Hausrecht der Einrichtung unter- Einschlägig ist auch das Verbot der Altersdis- bunden werden. kriminierung in der Gleichstellungsrichtlinie der EU36. h. Schutz des Eigentums (Art. 14 GG) Steht eine Einrichtung im Miteigentum der 3. Grundrechtsadressaten – Bewohner, so sind der freie Zugang und Drittwirkung die Verfügung über dieses Eigentum durch Art. 14 GG geschützt. Auch auf zivilrecht- a. Staatsorgane, Behörden und öffentliche licher Ebene bestehen entsprechende An- Heimträger sprüche. Hinzuweisen ist auch darauf, dass Unmittelbar an die Grundrechte gebunden das BVerfG seit einer Entscheidung aus (Art. 1 Abs. 3 GG) sind Gesetz- und Ver- dem Jahre 199334 in ständiger Rechtspre- ordnungsgeber, Behörden und öffentliche chung das Besitzrecht des Mieters im Lichte Heimträger. Das gilt für staatliche und kom- des Art. 13 GG als Mittelpunkt der privaten munale Behörden auch insofern, als sie Trä- privaten Existenz gesehen und als eigen- ger der Staatsaufsicht über die öffentlichen, tumsähnliches Recht dem Schutz des Art. 14 aber auch die privaten Heime sind. Die hier GG unterstellt. Da es sich bei dem Zimmer in entstehenden Rechtsverhältnisse, die nach einem Heim um einen solchen Mittelpunkt dem Fortfall des Bundesheimgesetzes seit 34 BVerfGE 89, 1, 1 BvR 208/93, http://www.bverfg.de/e/rs19930526_1bvr020893.html, dort insbesondere Rn. 21 f. 35 Dazu Hufen, StaatsR II. Grundrechte, § 38 Rn. 17. 36 RL 2000/43/EG vom 29.06.2000; T. Müller, Alter und Recht, 2011, S. 121. 13
2009 durch die Bundesländer geregelt sind, Der traditionellen Lehre „mittelbarer Dritt- sind öffentlich-rechtlicher Natur. wirkung“ entsprach es, dass die Grundrech- te lediglich als Auslegungsdirektiven für die Öffentlich-rechtlicher Natur ist auch die Generalklauseln des Zivilrechts galten. Das Schutzpflicht der Träger der Staatsaufsicht führte dazu, dass Betroffene sich im Ver- gegenüber den Heimbewohnern. Galten die hältnis zu privaten Trägern nicht unmittelbar Ziele der Staatsaufsicht früher vor allem dem auf die Grundrechte berufen konnten, diese Gemeinwohl und öffentlichen Interessen, so vielmehr nur im Rahmen der zivilrecht- geht es heute auch und vor allem um den lichen Generalklauseln wie § 242 und § 138 Schutz der Heimbewohner. Diese Schutz- BGB, ggf. auch bei Geltendmachung von pflicht kann zur Klagebefugnis der Heim- Schadensersatzansprüchen im Rahmen von bewohner bei Verletzung der Aufsichtspflicht § 823/826 BGB und als Bestandteil einer all- führen (dazu unten VI.2). gemeinen „Wertordnung“ des GG wirkten38. b. Private Träger – Drittwirkung der Grund- Das BVerfG und das BVerwG haben dann rechte allerdings in den vergangenen Jahren einen In der Bundesrepublik gibt es 14.480 Pflege- grundlegenden Paradigmenwechsel voll- heime, davon nur 682 in öffentlicher Trä- zogen, indem sie eine unmittelbare Dritt- gerschaft37. Die meisten abgeschlossenen wirkung von Grundrechten zumindest dann Heimverträge sind demzufolge privatrecht- angenommen haben, wenn es um einen licher Natur und Rechtsstreitigkeiten folglich Bereich privatisierter Daseinsvorsorge oder vor den Zivilgerichten auszutragen. Gleich- besonderer Grundrechtsrelevanz geht oder wohl stellt sich die Frage, ob und inwieweit ein Monopol eines privaten Trägers besteht die privaten Träger direkt oder indirekt an und wenn die Leistung für die Teilhabe am die Grundrechte der Betroffenen gebunden sozialen und kulturellen Leben von be- sind und ob die Grundrechte in den privat- sonderer Bedeutung ist39. So wurden Ver- rechtlichen Vertragsverhältnissen Wirkung sammlungen im Terminal eines privatrecht- entfalten. lich organisierten Flughafens oder in einem Einkaufszentrum unter Grundrechtsschutz 37 Dabei handelt es sich um 6.167 private und 7.631 freigemeinnützige Einrichtungen (Stichtag: 15.12.2017, Destatis, Pflegestatistik 2017, S. 31 Tabelle 3.1., https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/ Pflege/Tabellen/pflegeeinrichtungen-deutschland.html;jsessionid=CE6E1489772869D6E75E3E28BAB18A66. internet8712, letzter Abruf: 04.11.2020). 38 Exemplarisch bereits BVerfGE 7, 198, 205 – Lüth; weitere Fälle: BVerfGE 82, 126 – ungleiche Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte; BVerfGE 89, 214 – gleichheitswidriges Bürgschaftsversprechen; BVerfGE 92, 196 – Anbringung einer Parabolantenne trotz Ausschluss im Miet- oder Kaufvertrag; BVerfGE 103, 89, 100 – Unterhaltsverzicht einer Schwangeren als Verstoß gegen Art. 6 GG und Art. 3 GG. 39 Kulick, „Drittwirkung“ als verfassungskonforme Auslegung – zur neuen Rechtsprechung des BVerfG, NJW 2016, 2236; Jobst, Konsequenzen einer unmittelbaren Grundrechtsbindung Privater, NJW 2020, 11. 14
gestellt40, Stadionverbote in der Bundesliga Aufnahme in das Heim als solche geht, ist aufgehoben41, ein Anspruch auf Entsperren die unmittelbare Grundrechtsrelevanz deut- eines Facebook-Accounts42 und auf Einrich- lich. Auch sind der Zutritt und die Nutzung tung eines eigenen Bankkontos43 für eine der Einrichtung für den Betroffenen im Partei und ein Durchgangsrecht für Perso- erheblichen Umfang entscheidend für die nen mit Blindenhund durch eine private Teilnahme am gesellschaftlichen und kul- Arztpraxis bejaht44. Auch der Europäische turellen Leben. Nicht zuletzt deshalb haben Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) macht die Landesgesetze, die an die Stelle des in seiner Rechtsprechung zur Bindung an früheren Heimgesetzes getreten sind, den die Europäische Menschenrechtskonvention Schutz der Grundrechte der Heimbewohner kaum noch einen Unterschied zwischen in den Mittelpunkt ihrer Zielsetzung ge- privaten und öffentlichen Trägern45. stellt46. Überträgt man diese Maßstäbe auf den Be- Die nach alledem zu bejahende Drittwirkung reich der privaten Alten- und Pflegeheime, der Grundrechte auch gegenüber privaten so zeigt sich, dass die Voraussetzungen einer Heimträgern führt zu einer Doppelstellung: Drittwirkung der Grundrechte vorliegen. Ähnlich wie Hochschulen, Kirchen und Kam- Sie gehören zum Bereich privatisierter Da- mern sind sie gegenüber dem Staat Träger seinsvorsorge; einzelne Heimträger haben von Grundrechten, gegenüber den Heim- zwar kein Monopol, aber es besteht an den bewohnern aber Grundrechtsadressaten meisten Standorten eine wachsende Knapp- und an die grundrechtlichen Schutzpflichten heit an Heimplätzen, die zumindest mono- gebunden. Grundsätzlich sind die zivilrecht- polartige Wirkungen und ein strukturelles lichen Rechtsgrundlagen also im Lichte der Ungleichgewichtig zwischen Angebot und Grundrechte auszulegen. Das führt dazu, Nachfrage erzeugt. Auch die große Bedeu- dass eine verfassungswidrige Besuchs- oder tung für die soziale und kulturelle Teilhabe Ausgangsbeschränkung zugleich eine Ver- ist offensichtlich. tragsverletzung ist, die zu entsprechenden Schadensersatzansprüchen führt. Daneben Wenn es bei der Frage der Zugangssperren kommen die allgemeinen Abwehransprü- und Ausgangsverbote auch nicht um die che aus §§ 862 und 1004 BGB auch über das 40 BVerfGE 128, 226, 250 ff. – Fraport; dazu Krüger, Versammlungsfreiheit in privatisierten öffentlichen Räumen, DÖV 2012, 837; BVerfG, NJW 2015, 2485 – „Bierdosen Flashmob“. 41 BVerfGE 148, 267 = NJW 2018, 1667; dazu Smets, Die Stadionverbotsentscheidung des BVerfG und die Umwälzung der Grundrechtssicherung auf Private, NVwZ 2019, 34. 42 Zuletzt BVerfG, Kammer, NJW 2019, 1935; BVerwG, NJW 2019, 1317. 43 BVerfG, Kammer, 11.07.2014, NVwZ 2014, 1572. 44 BVerfG, Kammer, 30.01.2020, NJW 2020, 1282. 45 EGMR, 28.01.2014, NVwZ 2014, 1641 – Schutz gegen sexuellen Missbrauch in katholischen Schulen; EGMR, 19.03.2019, NJW 2020, 2093 – Schutz des Privatlebens. 46 So z. B. das rheinland-pfälzische Landesgesetz über Wohnformen und Teilhabe (LWTG) in §§ 1 und 2. 15
Eigentum hinaus zum Zuge und können staatliche Normen nicht so abgefasst sein, rechtlich durchgesetzt werden. dass sie Eingriffe Dritter in die Grundrechte ermöglichen oder nicht verhindern. Das ist 4. Funktionen der Grundrechte besonders bedeutsam für die Frage der Er- messensspielräume öffentlicher und privater a. Abwehrrechte Heimträger. Die Schutzpflicht kann sich in- Die Grundrechte der Heimbewohner sind sofern zu einer Pflicht zum Tätigwerden der nach wie vor primär Abwehrrechte des Ein- Staatsaufsicht verdichten, wenn in Heimen zelnen gegen staatliche Eingriffe. So können und Pflegeeinrichtungen in rechtswidriger sich etwa Heimbewohner gegen staatliche Weise gegen Grundrechte der Bewohner Gebote und Verbote verteidigen. Dasselbe verstoßen wird. Schließlich begründet diese gilt selbstverständlich für staatliche Verbote Pflicht insofern die Klagebefugnis für Ver- und Gebote gegenüber den Heimträgern, pflichtungsklagen auf Maßnahmen gegen- die auf die Heimbewohner „durchschlagen“ über Heimträgern sowie die Beschwerde- (mittelbare Grundrechtseingriffe). befugnis vor der Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn die Verletzung von Grundrechten b. Objektive Schutzpflichten durch die Behörden oder auch den Gesetz- Im Zusammenhang mit den hier zu be- und Verordnungsgeber geltend gemacht handelnden Grundrechtsfragen eher von wird (unten VI.2). größerer Bedeutung aber ist die Funktion der Grundrechte als objektive Schutzpflich- c. Teilhaberechte ten47. Diese betreffen – was oft verkannt Von geringerer Bedeutung für die hier ver- wird – nicht nur das Grundrecht auf Leben folgte Fragestellung ist die Funktion der und körperliche Unversehrtheit, sondern Grundrechte als Teilhaberechte48. Diese alle Grundrechte, auf deren reale Wirk- kommt allerdings in Betracht, wenn grund- samkeit der Staat Einfluss nehmen kann. rechtsbedeutsame Leistungen und die Grundrechtliche Schutzpflichten bewirken, Teilhabe an öffentlichen Einrichtungen dass die aufgeführten Grundrechte bei der verweigert werden oder wenn die Corona- Auslegung zivilrechtlicher Normen wirken. Pandemie zur Rechtfertigung von Zugangs- Geltung erlangen die Grundrechte in die- beschränkungen herangezogen wird. ser Funktion aber auch insofern, als sie Entstehung und Interpretation der staat- lichen Verordnungen bestimmen. So dürfen 47 Anerkannt seit BVerfGE 39, 1, 41; BVerfGE 49, 89, 124, 140; st. Rspr. zuletzt BVerfGE 146, 1, 45; BVerfG, Kammer, 05.10.2015, NJW 2016, 1081; Moritz, Staatliche Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen Menschen, 2013; allg. auch Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, § 5 Rn. 5; zur Schutzpflicht gegenüber Gefahren der COVID-19- Pandemie s. Richter, NVwZ-Editorial 18/2020; zur Schutzpflicht im Hinblick auf Ehe und Familie auch EGMR, NJW 2015, 1433. 48 BVerfGE 33, 303, 338 – numerus clausus; BVerfGE 43, 242, 285 – Verweigerung der Teilhabe an den Forschungsmitteln einer Universität für einen Hochschullehrer; BVerfGE 90, 128, 141 – Unterschreitung des Existenzminimums bei der Finanzierung von Privatschulen. 16
d. Grundrechtsschutz durch Verfahren führen. Keiner Begründung bedarf es auch, Von großer Bedeutung gerade in komplizier- dass Besuchsverbote im Fall von Ehepart- ten Rechtsverhältnissen ist der Grundrechts- nern in den Schutz von Ehe und Familie schutz durch Verfahren. So ist inzwischen (Art. 6 GG), Besuchsverbote von Seelsorgern allgemein anerkannt, dass auch solche in die Religionsfreiheit (Art. 6 GG) und sub- Grundrechtseingriffe, die über eine gesetz- sidiär immer in das Allgemeine Persönlich- liche Grundlage verfügen, nur rechtmäßig keitsrecht und das Recht auf freie Entfaltung sind, wenn die Betroffenen in angemesse- der Persönlichkeit eingreifen. Gewiss von ner Weise in das Verfahren einbezogen wer- geringerer Dramatik, aber gleichwohl nicht den, der Sachverhalt geklärt und eine ange- zu vernachlässigen sind Eingriffe in das messene Begründung für Eingriffe gegeben durch Art. 14 GG geschützte Eigentum, ins- wird. Dieser Aspekt wird im Abschnitt über besondere in die Verfügungsbefugnis und die Rechtfertigung von Grundrechtseingrif- die Freiheit des Zugangs. Solche Eingriffe fen ausführlich (unten IV.4) behandelt. liegen vor, wenn der Betroffene Miteigentü- mer einer Einrichtung ist, also bei abtrenn- baren Zimmern, Apartments, und – zumeist III. Grundrechtseingriffe – in Fällen des „betreuten Wohnens“. 1. Allgemeines Ein Grundrechtseingriff liegt nach der Rechtsprechung des BVerfG auch vor, wenn Die verfassungsrechtliche Beurteilung von Behörden, Gerichte und grundrechts- Besuchsverboten, Ausgangssperren und gebundene Dritte bei einer Entscheidung internen Maßnahmen kann nicht pauschal, die Einschlägigkeit oder das Gewicht eines sondern muss einzelfallbezogen und unter Grundrechts verkennen49. Das ist etwa der Beachtung des jeweiligen Grundrechtsstatus Fall, wenn einseitig nur auf den Lebens- erfolgen. Anzuerkennen ist, dass es zwi- schutz abgestellt wird, aber die möglicher- schen den einzelnen Heimen große Unter- weise gleichgewichtigen Grundrechtsposi- schiede gibt. Unbestreitbar ist allerdings tionen der Betroffenen übersehen werden, auch, dass Besuchsverbote und Ausgangs- oder wenn Zivilgerichte bei der Entschei- sperren je nach Einzelfall zielgerichtete und dung ausschließlich auf zivilrechtliche rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in die Rechtsgrundlagen wie § 862 oder § 1004 BGB persönliche Freiheit sind. In besonderen abstellen50 und die Grundrechtsrelevanz Fällen können sie auch die Menschenwürde verkennen. tangieren, denn Isolation und Vereinsa- mung betreffen und bedrohen die psycho- Eingriffe können auch durch Unterlassen soziale Identität des Menschen und können oder Verletzung einer Schutzpflicht gesche- zu massiven Persönlichkeitsveränderungen hen – so etwa wenn die Aufsichtsbehörde 49 St. Rspr. seit BVerfGE 7, 198, 202 ff. – Lüth. 50 So etwa die Amtsgerichte in den eingangs (Fn. 21) zitierten Entscheidungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. 17
nichts unternimmt, um rechtswidrige Ein- weigerter sozialer, religiöser und kultureller griffe in die Grundrechte der Heimbewohner Teilhabe52. So ist es eine Binsenweisheit der durch Heimträger zu unterbinden oder um Psychosomatik, dass soziale und kulturelle staatliche Ausnahmebestimmungen durch- Isolation in ähnlicher Weise Gesundheits- zusetzen. Die entsprechenden Rechtsgrund- schäden auslöst wie körperliche Eingriffe, lagen in den Nachfolgegesetzen der Länder Krankheit und Misshandlung. Isolation ak- zum früheren Heimgesetz51 tragen insofern tiviert die gleichen Hirnareale wie physische verpflichtenden Charakter. Schmerzen. Enge emotionale Bindungen gehören zu den menschlichen Grundbedürf- 2. Besuchsverbote und Isolationsmaß- nissen. Wird die Erfüllung dieses Bedürfnis- nahmen ses verweigert, führt das nicht nur zu Stress, sondern auch zu einer akuten Gefährdung a. Eingriffe in das Recht auf Leben und der Gesundheit – bis hin zur nachweisbaren Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) Steigerung der Sterblichkeit53. Das gilt für Zu betonen ist zunächst erneut, dass das alte Menschen in gleichem Maße wie Recht auf Leben und Gesundheit nicht nur für Kinder und Jugendliche, für die die zentrales Element der Begründung von Be- genannten Zusammenhänge bisher am suchsverboten ist, sondern dass erzwungene gründlichsten erforscht sind. Einsamkeit und der Wegfall begleitender Pflege durch die Angehörigen auch massiv b. Eingriffe in Grundrechte Dritter in die seelische und ggf. auch in die kör- Besuchsverbote betreffen nicht nur die perliche Gesundheit von Heimbewohnern Grundrechte von Heimbewohnern, son- eingreifen. Das Grundrecht hat aus ver- dern sind auch Eingriffe in die Grundrechte fassungsrechtlicher Sicht also zwei Seiten. der Ehepartner und sonstigen Angehörigen Dabei wiegen Eingriffe in die körperliche (Art. 6 GG), Seelsorger (Art. 4 GG)54, Ärzte, und die seelische Gesundheit gleich schwer. Betreuer, Rechtsberater55 und Therapeuten Die Schwere des Eingriffs steigt mit dem (Art. 12 GG). Grad der Isolation und dem Ausmaß ver- 51 Z. B. § 18 ff. des rheinland-pfälzischen Landesgesetz über Wohnformen und Teilhabe (LWTG); grundlegend auch Moritz, Staatliche Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen Menschen, 2013, S. 94 ff. 52 Nachdrücklich Rödder, Coronas sozialer Sprengstoff. Es droht ein Kahlschlag gesellschaftlicher Bindungen – die Einsamkeit wächst schon, Allgemeine Zeitung Mainz vom 05.09.2020, S. 2. 53 Die Wissenschaft weist deutlich auf eine erhöhte Sterblichkeit bei sozialer Isolation und Einsamkeit älterer Menschen hin: https://www.public-health-covid19.de/images/2020/Ergebnisse/2020_05_18_fact_sheet_ soziale-isolation-als-mortalita__tsrisiko_1.pdf (letzter Abruf: 04.11.2020). 54 Dem Verfasser liegen Berichte vor, in denen Seelsorger von massiven Zugangsbeschränkungen zu Heimbewohnern berichten. Hier liegt sowohl ein Eingriff in die aktive Religionsfreiheit des Seelsorgers als auch in die Glaubensfreiheit der Heimbewohner vor. Ein solcher Eingriff kann nicht durch einfachen Gesetzesvorbehalt, sondern nur durch verfassungsimmanente Schranken gerechtfertigt werden. 55 OVG Schleswig, NJW 2000, 3440 – diskriminierende Besuchsregelung für Rechtsanwälte in psychiatrischer Klinik. 18
c. Insbesondere: Menschen in Palliativ- 3. Ausgangssperren einrichtungen und Hospizen Obwohl das Leben in jeder Lebensstufe und Ausgangssperren einschließlich einer Qua- bis zum Tode grundsätzlich gleichwertig ist, rantäneanordnung nach Rückkehr stellen kann der Schutz der bloßen physischen Exis- besonders schwerwiegende Eingriffe in die tenz gegenüber der psychischen Gesundheit Grundrechte der Freizügigkeit (Art. 11 GG) zurücktreten, wenn der nahende Tod, eine und der allgemeinen Handlungsfreiheit schwere Krankheit, ein hohes Lebensalter (Art. 2 Abs. 1 GG)57 sowie – je nach Ziel des oder ohnehin vorhandene starke körperliche Ausgangs – ggf. auch in weitere Grund- Beeinträchtigungen dies nahelegen. Des- rechte wie etwa dasjenige auf Schutz von halb sind Besuchsverbote naher Angehöriger Ehe und Familie (Art. 6 GG), im Fall eines in diesem Stadium besonders gravierende verhinderten Gottesdienstbesuchs in die Eingriffe in die seelische Gesundheit. Füh- Religionsfreiheit (Art. 4 GG)58, die Versamm- ren sie zum Sterben in Einsamkeit, so liegt lungsfreiheit (Art. 8 GG) oder die Berufs- ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in die freiheit (Art. 12 GG) dar. Das gilt auch, wenn Menschenwürde vor. sich die Verbote nicht unmittelbar gegen die Betroffenen, sondern gegen die Heimträger d. Insbesondere: Demenzpatienten richten oder von diesen ausgehen. Es ist medizinisch nachgewiesen, dass De- menzpatienten in besonderer Weise unter 4. Sonstige Maßnahmen den Folgen des von ihnen nicht versteh- baren Besuchsverbots leiden und sich ihr Gegenüber Besuchsverboten und Ausgangs- Zustand ohne soziale Kontakte durch nahe sperren nicht zu vergessen und in ihrem Bezugspersonen dramatisch verschlechtern Eingriffscharakter nicht minder schwerwie- kann56. Erkennbar geht es hier weniger um gend ist die Fülle von Maßnahmen inner- den Schutz menschlicher Selbstbestimmung, halb einer Einrichtung. Diese reichen von aber umso mehr um die seelische und – in internen Kontaktsperren über Trennscheiben deren Folge – auch die körperliche Gesund- im Besuchszimmer, die an die Verhältnisse heit, in die Isolationsmaßnahmen massiv im Strafvollzug erinnern, den Zwang zur eingreifen. Auch das kann bis zur Verletzung Einnahme der Mahlzeiten auf dem Zimmer, der Menschenwürde gehen. dem Verbot von Gemeinschaftsveranstaltun- gen, die Beschlagnahme von persönlichen Gegenständen und den „Zimmerarrest als Strafmaßnahme“ bis hin zur Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen, Gymnastikräu- men und sogar Hauskapellen. Auch inso- 56 Dämon, Für Demenzkranke ist die Isolation fatal, Frankfurter Rundschau vom 09.09.2020. 57 So zu Recht die Stellungnahme der BAGSO vom 25.05.2020 (Fn. 11), S. 2. 58 Zur Verfassungswidrigkeit des absoluten Verbots von Gottesdiensten während der Coronakrise nachdrücklich BVerfG, Kammer, 29.04.2020, 1 BvQ 44/20; BVerfG, Kammer, 29.04.2020, BeckRS 2020, 7089. 19
fern sei an das besonders bei älteren und 2. Keine Rechtfertigung für Eingriffe in die einsamen Menschen bestehende dringen- Menschenwürde de Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Kommunikation hingewiesen59. Demgegen- Gemäß Art. 1 Abs. 1 GG ist die Menschen- über stellt die Verpflichtung zum Tragen von würde „unantastbar“. Das bedeutet nach Schutzkleidung und Mund-Nasen-Schutz inzwischen kaum noch bestrittener Auf- einen eher geringfügigen Eingriff dar – mit fassung, dass Eingriffe grundsätzlich auch der möglichen Ausnahme bei Anwendung durch andere Verfassungsgüter nicht ge- auf Demenzkranke, Patienten mit Atemnot rechtfertigt werden können60. Rechnet man usw. also – wie oben dargelegt – das Minimum an sozialen Kontakten und vor allem den Schutz vor dem Sterben in Einsamkeit zum IV. Rechtfertigung von Schutzbereich der Menschenwürde, dann Grundrechtseingriffen steht schon damit fest, dass Besuchsverbo- te für sterbende Menschen und damit für 1. Allgemeines Palliativstationen (auch in gewöhnlichen Krankenhäusern) die Menschenwürde ver- Nach der allgemeinen Grundrechtsdog- letzen und damit verfassungswidrig sind. matik sind nicht alle tatbestandsmäßigen Grundrechtseingriffe verfassungswidrige 3. Keine Rechtfertigung durch unterstellte Grundrechtsverletzungen; sie können durch oder unter Druck erteilte Einwilligung wirksame Einwilligung der Betroffenen oder durch Gesetz bzw. gleichrangige Verfas- Eingriffe in die Grundrechte von Heim- sungsgüter gerechtfertigt sein. Alle Grund- bewohnern können auch nicht durch eine rechte – mit Ausnahme der Menschen- unterstellte oder unter Druck erteilte Ein- würde –, also auch das Grundrecht auf willigung gerechtfertigt werden. So konn- Leben und Gesundheit, können zum Schutz ten die Besuchsverbote in dem im Frühjahr anderer Grundrechte eingeschränkt werden. ergriffenen Umfang, aber auch restriktive Das ist aber nur dann der Fall, wenn eine Besuchsregelungen und Ausgangssperren hinreichend bestimmte, ihrerseits verfas- von niemandem vorausgesehen werden. sungskonforme gesetzliche Eingriffsgrund- Heimbewohner betonen im Gegenteil, dass lage vorliegt, ein verfassungskonformes sie den Schritt in ein Alten- oder Pflege- Verfahren eingehalten und – vor allem – heim nie gegangen wären, Ehegatten und wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Angehörige, dass sie nie mit einem solchen gewahrt wurde. Wechsel einverstanden gewesen wären, wenn das Ausmaß der drohenden Trennung und Isolation bekannt gewesen wäre. Auch eine ad hoc erteilte Einwilligung durch die 59 So zu Recht die Stellungnahme der BAGSO vom 25.05.2020 (Fn. 11). 60 Exemplarisch Dreier, in: Dreier, GG, Kommentar, Art. 1 Rn. 128 m.w.N. 20
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