03/04 2022 DSO-Nachrichten Ingo Metzmacher dirigiert Smetana - Deutsches Symphonie-Orchester Berlin

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03/04 2022 DSO-Nachrichten Ingo Metzmacher dirigiert Smetana - Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Gipfeltreffen
Robin Ticciati und Reinhold Messner

Hollywood in Berlin
John Wilson mit Korngold und Filmmusik

Sehnsuchtsfluss
Ingo Metzmacher dirigiert Smetana

DSO-Nachrichten
03/04 2022
03/04 2022 DSO-Nachrichten Ingo Metzmacher dirigiert Smetana - Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
2   Inhalt                                                                                          Editorial    3

                                                       Liebe Leserin,
                                                       lieber Leser,
                                                       zwei überaus spannende, dichte und abwechslungsrei-
                                                       che Konzertmonate liegen vor uns. Den Höhepunkt bildet
                                                       zweifellos ein ›Gipfeltreffen‹ am 22. und 23. April, bei dem
                                                       Chefdirigent Robin Ticciati gemeinsam mit der Bergstei-
                                                       gerlegende Reinhold Messner ›Eine Alpensinfonie‹ auf die
3   Editorial
                                                       Bühne der Philharmonie bringt. Ein Vortragskonzert ver-
4   Reinhold Messner und Robin Ticciati im Gespräch    knüpft zudem Lebenserinnerungen des Abenteurers mit
                                                       alpinistischen Kammermusikraritäten.
12 Gipfeltreffen
14 Lorin Maazel                                        Gemeinsam mit Karen Cargill und Matthias Goerne erkun-
                                                       det Robin Ticciati Bartóks geheimnisvollen Operneinakter
16 John Wilson
                                                       ›Herzog Blaubarts Burg‹, Christian Tetzlaff hat er für das
20 Robin Ticciati, Karen Cargill und Matthias Goerne   Violinkonzert von Brahms eingeladen. Ingo Metzmacher
                                                       präsentiert Smetanas Symphonische Dichtungen im Sech-
24 rbbKultur-Kinderkonzert                             serpack und im Casual Concert, John Wilson spürt dem Wir-
26 Konzertkalender                                     ken Erich Wolfgang Korngolds zwischen Hollywood-Sound-
                                                       tracks und absoluter Musik nach. Hannu Lintu und Behzod
30	Ihr Konzertbesuch im März und April                Abduraimov unternehmen Zeitsprünge vom Barock bis in
31 Kammerkonzerte                                      das 20. Jahrhundert, Andris Poga und Sergey Khachatryan
                                                       haben sowjetische, Cristian Măcelaru und Fatma Said mär-
32 Robin Ticciati und Christian Tetzlaff               chenhafte Klangwelten im Gepäck.
36 Ingo Metzmacher
                                                       Dies und vieles mehr finden Sie in der aktuellen Ausgabe.
40 Andris Poga und Sergey Khachatryan                  Wir schätzen uns glücklich, trotz nach wie vor bestehen-
44 Cristian Măcelaru und Fatma Said                    der Vorsichtsmaßnahmen auch weiterhin in unserer Jubilä-
                                                       umssaison für Sie spielen zu dürfen. Feiern Sie mit uns und
48 Hannu Lintu und Behzod Abduraimov                   kommen Sie ins Konzert. Wir freuen uns auf Sie!
50 Impressum
                                                       Herzliche Grüße
51 Abonnements 22/23                                   Ihr Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
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Im Gespräch      5

Do 21.4. – Sa 23.4.   Messner und Ticciati

Reise zum Berg
       Mit der Filmproduktion ›Eine Alpensinfonie‹ hat
         das DSO im vergangenen Jahr die Tondichtung von
        Richard Strauss als eine musikalisch-philosophi-
       sche Höhenwanderung mit der Bergsteigerlegende
    Reinhold Messner inszeniert. Am 22. und 23. April ist
dieses ›Gipfeltreffen‹ live in der Philharmonie zu erleben
→ S. 12. Chefdirigent Robin Ticciati sprach bei den Drehar-
beiten mit Reinhold Messner über physische und psychische
Grenzerfahrungen, Natur und die Musik von Strauss.

Reinhold Messner (M) Namaste! So begrüßt man sich im
Himalaya.

Robin Ticciati (T) Namaste! Es ist mir eine große Freude,
hier mit Ihnen zu sitzen und zu sprechen – auch wenn ich
im Bergsteigen keine Erfahrung habe. Und doch sind sich
unsere Vorstellungen davon, was eine »Reise« bedeutet,
nicht ganz unähnlich.

M Ich glaube, die ›Alpensinfonie‹ ist etwas ganz Besonderes,
weil hier ein Musiker seine eigene Bergerfahrung zugrunde
gelegt und musikalisch verarbeitet hat. Und wir können ja
gemeinsam einen ähnlichen Ansatz verfolgen.

T Genau. Wenn ich mir als Musiker die Partitur anschaue,
ist es mein Anliegen, eine Einsicht in die Psyche eines ech-
ten Bergsteigers zu erlangen und herauszufinden, worum
es dabei wirklich geht: Wetter und Tod, die Vorstellung von
Sonnenlicht ... In der Musik sehe ich meine Reise und den
Gipfel. Ich habe das alles vor Augen, aber das weiß niemand.
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M Sie haben eine vergleichbare Herangehensweise an ein           ›Alpensinfonie‹, klingt die musikalische Beschreibung des
Musikstück wie ich für eine Bergbesteigung. Aber Sie haben       Gipfels natürlich ganz wunderbar. Aber auch hier zählt, wie
viele, viele Zuhörerinnen und Zuhörer. Und sie alle haben die    wir dahin kommen. Der Gipfel ist schon nach dem ersten
Möglichkeit, die Musik selbst zu interpretieren. Das ist wie     Drittel erreicht, dann folgt ein langes Stück Abstieg.
beim Lesen: Wenn Schriftsteller Millionen Möglichkeiten zu
zeigen vermögen, ihre Geschichte zu interpretieren, ist das      M Beim Bergsteigen ist es das gleiche Gefühl. Der Aufstieg
viel wirkungsvoller, als sie so zu beschreiben, dass alle das    ist viel spannungsgeladener als das Erreichen des Gipfels.
gleiche Bild im Kopf haben.                                      Der bedeutet dann nur einen Richtungswechsel. Und beim
                                                                 Abstieg muss man darauf achten, am Leben zu bleiben.
T Das stimmt, in der Musik ist das ähnlich, da meine Vor-
stellung davon, die Partitur zum Leben zu erwecken, letzt-       T Ist der Abstieg denn viel gefährlicher?
endlich für andere da ist. Ist Ihre Reise mit dem Berg etwas
rein Innerliches, oder klettern Sie auch für Menschen, für       M Ja, aber nur, weil man müde vom Aufstieg ist. Wenn
die Menschheit?                                                  man die höchsten Gipfel besteigt, hat man das Gefühl,
                                                                 dass der Berg ständig größer wird. Das liegt daran, dass
M In meiner Interpretation mache ich das für mich. Ich habe      der Sauerstoffmangel einen sehr, sehr langsam werden
eine Vorstellung – und das ist sehr wichtig. Es geht nicht nur   lässt. Man kriegt das Gefühl, dass man am Ende nach
darum, welchen Gipfel ich erklimmen will und welche Klet-        jedem Schritt eine lange Pause braucht und deswegen
terroute ich festlege. Vor 200 Jahren gingen die Bergsteiger     nie ankommt.
los, um die Alpengipfel zu erstürmen, und nach 100 Jahren
waren die wichtigsten Berge erobert. Die nächste Genera-         T Hat man denn oben überhaupt das romantische Verlan-
tion wollte dann neue, schwere Routen finden. Und in der         gen und die Möglichkeit, über seine Beziehung zur Welt
dritten Phase, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, wurde der Stil     und zur Natur nachzudenken? Kann man, im fundamen-
besonders wichtig, also die Frage, was man an Werkzeug           talsten Sinne, den Gipfel genießen?
benutzt, um zum Gipfel zu gelangen. Ich versuchte gleich
zu Beginn, einen Stil zu etablieren und mit immer weniger        M Wenn man keine schwere Route geht und Zeit hat, weil
Ausrüstung auf die Achttausender zu steigen. Auf meiner          man um 9 Uhr morgens auf dem Gipfel des Mont Blanc
ersten Expedition, bei der ich nur einfacher Teilnehmer war,     steht, dann kann man es genießen. Aber wenn man an
hatten wir für 18 Leute neun Tonnen Ausrüstung dabei. Fünf       seine Grenzen geht, auf einem Achttausender, nach ei-
Jahre später bestieg ich einen Achttausender auf einer neu-      ner sehr anstrengenden Besteigung, dann geht’s nur ums
en, schweren Route: zwei Leute, 200 Kilo Ausrüstung und          Überleben. Generell ist Bergsteigen im Profibereich nichts
sonst nichts.                                                    anderes, als an einen Ort zu gehen, an dem man sterben
                                                                 könnte, und zu überleben – die Kunst des Bergsteigens
T Ein Riesenfortschritt! Ich finde die Vorstellung faszinie-     besteht darin, nicht zu sterben. Aber es ist nur eine Kunst,
rend, dass der Gipfel dabei immer mehr an Bedeutung ver-         wenn die Gefahr des Todes gegeben ist. Anderenfalls ist es
liert. Wenn ich mir eine Partitur vornehme, zum Beispiel die     keine Überlebenskunst. Dann ist es nur banal.
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T Ich finde es spannend, dass Sie von »Grenzen« sprechen.
Der große Dirigent Nikolaus Harnoncourt sagte zu Beet-
hovens Fünfter Symphonie: »Wir Musiker müssen an der
Grenze der Katastrophe wandeln. Nur so finden wir wahre
Schönheit.« Und ich habe das Gefühl, allem was Sie tun, liegt
die Notwendigkeit zugrunde, dem Tod ins Auge zu sehen
und sich der Sterblichkeit zu stellen.

M Im Deutschen gibt es das Wort »Nahtoderlebnis«. Das
sind die stärksten Erfahrungen, die man machen kann. Und
wir suchen sie alle. Gleichzeitig fürchten wir uns vor ihnen.
Niemand möchte gern sterben. Aber wir wissen, dass am
Abgrund, kurz vor dem Tod, ein bedeutender Moment wartet.

T Und sicherlich besteht der Riesenunterschied zwischen
uns beiden darin, dass die Vorstellung vom Tod, zum Beispiel                                Reinhold Messner und Robin Ticciati
bei Tristan und Isolde, nur in meinem romantischen Herzen
und meiner inneren Vision herrscht, Sie hingegen konfron-        entspringen: die Blechbläser, Gefahr, Tod. Aber es gibt auch
tieren sich körperlich damit.                                    ›Auf der Alm‹, wo man die Kuhglocken hört. In welchem Maß
                                                                 nehmen Sie beim Bergsteigen die Geräusche wahr?
M Wir suchen das Nahtoderlebnis nicht, aber wir nehmen
es in Kauf und gehen bis zum Abgrund. Die Faszination, die       M Man hört sie. Man hört nicht wirklich hin, aber sie sind im-
Bergsteigen auf Leute ausübt, die nicht Bergsteigen, rührt       mer da – und sie ändern sich. Wenn zum Beispiel ein starker
von der Tatsache her, dass es immer tödlich enden kann. Und      Schneesturm kommt, könnte das einen Richtungswechsel
trotzdem tun es viele.                                           bedingen. Wenn die Temperatur und der Wind mehr oder
                                                                 weniger gleich bleiben, reagiert man nicht auf sie, weil sie
T Wie sieht Ihr Verhältnis zum Tod aus?                          keine Gefahr in sich bergen. Auch der Berg kreiert Geräu-
                                                                 sche. Ich könnte aber nicht sagen, welche das sind. Es hängt
M Wenn man dem Tode sehr nah ist, wäre es ein Leichtes,          von der Masse ab: Am Fuße des Berges ist es eine riesige
sich ihm einfach hinzugeben. Aber gleichzeitig hat man           Masse. Aber am Gipfel ist nichts mehr über einem.
auch einen Überlebensdrang. Wenn man noch einen Funken
Energie und Konzentration hat, lässt der Körper das nicht zu.    T Es wird also immer stiller und stiller …
Der Überlebensdrang ist der stärkste Instinkt.
                                                                 M Ja, und was ebenfalls wichtig ist: Je höher man kommt,
T Es ist sehr interessant, dass Strauss in der ›Alpensinfonie‹   desto dunkler wird der Himmel. Am Ende ist er schwarz und
Klänge verarbeitet, die, wie ich denke, dem Unterbewussten       nicht mehr blau.
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Im Gespräch      11

                                                                  T Wow. Diese unglaubliche Dunkelheit gibt es auch in der
                                                                  ›Alpensinfonie‹, die mit ›Nacht‹ anfängt und mit ›Nacht‹
                                                                  aufhört. Es fühlt sich an, als ginge es um eine Art existen-
                                                                  tieller Dunkelheit. Wenn ich ans Ende komme und den Takt
                                                                  für ›Nacht‹ vorgebe, verschließt sich irgendetwas in mei-
                                                                  nem Herzen und ich fühle mich zutiefst alleine – obwohl 115
                                                                  Musikerinnen und Musiker vor mir sitzen. Verursacht diese
                                                                  Dunkelheit auch Ihnen so ein Gefühl?

                                                                  M Es ist ein riesiger Unterschied, ob man allein oben ist oder
                                                                  nicht. Denn mit einem Partner kann man den Erfolg teilen,
                                                                  die Eroberung und die positiven Gefühle. Wenn man aber
                                                                  alleine dort steht, überkommt einen manchmal der Wunsch,
                                                                  dazubleiben.

                                                                  T Ich komme häufig wieder auf Musikstücke zurück, und das
                                                                  Stück wird sich dann total anders anfühlen. Wie geht Ihnen
                                                                  das mit einem Berg?

                                                                  M Es fühlt sich anders an. Man kann ein und denselben Berg
                                                                  hundertmal besteigen und es ist, als würde man hundert
                                                                  Berge besteigen.

                                                                  T Vielen Dank! Es ist wirklich ein großes Vergnügen, mit
                                                                  Ihnen zu sprechen.

                                                                  M Ich bin kein Musiker …

         Der Perfekte Ein- oder Ausklang                          T … und ich bin kein Bergsteiger. Deshalb ist es perfekt.
 ist 3 Minuten von der Philharmonie Entfernt.                     [beide lachen]

                                                                  Das vollständige Gespräch können Sie unter
                                                                  → dso-berlin.de/gipfeltreffen ansehen.

    QIU Lounge im the Mandala Hotel am Potsdamer Platz                                                  Konzertkalender S. 28
Potsdamer Strasse 3 | Berlin | 030 / 59 00 5 00 00 | www.qiu.de
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Do 21.4. – Sa 23.4.   Messner und Ticciati

Gipfeltreffen
Am Wochenende nach Ostern bringt das DSO das Pro-
gramm seiner Filmproduktion ›Eine Alpensinfonie‹ mit der
Bergsteigerlegende Reinold Messner live in der Philharmo-
nie auf die Bühne. Richard Strauss’ berühmte Tondichtung
begleitet am 22. und 23. April das Publikum in die Berge, vor-
bei an blumigen Wiesen, durch Dickicht und Gestrüpp, über
Alm und Gletscher zum Gipfel und schließlich zum gewit-
terumtosten Abstieg. Seine musikalischen Schilderungen                  Robin Ticciati bei den Aufnahmen zu ›Eine Alpensinfonie‹
hat Strauss mit dem inneren Erleben, mit philosophischen
Subtexten zur Künstlerexistenz und der »Anbetung der ewi-        Vortrag mit Kammermusik
gen, herrlichen Natur« (Strauss) durchflochten. Dazwischen       Bereits am 21. April besteht im Konzertsaal an der Har-
gewährt Reinhold Messner Einblicke in die physischen wie         denbergstraße die Möglichkeit, mehr über den Bergsteiger
auch psychischen Grenzerfahrungen seiner Bergbesteigun-          zu erfahren. Reinhold Messner skizziert in seinem Vortrag
gen und erzählt von Extremsituationen, der Wahrnehmung           ›ÜberLeben‹ den Weg vom Südtiroler Bergbub zum großen
der Natur und seine mentalen Zustände vor, während und           Abenteurer und wird dabei von einem prominent besetzten
nach der Eroberung eines Gipfels.                                Ensemble aus DSO-Mitgliedern musikalisch begleitet. Auf
                                                                 dem Programm stehen unter anderem die Romanze für Horn
Ein Leben für die Berge                                          und Streichquartett des Dvořák-Schülers, Volksmusik-
Der Südtiroler Reinhold Messner hat alle 14 Achttausender        sammlers und Alpinisten Leone Sinigaglia, der als erster Ita-
und zahlreiche weitere Gipfel auf schwersten Routen und          liener die Dolomiten bezwang, aber auch Werke von Saverio
teilweise im Alleingang bestiegen sowie die Wüste Gobi und       Mercadante, Alexandre Tansman und Richard Strauss sowie
die Antarktis durchwandert. Mit seiner Messner Mountain          Bearbeitungen aus der ›Alpensinfonie‹ und aus ›Wandrers
Foundation unterstützt er Völker in den Bergen des Hima-         Nachtlied‹ von Schubert für Alphorn und Posaunen.
laya, Karakorum, im Hindukusch, in den Anden oder im Kau-
kasus. In über fünfzig Büchern, einem Dutzend Filmen, in         Karten für Vortrag und Symphoniekonzert sind auch zum
Vorträgen, im Messner Mountain Museum in den Bergen              vergünstigten Paketpreis erhältlich. Weitere Informationen
Südtirols sowie der Museumskette Messner Mountain Heri-          unter → dso-berlin.de/gipfeltreffen
tage in verschiedenen Gebirgen der Erde berichtet Messner
von seinen Erlebnissen und setzt sich für die nachhaltige
Erzählung des traditionellen Alpinismus ein.                                                            Konzertkalender S. 28
03/04 2022 DSO-Nachrichten Ingo Metzmacher dirigiert Smetana - Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Lorin Maazel    15

                                   1.3.1956   Lorin Maazel beim DSO

                                              Mit einem beeindru-
                                                ckenden Spielzettel
                                                präsentierte sich
                                                der 26-jährige Lorin
                                               Maazel am 1. März
                                            1956 erstmals am Pult
                                   des DSO, das damals RSO hieß –
                                   darauf Haydns Symphonie Nr. 95,
                                   zwei Klavierkonzerte von Mozart
                                   und Ravel (mit dem Solisten Ro-
                                   bert Casadesus), ›Le chant du rossignol‹ von Strawinsky
                                   und als Krönung Skrjabins ›Poème de l’extase‹. Ein span-
                                   nendes, ein langes Programm. Der junge Amerikaner
                                   machte Eindruck – und kam bald alle sechs Monate zu
                                   Besuch. Fast zwei Jahrzehnte lang sollte er dem Orches-
                                   ter eng verbunden bleiben. Maazel war präzise, hochin-
                                   telligent, vielseitig gebildet, hatte eine Wunderkindheit
                                   überstanden und glänzte am Pult ebenso wie als virtuoser
                                   Geiger – legendär ist etwa sein Auftritt im April 1959, bei
                                   dem er Bachs a-Moll-Konzert und Strawinskys ›L’histoire
                                   du soldat‹ (auswendig) von der Violine aus leitete.

                                   Die Verbindung intensivierte sich, und am 13. September
                                   1964 dirigierte der damals 34-Jährige, mit Bruckners Vier-
                                   ter, sein Antrittskonzert als neuer Chefdirigent und Nach-
                                   folger Ferenc Fricsays. Bis 1975 lenkte er die Geschicke
                                   des DSO, brillierte mit einem Repertoire, das vom gelieb-
                                   ten Bach bis in die Gegenwart führte, und bereicherte
                                   die Spielpläne mit Mahler-Interpretationen und »roman-
                                   tischen Raritäten« von Berlioz, Bruckner oder Liszt. Von
                                   Berlin aus startete Maazel eine Weltkarriere, die ihn später
Eintrag Lorin Maazels in den       nach Cleveland, Wien, Pittsburgh, München und New York
Autogrammbänden Heinrich Köhlers   führen sollte. 2014 ist er im Alter von 84 Jahren verstorben.
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John Wilson    17

So 6.3.   John Wilson

Rarität in Fis-Dur
»Zuerst war ich ein Wunderkind, dann war ich, bis Hitler
kam, ein erfolgreicher Opernkomponist in Europa, und da-
nach war ich Filmkomponist«, sagte Erich Wolfgang Korn-
gold in einem Interview 1946. »Fünfzig ist sehr alt für ein
Wunderkind. Ich fühle, dass ich jetzt eine Entscheidung
treffen muss, wenn ich nicht bis zum Ende meines Lebens
ein Hollywoodkomponist sein will.«

In den 20er-Jahren war Korngold mit ›Der Ring des Polykra-
tes‹, ›Die tote Stadt‹ und ›Das Wunder der Heliane‹ binnen
Kurzem zu einem der meistgespielten Opernkomponisten
im deutschsprachigen Raum aufgestiegen, danach hatte er
in Hollywood schlankerhand das erfunden, was wir heute
als Filmmusik kennen – mit großem Orchester, stringenter
Themenführung, symphonischer Durchformung. Musik als
Teil eines Gesamtkunstwerks, mit der Handlung verwoben
und nicht nur Beiwerk. »Man hat Korngold später oft vorge-
worfen, seine Musik klinge nach Hollywood, obwohl es ge-
nau umgekehrt ist«, erzählt der Dirigent John Wilson. »Be-
vor er 1934 nach Los Angeles kam, klang Hollywood nach gar
nichts, und danach haben ihn plötzlich alle imitiert.«

Ende der 40er-Jahre nahm Korngold keine Filmaufträge
mehr an, reiste wieder nach Europa und versuchte vergeb-
lich, endlich wieder als Komponist absoluter Musik ernst
genommen zu werden. Er litt darunter, dass er mit dem Vio-
linkonzert und der Fis-Dur-Symphonie keinen nachhaltigen
Anklang im Konzertsaal fand. Das Stigma als Filmmusiker
war sicherlich ein Grund. Auch ging die Avantgarde nun an-
derer Wege, die Erfolgsklänge der Vorkriegszeit galten nicht
03/04 2022 DSO-Nachrichten Ingo Metzmacher dirigiert Smetana - Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
18                                                                                                         John Wilson     19

selten als spätromantischer Schwulst. Zudem hatte man ihn       Rahmen anwenden kann. Die Symphonie folgt der Tradition,
in der Dekade seines erzwungenen Exils schlicht vergessen –     ist aber unglaublich innovativ. Das brillante Scherzo ist eine
ein Schicksal, das er mit etlichen anderen jüdischen Kompo-     wahre Tour de force, und das Adagio wahrscheinlich der bes-
nisten seiner Generation teilte, die von den Nationalsozia-     te Satz, den Korngold jemals geschrieben hat.«
listen verfemt, vertrieben und ermordet worden waren. Es
sollte vier Jahrzehnte dauern, bis die sinnliche, rauschhafte   Klangwelten
Zaubermusik der Wiener Moderne wieder auf die Spielplä-         John Wilson versteht wohl wie kaum ein anderer die Zer-
ne zurückkehrte. Das DSO hatte mit Konzerten und Refe-          rissenheit, die der Korngold-Rezeption bis heute anhaf-
renzeinspielungen seit den 80er-Jahren einigen Anteil an        tet. Auch er ist ein Wanderer zwischen Welten, die für ihn
der Wiederentdeckung, die dem Werk von Korngold, Franz          selbst zusammengehören, lehnt er die Trennung zwischen
Schreker, Alexander Zemlinsky und anderen zuteilwurde.          »Ernster« und »Unterhaltungsmusik« doch vehement ab.
                                                                Bereits während seiner Studienzeit am Royal College of
                                                                Music gründete er das John Wilson Orchestra, um Filmmu-
»Es gibt wohl kaum einen anderen genialen                       sik vergangener Zeiten wieder zum Leben zu erwecken. Bis
Komponisten, der so lange und so unfair                         heute genießt es nicht nur bei den BBC Proms Kultstatus.
vernachlässigt wurde wie Korngold.«                             Zugleich ist er regelmäßig bei britischen und europäischen
John Wilson                                                     Klangkörpern zu Gast und macht sich seit einigen Jahren
                                                                einen Namen als Operndirigent.

Affirmation von Schönheit                                       Korngold und die Folgen
Korngold schrieb seine Symphonie in der eher ungewöhn-          Für den zweiten Teil des Konzerts am 6. März hat Wilson fol-
lichen Tonart Fis-Dur – wie sie auch in Mahlers Fragment        gerichtig Auszüge aus Filmmusiken aufs Programm gesetzt.
der Zehnten und Messiaens ›Turangalîla‹ aufscheint –, die       Erich Wolfgang Korngold, der Schöpfer des klassischen Hol-
zudem ständig nach Moll und zurück wechselt. Sie erleb-         lywood-Sounds, steht mit ›Kings Row‹ von 1942 am Anfang,
te ihre Vollendung 1952 in Los Angeles, kehrte nach einer       einer Partitur, die Generationen von Filmkomponisten nach
mittelmäßigen Wiener Premiere 1954, die Korngold nicht          ihm geprägt hat. Ihr folgen Auszüge aus den Soundtracks
selbst dirigieren konnte, aber erst 1972 auf das Konzertpo-     Bronisław Kapers zu ›Mutiny on the Bounty‹ (1962), Miklós
dium zurück und ist immer noch selten zu hören. Völlig zu       Rózsas zu ›The Thief of Baghdad‹ (1940), Bernard Herr-
Unrecht, wie John Wilson findet: »Bei Korngold geht es um       manns zu ›Psycho‹ (1960) und Max Steiners zu ›Gone with
die Affirmation von Schönheit in der Musik. Er konnte mit       the Wind‹ (1939). Ungewohnte Klangwelten beim DSO – und
Zwölftonmusik einfach nichts anfangen. Doch auch wenn           durchaus eine Entdeckung wert.
er seinem tonalen Stil im Spätwerk treu blieb, gibt es dar-
in eine gewisse Kantigkeit, die eher für Zwölftöner typisch     MAXIMILIAN RAUSCHER
war. Gerade am Anfang des ersten Satzes spielt er seine
ganz eigene Variante von Dodekaphonie durch – als wollte
er demonstrieren, dass man diese Elemente auch im tonalen                                             Konzertkalender S. 26
Ticciati / Cargill / Goerne   21

So 20.3.    Robin Ticciati

Und immer wird
nun Nacht sein
        Müssen wir wirklich alles über unseren
        Partner wissen? Ist es überhaupt wün-
        schenswert, in einer Beziehung gar keine
       Geheimnisse zu haben? Bei mancher Ge-
    schichte ist es zweifellos besser, wenn der De-
ckel drauf bleibt und die Illusion des anderen nicht
gestört wird. Deshalb warnt auch Herzog Blaubart
die wissbegierige Judith immer wieder und immer
eindringlicher, die Türen geschlossen zu halten,
hinter denen er seine dunkelsten Geheimnisse
verwahrt. Das alte Märchen vom frauenmorden-
den Herzog wird in Béla Bartóks einaktiger Oper
zur antiromantischen Warnung im farbenreich im-
pressionistischen Gewand. Denn auch in diesem
Schloss werden die abgelegten Frauen des Verfüh-
rers versteckt, jeweils charakterisiert durch eine
ganz eigene Klangsprache, die ihren Höhepunkt
beim Öffnen der fünften Tür findet.

Gefühlskonstellationen
Hat er sie wirklich ermordet? Sind es nur noch
Einbildungen, ferne Schemen, die sich aus einem
Schattenreich nähern? Bartók erklärt nichts, lässt
die Klangwelten der beiden aufeinandertreffen,
ohne die Spannungen jemals aufzulösen. Für die
schottische Mezzosopranistin Karen Cargill (Bild)
ist Judith nicht bloß das hilflose Opfer Blaubarts,
sondern auch eine Frau, die mit ihren Fragen zu-
22                                                                                            Ticciati / Cargill / Goerne   23

mindest versucht, Kontrolle über den geliebten Mann zu er-
ringen. Zweifellos manipuliert der Herzog seine neue Liebe,
aber vielleicht manipuliert sie ihn auch? Bei der weiteren
Erkundung des Kosmos Judith hilft ihr, dass sie mit dem Di-
rigenten Robin Ticciati eine künstlerische Freundschaft ver-
bindet, dass die beiden sich bereits aus dem Konzertsaal und
dem Aufnahmestudio vertraut sind, wo sie unter anderem
Werke von Berlioz einspielten. Gefühlskonstellationen lotet
zwar auch Mozart in seinen Opern aus, aber so extrem wie in
dem Einakter von Bartók wird es dort selten. Der Zweikampf
zwischen Blaubart und Judith ist für beide Beteiligten ein
Wechselbad der übergroßen Emotionen.
                                                                                                             Matthias Goerne
Gleißen und Raunen
Auch der Bariton Matthias Goerne muss sich als Blaubart           Werk die Klangmöglichkeiten des großen Symphonieor-
gegen ein großes Symphonieorchester durchsetzen, das              chesters, um die Zeit scheinbar anzuhalten. Mit ähnlichen
der Spiegel des Innenlebens ist. Von gleißender Klangfülle        Mitteln wie Bartók sie zur Innenschau seiner Hauptfiguren
inklusive Orgelklang bis zum leisen Raunen der Streicher,         nutzt, schildert Eötvös die Erhabenheit der Natur und unser
von auftrumpfender Selbstsicherheit bis zur kleinlauten           Staunen über die scheinbare Mühelosigkeit des Adlerflugs,
Verzweiflung ist alles dabei, was ein entgleisendes Bezie-        der die unsichtbare Thermik nutzt.
hungsgespräch anstrengend machen kann. Aber auch fas-
zinierend, denn die beiden schenken sich nichts, bis das Or-      Mindestens ebenso virtuos, vielleicht noch etwas skrupello-
chester beim Öffnen der fünften Tür den wohl herrlichsten         ser und zielgerichteter verwendet der vielfach ausgezeich-
C-Dur-Akkord der Operngeschichte spielt. Danach beruhigt          nete Filmkomponist Hans Zimmer die Effektpalette des
sich die Lage wieder, Ernüchterung macht sich breit. Ob           klassischen Orchesters. Die Schwerelosigkeit des Comic-
Judith schließlich ermordet wird, ihr Ziel erreicht hat oder ob   helden Batman ist zwar von ganz anderer Art als die eines
die Geschichte unentschieden ausgeht, bleibt offen.               Adlers im Hochgebirge, aber Zimmer hat die Kompositionen
                                                                  seiner Vorgänger genau studiert, um die Einzelteile des Or-
Erhabenheit und Effekt                                            chesters neu und originell zusammenzusetzen. Geheimnis,
In der Schwebe hält auch der ungarische Komponist Péter           Bedrohung, Fremdheit und Unverständnis werden auch bei
Eötvös seine Komposition ›The Gliding of the Eagle in the         ihm zur eindringlichen Klangwelt.
Sky‹ aus dem Jahr 2012. Die scheinbar unbewegliche und
unbewegte Majestät des Raubvogels wollte er mit diesem            UWE FRIEDRICH
Auftragswerk des Baskischen Nationalorchesters hörbar
machen. Volksmusik, die schon Bartók faszinierte, inspirier-
te auch ihn, auch er nutzt in seinem knapp viertelstündigen                                            Konzertkalender S. 27
24                                                                                                                        Kinderkonzert   25

 So 13.3.      rbbKultur-Kinderkonzert                                           oder zwei Oboen –, aber so viele Strei-
                                                                                 cher – allein zwölf Erste Geigen,

 Das verrückte
                                                                                 fast ebenso viele Zweite Geigen,
                                                                                 dazu noch reichlich Bratschen,
                                                                                 Celli und Kontrabässe? Das ist

 Orchester                                                                       doch ungerecht! Wie klingt
                                                                                 wohl ein »gerechtes Orches-
                                                                                 ter«? Und warum sitzen ei-
                                                                                 gentlich die Streicher vorne?
 Kontrabass und Piccoloflöte streiten sich: Wer von beiden                       Kann man ein Orchester auch
 kann den höchsten Ton? Die Bratschen wollen wissen, wer                         anders aufstellen? Können die
 am schnellsten ist. Die Bläser machen einen Wettkampf:                          Streicher auch mit verstimmten
 Wer kann am längsten einen Ton spielen. Und der Pauker                          Saiten spielen? Wie hört sich das
 will endlich mal ganz vorne sitzen! Im 90. rbbKultur-Kin-                       an? Und wer sorgt eigentlich dafür,
 derkonzert ist einfach alles anders als sonst und ganz                          dass alle im selben Tempo spielen, zu-
 schön verrückt.                                                                 sammen anfangen und aufhören?

                                 Die Musikerinnen und Musiker des                Im rbbKultur-Kinderkonzert am 13. März mit der Dirigentin
                                          DSO können natürlich alle ganz         Anna Skryleva klären wir endlich die wichtige Frage: Wie
                                              toll spielen auf ihren vielen      funktioniert ein Orchester? Warum sind die Dinge auf der
                                                verschiedenen Instrumen-         Bühne so und nicht ganz anders? Und ihr alle, unsere Publi-
                                                   ten. Aber sie haben ver-      kum, könnt mithelfen, unser verrücktes Orchester wieder in
                                                     gessen, wie eigentlich      Ordnung zu bringen, damit ihr die Stücke von Leonard Bern-
                                                      »Orchester« geht.          stein, Johannes Brahms und Pjotr Tschaikowsky auch so zu
                                                       Können sie überhaupt      hören bekommt, wie es die Komponisten wollten! Wenn ihr
                                                        noch zusammen spie-      schon mal in unseren rbbKultur-Kinderkonzerten gewesen
                                                        len – als Orchester?     seid, dann seid ihr die Experten, die wir brauchen. Denn ihr
                                                        Was gehört eigent-       habt schon so viel erlebt, gesehen und gehört, dass ihr für
                                                        lich alles dazu, damit   unsere Musiker*innen vielleicht Tipps und gute Ideen habt.
                                                       ein Orchester funkti-     In diesem Konzert müsst ihr auf alles gefasst sein! Vor allem
                                                      oniert und sich auch       auf jede Menge Spaß und Überraschungen.
                                                     noch gut anhört? Und
                                                   alle haben Fragen! Wieso      CHRISTIAN SCHRUFF
                                                gibt es eigentlich nur so we-
                                       va
Di e                          k r yl e       nige Bläser – eine Basstuba,
     Diri g e               S                                                                                          Konzertkalender S. 26
              n tin A n n a              drei Posaunen, eine Piccoloflöte
26                                                                                             Konzertkalender   27

     März
                                                          So 20.3. / 20 Uhr / Philharmonie
                                                          Zimmer Suite aus der Musik zu ›Batman‹-Filmen
                                                          Eötvös ›The Gliding of the Eagle in the Skies‹
                                                          Bartók ›Herzog Blaubarts Burg‹ –
     So 6.3. / 20 Uhr / Philharmonie                      Oper in einem Akt (konzertante Aufführung)
     Korngold Symphonie Fis-Dur                           ROBIN TICCIATI
     Korngold Thema aus der Filmmusik zu ›Kings Row‹      Karen Cargill – Mezzosopran
     Kaper Ouvertüre zu ›Mutiny on the Bounty‹            Matthias Goerne – Bariton
     Rózsa ›The Love of the Princess‹ aus der Filmmusik   David Nathan – Sprecher
     zu ›The Thief of Baghdad‹
     Herrmann Suite aus der Filmmusik zu ›Psycho‹
                                                          Fr 25.3., Sa 26.3. / 20 Uhr / Philharmonie
     Steiner Suite aus der Filmmusik zu
                                                          Grime ›Meditations on Joy‹ (Uraufführung)
     ›Gone with the Wind‹
                                                          Brahms Violinkonzert D-Dur
     JOHN WILSON
                                                          Elgar Symphonie Nr. 2 Es-Dur
                                                          ROBIN TICCIATI
     Fr 11.3. / 20 Uhr / Villa Elisabeth                  Christian Tetzlaff – Violine
     Kammerkonzert
     Brahms, Schumann
     ENSEMBLE DES DSO

     So 13.3. / 12 Uhr / Haus des Rundfunks               April
     Kinderkonzert ›Das Orchester spielt verrückt‹
     Bernstein, Brahms, Tschaikowsky                      Fr 1.4. / 20.30 Uhr / Philharmonie
     ANNA SKRYLEVA                                        Casual Concert
     Christian Schruff – Moderation                       Smetana Auszüge aus ›Má vlast‹ (Mein Vaterland)
                                                          INGO METZMACHER
                                                          Im Anschluss Casual Concert Lounge
                                                          mit Live Act und DJ

                                                          Sa 2.4. / 20 Uhr / Philharmonie
                                                          Smetana ›Má vlast‹ (Mein Vaterland)
                                                          INGO METZMACHER
28                                                                                        Konzertkalender   29

     Sa 9.4. / 20 Uhr / Philharmonie                    So 24.4. / 17 Uhr / Heimathafen Neukölln
     Prokofjew Violinkonzert Nr. 2 g-Moll               Kammerkonzert
     Schostakowitsch Symphonie Nr. 4 c-Moll             Haas, Mendelssohn/Reimann, Mozart
     ANDRIS POGA                                        ENSEMBLE DES DSO
     Sergey Khachatryan – Violine
                                                        Sa 30.4. / 20 Uhr / Philharmonie
     Sa 16.4. / 20 Uhr / Philharmonie                   Bach Contrapunctus XIX aus ›Die Kunst der Fuge‹,
     Ravel ›Shéhérazade‹ für Sopran und Orchester       bearbeitet für Kammerorchester von Luciano Berio
     Eldin Drei ägyptische Lieder                       Lutosławski Symphonie Nr. 3
     Zemlinsky ›Die Seejungfrau‹                        Rachmaninoff Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll
     CRISTIAN MĂCELARU                                  HANNU LINTU
     Fatma Said – Sopran                                Behzod Abduraimov – Klavier

     Do 21.4. / 20 Uhr / UdK-Konzertsaal

                                                        Mai
     ›Gipfeltreffen‹ I
     Vortrag ›ÜberLeben‹ und Konzert
                                                                     (Vorschau)
     Mercadente, Schubert, Sinigaglia, Strauss und
     Tansman
     ENSEMBLES DES DSO                                  So 8.5. / 20 Uhr / Philharmonie
     Reinhold Messner – Vortrag                         Krása Ouvertüre für kleines Orchester
                                                        Mozart Violinkonzert Nr. 3 G-Dur
     Fr 22.4., Sa 23.4. / 20 Uhr / Philharmonie         Mahler Symphonie Nr. 5
     ›Gipfeltreffen‹ II                                 MANFRED HONECK
     Anderson ›Exiles‹ für Sopran, Chor und Orchester   James Ehnes – Violine
     (Uraufführung)
     Strauss ›Eine Alpensinfonie‹, mit Texten von       Mi 11.5. / 20 Uhr / Philharmonie
     Reinhold Messner                                   Tschaikowsky ›Francesca da Rimini‹
     ROBIN TICCIATI                                     Saint-Saëns Violoncellokonzert Nr. 1 a-Moll
     Siobhan Stagg – Sopran                             Schostakowitsch Symphonie Nr. 9 Es-Dur
     Reinhold Messner – Sprecher                        TUGAN SOKHIEV
     Rundfunkchor Berlin                                Truls Mørk – Violoncello
     Philipp Ahmann – Choreinstudierung
30   Corona                                                                                        Kammerkonzerte        31

Information    Corona                                         Fr 11.3.   Kammermusik in der Villa Elisabeth

                                                              Ein Klaviertrio-Programm mit dem Zweiten in F-Dur von
Ihr Konzertbesuch                                             Robert Schumann und dem Dritten in c-Moll von Johannes
                                                              Brahms gestalten Geiger Michael Mücke, Solo-Cellist Dávid
im März und April                                             Adorján und Pianistin Annika Treutler am 11. März in der Villa
                                                              Elisabeth. Den Anfang macht eine Klaviertrio-Bearbeitung
                                                              von Schumanns Sechs Stücken in kanonischer Form, die
Wir freuen uns sehr, Sie, unser Publikum, auch in den Mo-     1845 für den Pedalflügel entstanden. Eine Pedal-Klavia-
naten März und April wieder in der Philharmonie und an        tur mit Saiten, die unter den Flügel geschoben wurde und
unseren anderen Veranstaltungsorten begrüßen zu dürfen.       primär zum häuslichen Üben für Organisten gedacht war,
Aufgrund der aktuellen Lage finden die Konzerte bis auf       stand ihm für einige Monate zur Verfügung, und der Kom-
Weiteres unter erweiterten 2G-Plus-Bedingungen statt.         ponist erkundete begeistert das Potenzial des Instruments.

Das bedeutet, dass für den Besuch eines Konzerts ein aktu-    So 24.4.    Kammermusik im Heimathafen Neukölln
eller negativer Testnachweis zusätzlich zum digitalen Impf-
zertifikat der EU oder digitalen Genesungszertifikat der      Das Adamello Quartett,
EU notwendig ist (gilt nicht beim Nachweis einer Booster-     die Sopranistin Yeree Suh
Impfung). Das Zertifikat muss in Form einer App oder als      und der Schlagzeuger
QR-Code auf Papier vorliegen, der gelbe Impfausweis ist       Henrik M. Schmidt stel-
leider nicht ausreichend. Einen digital signierten Nachweis   len am 24. April Mozarts
erhalten Sie bei Bedarf unter anderem in Ihrer Apotheke.      Streichquartett D-Dur
Zudem besteht bei allen unseren Konzerten weiterhin die       KV 499 zwei ungewöhn-
Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske während des      lich besetzte Komposi-
gesamten Abends, also auch auf Ihrem Sitzplatz. Aufgrund      tionen zur Seite: Aribert                  Adamello Quartett
der Einlasskontrollen möchten wir Sie um rechtzeitiges Er-    Reimann hat in ›... oder
scheinen ersuchen.                                            soll es Tod bedeuten?‹ acht Klavierlieder und ein Fragment
                                                              von Mendelssohn Bartholdy für Sopran und Streichquartett
Wir bitten um Nachsicht und Verständnis dafür, dass sich      bearbeitet und durch eigene Intermezzi verbunden. Der
viele dieser Bedingungen kurzfristig ändern können – in die   Janáček-Schüler Pavel Haas sah für das übermütige Fina-
eine wie die andere Richtung. Stets aktuelle Informationen    le seines Zweiten Streichquartetts, dessen Titel ›Von den
rund um Ihren Konzertbesuch beim DSO finden Sie einfach       Affenbergen‹ an einen unbeschwerten Sommeraufenthalt
und bequem auf unserer Website → dso-berlin.de/update         erinnert, eine optionale Schlagzeugstimme vor.

                                                                                                Konzertkalender S. 26 / 29
Ticciati / Tetzlaff   33

Fr 25.3. / Sa 26.3.   Robin Ticciati

Musik als
Selbstbehauptung
        Schon vor zwei Jahren sollte die Premiere statt-
         finden – der erste Covid-Lockdown vereitelte sie.
         Im Auftrag des Deutschen Symphonie-Orchesters
        Berlin, dem sich das Los Angeles Philharmonic und
    BBC Radio 3 anschlossen, schrieb Helen Grime, die heu-
te 40-jährige britische Komponistin, 2019 ›Meditations on
Joy‹, ein dreisätziges Orchesterstück von einer guten Vier-
telstunde Länge. Zweimal hatte Robin Ticciati zuvor Werke
der hierzulande noch wenig bekannten Künstlerin in seine
DSO-Programme aufgenommen und dafür viel Zuspruch er-
halten. Der Titel des nun nicht mehr ganz neuen Opus deutet
auf das Beethovenjahr hin, in dem es seinen Gang in die
musikalische Welt antreten sollte, auf den Topos, den jede*r
mit dem Jubilar verbindet: das Freudenfinale der Neunten
Symphonie, das viele kontrastierende Unter-, Vor- und Zwi-
schentöne kennt.

Gedämpftes Wiegenlied
Beethovens Kontrastwelt zwischen »Schreckensfanfare«
und Aufblühen der Freudengedanken greift Grime in ihrem
ersten Satz auf, den sie »gedämpft und melancholisch in sei-
ner Grundstimmung« nennt, doch rückten »mehr und mehr
plötzliche helle Ausbrüche in den Vordergrund, und der Satz
endet in leuchtender Aktivität«. Dem lebhaft-tänzerischen
zweiten folgt ein Finalsatz, der sich aus absoluter Ruhe all-
mählich steigert, um als »eine Art gedämpftes Wiegenlied«
(Grime) zu enden. Die Werke Helen Grimes, die das DSO
bisher aufführte, überzeugten durch ihre Regie orchestraler
34                                                                                                      Ticciati / Tetzlaff   35

Farben. In ›Meditations on Joy‹ wird sie durch dramatische
Konstellationen in ihrer Wirkung noch verstärkt.

Pilgerfahrt der Seele
Unter Umständen wie den derzeit herrschenden werden
Klangmeditationen über die Freude zu einem Akt der Selbst-
behauptung, der künstlerischen wie der menschlichen. Die-
ses widerständige Ethos ist der abendländischen Sympho-
nik seit Beethoven eingeschrieben, und der hohe Anspruch,
der darin liegt, ließ manchem Komponisten des 19. und
frühen 20. Jahrhunderts das Schreiben eines solchen Ton-
kunstwerks als Herkulesaufgabe erscheinen. Auch Edward
Elgar, der Dvořák gut kannte, Brahms schätzte, sich in Bay-
reuth auf dem musikdramatisch neuesten Stand hielt und
sich gern mit Richard Strauss traf, belasteten Symphonie-                                                      Christian Tetzlaff
skrupel. Es dauerte lange, bis er seine Erste nicht nur konzi-
pierte, sondern auch vollendete. Die Zweite folgte dann, wie       tischen Repertoire ebenso wie Violinkonzerten des 20. und
einst bei Brahms, relativ schnell. Anregungen von außen, von       21. Jahrhunderts. In bester Erinnerung sind Tetzlaffs Inter-
Freundinnen und Freunden, von Städten, Landschaften und            pretationen des Berg-Konzerts und des selten gespielten,
baulichen Zeugen alter Geschichte beflügelten sein Schaf-          hoch virtuosen Werks von Karol Szymanowski. Beethovens
fen, auch im Fall seiner Zweiten Symphonie. Er bezeichne-          Violinkonzert interpretierte er mehrfach, jede seiner Deu-
te sie als »Pilgerfahrt einer leidenschaftlichen Seele« und        tungen markierte eine neue Stufe in einer beständigen Aus-
meinte damit Autobiografisches wie allgemein Menschli-             einandersetzung mit diesem Meisterwerk. Die gemeinsame
ches. In der Endphase dieses großen Es-Dur-Werks mische            Aufnahme mit Ticciati und dem DSO wird vom britischen
sich Freude auf unvergleichliche Weise mit nostalgischem           ›Gramophone Magazine‹ zu den 50 wichtigsten Beethoven-
Rückblick, meint die Elgar-Expertin Diana McVeagh.                 Aufnahmen gezählt. Das Brahms-Konzert spielt er zum ers-
                                                                   ten Mal mit dem DSO. Das Orchester und sein Publikum
Versonnen und temperamentvoll                                      dürfen sich auf eine Interpretation freuen, die dem Gesang-
In den britischen Rahmen dieses Konzertabends fügt Robin           lich-Versonnenen des mittleren Satzes ebenso gerecht wird
Ticciati das Violinkonzert von Johannes Brahms ein. Solist         wie dem Temperament des Finales und der symphonischen
ist Christian Tetzlaff. 1984 konzertierte der Violinvirtuose als   Weite des Kopfsatzes.
junger ARD-Preisträger zum ersten Mal mit dem Orchester.
Damals begann eine stetige, kontinuierliche Zusammenar-            HABAKUK TRABER
beit über mehr als dreieinhalb Jahrzehnte, die dem Orchester
in Berlin und auf Gastspielreisen unvergessliche künstleri-
sche Erlebnisse bescherte. Sie galt dem klassisch-roman-                                                Konzertkalender S. 27
36    Ingo Metzmacher

Fr 1.4. / Sa 2.4.   Ingo Metzmacher

Sehnsuchtsfluss
in voller Länge
Die Moldau, immer wieder die Moldau. Gewiss, ein schöner
Fluss mit mannigfaltigen Geschichten und pittoresken An-
sichten. Insgesamt postkartenreif. Von seinen beiden mur-
melnden Quellen im Böhmerwald und im Bayerischen Wald
findet das Sehnsuchtsgewässer aus Warmer und Kalter
Moldau bald zusammen, bemächtigt sich mäandernd einer
waldreichen Tallandschaft, adelt mit seinem Glanz die oh-
nehin prächtige Stadt Prag, passiert Burgen und Schlösser
und jubelt schließlich nach knapp 430 Kilometern Strecke
über die Vereinigung mit der Elbe bei Mělník.

Ach, das hat der Smetana ja schön gemacht mit seinem
wundervollen Stück. Er hat gelauscht, geschaut und einen
wogend-romantischen, ohrschmeichelnden Melodienstrom
zu Papier gebracht, der seit 140 Jahren auf allen Notenpulten
der Welt liegt und bezaubert. Eine Symphonische Dichtung,
fürwahr! Der Tscheche liebte halt seine Heimat, die Natur
und alles drumherum. Eigentlich schade, dass das »Traum-
schiff« hier noch nicht geankert hat. James Last wäre sicher
begeistert gewesen, wenn sich nach seiner Titelmelodie ein
Welthit zu den Wohlfühlbildern gesellt hätte.

Ein Welthit mit Hintergründen
Halt, genug Kitschgeklingel! Das hat Bedřich Smetana nun
wirklich nicht verdient. Der Hit hat Hintergründe. Sie sind
politisch. Und ›Die Moldau‹ steht nicht für sich allein. Sie bil-
det den zweiten Satz des Zyklus ›Má vlast‹ (Mein Vaterland),
dessen Ausarbeitung der im ostböhmischen Litomyšl gebo-
38                                                                                                   Ingo Metzmacher       39

rene Komponist im Jahr 1874 begann. Die insgesamt sechs         sich. Ein erfüllendes Erlebnis, für den Komponisten jedoch
Tondichtungen fasste er erst 1879 zusammen. Nicht einzeln,      eine große Kraftanstrengung: Schon als er ›Die Moldau‹ aus-
sondern im Zusammenwirken sollten sie Nationalstolz, Hei-       arbeitete, war Smetana völlig ertaubt.
matliebe, Mythos und Sehnsucht nach einem unabhängigen
Tschechien ausdrücken. Die Uraufführung fand schließlich        HELGE BIRKELBACH
am 5. November 1882 in Prag statt – und seine Landsleute
verstanden sofort die Botschaft. Tschechien wurde damals
von den Habsburgern beherrscht, die die Böhmische Krone
vor langer Zeit kassiert hatten.

Der Zyklus in voller Länge
Viel zu selten wird der gesamte Zyklus in voller Länge auf-
geführt. Auch das DSO muss hier bis zum Jahr 1976 zurück-
blättern. Auszüge folgten erst 1999; zuletzt dirigierte Sant-
tu-Matias Rouvali 2017 ›Die Moldau‹ und Tugan Sokhiev 2018
›Aus Böhmens Hain und Flur‹. Im vergangenen Jahr sollten
endlich wieder alle sechs Tondichtungen auf dem Programm
stehen, Ingo Metzmacher die Aufführung leiten. Doch die
Pandemie machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
Am 2. April kann sich der ehemalige Chefdirigent des DSO
endlich über die Realisierung freuen. Schon in seiner Amts-     Casual Concert am 1.4.
zeit 2007–2010 überraschte er gerne mit selten gespielten       Auszüge aus ›Má vlast‹ sind bereits im Casual Concert am
Stücken und ungewöhnlichen Programmkopplungen.                  1. April zu erleben. Ingo Metzmacher hat das offene, popu-
                                                                läre und moderierte Konzertformat 2007 beim DSO ins Le-
Mit Smetanas Nationalepos ist er eng vertraut. Anfang 2019      ben gerufen. »Zu den Casual Concerts«, erzählt ihr Erfinder,
dirigierte er es in Mannheim. Ein Kritiker urteilte damals:     »kommt mein absolutes Lieblingspublikum. Sie kommen,
»Metzmacher fächert vor unseren Augen und Ohren quasi           weil sie sich für die Musik interessieren und nicht für das
ein böhmisches Kaleidoskop auf. Er setzt auf dynamische         Konzertritual. Das Orchester spielt nicht im Frack, son-
Kontraste, auf deutlich sich voneinander absetzende Tempi,      dern in Zivil, es gibt einen günstigen Einheitspreis und freie
sucht nach den unterschiedlichen Farben und Stimmungen          Platzwahl. Das Publikum ist dem Orchester dabei näher als
in diesem an genau solchen so unfassbar reichen Werk. Es        sonst, und das Konzert dadurch kein heiliger Raum.« Durch
ist Smetanas Heimat, die so zu ihrem Eigenrecht kommt.«         Metzmachers Einführungen und die live gespielten Beispie-
Was in der ersten Tondichtung ›Vyšehrad‹ (die Königsburg        le vorbereitet, kann man Smetana dann durchaus mit ganz
aus grauer Vorzeit) von der Harfe in Bardenart als ursprüng-    neuen Ohren hören.
liches Motiv anklingt, wird im Finale ›Blaník‹ aufgegriffen
und zum befreienden Triumph gesteigert. Der Kreis schließt                                             Konzertkalender S. 27
Poga / Khachatryan     41

Sa 9.4.   Andris Poga

Symphonische
Leidenswege
Von Leichtigkeit und Lebensfreude zur Katastrophe: Die
russische Symphonik des 20. Jahrhunderts umspannt gro-
ße Gegensätze. Schon bei früheren DSO-Gastspielen zeigte
Andris Poga – nach dem Gewinn des Swetlanow-Wettbe-
werbs drei Jahre lang Assistent bei Paavo Järvi in Paris –
dass er sich damit bestens auskennt. Der armenische Geiger
Sergey Khachatryan, der zuletzt 2015 das DSO-Publikum
mit Chatschaturjans Violinkonzert begeisterte, steuert dem
seine eigene Sicht von Authentizität bei.

Schonungslose Bestandsaufnahme
Dmitri Schostakowitschs Symphonie Nr. 4 ist ein monu-
mentales Werk. Nicht nur durch ihre äußeren Dimensionen,
mit über 100 Mitwirkenden auf der Bühne und von über
einer Stunde Dauer, reicht die Vierte an die großen Mahler-
Symphonien – die »Auferstehung« oder die »Symphonie der
Tausend« – heran. An existentieller Tiefe, an katastrophalen
Zusammenbrüchen und bitterstem Pessimismus geht sie
vielleicht noch weiter. Explizite Mahler-Bezüge, die Bana-
lität und Leere ironisieren – etwa die unablässig mäandern-
den, quasi »leiernden« Bewegungen aus ›Des Antonius von
Padua Fischpredigt‹ aus dessen Zweiter Symphonie oder
die Trauermarsch-Persiflage in der Largo-Einleitung zum
Finale – lassen ebenfalls vermuten: Die Vierte betreibt Be-
standsaufnahme der persönlichen Situation des Kompo-
nisten, ist »Spiegel seiner seelischen Verfassung«, wie sein
Freund Krzysztof Meyer bemerkte.
42                                                                                               Poga / Khachatryan     43

Immer restriktiver versuchte die stalinistische Kulturpoli-
tik das Dogma des Sozialistischen Realismus durchzuset-
zen. Im Januar 1936, mitten in der Arbeit an der Vierten,
war der berüchtigte ›Prawda‹-Artikel erschienen, der das
ganze bisherige Leben des 30-jährigen Komponisten auf
den Kopf stellen sollte: Unter dem Titel ›Chaos statt Musik‹
erfolgte ein gnadenloser Verriss der Oper ›Lady Macbeth
von Mzensk‹, deren bisheriger Erfolg durch Stalins Missfal-
len zunichte gemacht wurde. Der Komponist sah sich zum
»Volksfeind« deklariert, seine Produktionsmöglichkeiten
vernichtet, dachte an Selbstmord. Sein Werk vollendete
er trotzdem, doch eine Aufführung konnte er nicht wagen.
Auch wenn die ironisch kieksenden Holzbläser, die unheilvoll
knarrenden Posaunen, stampfende »Maschinen«-Rhyth-
men oder erstickte nostalgische Walzeransätze sich nicht
eindeutig als Schreckens- und Zerrbild der Stalin-Diktatur
verstehen ließen, so war doch klar, dass damit nicht die
strahlende sozialistische Zukunft gemeint sein konnte. Erst                                                    Andris Poga
1961 erlebte die Vierte, deren Stimmenmaterial im Krieg ver-
loren ging und rekonstruiert werden musste, ihre orchestra-    tische Durcharbeitung. Doch anders als etwa bei Strawinsky
le Uraufführung. Der Komponist selbst bemerkte, er hielte      gibt es keinerlei historische Anleihen oder gar Zitate – was
sein Werk für misslungen; es leide an »Grandiosomanie«.        Prokofjew als Verzicht auf eine eigene musikalische Spra-
                                                               che ansah. Kurz nach der triumphalen Uraufführung des
Neue Einfachheit                                               Konzerts in Madrid kehrte er in seine sowjetische Heimat
Als Sergei Prokofjew 1935 sein Zweites Violinkonzert kom-      zurück. Dort wurde gerade das Violinkonzert als Verwirk-
ponierte, befand er sich in einer gänzlich anderen Lage als    lichung von Verständlichkeit und Volkstümlichkeit begrüßt
sein Kollege. Nachdem er bereits 1918 Russland verlassen       und als Einsicht des Komponisten »in die Ziellosigkeit sei-
hatte, versuchte er zunächst in den USA und dann in Paris      nes formalistischen Experimentierens« interpretiert – was
Fuß zu fassen. Dies gestaltete sich schwierig – die Konkur-    die Funktionäre nicht hinderte, ihn zehn Jahre später genau
renz von Rachmaninoff und Strawinsky war groß. Immer öf-       dieses »Verbrechens« zu bezichtigen.
ter begann er zwischen Paris und Moskau zu pendeln, der
Gedanke an Rückkehr kam auf. Im Zuge des aufkommenden          ISABEL HERZFELD
Neoklassizismus im Westen wandte sich auch Prokofjew
immer mehr einer »Neuen Einfachheit« zu. Das Violinkon-
zert besticht durch klare melodische Linien, dissonanzenär-
mere Harmonik als im Frühwerk und klassisch-kontrapunk-                                             Konzertkalender S. 28
44                                                          Măcelaru / Said   45

Sa 16.4.   Cristian Măcelaru

Märchenmusik
Die Rede vom »Orient« war um 1900 unter Europäern
gebräuchlich für einen Großteil der Welt östlich des Mit-
telmeers. Heute ist das anders. In unseren Ohren klingt
der Begriff pauschalisierend, romantisierend. Rückt er
nicht einen ganzen Erdteil in eine traumhafte Ferne, die
auf diese Art im »digitalen Dorf« von heute nicht mehr
existiert? Sind aber dagegen nicht auch neuere Worte
wie »Naher« und »Mittlerer Osten« ebenso mit verall-
gemeinernden Zuschreibungen verbunden – und auch
mit bestimmten Nachrichten aus der Tagespolitik? Im-
merhin hat das Wort vom »Orient« nach wie vor einen
Zauber – einen, der namentlich Medienkonsumenten, die
zugleich Musikfans sind, nicht sofort an politische und
religiöse Spannungen denken lässt. Maurice Ravel hat
zu dieser zauberischen Aufladung mit seiner Kompositi-
on der ›Shéhérazade‹ für Sopran und Orchester im Jahr
1903 einiges beigetragen. Allerdings erachtete er seinen
Anteil an der Idee, die Erzählungen aus ›Tausendundeiner
Nacht‹ in Musik zu setzen, als gering.

Wie kam Ravel zu ›Shéhérazade‹? »Das ist schwer zu
sagen«, konstatierte der Komponist später. »Der Orient
lag in der Luft.« Auch Rimsky-Korsakow habe ja zwanzig
Jahre früher eine nicht wenig erfolgreiche Symphonische
Dichtung über den Stoff komponiert, und Joseph-Charles
Mardrus fertigte die erste Übersetzung von ›Tausend-
undeine Nacht‹ in einer europäischen Sprache an. Zum
wachsenden Interesse an den ursprünglich persischen,
später arabischen Märchen, die die eloquente Shéhéra-
zade Nacht für Nacht dem König erzählt, trugen zudem
46                                                                                                   Măcelaru / Said   47

                                                               gesanglichen Crossover zwischen beiden musikalischen
                                                               Welten geglänzt. »Ich bin sehr glücklich darüber, mit Mu-
                                                               sikerinnen und Musikern unterschiedlichster Herkunft zu
                                                               arbeiten und Musik von Komponisten aus der ganzen Welt
                                                               zu singen«, sagt Fatma Said. In die Berliner Philharmonie
                                                               wird sie neben Ravel auch drei Lieder eines ägyptischen
                                                               Landsmannes mitbringen, des Komponisten Sherif Mohie
                                                               Eldin. Dieser hat Texte des bereits 1983 verstorbenen Amal
                                                               Dunqul vertont. Dunqul schrieb arabische Naturlyrik, aber
                                                               auch subversive Gedichte, die den Mächtigen südlich des
                                                               Mittelmeers seit dem Arabischen Frühling so manches Mal
                                                               wieder ein Dorn im Auge sind.

Cristian Măcelaru                                              Im DSO-Konzert unter Leitung von Cristian Măcelaru wird
                                                               diese Reise in die Welt des »Morgenlandes« in nördlicheren
die Weltausstellungen bei, die 1889 und 1900 in Paris statt-   Gefilden fortgesetzt, wo es ebenfalls immer wieder Neues
fanden und das europäische Publikum erstmals leibhaftig        zu entdecken gibt: Im gleichen Jahr wie Ravel seine ›Shéhé-
mit Ländern wie Ägypten, Libanon oder Saudi-Arabien in         razade‹ schrieb Alexander Zemlinsky eine Symphonische
Berührung brachten. Ravel seinerseits hielt seine Kenntnis-    Dichtung nach einem anderen berühmten Märchen: Sei-
se solch vermeintlich ferner Länder bewusst im Ungefähren:     ne opulente Fin-de-Siècle-Komposition ›Die Seejungfrau‹
»Kannte ich damals schon eine Anthologie orientalischer        changiert zwischen sinnlicher Erotik und Unheimlichkeit –
Verse? Ich bin dessen nicht sicher. Ich schaute auch keine     und wurde in einer wiederentdeckten Urfassung erst 2013
Landkarte an. Erst später las ich Hafis und Omar Chayyām.      uraufgeführt. Für das DSO hat das Werk Zemlinskys eine
Ich wurde damals mehr von den Dichtern Chinas angezogen.       besondere Bedeutung. Seit 1980 gehörte das Orchester fe-
Vielleicht lässt sich in meinen persischen Miniaturen der      derführend zu den Klangkörpern, die sich der Wiederentde-
Sinn für das Einfache, die Perfektion ahnen. Doch nehmen       ckung des Komponisten und anderer vergessener Tonsetzer
wir es nicht zu genau …«                                       → S. 16 verschrieben hatten. Die ›Seejungfrau‹ stand 1986
                                                               erstmals unter Riccardo Chailly auf dem Programm – und
Kritik und Subversion                                          hat seitdem ihren festen Platz im Repertoire und im Herzen
Heute allerdings nehmen wir es genauer – und können den        des Orchesters.
einstigen Zauber des »Orients« vielleicht durch mehr Präzi-
sion wiedererinnern und bewahren. Dazu gehört, dass das        MATTHIAS NÖTHER
DSO eine Sängerin einlädt, die in arabischen Gesangsstilen
genauso zu Hause ist wie im europäischen Kunstgesang:
die ägyptische Sopranistin Fatma Said. Jüngst hat sie bei
der Opus-Klassik-Preisverleihung mit einem gelungenen                                               Konzertkalender S. 28
48                                                                                                 Lintu / Abduraimov    49

Sa 30.4.    Hannu Lintu

Hörvergnügen
Ohne Nikolai Dahl hätte es eines der Lieblingsstücke des
Konzertpublikums wohl nie gegeben. Im Januar 1900 suchte
Sergei Rachmaninoff die Hilfe des Moskauer Psychiaters,
um endlich aus der tiefen Schaffenskrise zu finden, in die
ihn die vernichtende Kritik an seiner Ersten Symphonie drei
Jahre zuvor gestürzt hatte. Das Zweite Klavierkonzert war
bestellt, doch die Arbeit kam einfach nicht in die Gänge. Mit
einer Kombination aus Gesprächs- und suggestiver Hypno-
setherapie gelang es dem Arzt in wenigen Monaten, den
Genius seines Patienten wieder zu entflammen. Ein Jahr
später vollendete Rachmaninoff mit dem hochvirtuosen,                                                    Behzod Abduraimov
hochemotionalen und hochromantischen c-Moll-Konzert
ein Werk, das nicht nur Dahl gewidmet, sondern bis heute        Finnischen Radio-Sinfonieorchester seit der aktuellen Sai-
von den Spielplänen nicht wegzudenken ist. Dass es von ei-      son als Chefdirigent der Finnischen Nationaloper vor. Für
nigen als bombastisches Schlachtross geschmäht, dass sein       den ersten Teil des Konzertabends wählte Lintu zwei Werke
zweiter Satz gar für einen Popsong geplündert wurde – Tan-      mit Wurzeln in der Musikgeschichte. Luciano Berio spürte
tiemenstreitigkeiten inklusive –, all das hat dem großartigen   2001 mit ›Contrapunctus XIX‹ der Wirkung nach, die Jo-
Concerto nicht geschadet. Am 30. April kehrt es unter den       hann Sebastian Bach bis heute auf die Musikwelt ausübt.
Fingern von Behzod Abduraimov auf die Bühne der Philhar-        250 Jahre nach der Erstveröffentlichung hat Berio das fina-
monie zurück. Der usbekische Pianist gab sein DSO-Debüt         le Fragment aus Bachs ›Kunst der Fuge‹ für 23 Soloinstru-
2019 an der Seite von Vladimir Ashkenazy – und sorgte           mente transkribiert. Witold Lutosławskis zweisätzige Dritte
auch damals schon mit einem Werk des Komponisten, der           Symphonie aus dem Jahr 1983 verbindet seine persönliche
Rhapsodie über ein Thema von Paganini, für »unendliches         Auseinandersetzung mit dieser Gattungsform mit Fragen
Hörvergnügen« (rbbKultur).                                      von Kontrolle und individueller, spielerischer Freiheit, aus
                                                                denen sich ein beeindruckendes Musikerlebnis entspinnt.
Wurzeln in der Vergangenheit
Hannu Lintu war seit 2009 mehrere Male beim DSO zu              CHRISTOPH EVERSMEYER
Gast. Der Finne, der seine Ausbildung einst beim legen-
dären Dirigentenmacher Jorma Panula begann, steht nach
Stationen in Tampere, Helsingborg und Turku sowie beim                                               Konzertkalender S. 29
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