03/04 2022 DSO-Nachrichten Ingo Metzmacher dirigiert Smetana - Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
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Gipfeltreffen Robin Ticciati und Reinhold Messner Hollywood in Berlin John Wilson mit Korngold und Filmmusik Sehnsuchtsfluss Ingo Metzmacher dirigiert Smetana DSO-Nachrichten 03/04 2022
2 Inhalt Editorial 3 Liebe Leserin, lieber Leser, zwei überaus spannende, dichte und abwechslungsrei- che Konzertmonate liegen vor uns. Den Höhepunkt bildet zweifellos ein ›Gipfeltreffen‹ am 22. und 23. April, bei dem Chefdirigent Robin Ticciati gemeinsam mit der Bergstei- gerlegende Reinhold Messner ›Eine Alpensinfonie‹ auf die 3 Editorial Bühne der Philharmonie bringt. Ein Vortragskonzert ver- 4 Reinhold Messner und Robin Ticciati im Gespräch knüpft zudem Lebenserinnerungen des Abenteurers mit alpinistischen Kammermusikraritäten. 12 Gipfeltreffen 14 Lorin Maazel Gemeinsam mit Karen Cargill und Matthias Goerne erkun- det Robin Ticciati Bartóks geheimnisvollen Operneinakter 16 John Wilson ›Herzog Blaubarts Burg‹, Christian Tetzlaff hat er für das 20 Robin Ticciati, Karen Cargill und Matthias Goerne Violinkonzert von Brahms eingeladen. Ingo Metzmacher präsentiert Smetanas Symphonische Dichtungen im Sech- 24 rbbKultur-Kinderkonzert serpack und im Casual Concert, John Wilson spürt dem Wir- 26 Konzertkalender ken Erich Wolfgang Korngolds zwischen Hollywood-Sound- tracks und absoluter Musik nach. Hannu Lintu und Behzod 30 Ihr Konzertbesuch im März und April Abduraimov unternehmen Zeitsprünge vom Barock bis in 31 Kammerkonzerte das 20. Jahrhundert, Andris Poga und Sergey Khachatryan haben sowjetische, Cristian Măcelaru und Fatma Said mär- 32 Robin Ticciati und Christian Tetzlaff chenhafte Klangwelten im Gepäck. 36 Ingo Metzmacher Dies und vieles mehr finden Sie in der aktuellen Ausgabe. 40 Andris Poga und Sergey Khachatryan Wir schätzen uns glücklich, trotz nach wie vor bestehen- 44 Cristian Măcelaru und Fatma Said der Vorsichtsmaßnahmen auch weiterhin in unserer Jubilä- umssaison für Sie spielen zu dürfen. Feiern Sie mit uns und 48 Hannu Lintu und Behzod Abduraimov kommen Sie ins Konzert. Wir freuen uns auf Sie! 50 Impressum Herzliche Grüße 51 Abonnements 22/23 Ihr Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Im Gespräch 5 Do 21.4. – Sa 23.4. Messner und Ticciati Reise zum Berg Mit der Filmproduktion ›Eine Alpensinfonie‹ hat das DSO im vergangenen Jahr die Tondichtung von Richard Strauss als eine musikalisch-philosophi- sche Höhenwanderung mit der Bergsteigerlegende Reinhold Messner inszeniert. Am 22. und 23. April ist dieses ›Gipfeltreffen‹ live in der Philharmonie zu erleben → S. 12. Chefdirigent Robin Ticciati sprach bei den Drehar- beiten mit Reinhold Messner über physische und psychische Grenzerfahrungen, Natur und die Musik von Strauss. Reinhold Messner (M) Namaste! So begrüßt man sich im Himalaya. Robin Ticciati (T) Namaste! Es ist mir eine große Freude, hier mit Ihnen zu sitzen und zu sprechen – auch wenn ich im Bergsteigen keine Erfahrung habe. Und doch sind sich unsere Vorstellungen davon, was eine »Reise« bedeutet, nicht ganz unähnlich. M Ich glaube, die ›Alpensinfonie‹ ist etwas ganz Besonderes, weil hier ein Musiker seine eigene Bergerfahrung zugrunde gelegt und musikalisch verarbeitet hat. Und wir können ja gemeinsam einen ähnlichen Ansatz verfolgen. T Genau. Wenn ich mir als Musiker die Partitur anschaue, ist es mein Anliegen, eine Einsicht in die Psyche eines ech- ten Bergsteigers zu erlangen und herauszufinden, worum es dabei wirklich geht: Wetter und Tod, die Vorstellung von Sonnenlicht ... In der Musik sehe ich meine Reise und den Gipfel. Ich habe das alles vor Augen, aber das weiß niemand.
6 Im Gespräch 7 M Sie haben eine vergleichbare Herangehensweise an ein ›Alpensinfonie‹, klingt die musikalische Beschreibung des Musikstück wie ich für eine Bergbesteigung. Aber Sie haben Gipfels natürlich ganz wunderbar. Aber auch hier zählt, wie viele, viele Zuhörerinnen und Zuhörer. Und sie alle haben die wir dahin kommen. Der Gipfel ist schon nach dem ersten Möglichkeit, die Musik selbst zu interpretieren. Das ist wie Drittel erreicht, dann folgt ein langes Stück Abstieg. beim Lesen: Wenn Schriftsteller Millionen Möglichkeiten zu zeigen vermögen, ihre Geschichte zu interpretieren, ist das M Beim Bergsteigen ist es das gleiche Gefühl. Der Aufstieg viel wirkungsvoller, als sie so zu beschreiben, dass alle das ist viel spannungsgeladener als das Erreichen des Gipfels. gleiche Bild im Kopf haben. Der bedeutet dann nur einen Richtungswechsel. Und beim Abstieg muss man darauf achten, am Leben zu bleiben. T Das stimmt, in der Musik ist das ähnlich, da meine Vor- stellung davon, die Partitur zum Leben zu erwecken, letzt- T Ist der Abstieg denn viel gefährlicher? endlich für andere da ist. Ist Ihre Reise mit dem Berg etwas rein Innerliches, oder klettern Sie auch für Menschen, für M Ja, aber nur, weil man müde vom Aufstieg ist. Wenn die Menschheit? man die höchsten Gipfel besteigt, hat man das Gefühl, dass der Berg ständig größer wird. Das liegt daran, dass M In meiner Interpretation mache ich das für mich. Ich habe der Sauerstoffmangel einen sehr, sehr langsam werden eine Vorstellung – und das ist sehr wichtig. Es geht nicht nur lässt. Man kriegt das Gefühl, dass man am Ende nach darum, welchen Gipfel ich erklimmen will und welche Klet- jedem Schritt eine lange Pause braucht und deswegen terroute ich festlege. Vor 200 Jahren gingen die Bergsteiger nie ankommt. los, um die Alpengipfel zu erstürmen, und nach 100 Jahren waren die wichtigsten Berge erobert. Die nächste Genera- T Hat man denn oben überhaupt das romantische Verlan- tion wollte dann neue, schwere Routen finden. Und in der gen und die Möglichkeit, über seine Beziehung zur Welt dritten Phase, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, wurde der Stil und zur Natur nachzudenken? Kann man, im fundamen- besonders wichtig, also die Frage, was man an Werkzeug talsten Sinne, den Gipfel genießen? benutzt, um zum Gipfel zu gelangen. Ich versuchte gleich zu Beginn, einen Stil zu etablieren und mit immer weniger M Wenn man keine schwere Route geht und Zeit hat, weil Ausrüstung auf die Achttausender zu steigen. Auf meiner man um 9 Uhr morgens auf dem Gipfel des Mont Blanc ersten Expedition, bei der ich nur einfacher Teilnehmer war, steht, dann kann man es genießen. Aber wenn man an hatten wir für 18 Leute neun Tonnen Ausrüstung dabei. Fünf seine Grenzen geht, auf einem Achttausender, nach ei- Jahre später bestieg ich einen Achttausender auf einer neu- ner sehr anstrengenden Besteigung, dann geht’s nur ums en, schweren Route: zwei Leute, 200 Kilo Ausrüstung und Überleben. Generell ist Bergsteigen im Profibereich nichts sonst nichts. anderes, als an einen Ort zu gehen, an dem man sterben könnte, und zu überleben – die Kunst des Bergsteigens T Ein Riesenfortschritt! Ich finde die Vorstellung faszinie- besteht darin, nicht zu sterben. Aber es ist nur eine Kunst, rend, dass der Gipfel dabei immer mehr an Bedeutung ver- wenn die Gefahr des Todes gegeben ist. Anderenfalls ist es liert. Wenn ich mir eine Partitur vornehme, zum Beispiel die keine Überlebenskunst. Dann ist es nur banal.
8 Im Gespräch 9 T Ich finde es spannend, dass Sie von »Grenzen« sprechen. Der große Dirigent Nikolaus Harnoncourt sagte zu Beet- hovens Fünfter Symphonie: »Wir Musiker müssen an der Grenze der Katastrophe wandeln. Nur so finden wir wahre Schönheit.« Und ich habe das Gefühl, allem was Sie tun, liegt die Notwendigkeit zugrunde, dem Tod ins Auge zu sehen und sich der Sterblichkeit zu stellen. M Im Deutschen gibt es das Wort »Nahtoderlebnis«. Das sind die stärksten Erfahrungen, die man machen kann. Und wir suchen sie alle. Gleichzeitig fürchten wir uns vor ihnen. Niemand möchte gern sterben. Aber wir wissen, dass am Abgrund, kurz vor dem Tod, ein bedeutender Moment wartet. T Und sicherlich besteht der Riesenunterschied zwischen uns beiden darin, dass die Vorstellung vom Tod, zum Beispiel Reinhold Messner und Robin Ticciati bei Tristan und Isolde, nur in meinem romantischen Herzen und meiner inneren Vision herrscht, Sie hingegen konfron- entspringen: die Blechbläser, Gefahr, Tod. Aber es gibt auch tieren sich körperlich damit. ›Auf der Alm‹, wo man die Kuhglocken hört. In welchem Maß nehmen Sie beim Bergsteigen die Geräusche wahr? M Wir suchen das Nahtoderlebnis nicht, aber wir nehmen es in Kauf und gehen bis zum Abgrund. Die Faszination, die M Man hört sie. Man hört nicht wirklich hin, aber sie sind im- Bergsteigen auf Leute ausübt, die nicht Bergsteigen, rührt mer da – und sie ändern sich. Wenn zum Beispiel ein starker von der Tatsache her, dass es immer tödlich enden kann. Und Schneesturm kommt, könnte das einen Richtungswechsel trotzdem tun es viele. bedingen. Wenn die Temperatur und der Wind mehr oder weniger gleich bleiben, reagiert man nicht auf sie, weil sie T Wie sieht Ihr Verhältnis zum Tod aus? keine Gefahr in sich bergen. Auch der Berg kreiert Geräu- sche. Ich könnte aber nicht sagen, welche das sind. Es hängt M Wenn man dem Tode sehr nah ist, wäre es ein Leichtes, von der Masse ab: Am Fuße des Berges ist es eine riesige sich ihm einfach hinzugeben. Aber gleichzeitig hat man Masse. Aber am Gipfel ist nichts mehr über einem. auch einen Überlebensdrang. Wenn man noch einen Funken Energie und Konzentration hat, lässt der Körper das nicht zu. T Es wird also immer stiller und stiller … Der Überlebensdrang ist der stärkste Instinkt. M Ja, und was ebenfalls wichtig ist: Je höher man kommt, T Es ist sehr interessant, dass Strauss in der ›Alpensinfonie‹ desto dunkler wird der Himmel. Am Ende ist er schwarz und Klänge verarbeitet, die, wie ich denke, dem Unterbewussten nicht mehr blau.
Im Gespräch 11 T Wow. Diese unglaubliche Dunkelheit gibt es auch in der ›Alpensinfonie‹, die mit ›Nacht‹ anfängt und mit ›Nacht‹ aufhört. Es fühlt sich an, als ginge es um eine Art existen- tieller Dunkelheit. Wenn ich ans Ende komme und den Takt für ›Nacht‹ vorgebe, verschließt sich irgendetwas in mei- nem Herzen und ich fühle mich zutiefst alleine – obwohl 115 Musikerinnen und Musiker vor mir sitzen. Verursacht diese Dunkelheit auch Ihnen so ein Gefühl? M Es ist ein riesiger Unterschied, ob man allein oben ist oder nicht. Denn mit einem Partner kann man den Erfolg teilen, die Eroberung und die positiven Gefühle. Wenn man aber alleine dort steht, überkommt einen manchmal der Wunsch, dazubleiben. T Ich komme häufig wieder auf Musikstücke zurück, und das Stück wird sich dann total anders anfühlen. Wie geht Ihnen das mit einem Berg? M Es fühlt sich anders an. Man kann ein und denselben Berg hundertmal besteigen und es ist, als würde man hundert Berge besteigen. T Vielen Dank! Es ist wirklich ein großes Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen. M Ich bin kein Musiker … Der Perfekte Ein- oder Ausklang T … und ich bin kein Bergsteiger. Deshalb ist es perfekt. ist 3 Minuten von der Philharmonie Entfernt. [beide lachen] Das vollständige Gespräch können Sie unter → dso-berlin.de/gipfeltreffen ansehen. QIU Lounge im the Mandala Hotel am Potsdamer Platz Konzertkalender S. 28 Potsdamer Strasse 3 | Berlin | 030 / 59 00 5 00 00 | www.qiu.de
12 Gipfeltreffen 13 Do 21.4. – Sa 23.4. Messner und Ticciati Gipfeltreffen Am Wochenende nach Ostern bringt das DSO das Pro- gramm seiner Filmproduktion ›Eine Alpensinfonie‹ mit der Bergsteigerlegende Reinold Messner live in der Philharmo- nie auf die Bühne. Richard Strauss’ berühmte Tondichtung begleitet am 22. und 23. April das Publikum in die Berge, vor- bei an blumigen Wiesen, durch Dickicht und Gestrüpp, über Alm und Gletscher zum Gipfel und schließlich zum gewit- terumtosten Abstieg. Seine musikalischen Schilderungen Robin Ticciati bei den Aufnahmen zu ›Eine Alpensinfonie‹ hat Strauss mit dem inneren Erleben, mit philosophischen Subtexten zur Künstlerexistenz und der »Anbetung der ewi- Vortrag mit Kammermusik gen, herrlichen Natur« (Strauss) durchflochten. Dazwischen Bereits am 21. April besteht im Konzertsaal an der Har- gewährt Reinhold Messner Einblicke in die physischen wie denbergstraße die Möglichkeit, mehr über den Bergsteiger auch psychischen Grenzerfahrungen seiner Bergbesteigun- zu erfahren. Reinhold Messner skizziert in seinem Vortrag gen und erzählt von Extremsituationen, der Wahrnehmung ›ÜberLeben‹ den Weg vom Südtiroler Bergbub zum großen der Natur und seine mentalen Zustände vor, während und Abenteurer und wird dabei von einem prominent besetzten nach der Eroberung eines Gipfels. Ensemble aus DSO-Mitgliedern musikalisch begleitet. Auf dem Programm stehen unter anderem die Romanze für Horn Ein Leben für die Berge und Streichquartett des Dvořák-Schülers, Volksmusik- Der Südtiroler Reinhold Messner hat alle 14 Achttausender sammlers und Alpinisten Leone Sinigaglia, der als erster Ita- und zahlreiche weitere Gipfel auf schwersten Routen und liener die Dolomiten bezwang, aber auch Werke von Saverio teilweise im Alleingang bestiegen sowie die Wüste Gobi und Mercadante, Alexandre Tansman und Richard Strauss sowie die Antarktis durchwandert. Mit seiner Messner Mountain Bearbeitungen aus der ›Alpensinfonie‹ und aus ›Wandrers Foundation unterstützt er Völker in den Bergen des Hima- Nachtlied‹ von Schubert für Alphorn und Posaunen. laya, Karakorum, im Hindukusch, in den Anden oder im Kau- kasus. In über fünfzig Büchern, einem Dutzend Filmen, in Karten für Vortrag und Symphoniekonzert sind auch zum Vorträgen, im Messner Mountain Museum in den Bergen vergünstigten Paketpreis erhältlich. Weitere Informationen Südtirols sowie der Museumskette Messner Mountain Heri- unter → dso-berlin.de/gipfeltreffen tage in verschiedenen Gebirgen der Erde berichtet Messner von seinen Erlebnissen und setzt sich für die nachhaltige Erzählung des traditionellen Alpinismus ein. Konzertkalender S. 28
Lorin Maazel 15 1.3.1956 Lorin Maazel beim DSO Mit einem beeindru- ckenden Spielzettel präsentierte sich der 26-jährige Lorin Maazel am 1. März 1956 erstmals am Pult des DSO, das damals RSO hieß – darauf Haydns Symphonie Nr. 95, zwei Klavierkonzerte von Mozart und Ravel (mit dem Solisten Ro- bert Casadesus), ›Le chant du rossignol‹ von Strawinsky und als Krönung Skrjabins ›Poème de l’extase‹. Ein span- nendes, ein langes Programm. Der junge Amerikaner machte Eindruck – und kam bald alle sechs Monate zu Besuch. Fast zwei Jahrzehnte lang sollte er dem Orches- ter eng verbunden bleiben. Maazel war präzise, hochin- telligent, vielseitig gebildet, hatte eine Wunderkindheit überstanden und glänzte am Pult ebenso wie als virtuoser Geiger – legendär ist etwa sein Auftritt im April 1959, bei dem er Bachs a-Moll-Konzert und Strawinskys ›L’histoire du soldat‹ (auswendig) von der Violine aus leitete. Die Verbindung intensivierte sich, und am 13. September 1964 dirigierte der damals 34-Jährige, mit Bruckners Vier- ter, sein Antrittskonzert als neuer Chefdirigent und Nach- folger Ferenc Fricsays. Bis 1975 lenkte er die Geschicke des DSO, brillierte mit einem Repertoire, das vom gelieb- ten Bach bis in die Gegenwart führte, und bereicherte die Spielpläne mit Mahler-Interpretationen und »roman- tischen Raritäten« von Berlioz, Bruckner oder Liszt. Von Berlin aus startete Maazel eine Weltkarriere, die ihn später Eintrag Lorin Maazels in den nach Cleveland, Wien, Pittsburgh, München und New York Autogrammbänden Heinrich Köhlers führen sollte. 2014 ist er im Alter von 84 Jahren verstorben.
John Wilson 17 So 6.3. John Wilson Rarität in Fis-Dur »Zuerst war ich ein Wunderkind, dann war ich, bis Hitler kam, ein erfolgreicher Opernkomponist in Europa, und da- nach war ich Filmkomponist«, sagte Erich Wolfgang Korn- gold in einem Interview 1946. »Fünfzig ist sehr alt für ein Wunderkind. Ich fühle, dass ich jetzt eine Entscheidung treffen muss, wenn ich nicht bis zum Ende meines Lebens ein Hollywoodkomponist sein will.« In den 20er-Jahren war Korngold mit ›Der Ring des Polykra- tes‹, ›Die tote Stadt‹ und ›Das Wunder der Heliane‹ binnen Kurzem zu einem der meistgespielten Opernkomponisten im deutschsprachigen Raum aufgestiegen, danach hatte er in Hollywood schlankerhand das erfunden, was wir heute als Filmmusik kennen – mit großem Orchester, stringenter Themenführung, symphonischer Durchformung. Musik als Teil eines Gesamtkunstwerks, mit der Handlung verwoben und nicht nur Beiwerk. »Man hat Korngold später oft vorge- worfen, seine Musik klinge nach Hollywood, obwohl es ge- nau umgekehrt ist«, erzählt der Dirigent John Wilson. »Be- vor er 1934 nach Los Angeles kam, klang Hollywood nach gar nichts, und danach haben ihn plötzlich alle imitiert.« Ende der 40er-Jahre nahm Korngold keine Filmaufträge mehr an, reiste wieder nach Europa und versuchte vergeb- lich, endlich wieder als Komponist absoluter Musik ernst genommen zu werden. Er litt darunter, dass er mit dem Vio- linkonzert und der Fis-Dur-Symphonie keinen nachhaltigen Anklang im Konzertsaal fand. Das Stigma als Filmmusiker war sicherlich ein Grund. Auch ging die Avantgarde nun an- derer Wege, die Erfolgsklänge der Vorkriegszeit galten nicht
18 John Wilson 19 selten als spätromantischer Schwulst. Zudem hatte man ihn Rahmen anwenden kann. Die Symphonie folgt der Tradition, in der Dekade seines erzwungenen Exils schlicht vergessen – ist aber unglaublich innovativ. Das brillante Scherzo ist eine ein Schicksal, das er mit etlichen anderen jüdischen Kompo- wahre Tour de force, und das Adagio wahrscheinlich der bes- nisten seiner Generation teilte, die von den Nationalsozia- te Satz, den Korngold jemals geschrieben hat.« listen verfemt, vertrieben und ermordet worden waren. Es sollte vier Jahrzehnte dauern, bis die sinnliche, rauschhafte Klangwelten Zaubermusik der Wiener Moderne wieder auf die Spielplä- John Wilson versteht wohl wie kaum ein anderer die Zer- ne zurückkehrte. Das DSO hatte mit Konzerten und Refe- rissenheit, die der Korngold-Rezeption bis heute anhaf- renzeinspielungen seit den 80er-Jahren einigen Anteil an tet. Auch er ist ein Wanderer zwischen Welten, die für ihn der Wiederentdeckung, die dem Werk von Korngold, Franz selbst zusammengehören, lehnt er die Trennung zwischen Schreker, Alexander Zemlinsky und anderen zuteilwurde. »Ernster« und »Unterhaltungsmusik« doch vehement ab. Bereits während seiner Studienzeit am Royal College of Music gründete er das John Wilson Orchestra, um Filmmu- »Es gibt wohl kaum einen anderen genialen sik vergangener Zeiten wieder zum Leben zu erwecken. Bis Komponisten, der so lange und so unfair heute genießt es nicht nur bei den BBC Proms Kultstatus. vernachlässigt wurde wie Korngold.« Zugleich ist er regelmäßig bei britischen und europäischen John Wilson Klangkörpern zu Gast und macht sich seit einigen Jahren einen Namen als Operndirigent. Affirmation von Schönheit Korngold und die Folgen Korngold schrieb seine Symphonie in der eher ungewöhn- Für den zweiten Teil des Konzerts am 6. März hat Wilson fol- lichen Tonart Fis-Dur – wie sie auch in Mahlers Fragment gerichtig Auszüge aus Filmmusiken aufs Programm gesetzt. der Zehnten und Messiaens ›Turangalîla‹ aufscheint –, die Erich Wolfgang Korngold, der Schöpfer des klassischen Hol- zudem ständig nach Moll und zurück wechselt. Sie erleb- lywood-Sounds, steht mit ›Kings Row‹ von 1942 am Anfang, te ihre Vollendung 1952 in Los Angeles, kehrte nach einer einer Partitur, die Generationen von Filmkomponisten nach mittelmäßigen Wiener Premiere 1954, die Korngold nicht ihm geprägt hat. Ihr folgen Auszüge aus den Soundtracks selbst dirigieren konnte, aber erst 1972 auf das Konzertpo- Bronisław Kapers zu ›Mutiny on the Bounty‹ (1962), Miklós dium zurück und ist immer noch selten zu hören. Völlig zu Rózsas zu ›The Thief of Baghdad‹ (1940), Bernard Herr- Unrecht, wie John Wilson findet: »Bei Korngold geht es um manns zu ›Psycho‹ (1960) und Max Steiners zu ›Gone with die Affirmation von Schönheit in der Musik. Er konnte mit the Wind‹ (1939). Ungewohnte Klangwelten beim DSO – und Zwölftonmusik einfach nichts anfangen. Doch auch wenn durchaus eine Entdeckung wert. er seinem tonalen Stil im Spätwerk treu blieb, gibt es dar- in eine gewisse Kantigkeit, die eher für Zwölftöner typisch MAXIMILIAN RAUSCHER war. Gerade am Anfang des ersten Satzes spielt er seine ganz eigene Variante von Dodekaphonie durch – als wollte er demonstrieren, dass man diese Elemente auch im tonalen Konzertkalender S. 26
Ticciati / Cargill / Goerne 21 So 20.3. Robin Ticciati Und immer wird nun Nacht sein Müssen wir wirklich alles über unseren Partner wissen? Ist es überhaupt wün- schenswert, in einer Beziehung gar keine Geheimnisse zu haben? Bei mancher Ge- schichte ist es zweifellos besser, wenn der De- ckel drauf bleibt und die Illusion des anderen nicht gestört wird. Deshalb warnt auch Herzog Blaubart die wissbegierige Judith immer wieder und immer eindringlicher, die Türen geschlossen zu halten, hinter denen er seine dunkelsten Geheimnisse verwahrt. Das alte Märchen vom frauenmorden- den Herzog wird in Béla Bartóks einaktiger Oper zur antiromantischen Warnung im farbenreich im- pressionistischen Gewand. Denn auch in diesem Schloss werden die abgelegten Frauen des Verfüh- rers versteckt, jeweils charakterisiert durch eine ganz eigene Klangsprache, die ihren Höhepunkt beim Öffnen der fünften Tür findet. Gefühlskonstellationen Hat er sie wirklich ermordet? Sind es nur noch Einbildungen, ferne Schemen, die sich aus einem Schattenreich nähern? Bartók erklärt nichts, lässt die Klangwelten der beiden aufeinandertreffen, ohne die Spannungen jemals aufzulösen. Für die schottische Mezzosopranistin Karen Cargill (Bild) ist Judith nicht bloß das hilflose Opfer Blaubarts, sondern auch eine Frau, die mit ihren Fragen zu-
22 Ticciati / Cargill / Goerne 23 mindest versucht, Kontrolle über den geliebten Mann zu er- ringen. Zweifellos manipuliert der Herzog seine neue Liebe, aber vielleicht manipuliert sie ihn auch? Bei der weiteren Erkundung des Kosmos Judith hilft ihr, dass sie mit dem Di- rigenten Robin Ticciati eine künstlerische Freundschaft ver- bindet, dass die beiden sich bereits aus dem Konzertsaal und dem Aufnahmestudio vertraut sind, wo sie unter anderem Werke von Berlioz einspielten. Gefühlskonstellationen lotet zwar auch Mozart in seinen Opern aus, aber so extrem wie in dem Einakter von Bartók wird es dort selten. Der Zweikampf zwischen Blaubart und Judith ist für beide Beteiligten ein Wechselbad der übergroßen Emotionen. Matthias Goerne Gleißen und Raunen Auch der Bariton Matthias Goerne muss sich als Blaubart Werk die Klangmöglichkeiten des großen Symphonieor- gegen ein großes Symphonieorchester durchsetzen, das chesters, um die Zeit scheinbar anzuhalten. Mit ähnlichen der Spiegel des Innenlebens ist. Von gleißender Klangfülle Mitteln wie Bartók sie zur Innenschau seiner Hauptfiguren inklusive Orgelklang bis zum leisen Raunen der Streicher, nutzt, schildert Eötvös die Erhabenheit der Natur und unser von auftrumpfender Selbstsicherheit bis zur kleinlauten Staunen über die scheinbare Mühelosigkeit des Adlerflugs, Verzweiflung ist alles dabei, was ein entgleisendes Bezie- der die unsichtbare Thermik nutzt. hungsgespräch anstrengend machen kann. Aber auch fas- zinierend, denn die beiden schenken sich nichts, bis das Or- Mindestens ebenso virtuos, vielleicht noch etwas skrupello- chester beim Öffnen der fünften Tür den wohl herrlichsten ser und zielgerichteter verwendet der vielfach ausgezeich- C-Dur-Akkord der Operngeschichte spielt. Danach beruhigt nete Filmkomponist Hans Zimmer die Effektpalette des sich die Lage wieder, Ernüchterung macht sich breit. Ob klassischen Orchesters. Die Schwerelosigkeit des Comic- Judith schließlich ermordet wird, ihr Ziel erreicht hat oder ob helden Batman ist zwar von ganz anderer Art als die eines die Geschichte unentschieden ausgeht, bleibt offen. Adlers im Hochgebirge, aber Zimmer hat die Kompositionen seiner Vorgänger genau studiert, um die Einzelteile des Or- Erhabenheit und Effekt chesters neu und originell zusammenzusetzen. Geheimnis, In der Schwebe hält auch der ungarische Komponist Péter Bedrohung, Fremdheit und Unverständnis werden auch bei Eötvös seine Komposition ›The Gliding of the Eagle in the ihm zur eindringlichen Klangwelt. Sky‹ aus dem Jahr 2012. Die scheinbar unbewegliche und unbewegte Majestät des Raubvogels wollte er mit diesem UWE FRIEDRICH Auftragswerk des Baskischen Nationalorchesters hörbar machen. Volksmusik, die schon Bartók faszinierte, inspirier- te auch ihn, auch er nutzt in seinem knapp viertelstündigen Konzertkalender S. 27
24 Kinderkonzert 25 So 13.3. rbbKultur-Kinderkonzert oder zwei Oboen –, aber so viele Strei- cher – allein zwölf Erste Geigen, Das verrückte fast ebenso viele Zweite Geigen, dazu noch reichlich Bratschen, Celli und Kontrabässe? Das ist Orchester doch ungerecht! Wie klingt wohl ein »gerechtes Orches- ter«? Und warum sitzen ei- gentlich die Streicher vorne? Kontrabass und Piccoloflöte streiten sich: Wer von beiden Kann man ein Orchester auch kann den höchsten Ton? Die Bratschen wollen wissen, wer anders aufstellen? Können die am schnellsten ist. Die Bläser machen einen Wettkampf: Streicher auch mit verstimmten Wer kann am längsten einen Ton spielen. Und der Pauker Saiten spielen? Wie hört sich das will endlich mal ganz vorne sitzen! Im 90. rbbKultur-Kin- an? Und wer sorgt eigentlich dafür, derkonzert ist einfach alles anders als sonst und ganz dass alle im selben Tempo spielen, zu- schön verrückt. sammen anfangen und aufhören? Die Musikerinnen und Musiker des Im rbbKultur-Kinderkonzert am 13. März mit der Dirigentin DSO können natürlich alle ganz Anna Skryleva klären wir endlich die wichtige Frage: Wie toll spielen auf ihren vielen funktioniert ein Orchester? Warum sind die Dinge auf der verschiedenen Instrumen- Bühne so und nicht ganz anders? Und ihr alle, unsere Publi- ten. Aber sie haben ver- kum, könnt mithelfen, unser verrücktes Orchester wieder in gessen, wie eigentlich Ordnung zu bringen, damit ihr die Stücke von Leonard Bern- »Orchester« geht. stein, Johannes Brahms und Pjotr Tschaikowsky auch so zu Können sie überhaupt hören bekommt, wie es die Komponisten wollten! Wenn ihr noch zusammen spie- schon mal in unseren rbbKultur-Kinderkonzerten gewesen len – als Orchester? seid, dann seid ihr die Experten, die wir brauchen. Denn ihr Was gehört eigent- habt schon so viel erlebt, gesehen und gehört, dass ihr für lich alles dazu, damit unsere Musiker*innen vielleicht Tipps und gute Ideen habt. ein Orchester funkti- In diesem Konzert müsst ihr auf alles gefasst sein! Vor allem oniert und sich auch auf jede Menge Spaß und Überraschungen. noch gut anhört? Und alle haben Fragen! Wieso CHRISTIAN SCHRUFF gibt es eigentlich nur so we- va Di e k r yl e nige Bläser – eine Basstuba, Diri g e S Konzertkalender S. 26 n tin A n n a drei Posaunen, eine Piccoloflöte
26 Konzertkalender 27 März So 20.3. / 20 Uhr / Philharmonie Zimmer Suite aus der Musik zu ›Batman‹-Filmen Eötvös ›The Gliding of the Eagle in the Skies‹ Bartók ›Herzog Blaubarts Burg‹ – So 6.3. / 20 Uhr / Philharmonie Oper in einem Akt (konzertante Aufführung) Korngold Symphonie Fis-Dur ROBIN TICCIATI Korngold Thema aus der Filmmusik zu ›Kings Row‹ Karen Cargill – Mezzosopran Kaper Ouvertüre zu ›Mutiny on the Bounty‹ Matthias Goerne – Bariton Rózsa ›The Love of the Princess‹ aus der Filmmusik David Nathan – Sprecher zu ›The Thief of Baghdad‹ Herrmann Suite aus der Filmmusik zu ›Psycho‹ Fr 25.3., Sa 26.3. / 20 Uhr / Philharmonie Steiner Suite aus der Filmmusik zu Grime ›Meditations on Joy‹ (Uraufführung) ›Gone with the Wind‹ Brahms Violinkonzert D-Dur JOHN WILSON Elgar Symphonie Nr. 2 Es-Dur ROBIN TICCIATI Fr 11.3. / 20 Uhr / Villa Elisabeth Christian Tetzlaff – Violine Kammerkonzert Brahms, Schumann ENSEMBLE DES DSO So 13.3. / 12 Uhr / Haus des Rundfunks April Kinderkonzert ›Das Orchester spielt verrückt‹ Bernstein, Brahms, Tschaikowsky Fr 1.4. / 20.30 Uhr / Philharmonie ANNA SKRYLEVA Casual Concert Christian Schruff – Moderation Smetana Auszüge aus ›Má vlast‹ (Mein Vaterland) INGO METZMACHER Im Anschluss Casual Concert Lounge mit Live Act und DJ Sa 2.4. / 20 Uhr / Philharmonie Smetana ›Má vlast‹ (Mein Vaterland) INGO METZMACHER
28 Konzertkalender 29 Sa 9.4. / 20 Uhr / Philharmonie So 24.4. / 17 Uhr / Heimathafen Neukölln Prokofjew Violinkonzert Nr. 2 g-Moll Kammerkonzert Schostakowitsch Symphonie Nr. 4 c-Moll Haas, Mendelssohn/Reimann, Mozart ANDRIS POGA ENSEMBLE DES DSO Sergey Khachatryan – Violine Sa 30.4. / 20 Uhr / Philharmonie Sa 16.4. / 20 Uhr / Philharmonie Bach Contrapunctus XIX aus ›Die Kunst der Fuge‹, Ravel ›Shéhérazade‹ für Sopran und Orchester bearbeitet für Kammerorchester von Luciano Berio Eldin Drei ägyptische Lieder Lutosławski Symphonie Nr. 3 Zemlinsky ›Die Seejungfrau‹ Rachmaninoff Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll CRISTIAN MĂCELARU HANNU LINTU Fatma Said – Sopran Behzod Abduraimov – Klavier Do 21.4. / 20 Uhr / UdK-Konzertsaal Mai ›Gipfeltreffen‹ I Vortrag ›ÜberLeben‹ und Konzert (Vorschau) Mercadente, Schubert, Sinigaglia, Strauss und Tansman ENSEMBLES DES DSO So 8.5. / 20 Uhr / Philharmonie Reinhold Messner – Vortrag Krása Ouvertüre für kleines Orchester Mozart Violinkonzert Nr. 3 G-Dur Fr 22.4., Sa 23.4. / 20 Uhr / Philharmonie Mahler Symphonie Nr. 5 ›Gipfeltreffen‹ II MANFRED HONECK Anderson ›Exiles‹ für Sopran, Chor und Orchester James Ehnes – Violine (Uraufführung) Strauss ›Eine Alpensinfonie‹, mit Texten von Mi 11.5. / 20 Uhr / Philharmonie Reinhold Messner Tschaikowsky ›Francesca da Rimini‹ ROBIN TICCIATI Saint-Saëns Violoncellokonzert Nr. 1 a-Moll Siobhan Stagg – Sopran Schostakowitsch Symphonie Nr. 9 Es-Dur Reinhold Messner – Sprecher TUGAN SOKHIEV Rundfunkchor Berlin Truls Mørk – Violoncello Philipp Ahmann – Choreinstudierung
30 Corona Kammerkonzerte 31 Information Corona Fr 11.3. Kammermusik in der Villa Elisabeth Ein Klaviertrio-Programm mit dem Zweiten in F-Dur von Ihr Konzertbesuch Robert Schumann und dem Dritten in c-Moll von Johannes Brahms gestalten Geiger Michael Mücke, Solo-Cellist Dávid im März und April Adorján und Pianistin Annika Treutler am 11. März in der Villa Elisabeth. Den Anfang macht eine Klaviertrio-Bearbeitung von Schumanns Sechs Stücken in kanonischer Form, die Wir freuen uns sehr, Sie, unser Publikum, auch in den Mo- 1845 für den Pedalflügel entstanden. Eine Pedal-Klavia- naten März und April wieder in der Philharmonie und an tur mit Saiten, die unter den Flügel geschoben wurde und unseren anderen Veranstaltungsorten begrüßen zu dürfen. primär zum häuslichen Üben für Organisten gedacht war, Aufgrund der aktuellen Lage finden die Konzerte bis auf stand ihm für einige Monate zur Verfügung, und der Kom- Weiteres unter erweiterten 2G-Plus-Bedingungen statt. ponist erkundete begeistert das Potenzial des Instruments. Das bedeutet, dass für den Besuch eines Konzerts ein aktu- So 24.4. Kammermusik im Heimathafen Neukölln eller negativer Testnachweis zusätzlich zum digitalen Impf- zertifikat der EU oder digitalen Genesungszertifikat der Das Adamello Quartett, EU notwendig ist (gilt nicht beim Nachweis einer Booster- die Sopranistin Yeree Suh Impfung). Das Zertifikat muss in Form einer App oder als und der Schlagzeuger QR-Code auf Papier vorliegen, der gelbe Impfausweis ist Henrik M. Schmidt stel- leider nicht ausreichend. Einen digital signierten Nachweis len am 24. April Mozarts erhalten Sie bei Bedarf unter anderem in Ihrer Apotheke. Streichquartett D-Dur Zudem besteht bei allen unseren Konzerten weiterhin die KV 499 zwei ungewöhn- Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske während des lich besetzte Komposi- gesamten Abends, also auch auf Ihrem Sitzplatz. Aufgrund tionen zur Seite: Aribert Adamello Quartett der Einlasskontrollen möchten wir Sie um rechtzeitiges Er- Reimann hat in ›... oder scheinen ersuchen. soll es Tod bedeuten?‹ acht Klavierlieder und ein Fragment von Mendelssohn Bartholdy für Sopran und Streichquartett Wir bitten um Nachsicht und Verständnis dafür, dass sich bearbeitet und durch eigene Intermezzi verbunden. Der viele dieser Bedingungen kurzfristig ändern können – in die Janáček-Schüler Pavel Haas sah für das übermütige Fina- eine wie die andere Richtung. Stets aktuelle Informationen le seines Zweiten Streichquartetts, dessen Titel ›Von den rund um Ihren Konzertbesuch beim DSO finden Sie einfach Affenbergen‹ an einen unbeschwerten Sommeraufenthalt und bequem auf unserer Website → dso-berlin.de/update erinnert, eine optionale Schlagzeugstimme vor. Konzertkalender S. 26 / 29
Ticciati / Tetzlaff 33 Fr 25.3. / Sa 26.3. Robin Ticciati Musik als Selbstbehauptung Schon vor zwei Jahren sollte die Premiere statt- finden – der erste Covid-Lockdown vereitelte sie. Im Auftrag des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, dem sich das Los Angeles Philharmonic und BBC Radio 3 anschlossen, schrieb Helen Grime, die heu- te 40-jährige britische Komponistin, 2019 ›Meditations on Joy‹, ein dreisätziges Orchesterstück von einer guten Vier- telstunde Länge. Zweimal hatte Robin Ticciati zuvor Werke der hierzulande noch wenig bekannten Künstlerin in seine DSO-Programme aufgenommen und dafür viel Zuspruch er- halten. Der Titel des nun nicht mehr ganz neuen Opus deutet auf das Beethovenjahr hin, in dem es seinen Gang in die musikalische Welt antreten sollte, auf den Topos, den jede*r mit dem Jubilar verbindet: das Freudenfinale der Neunten Symphonie, das viele kontrastierende Unter-, Vor- und Zwi- schentöne kennt. Gedämpftes Wiegenlied Beethovens Kontrastwelt zwischen »Schreckensfanfare« und Aufblühen der Freudengedanken greift Grime in ihrem ersten Satz auf, den sie »gedämpft und melancholisch in sei- ner Grundstimmung« nennt, doch rückten »mehr und mehr plötzliche helle Ausbrüche in den Vordergrund, und der Satz endet in leuchtender Aktivität«. Dem lebhaft-tänzerischen zweiten folgt ein Finalsatz, der sich aus absoluter Ruhe all- mählich steigert, um als »eine Art gedämpftes Wiegenlied« (Grime) zu enden. Die Werke Helen Grimes, die das DSO bisher aufführte, überzeugten durch ihre Regie orchestraler
34 Ticciati / Tetzlaff 35 Farben. In ›Meditations on Joy‹ wird sie durch dramatische Konstellationen in ihrer Wirkung noch verstärkt. Pilgerfahrt der Seele Unter Umständen wie den derzeit herrschenden werden Klangmeditationen über die Freude zu einem Akt der Selbst- behauptung, der künstlerischen wie der menschlichen. Die- ses widerständige Ethos ist der abendländischen Sympho- nik seit Beethoven eingeschrieben, und der hohe Anspruch, der darin liegt, ließ manchem Komponisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts das Schreiben eines solchen Ton- kunstwerks als Herkulesaufgabe erscheinen. Auch Edward Elgar, der Dvořák gut kannte, Brahms schätzte, sich in Bay- reuth auf dem musikdramatisch neuesten Stand hielt und sich gern mit Richard Strauss traf, belasteten Symphonie- Christian Tetzlaff skrupel. Es dauerte lange, bis er seine Erste nicht nur konzi- pierte, sondern auch vollendete. Die Zweite folgte dann, wie tischen Repertoire ebenso wie Violinkonzerten des 20. und einst bei Brahms, relativ schnell. Anregungen von außen, von 21. Jahrhunderts. In bester Erinnerung sind Tetzlaffs Inter- Freundinnen und Freunden, von Städten, Landschaften und pretationen des Berg-Konzerts und des selten gespielten, baulichen Zeugen alter Geschichte beflügelten sein Schaf- hoch virtuosen Werks von Karol Szymanowski. Beethovens fen, auch im Fall seiner Zweiten Symphonie. Er bezeichne- Violinkonzert interpretierte er mehrfach, jede seiner Deu- te sie als »Pilgerfahrt einer leidenschaftlichen Seele« und tungen markierte eine neue Stufe in einer beständigen Aus- meinte damit Autobiografisches wie allgemein Menschli- einandersetzung mit diesem Meisterwerk. Die gemeinsame ches. In der Endphase dieses großen Es-Dur-Werks mische Aufnahme mit Ticciati und dem DSO wird vom britischen sich Freude auf unvergleichliche Weise mit nostalgischem ›Gramophone Magazine‹ zu den 50 wichtigsten Beethoven- Rückblick, meint die Elgar-Expertin Diana McVeagh. Aufnahmen gezählt. Das Brahms-Konzert spielt er zum ers- ten Mal mit dem DSO. Das Orchester und sein Publikum Versonnen und temperamentvoll dürfen sich auf eine Interpretation freuen, die dem Gesang- In den britischen Rahmen dieses Konzertabends fügt Robin lich-Versonnenen des mittleren Satzes ebenso gerecht wird Ticciati das Violinkonzert von Johannes Brahms ein. Solist wie dem Temperament des Finales und der symphonischen ist Christian Tetzlaff. 1984 konzertierte der Violinvirtuose als Weite des Kopfsatzes. junger ARD-Preisträger zum ersten Mal mit dem Orchester. Damals begann eine stetige, kontinuierliche Zusammenar- HABAKUK TRABER beit über mehr als dreieinhalb Jahrzehnte, die dem Orchester in Berlin und auf Gastspielreisen unvergessliche künstleri- sche Erlebnisse bescherte. Sie galt dem klassisch-roman- Konzertkalender S. 27
36 Ingo Metzmacher Fr 1.4. / Sa 2.4. Ingo Metzmacher Sehnsuchtsfluss in voller Länge Die Moldau, immer wieder die Moldau. Gewiss, ein schöner Fluss mit mannigfaltigen Geschichten und pittoresken An- sichten. Insgesamt postkartenreif. Von seinen beiden mur- melnden Quellen im Böhmerwald und im Bayerischen Wald findet das Sehnsuchtsgewässer aus Warmer und Kalter Moldau bald zusammen, bemächtigt sich mäandernd einer waldreichen Tallandschaft, adelt mit seinem Glanz die oh- nehin prächtige Stadt Prag, passiert Burgen und Schlösser und jubelt schließlich nach knapp 430 Kilometern Strecke über die Vereinigung mit der Elbe bei Mělník. Ach, das hat der Smetana ja schön gemacht mit seinem wundervollen Stück. Er hat gelauscht, geschaut und einen wogend-romantischen, ohrschmeichelnden Melodienstrom zu Papier gebracht, der seit 140 Jahren auf allen Notenpulten der Welt liegt und bezaubert. Eine Symphonische Dichtung, fürwahr! Der Tscheche liebte halt seine Heimat, die Natur und alles drumherum. Eigentlich schade, dass das »Traum- schiff« hier noch nicht geankert hat. James Last wäre sicher begeistert gewesen, wenn sich nach seiner Titelmelodie ein Welthit zu den Wohlfühlbildern gesellt hätte. Ein Welthit mit Hintergründen Halt, genug Kitschgeklingel! Das hat Bedřich Smetana nun wirklich nicht verdient. Der Hit hat Hintergründe. Sie sind politisch. Und ›Die Moldau‹ steht nicht für sich allein. Sie bil- det den zweiten Satz des Zyklus ›Má vlast‹ (Mein Vaterland), dessen Ausarbeitung der im ostböhmischen Litomyšl gebo-
38 Ingo Metzmacher 39 rene Komponist im Jahr 1874 begann. Die insgesamt sechs sich. Ein erfüllendes Erlebnis, für den Komponisten jedoch Tondichtungen fasste er erst 1879 zusammen. Nicht einzeln, eine große Kraftanstrengung: Schon als er ›Die Moldau‹ aus- sondern im Zusammenwirken sollten sie Nationalstolz, Hei- arbeitete, war Smetana völlig ertaubt. matliebe, Mythos und Sehnsucht nach einem unabhängigen Tschechien ausdrücken. Die Uraufführung fand schließlich HELGE BIRKELBACH am 5. November 1882 in Prag statt – und seine Landsleute verstanden sofort die Botschaft. Tschechien wurde damals von den Habsburgern beherrscht, die die Böhmische Krone vor langer Zeit kassiert hatten. Der Zyklus in voller Länge Viel zu selten wird der gesamte Zyklus in voller Länge auf- geführt. Auch das DSO muss hier bis zum Jahr 1976 zurück- blättern. Auszüge folgten erst 1999; zuletzt dirigierte Sant- tu-Matias Rouvali 2017 ›Die Moldau‹ und Tugan Sokhiev 2018 ›Aus Böhmens Hain und Flur‹. Im vergangenen Jahr sollten endlich wieder alle sechs Tondichtungen auf dem Programm stehen, Ingo Metzmacher die Aufführung leiten. Doch die Pandemie machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Am 2. April kann sich der ehemalige Chefdirigent des DSO endlich über die Realisierung freuen. Schon in seiner Amts- Casual Concert am 1.4. zeit 2007–2010 überraschte er gerne mit selten gespielten Auszüge aus ›Má vlast‹ sind bereits im Casual Concert am Stücken und ungewöhnlichen Programmkopplungen. 1. April zu erleben. Ingo Metzmacher hat das offene, popu- läre und moderierte Konzertformat 2007 beim DSO ins Le- Mit Smetanas Nationalepos ist er eng vertraut. Anfang 2019 ben gerufen. »Zu den Casual Concerts«, erzählt ihr Erfinder, dirigierte er es in Mannheim. Ein Kritiker urteilte damals: »kommt mein absolutes Lieblingspublikum. Sie kommen, »Metzmacher fächert vor unseren Augen und Ohren quasi weil sie sich für die Musik interessieren und nicht für das ein böhmisches Kaleidoskop auf. Er setzt auf dynamische Konzertritual. Das Orchester spielt nicht im Frack, son- Kontraste, auf deutlich sich voneinander absetzende Tempi, dern in Zivil, es gibt einen günstigen Einheitspreis und freie sucht nach den unterschiedlichen Farben und Stimmungen Platzwahl. Das Publikum ist dem Orchester dabei näher als in diesem an genau solchen so unfassbar reichen Werk. Es sonst, und das Konzert dadurch kein heiliger Raum.« Durch ist Smetanas Heimat, die so zu ihrem Eigenrecht kommt.« Metzmachers Einführungen und die live gespielten Beispie- Was in der ersten Tondichtung ›Vyšehrad‹ (die Königsburg le vorbereitet, kann man Smetana dann durchaus mit ganz aus grauer Vorzeit) von der Harfe in Bardenart als ursprüng- neuen Ohren hören. liches Motiv anklingt, wird im Finale ›Blaník‹ aufgegriffen und zum befreienden Triumph gesteigert. Der Kreis schließt Konzertkalender S. 27
Poga / Khachatryan 41 Sa 9.4. Andris Poga Symphonische Leidenswege Von Leichtigkeit und Lebensfreude zur Katastrophe: Die russische Symphonik des 20. Jahrhunderts umspannt gro- ße Gegensätze. Schon bei früheren DSO-Gastspielen zeigte Andris Poga – nach dem Gewinn des Swetlanow-Wettbe- werbs drei Jahre lang Assistent bei Paavo Järvi in Paris – dass er sich damit bestens auskennt. Der armenische Geiger Sergey Khachatryan, der zuletzt 2015 das DSO-Publikum mit Chatschaturjans Violinkonzert begeisterte, steuert dem seine eigene Sicht von Authentizität bei. Schonungslose Bestandsaufnahme Dmitri Schostakowitschs Symphonie Nr. 4 ist ein monu- mentales Werk. Nicht nur durch ihre äußeren Dimensionen, mit über 100 Mitwirkenden auf der Bühne und von über einer Stunde Dauer, reicht die Vierte an die großen Mahler- Symphonien – die »Auferstehung« oder die »Symphonie der Tausend« – heran. An existentieller Tiefe, an katastrophalen Zusammenbrüchen und bitterstem Pessimismus geht sie vielleicht noch weiter. Explizite Mahler-Bezüge, die Bana- lität und Leere ironisieren – etwa die unablässig mäandern- den, quasi »leiernden« Bewegungen aus ›Des Antonius von Padua Fischpredigt‹ aus dessen Zweiter Symphonie oder die Trauermarsch-Persiflage in der Largo-Einleitung zum Finale – lassen ebenfalls vermuten: Die Vierte betreibt Be- standsaufnahme der persönlichen Situation des Kompo- nisten, ist »Spiegel seiner seelischen Verfassung«, wie sein Freund Krzysztof Meyer bemerkte.
42 Poga / Khachatryan 43 Immer restriktiver versuchte die stalinistische Kulturpoli- tik das Dogma des Sozialistischen Realismus durchzuset- zen. Im Januar 1936, mitten in der Arbeit an der Vierten, war der berüchtigte ›Prawda‹-Artikel erschienen, der das ganze bisherige Leben des 30-jährigen Komponisten auf den Kopf stellen sollte: Unter dem Titel ›Chaos statt Musik‹ erfolgte ein gnadenloser Verriss der Oper ›Lady Macbeth von Mzensk‹, deren bisheriger Erfolg durch Stalins Missfal- len zunichte gemacht wurde. Der Komponist sah sich zum »Volksfeind« deklariert, seine Produktionsmöglichkeiten vernichtet, dachte an Selbstmord. Sein Werk vollendete er trotzdem, doch eine Aufführung konnte er nicht wagen. Auch wenn die ironisch kieksenden Holzbläser, die unheilvoll knarrenden Posaunen, stampfende »Maschinen«-Rhyth- men oder erstickte nostalgische Walzeransätze sich nicht eindeutig als Schreckens- und Zerrbild der Stalin-Diktatur verstehen ließen, so war doch klar, dass damit nicht die strahlende sozialistische Zukunft gemeint sein konnte. Erst Andris Poga 1961 erlebte die Vierte, deren Stimmenmaterial im Krieg ver- loren ging und rekonstruiert werden musste, ihre orchestra- tische Durcharbeitung. Doch anders als etwa bei Strawinsky le Uraufführung. Der Komponist selbst bemerkte, er hielte gibt es keinerlei historische Anleihen oder gar Zitate – was sein Werk für misslungen; es leide an »Grandiosomanie«. Prokofjew als Verzicht auf eine eigene musikalische Spra- che ansah. Kurz nach der triumphalen Uraufführung des Neue Einfachheit Konzerts in Madrid kehrte er in seine sowjetische Heimat Als Sergei Prokofjew 1935 sein Zweites Violinkonzert kom- zurück. Dort wurde gerade das Violinkonzert als Verwirk- ponierte, befand er sich in einer gänzlich anderen Lage als lichung von Verständlichkeit und Volkstümlichkeit begrüßt sein Kollege. Nachdem er bereits 1918 Russland verlassen und als Einsicht des Komponisten »in die Ziellosigkeit sei- hatte, versuchte er zunächst in den USA und dann in Paris nes formalistischen Experimentierens« interpretiert – was Fuß zu fassen. Dies gestaltete sich schwierig – die Konkur- die Funktionäre nicht hinderte, ihn zehn Jahre später genau renz von Rachmaninoff und Strawinsky war groß. Immer öf- dieses »Verbrechens« zu bezichtigen. ter begann er zwischen Paris und Moskau zu pendeln, der Gedanke an Rückkehr kam auf. Im Zuge des aufkommenden ISABEL HERZFELD Neoklassizismus im Westen wandte sich auch Prokofjew immer mehr einer »Neuen Einfachheit« zu. Das Violinkon- zert besticht durch klare melodische Linien, dissonanzenär- mere Harmonik als im Frühwerk und klassisch-kontrapunk- Konzertkalender S. 28
44 Măcelaru / Said 45 Sa 16.4. Cristian Măcelaru Märchenmusik Die Rede vom »Orient« war um 1900 unter Europäern gebräuchlich für einen Großteil der Welt östlich des Mit- telmeers. Heute ist das anders. In unseren Ohren klingt der Begriff pauschalisierend, romantisierend. Rückt er nicht einen ganzen Erdteil in eine traumhafte Ferne, die auf diese Art im »digitalen Dorf« von heute nicht mehr existiert? Sind aber dagegen nicht auch neuere Worte wie »Naher« und »Mittlerer Osten« ebenso mit verall- gemeinernden Zuschreibungen verbunden – und auch mit bestimmten Nachrichten aus der Tagespolitik? Im- merhin hat das Wort vom »Orient« nach wie vor einen Zauber – einen, der namentlich Medienkonsumenten, die zugleich Musikfans sind, nicht sofort an politische und religiöse Spannungen denken lässt. Maurice Ravel hat zu dieser zauberischen Aufladung mit seiner Kompositi- on der ›Shéhérazade‹ für Sopran und Orchester im Jahr 1903 einiges beigetragen. Allerdings erachtete er seinen Anteil an der Idee, die Erzählungen aus ›Tausendundeiner Nacht‹ in Musik zu setzen, als gering. Wie kam Ravel zu ›Shéhérazade‹? »Das ist schwer zu sagen«, konstatierte der Komponist später. »Der Orient lag in der Luft.« Auch Rimsky-Korsakow habe ja zwanzig Jahre früher eine nicht wenig erfolgreiche Symphonische Dichtung über den Stoff komponiert, und Joseph-Charles Mardrus fertigte die erste Übersetzung von ›Tausend- undeine Nacht‹ in einer europäischen Sprache an. Zum wachsenden Interesse an den ursprünglich persischen, später arabischen Märchen, die die eloquente Shéhéra- zade Nacht für Nacht dem König erzählt, trugen zudem
46 Măcelaru / Said 47 gesanglichen Crossover zwischen beiden musikalischen Welten geglänzt. »Ich bin sehr glücklich darüber, mit Mu- sikerinnen und Musikern unterschiedlichster Herkunft zu arbeiten und Musik von Komponisten aus der ganzen Welt zu singen«, sagt Fatma Said. In die Berliner Philharmonie wird sie neben Ravel auch drei Lieder eines ägyptischen Landsmannes mitbringen, des Komponisten Sherif Mohie Eldin. Dieser hat Texte des bereits 1983 verstorbenen Amal Dunqul vertont. Dunqul schrieb arabische Naturlyrik, aber auch subversive Gedichte, die den Mächtigen südlich des Mittelmeers seit dem Arabischen Frühling so manches Mal wieder ein Dorn im Auge sind. Cristian Măcelaru Im DSO-Konzert unter Leitung von Cristian Măcelaru wird diese Reise in die Welt des »Morgenlandes« in nördlicheren die Weltausstellungen bei, die 1889 und 1900 in Paris statt- Gefilden fortgesetzt, wo es ebenfalls immer wieder Neues fanden und das europäische Publikum erstmals leibhaftig zu entdecken gibt: Im gleichen Jahr wie Ravel seine ›Shéhé- mit Ländern wie Ägypten, Libanon oder Saudi-Arabien in razade‹ schrieb Alexander Zemlinsky eine Symphonische Berührung brachten. Ravel seinerseits hielt seine Kenntnis- Dichtung nach einem anderen berühmten Märchen: Sei- se solch vermeintlich ferner Länder bewusst im Ungefähren: ne opulente Fin-de-Siècle-Komposition ›Die Seejungfrau‹ »Kannte ich damals schon eine Anthologie orientalischer changiert zwischen sinnlicher Erotik und Unheimlichkeit – Verse? Ich bin dessen nicht sicher. Ich schaute auch keine und wurde in einer wiederentdeckten Urfassung erst 2013 Landkarte an. Erst später las ich Hafis und Omar Chayyām. uraufgeführt. Für das DSO hat das Werk Zemlinskys eine Ich wurde damals mehr von den Dichtern Chinas angezogen. besondere Bedeutung. Seit 1980 gehörte das Orchester fe- Vielleicht lässt sich in meinen persischen Miniaturen der derführend zu den Klangkörpern, die sich der Wiederentde- Sinn für das Einfache, die Perfektion ahnen. Doch nehmen ckung des Komponisten und anderer vergessener Tonsetzer wir es nicht zu genau …« → S. 16 verschrieben hatten. Die ›Seejungfrau‹ stand 1986 erstmals unter Riccardo Chailly auf dem Programm – und Kritik und Subversion hat seitdem ihren festen Platz im Repertoire und im Herzen Heute allerdings nehmen wir es genauer – und können den des Orchesters. einstigen Zauber des »Orients« vielleicht durch mehr Präzi- sion wiedererinnern und bewahren. Dazu gehört, dass das MATTHIAS NÖTHER DSO eine Sängerin einlädt, die in arabischen Gesangsstilen genauso zu Hause ist wie im europäischen Kunstgesang: die ägyptische Sopranistin Fatma Said. Jüngst hat sie bei der Opus-Klassik-Preisverleihung mit einem gelungenen Konzertkalender S. 28
48 Lintu / Abduraimov 49 Sa 30.4. Hannu Lintu Hörvergnügen Ohne Nikolai Dahl hätte es eines der Lieblingsstücke des Konzertpublikums wohl nie gegeben. Im Januar 1900 suchte Sergei Rachmaninoff die Hilfe des Moskauer Psychiaters, um endlich aus der tiefen Schaffenskrise zu finden, in die ihn die vernichtende Kritik an seiner Ersten Symphonie drei Jahre zuvor gestürzt hatte. Das Zweite Klavierkonzert war bestellt, doch die Arbeit kam einfach nicht in die Gänge. Mit einer Kombination aus Gesprächs- und suggestiver Hypno- setherapie gelang es dem Arzt in wenigen Monaten, den Genius seines Patienten wieder zu entflammen. Ein Jahr später vollendete Rachmaninoff mit dem hochvirtuosen, Behzod Abduraimov hochemotionalen und hochromantischen c-Moll-Konzert ein Werk, das nicht nur Dahl gewidmet, sondern bis heute Finnischen Radio-Sinfonieorchester seit der aktuellen Sai- von den Spielplänen nicht wegzudenken ist. Dass es von ei- son als Chefdirigent der Finnischen Nationaloper vor. Für nigen als bombastisches Schlachtross geschmäht, dass sein den ersten Teil des Konzertabends wählte Lintu zwei Werke zweiter Satz gar für einen Popsong geplündert wurde – Tan- mit Wurzeln in der Musikgeschichte. Luciano Berio spürte tiemenstreitigkeiten inklusive –, all das hat dem großartigen 2001 mit ›Contrapunctus XIX‹ der Wirkung nach, die Jo- Concerto nicht geschadet. Am 30. April kehrt es unter den hann Sebastian Bach bis heute auf die Musikwelt ausübt. Fingern von Behzod Abduraimov auf die Bühne der Philhar- 250 Jahre nach der Erstveröffentlichung hat Berio das fina- monie zurück. Der usbekische Pianist gab sein DSO-Debüt le Fragment aus Bachs ›Kunst der Fuge‹ für 23 Soloinstru- 2019 an der Seite von Vladimir Ashkenazy – und sorgte mente transkribiert. Witold Lutosławskis zweisätzige Dritte auch damals schon mit einem Werk des Komponisten, der Symphonie aus dem Jahr 1983 verbindet seine persönliche Rhapsodie über ein Thema von Paganini, für »unendliches Auseinandersetzung mit dieser Gattungsform mit Fragen Hörvergnügen« (rbbKultur). von Kontrolle und individueller, spielerischer Freiheit, aus denen sich ein beeindruckendes Musikerlebnis entspinnt. Wurzeln in der Vergangenheit Hannu Lintu war seit 2009 mehrere Male beim DSO zu CHRISTOPH EVERSMEYER Gast. Der Finne, der seine Ausbildung einst beim legen- dären Dirigentenmacher Jorma Panula begann, steht nach Stationen in Tampere, Helsingborg und Turku sowie beim Konzertkalender S. 29
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