AUSGABE 79 | Winter 2018/19 - Der Projektrat

Die Seite wird erstellt Philipp Koch
 
WEITER LESEN
AUSGABE 79 | Winter 2018/19 - Der Projektrat
BEWEGEN

¶LANIK   AUSGABE 79 | Winter 2018/19
AUSGABE 79 | Winter 2018/19 - Der Projektrat
Überblick
Editorial: Bewegen ...............................................................................................................................5

bewegen

#Besetzen – Viel Bewegung hinter einem Hashtag .............................................................................8 9

Politisches und soziales Bewegen..................................................................................................10 11
– Die engagierte Architektur der 1920er

Wanderungsbewegungen in Berlin ................................................................................................12 17

Bewegung in der City West...........................................................................................................18 19

Von Nervenschwäche und Neurourbanistik ....................................................................................20 21

Hier bewegt sich nichts mehr ........................................................................................................22 23

raus aus der kiste

Die 7. Leerstandskonferenz in Luckenwalde...................................................................................26 29
– Ein Reisebericht

Dong-Xuan-Center........................................................................................................................30 33
– Blühende Wiese in der Betonwüste Lichtenbergs

Adobe Systems – Gestalte dir dein Monopol .................................................................................34 35

Blockchain und Smart City – Anwendungsmöglichkeiten ................................................................36 37
der Technologie außerhalb von Kryptowährungen

6. Hochschultag der nationalen Stadtentwicklungspolitik ................................................................38 39

Literaturempfehlungen...................................................................................................................40 41

projektrückschau sose 18

Bachelorprojekte...........................................................................................................................44 47

Masterprojekte..............................................................................................................................48 49

campus

Upgrade für das Wohnzimmer.......................................................................................................52 53
– Die Neugestaltung des Café Planwirtschaft

Leitlinien und Selbstverständnis der PLAWI .........................................................................................54
Editorial: Bewegen
                               Wir sind ständig in Bewegung. Dass            Handlungen aktiv in den Wandel unserer       dar. Sie wird vermutlich in Zukunft die ge-
                               Menschen ihre Position oder Haltung ver-      Städte und Dörfer ein. Im Artikel „Bewe-     samte digitale Struktur des Internets ver-
                               ändern – sich also bewegen – liegt in ihrer   gung in der City West“ wird dargestellt,     ändern. Und die wiederum wird unseren
                               Natur. Aber was bedeutet es eigentlich,       wie Stadtplanung ein Quartier neu ge-        Alltag in der realen Welt beeinflussen. Wie
                               sich in Bewegung zu befinden? Warum           staltet und so immer wieder von Neuem        das genau funktionieren und aussehen
                               setzen wir uns in Bewegung? Wohin oder        Bewegung in die Stadtentwicklung bringt.     soll, beschreibt der Text „Block Chain und
                               wovon weg bewegen wir uns? Und ha-                                                         Smart City“ ab Seite 36.
                               ben wir eine Wahl, wenn es darum geht,        Gleichzeitig bewegt und beeinflusst die
                               sich oder etwas zu bewegen oder eben          gebaute Umwelt mit all ihren Reizen          Und was passiert, wenn die Bewegung
                               im Stillstand zu belassen?                    auch uns. In der erweiterten Literatur-      verebbt? Dann tritt Stillstand an ihre Stel-
                                                                             empfehlung „Von Nervenschwäche und           le. Sie, die Nicht-Bewegung, ist als Kont-
                               Die offensichtlichste Bewegung ist die        Neurourbanistik“ wird aufgezeigt, wie        rast zur Bewegung sogar notwendig, um
                               physische Bewegung im Raum. Ob zu             psychisch-emotionale Stimulation durch       Fortschritt – oder auch eine mangelhafte
                               Fuß, mit dem Rad, dem Zug oder per            Stress im städtischen Alltagsleben zu        Entwicklung – überhaupt zu erkennen. Im
                               Flugzeug – der Mensch wird immer mobi-        Veränderungen in unserem Gehirn und          Kunstprojekt „Autowracks“ ab Seite 22
                               ler. Das belegen statistische Zahlen welt-    unserem Verhalten führen und wie die         wird uns bildhaft vor Augen geführt, wie
                               weit. Auch in der Region Berlin-Branden-      Urban Health Bewegung zukünftig das          der Traum von Mobilität und Bewegungs-
                               burg wechseln die Menschen verstärkt          Leben in der Stadt gesünder gestalten        freiheit schnell zu Immobilität, Chaos und
                               ihren Wohnort. Wir haben ab Seite 12 ein      möchte.                                      (Verkehrs-)Stillstand werden kann.
                               paar der harten Fakten dieser Wanderung
                               in Schaubildern verarbeitet.                  Es gibt aber auch viele Bewegungen, die      Viel Spaß beim Lesen (unserer hoffentlich
                                                                             wir rein optisch gar nicht wahrnehmen,       bewegenden Texte) wünscht euch die
                               Aber nicht nur Menschen bewegen sich,         denn sie passieren in den Sphären un-        Planik-Redaktion!
                               auch unsere gebaute Umwelt bewegen            serer Gedanken oder dem World Wide
                               und verändern wir stetig. Insbesondere        Web. Eine digitale Mammutbewegung
                               die Planungsprofession greift mit ihren       stellt die Entwicklung der Block Chain

                                                                                                                                                         Thema
                                                                                                                                                      Laura Doyé
                                                                                                                                                       Julia Felker
                                                                                                                                                      Tion Kudlek
                                                                                                                                                      Kathi Nickel

                                                                                                                                                   Redaktion
                                                                                                                                                      Lara Danyel
                                                                                                                                                      Laura Doyé
                                                                                                                                                       Julia Felker
                                                                                                                                                      Tion Kudlek
                                                                                                                                                      Kathi Nickel

                               gefördert durch:
                                                                                                                                                         Layout
                                                                                                                                                      Tion Kudlek

                                                                                                                        Euer Planik Team wünscht
© Unsplash: Gordron Williams                                                                                                viel Spaß beim Lesen!
© Unsplash: Dan Gold

                       bewegen
8        planik 79 : winter 2018/19 : bewegen                                                                                                                                                                                         bewegen : winter 2018/19 : planik 79      9
                                                                                                                                        Orten in Berlin stattfanden. Alle besetzten    nach der sogenannten „Berliner Linie“ so          Plädoyer für Hausbesetzungen

#Besetzen
                                                                                                                                        Häuser wurden innerhalb weniger Stun-          schnell wie möglich geräumt. Das Haus             Hausbesetzungen aus den 1970er bis
                                                                                                                                        den und mit großer Härte von der Polizei       hat Nachbar*innen, Aktivist*innen und von         90er Jahren haben einen großen Anteil an
                                                                                                                                        geräumt. Jetzt hat die jüngste Bewegung        Wohnungslosigkeit betroffene Menschen             dem, was die Berliner Innenstadt heute

– Viel Bewegung hinter einem Hashtag                                                                                                    von Hausbesetzungen in Berlin neuen
                                                                                                                                        Schwung bekommen. Was sie eint, ist
                                                                                                                                                                                       gleichermaßen angezogen. Plötzlich gab
                                                                                                                                                                                       es hier einen Raum, der für gemeinsame
                                                                                                                                                                                                                                         ausmacht: Der Erhalt von Altbauten, die
                                                                                                                                                                                                                                         zum Abriss verurteilt waren, wurde durch
                                                                                                                                        ein Hashtag: Eine Gruppe von Aktivist*in-      Aktivitäten und Austausch genutzt wer-            sogenannte „Instandbesetzungen“ er-
                                                                                                                                        nen hat mit #besetzen, der über Plakate        den konnte.
von Laura Doyé                                                                                                                                                                                                                           kämpft; unkommerzielle Kunst und Kultur
                                                                                                                                        und Aufkleber in der Stadt verbreitet wur-                                                       sowie alternative Lebensentwürfe haben
                                                                                                                                        de, dem Kampf um Wohnraum sowie um             Mit der „Berliner Linie“ wäre das nicht           ihren Platz in den vielerorts entstandenen
Das lukrative Geschäft mit Immobilien lässt Wohnraum zum leeren Spekulationsob-                                                         gemeinschaftliche Räume durch Beset-           möglich gewesen: Die inoffizielle Richtlinie      Hausprojekten gefunden. Also: „Warum
jekt verkommen. Gleichzeitig wird die Wohnungsnot immer größer. Eine Antwort da-                                                        zungen einen Namen gegeben.                    im Umgang mit Besetzungen sieht eine              heute nicht mehr besetzen?“, fragen die
rauf heißt: #besetzen. Die Kampagne hat Hausbesetzungen in Berlin wiederbelebt.                                                                                                        Räumung innerhalb von 24 Stunden vor.             Aktivist*innen von #besetzen zu Recht.
                                                                                                                                        #besetzen soll kein symbolischer Hash-         „Obwohl die Räumung erst nach Eingang             „Massenhafte Besetzungen könnten gar
                                                                                                                                        tag sein. Den Aktivist*innen geht es um        eines formalen Ersuchens des Eigentü-             nicht mehr geräumt werden“, meint Kim.
                                                                                                                                        Besetzungen als Praxis, denn „Besetzen         mers durchgesetzt werden darf, gebe es            Sie wären ein wichtiger Schritt hin zu ei-
                                                                                                                                        kann man einfach tun – und damit die           Beispiele, wo die Polizei erst räumt und          ner solidarischen Stadt, die nicht durch
                                                                                                                                        Orte wieder zum Leben erwecken“, sagt          dann den Kontakt mit dem Eigentümer               die Logik von Eigentum strukturiert wird,
                                                                                                                                        Kim, eine Sprecherin des Netzwerks. Die        aufnimmt“, berichtet Kim. Der Berliner In-        sondern die von ihren Bewohner*innen
                                                                                                                                        Räume, die besetzt werden, sollen statt        nensenator Geisel (SPD) befürwortet die-          selbst gestaltet werden kann.
                                                                                                                                        als Ferienwohnungen oder leerstehen-           ses Vorgehen ausdrücklich. Widerspruch
                                                                                                                                        de Spekulationsobjekte zu bezahlbarem          gibt es von den Grünen und von der re-            Ein ausführliches Interview im Freien Ra-
                                                                                                                                        Wohnraum gemacht werden. Genaue                gierungsbeteiligten Linkspartei. Sie schla-       dio Berlin mit Kim von #besetzen ist zu
                                                                                                                                        Zahlen zum Leerstand in Berlin gibt es         gen einen alternativen Umgang mit Haus-           hören unter https://www.mixcloud.com/
                                                                                                                                        nur von den kommunalen Wohnungs-               besetzungen vor, der sich seit 30 Jahren          Frequenzkonsum/frequenzkonsum-48/.
                                                                                                                                        baugesellschaften, allerdings nicht für        in der Praxis bewährt hat: das „Zür’cher
                                                                                                                                        den gesamten Wohnungsmarkt. Nach               Modell“.
                                                                                                                                        Schätzungen beläuft sich die Anzahl leer-
                                                                                                                                        stehender Wohnungen in Berlin auf eine         Für alle zugänglich und auf einem einfa-
                                                                                                                                        sechsstellige Zahl, so Kim. Auch ein so-       chen Merkblatt beschreibt die Stadt Zü-
                                                                                                                                        ziales, nachbarschaftliches Zentrum oder       rich ihren Umgang mit Hausbesetzungen:
                                                                                                                                        Sporträume für den Kiez sollten durch          Neben einem gültigen Räumungsersu-
                                                                                                                                        Besetzungen in Kreuzberg, Friedrichshain       chen muss ein Nachweis vom Eigentü-
                                                                                                                                        und Moabit erkämpft werden.                    mer erbracht werden, dass das Gebäude
                                                                                                                                                                                       unmittelbar nach der Räumung abgeris-
                                                                                                                                        Die Besetzungen verstehen sich als Ant-        sen, neu genutzt oder Baumaßnahmen
                                                                                                                                        wort auf die neoliberale Wohnungspolitik       durchgeführt werden. Auch in der Stadt-
                                                                                                                                        in Berlin. „Es gibt ganz klar eine Logik der   forschung wird das Modell als sinnvoll
                                                                                                                                        Entmietung“, sagt Kim, um Wohnungen            erachtet, weil es einen angemessenen
                                                                                                                                        leer stehen zu lassen und auf höhere           Umgang mit Hausbesetzungen möglich
                                                                                                                                        Einnahmen durch steigende Mietprei-            macht – vor allem vor dem Hintergrund
                                                                                                                                        se zu spekulieren. Dabei werden Men-           eines massiv steigenden Flächendrucks,
                                                                                                                                        schen bereits durch aktuelle Mietpreise        der den Neubau in Zürich bereits an sei-
                                                                                                                                        aus ihren Kiezen verdrängt oder verlieren      ne Grenzen bringt und auch in Berlin die
                                                                                                                                        im schlimmsten Fall ihr Zuhause durch          aktuelle Entwicklung bestimmt. Die Akti-
Hausbesetzung
(Foto: Oliver Feldhaus // Umbruch Bildarchiv)                                                                                           Zwangsräumungen, weil sie ihre Miete           vist*innen von #besetzen kritisieren das
                                                                                                                                        nicht mehr bezahlen können. Dabei „ist         Modell als „Schönheitsreparatur am Sys-
                                                                                                                                        es kein Naturgesetz, dass wir arschteure       tem“: Es biete keine Rechtssicherheit für
Bei Immobilienverkäufen wurde der               gen: 53 Prozent der Berliner*innen finden    gesagten) Google Campus in Kreuzberg
                                                                                                                                        Mieten zahlen und über die Hälfte unse-        Besetzer*innen und nach der Räumung
höchste jemals registrierte Geldumsatz          das Besetzen von Leerstand laut einer        vernetzt. Gemeinsam mit diesen Akteuren
                                                                                                                                        res Einkommens fürs Wohnen ausgeben            würden an dieser Stelle keine sozialen
auf dem Berliner Immobilienmarkt erzielt,       FORSA-Umfrage legitim als Mittel ge-         bringt #besetzen Hausbesetzungen wie-
                                                                                                                                        müssen“, sagt Kim mit Nachdruck.               Projekte entstehen, sondern die Ideen
Mietwohnhäuser waren im Durchschnitt            gen die Wohnungsnot. Das Image von           der auf die stadtpolitische Agenda. Das
                                                                                                                                                                                       des Eigentümers durchgesetzt werden.
16% teurer als im Jahr zuvor. Das sind          Hausbesetzer*innen wandelt sich auch         wird von der Politik gehört.
                                                                                                                                        Umdenken im Umgang mit Hausbe-                 Ganz sicher bringt das Zür’cher Modell
wenig überraschende Erkenntnisse aus            dadurch, dass die Kampagne #beset-
                                                                                                                                        setzungen                                      nicht das Ende der neoliberal organisier-
dem Immobilienmarktbericht des Gutach-          zen sich bewusst mit anderen stadtpoliti-    Hausbesetzungen in Berlin 2018
                                                                                                                                        Die Besetzung in der Großbeerenstraße          ten Stadt. Aber es kann kurze Atempau-
terausschusses für 2017 und das erste           schen Initiativen wie Bizim Kiez, Deutsche   Im Mai dieses Jahres gab es den selbst-
                                                                                                                                        17a in Kreuzberg ist der große Erfolg des      sen schaffen im Kampf gegen den Verlust
Quartal 2018. Der Konkurrenzkampf um            Wohnen enteignen, Zwangsräumungen            ernannten „Frühling der Besetzungen“, im
                                                                                                                                        „Herbstes der Besetzungen“: Die besetz-        der Kieze, die wichtig sind für das Zusam-
(bezahlbaren) Wohnraum ist enorm. Das           verhindern, der Schlafplatz-Orga, sowie      Zuge dessen koordinierte Besetzungen
                                                                                                                                        ten leerstehenden Wohnungen in dem             menleben der Berliner*innen.
schafft Sympathien für Hausbesetzun-            Kampagnen gegen den (inzwischen ab-          von mehreren Häusern an verschiedenen
                                                                                                                                        Eckhaus wurden nicht, wie sonst üblich,
10     planik 79 : winter 2018/19 : bewegen                                                                                                                                                                                                         bewegen : winter 2018/19 : planik 79      11

Politisches und soziales Bewegen –                                                                                                                      senschaftlichen Bauunternehmen arbeiten
                                                                                                                                                        und so ihr Lohnniveau selbst kontrollieren
                                                                                                                                                        können. Ähnliches galt für den Wohnungs-
                                                                                                                                                                                                      dass durch mangelnde Wohnqualität
                                                                                                                                                                                                      Verbrechen und Krankheiten entstünden.
                                                                                                                                                                                                      Dies führe zu Folgekosten, die die Ge-
                                                                                                                                                                                                                                                       Trotzdem zeigen beide Projekte klar,
                                                                                                                                                                                                                                                       dass es eine politische Dimension des
                                                                                                                                                                                                                                                       Bauens gibt und diese gezielt in der Pla-

Die engagierte Architektur der 1920er                                                                                                                   bau und die Miete. Die Hufeisensiedlung
                                                                                                                                                        hatte in diesem Sinne eine klare „emanzi-
                                                                                                                                                                                                      sellschaft trage, während der vorherige
                                                                                                                                                                                                      Mehrgewinn nur den privaten Investoren
                                                                                                                                                                                                                                                       nung berücksichtigt werden kann. Meiner
                                                                                                                                                                                                                                                       Meinung nach sind engagierte Planun-
                                                                                                                                                        patorische Utopie“ im Sinne Nerdingers.       zufiele.                                         gen wichtig, da sie eine Alternative zum
von Philip Wucher                                                                                                                                                                                                                                      Status Quo bieten. Welche Aspekte sich
                                                                                                                                                        Von den Planer*innen des Neuen Frankfurt      Durch die Gliederung der langen Zeilen in        dann langfristig behaupten ist eine Frage
Der erste Weltkrieg hinterließ ein ideologisches Vakuum, dem eine enorme Kraft inne-                                                                    wurden die Arbeiter*innen hingegen als Teil   Einfamilienhäuser blieb der Maßstab der          des gesellschaftlichen Diskurses, der je-
                                                                                                                                                        des Problems betrachtet. May wollte den       Räume so bemessen, dass sie für den              doch nur geführt werden kann, wenn es
wohnte. Verschiedenste Gruppierungen versuchten ihre Vorstellung einer besseren Ge-
                                                                                                                                                        Arbeiter*innen „über die Bedürfnisse eines    Menschen erfahrbar und lesbar blieben.           eine Vielzahl an Optionen gibt. In diesem
sellschaft zu realisieren. Aus der Frage nach einer angemessenen demokratischen Wohn-                                                                   nur materiell befriedigenden Vegetierens      Dadurch sollte den Siedler*innen wieder          Sinne kann vielleicht abschließend gesagt
und Lebensform gingen das „Neue Frankfurt“ unter der Leitung von Ernst May und die                                                                      hinaus kulturelle Werte [erschließen]“ und    eine Möglichkeit gegeben werden, sich            werden, dass Architektur nicht erziehen
„Hufeisensiedlung Britz“ von Bruno Taut als zwei der markantesten Projekte hervor.                                                                      suchte dafür nach einer Wohnform, die         selbst im Raum – aber auch im sozialen           kann, aber bilden.
                                                                                                                                                        das bürgerliche Wohnen nicht nur kopiert.     Sinne – verorten zu können.
Beide Projekte werden im Buch „L’archi-       Verbands sozialer Baubetriebe, dem aus-                     Bauvorhaben und den städtischen Land-         Dies drückte sich beispielsweise darin aus,                                                    Dass engagierte Architektur auch ge-
tecture engagée – Manifeste zur Verän-        führenden Unternehmen. Beide waren                          besitz, führte das Hoch- und Tiefbauamt       dass die entwickelten Grundrisse so kom-      Zudem war das Reihenhaus auch für bei-           genwärtig noch bedeutsam ist, zeigt das
derung der Gesellschaft“ genannt. Der         genossenschaftlich organisiert.                             sowie die Baupolizei und einiges mehr.        pakt sind, dass sie sich nur mit den eben-    de gebautes Manifest ihrer Utopie: Einer-        Beispiel der Villa Verde in Chile. Das Büro
Herausgeber Winfried Nerdinger unter-                                                                                                                   falls durch das Planungsteam entworfenen      seits die privaten Räume, auch von außen         Elemental unter der Leitung von Alejandro
scheidet die „engagierte“ von der „nor-       Auch in Frankfurt bedurfte es einiger Vor-                  Wie auch die Hufeisensiedlung wurde           Raumsparmöbeln einrichten lassen. Diese       als solche ablesbar, die andererseits in         Aravena wurde 2002 beauftragt 100 So-
malen“ Architektur durch drei Faktoren:       arbeit, um die notwendigen Bedingungen                      das Neue Frankfurt maßgeblich mit Mit-        sind in der Formgebung reduziert und          der Reihung eine Bauzeile bilden und sich        zialwohnungen in der Stadt Iquique zu
Die Planenden müssen eine „ethische           für die Bauvorhaben zu schaffen. Hier war                   teln aus der Hauszinssteuer finanziert,       wurden seriell produziert. Es entstanden      so ergänzen – Individuum und Kollektiv.          errichten. Das Budget war knapp, doch
Haltung“ einnehmen, diese muss sich in        die entscheidende Person der Oberbür-                       diese wurde auf Immobilienbesitz erho-        günstige und effiziente Wohnungen, die        Besonders plakativ gestaltete Taut dieses        die späteren Nutzer*innen sprachen sich
einer „emanzipatorischen Utopie“ ausdrü-      germeister Ludwig Landmann, der die                         ben und genutzt, um öffentlich geförderte     jede Form der individuellen Aneignung,        Ideal in der namensgebenden Reihen-              deutlich gegen den Bau von Geschoss-
cken und die Planer*innen müssen über-        Vision einer vollständigen Umgestaltung                     Bauprojekte zu finanzieren. Martin Wag-       zum Beispiel mit repräsentativen Möbeln,      hauszeile der Britzer Siedlung, die einen        wohnungen aus und drohten sogar mit
zeugt sein, mit ihrem Werk Einfluss auf die   der Stadt hatte. Die damalige Frankfurter                   ner hatte entscheidend zur Einführung         ausschlossen.                                 Teich umschließt. Jede Familie besitzt ei-       einem Hungerstreik. Die Antwort von Ele-
Nutzer*innen nehmen zu können.                Kernstadt war geprägt durch Mietskaser-                     der Steuer beigetragen. Begründet wurde                                                     nen gleichwertigen, privaten Wohnraum            mental waren „halbe Häuser“.
                                              nen und enge Hinterhöfe mit wenig Licht.                    sie dadurch, dass die vorangegangene          Dennoch setzten sowohl May als auch           und ist zudem Teil des Ganzen, der Teich
Das sowohl Bruno Taut, als auch Ernst         Die Ursache dafür sah Landmann in der                       Hyperinflation Hypotheken auf Immobili-       Taut neue Maßstäbe. Die Errichtung als        als gemeinsames Zentrum kann durch               Auf kleinen Parzellen wurden tragende
May und ihre jeweiligen Teams fest davon      profitorientierten Privatwirtschaft, eine                   enbesitz de facto annulliert hatte.           Großsiedlungen ermöglichte die Moderni-       niemanden besetzt werden.                        Wände, Geschossplatten und Dächer er-
ausgingen, dass sie mit ihrem Schaffen        Ansicht die Ernst May teilte. Landmann                                                                    sierung des Bauprozesses. In der Hufei-                                                        richtet, die die doppelte Wohnfläche des
die Gesellschaft prägen oder sogar um-        beschloss deshalb, May nach Frankfurt                       Der grundlegendste Unterschied der            sensiedlung kam erstmals ein Schaufel-        Um eine Vernetzung innerhalb des Quar-           gesetzlichen Minimums für Sozialwoh-
gestalten können, scheinen beide nie          zu holen und in seiner Person zahlreiche                    beiden Projekte liegt vielleicht im Selbst-   radbagger zum Einsatz, Lasten wurden          tiers zu fördern sollten die Siedlungen mit      nungen bereitstellten. Die Architekt*innen
bezweifelt zu haben. Deutlich wird dies in    städtische Ämter zu vereinen. Dieser er-                    verständnis der Planer*innen. Taut und        mit Kränen verhoben. Die Typisierung          Wohnfolgeeinrichtungen ergänzt wer-              bauten jedoch nur die Hälfte der Fläche
den Publikationen, die beide begleitend       hielt die Befugnisse, Gestaltungsordnun-                    Wagner versuchten, die Arbeiter*innen         der Grundrisse und der Einbau normier-        den. Dies umfasste Kitas, Schulen und            aus und übergaben jedes Haus mit einer
zu ihren Bautätigkeiten herausgaben.          gen und Bebauungspläne zu erstellen,                        aus ihren prekären Wohn- und Arbeitsver-      ter, vorproduzierter Bauteile verkürzte und   Waschhäuser, aber auch Räume um sich             Anleitung, wie die Bewohner*innen die
                                              kontrollierte die Finanzmittel für öffentliche              hältnissen zu leiten. Sie sollten in genos-   vergünstigte den Bau. Der Wohnstandard        zu bilden, zu treffen und zu organisieren        andere Hälfte mit günstigen Baustoffen
Sowohl in Frankfurt als auch in Berlin war                                                                                                              war ebenfalls sehr hoch, alle Wohnungen       und sich dann selbstständig um die in-           selbst ausbauen konnten.
die grundlegende Dynamik die gleiche.                                                                                                                   verfügten über Zentralheizung, Küche          dividuellen und kollektiven Bedürfnisse
Einerseits herrschte eine dramatische                                                                                                                   und Bad. Aus den ganzheitlichen Planun-       kümmern zu können. Beschäftigt man               Als im Jahr 2010 ein verheerendes Erd-
Wohnungsnot, die ganz praktisch neuen                                                                                                                   gen des Neuen Frankfurt ging auch die         sich mit den beiden Projekten einge-             beben die Stadt Constitución, Chile
Wohnraum erforderte, andererseits gab                                                                                                                   Frankfurter Küche, der Vorläufer der mo-      hend, werfen sie aus heutiger Sicht vie-         heimsuchte und 80 % der Bausubstanz
es Akteure, die die Ursache für soziale                                                                                                                 dernen Einbauküche hervor.                    le Fragen auf. Bei beiden erscheint die          vernichtete, gelang es den Architekt*in-
Missstände in der Wohnungsnot sahen.                                                                                                                                                                  Überzeugung der Planer*innen, inwieweit          nen mit dem selben Prinzip günstig und
Die gedankliche Vorarbeit für die Huf-                                                                                                                  Die präferierte Wohnform Tauts und Mays       ihr Wirken die Gesellschaft prägen kann          schnell Abhilfe zu schaffen. 2016 wurde
eisensiedlung leistete Martin Wagner,                                                                                                                   war das Einfamilienhaus, ausgeführt als       als vermessen, insbesondere mit dem              Alejandro Aravena der Pritzker Preis ver-
damals Stadtbaurat von Schöneberg.                                                                                                                      Reihenhaus mit eigenem Garten. Taut sah       Wissen, dass viele ihrer Ideen mit Be-           liehen. In der Begründung der Jury wurde
Wagners Ziel war die Emanzipation der                                                                                                                   in ihm die harmonische Verbindung aus         geisterung von der Bauindustrie adaptiert        deutlich hervorgehoben, dass Aravena
Arbeiterschaft, das Mittel dazu sah er in                                                                                                               Stadt und Land, May argumentierte mit         wurden. Industrielle Fertigung steht heu-        für seine Fähigkeit gekürt wurde, soziale
der Genossenschaft. Zusammen mit Taut                                                                                                                   seinem Prinzip der „sozialen Ökonomie“.       te weniger im Kontext der Emanzipation           Verantwortung, ökonomische Anforde-
wollte Wagner mit der Hufeisensiedlung                                                                                                                  Deren Kernthese ist, dass bei der Pla-        der Arbeiter*innenschaft, als im Ruf der         rungen und die Gestaltung menschen-
beweisen, dass ein Kollektiv von Arbei-                                                                                                                 nung nicht nur wirtschaftliche Interessen     minderwertigen Billigproduktion. Auch die        würdigen Wohnraums zu vereinen. Eine
ter*innen es mit den mächtigen Großun-                                                                                                                  berücksichtigt werden dürfen, sondern         herablassende, erzieherische Einstellung         Entscheidung, die in einer Zeit, in der gro-
ternehmern der Bauwirtschaft aufnehmen                                                                                                                  das Wohl der späteren Bewohner*innen          des Frankfurter Teams gegenüber den              ße soziale Probleme nicht durch Einzelne,
kann. Wagner war Mitbegründer der Ge-                                                                                                                   eine klare Untergrenze für Sparmaßnah-        unteren Einkommensklassen ist proble-            sondern durch Alle verursacht werden
meinnützigen Heimstätten AG (GEHAG),          Hufeisensiedlung, Blick von der Treppe (2013)
                                                                                                                                                        men darstellt. Neben rein ethischen As-       matisch.                                         und gelöst werden müssen, nur allzu ver-
die in Britz als Bauherr auftrat, und des     (Foto: Wikimedia; https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Hufeisensiedlung_Blick_von_Treppe_2013.jpg)       pekten begründete May dies dadurch,                                                            ständlich erscheint.
12   planik 79 : winter 2018/19 : bewegen                                               bewegen : winter 2018/19 : planik 79   13

Wanderungsbewegungen in Berlin
von Kathi Nickel

Wer plant, muss sich mit den relevanten Fakten auseinandersetzen. Das Amt für Sta-
tistik Berlin-Brandenburg liefert dazu eine ganze Fülle an verlässlichen Daten. Die
nackten Zahlen - meist gut sorrtert in großen Tabellen - sind oft aufschlussreich,
aber nicht immer anschaulich. Einige interessante Zahlen haben für diesen Artikel ein
paar Accessoires erhalten.
14   planik 79 : winter 2018/19 : bewegen   bewegen : winter 2018/19 : planik 79   15
16   planik 79 : winter 2018/19 : bewegen   bewegen : winter 2018/19 : planik 79   17
18        planik 79 : winter 2018/19 : bewegen                                                                                                                                                                                                      bewegen : winter 2018/19 : planik 79       19

Bewegung in der City West
von Jonathan Nissen

Die City West Berlins erfährt derzeit einen deutlichen Gewinn an Aufmerksamkeit. Da-
mit ist auch auf unserem Campus - in direkter Nachbarschaft zur City West gelegen
- Bewegung entstanden. Es geht um Innenentwicklung, Campus-Erweiterung, An-
passung an neue Mobilitätsanforderungen und Aufwertung öffentlicher Räume. Wir
Studierenden sind gefragt, uns in diesen Prozess einzubringen und mitzugestalten.

                                                                                                                                                 Städtebaulicher Entwurf Herzallee Nord, Stand 2017
                                                                                                                                                 (Visualisierung: yellowz)

                                                                                                                                                 Bauabschnitt auf dem TU Campus fertig                stückstausch zwischen der BVG und                platz so umzugestalten, dass dieser so-
                                                                                                                                                 geworden, für den zweiten Bauabschnitt               einem privaten Investor geplant, sodass          wohl den neuen Mobilitätsanforderungen
                                                                                                                                                 sollen bald die Planungen beginnen. Und              die Busbetriebsendhaltestelle der BVG            (E-Mobilität, potenzielle Tram-Haltestelle,
                                                                                                                                                 auf dem Gelände nördlich der Hertzallee,             an die Gleise der S-Bahn verlegt und             „Mobility Hub“) entspricht, als auch Auf-
                                                                                                                                                 wo noch vor nicht allzu langer Zeit Pläne            dort in einer gestapelten Form neu struk-        enthaltsqualitäten aufweist, die einem
                                                                                                                                                 für ein großes Aussichtsrad bestanden,               turiert werden kann. Der private Investor        städtischem Platz entsprechen.
                                                                                                                                                 wird derzeit unter Federführung der Se-              plant auf den restlichen Flächen ein ge-
                                                                                                                                                 natsverwaltung für Stadtentwicklung und              mischt genutztes Quartier, wo sowohl             Für die Entwicklung dieser Bereiche in
                                                                                                                                                 Wohnen in Kooperation mit dem Bezirk                 Wohn- als auch Büro-, Hotel- und weitere         direkter Nachbarschaft zur TU Berlin
                                                                                                                                                 Charlottenburg-Wilmersdorf eine städ-                hochschulaffine Nutzungen entwickel-             und der Universität der Künste wurden
Luftbild City West
                                                                                                                                                 tebauliche Neuordnung für die Bereiche               ten werden sollen. Ergänzend hierzu soll         bereits erste Beteiligungs- und Informa-
(Foto: Robert Grahn, euroluftbild.de)                                                                                                            nördlich und südlich der Hertzallee, sowie           der Uferbereich entlang der Müller-Bres-         tionsveranstaltungen durchgeführt, teils
                                                                                                                                                 dem Hardenbergplatz erarbeitet. Gleich-              lau-Straße aufgewertet werden.                   für die breite Öffentlichkeit, teils als spe-
Die City West – unter diesem schillernd          der Überformung ohne große öffentli-           und die Entwicklung anhand acht thema-           zeitig wurde im Sommer 2018 der Auf-                                                                  zielles Angebot für Studierende wie im
klingendem Namen wird gemeinhin der              che Diskussion stattfand, bekam die            tischer Schwerpunkte orientieren sollten.        stellungsbeschluss für den Bebauungs-                Im Bereich südlich der Hertzallee beste-         September dieses Jahres. Seitens der
Zentrums-Bereich rund um den Kurfürs-            City West letztlich mit der Entwicklung        Ein besonderer Fokus wurde auf die Ver-          plan 4-69 gefasst, welcher jenen Bereich             hen Planungen der BImA (Bundesanstalt            Senatsverwaltung ist der Wille erkennbar,
tendamm, die Tauentzienstraße, sowie             des Zoo-Fensters (Waldorf-Astoria) und         zahnung des Campus Charlottenburg mit            umfasst.                                             für Immobilienaufgaben) und der Berlino-         uns Studierende als Nutzer*innen in den
den Bahnhof Zoologischer Garten und              dem Upper-West-Hochhaus wieder jene            dem umliegenden Stadtstruktur, sowie                                                                  vo ihren Standort zu erweitern und eine          Planungsprozess einzubinden. Dieses
den Breitscheidplatz verstanden. Gleich-         Aufmerksamkeit zugesprochen, die ihr           die Ausbildung von lokalen Netzwerken            Basierend auf dem Ergebnis eines städ-               Nachverdichtung und Neuordnung unter             Angebot sollte weiterhin aktiv genutzt und
wohl es keine klare Abgrenzung für die-          zusteht. Mit einem Mal schien das ehe-         gelegt. Hier hat das Regionalmanage-             tebaulichen Wettbewerbs aus dem Jahr                 Berücksichtigung der Denkmalschutzbe-            weiterführend eingefordert werden, denn
ses Gebiet gibt, steht die City West doch        mals für blühende Kultur bekannte Gebiet       ment maßgebliche Arbeit geleistet und            2011 (derzeit in Überarbeitung befindlich)           lange anzustreben. Diese Planungen be-           es lohnt sich!
stellvertretend für den Haupt-Zentrumbe-         wieder den damaligen Glanz zu erfahren.        viele Kooperationen und Netzwerke etab-          wird im Bereich nördlich der Hertzallee die          finden sich jedoch noch am Anfang.
reich West-Berlins.                              Damit wurde der Grundstein für weitere         liert. Derzeit befinden sich die Leitlinien in   TU Berlin ihren Neubau für die Mathema-
                                                 Projekte gelegt und die City West wieder       einem Prozess der Aktualisierung.                tik und dem Interdisziplinären Zentrum für           Für den Hardenbergplatz gab es ähnlich
Nach dem Fall der Mauer war die City             in den Fokus der Stadtentwicklung ge-                                                           Modellierung und Simulation (IMoS) mit               wie für den Bereich Hertzallee Nord bereits
West im Vergleich zum Ost-Berliner Zen-          schoben.                                       Doch nicht nur im übergeordneten Sinne           voraussichtlichem Baubeginn 2019 er-                 einen Freiraumwettbewerb, den das Büro
trum um den Alexanderplatz verstärkt ins                                                        bewegt sich etwas in der City West, auch         richten, auch wird zurzeit ein Ersatzbau             Topotek1 seinerzeit für sich entscheiden
Hintertreffen geraten und ihr wurde keine        Die Begleitung und Steuerung dieser Pro-       in direkter Nachbarschaft zum Hauptge-           für die Physik geplant. Ebenso ist durch             konnte. Doch auch hier haben sich in
aktive Weiterentwicklung zuteil.                 zesse erfolgte seitens der Stadtplanung        lände der TU Berlin ist seit einiger Zeit        die TU Berlin und das Studierendenwerk               den vergangenen Jahren die Rahmenbe-
                                                 durch eine Vielzahl an Maßnahmen. We-          Bewegung zu spüren. So ist beispiels-            studentisches Wohnen geplant.                        dingungen und Anforderungen gewandelt
Während dennoch über die vergangenen             sentlich prägend sind die Leitlinien für die   weise erst vor kurzem die Aufwertung                                                                  und eine Überprüfung der Planung erfolgt
zwei, drei Jahrzehnte ein steter Prozess         City West, die 2009 beschlossen wurden         der verlängerten Hertzallee im ersten            Ergänzend          hierzu   wird   ein   Grund-      derzeit. Es ist das Ziel, den Hardenberg-
20     planik 79 : winter 2018/19 : bewegen                                                                                                                                                                                                  bewegen : winter 2018/19 : planik 79   21

Von Nervenschwäche und
Neurourbanistik
von Julia Felker

Das Großstadtleben ist laut, aufregend und schnell. Neurologisch gesehen stellen uns
diese urbanen Eigenschaften vor große Herausforderungen. Denn die Flut an Eindrü-
cken erzeugt Stress und der macht uns krank. Ein neues urbanes Forschungs- und
Handlungsfeld untersucht die Zusammenhänge zwischen dem menschlichen Gehirn
und seiner urbanen Umgebung.
Bis heute prägen Lärm, Geschwindig-           fristigen Gewöhnung, was einen die Be-       die ersten „Healthy Cities programmes“.
keit und hohe Dichte von Reizen unse-         lastung bewältigen ließe. Beide Thesen       Diese Städteförderung setzt auf eine in-
ren Alltag in der Stadt. Wir denken sel-      stellten dasselbe fest: Das Leben in der     tersektorale Gesundheitsförderung. Sie
ten darüber nach, aber unbewusst löst         Stadt hat offenbar Einfluss auf das Gehirn   geht davon aus, dass Gesundheit nicht
jedes Geräusch, jede Bewegung oder            des Stadtbewohners.                          nur allein durch eine gute Gesundheits-
jeder Geruch ein Signal im Körper aus,                                                     infrastruktur gewährleistet werden kann,
welches auf Relevanz und Weiterverar-         Ein Jahrhundert später steht dieser Zu-      sondern „als ein wesentlicher Bestand-
beitung geprüft wird. Die Flut an Informa-    sammenhang im Mittelpunkt eines neuen        teil des alltäglichen Lebens [verstanden
tionen – der wir vornehmlich in urbaner       Forschungsfeldes: der Neurourbanistik.       werden müsse…]. Gesundheit steht für
Umgebung ausgesetzt sind – erzeugt            Sie untersucht die Beziehungen zwi-          ein positives Konzept, das die Bedeutung
Stress. Und Stress macht uns nachweis-        schen der Stadt und der Psyche ihrer Be-     sozialer und individueller Ressourcen für
lich krank. Bereits in den 1880er Jahren      wohner*innen: Wie wirkt sich die Gestal-     die Gesundheit ebenso betont wie die
sprachen Ärzte von umgreifender „Ner-         tung der Stadt auf die Lebensqualität des    körperlichen Fähigkeiten. Die Verant-        Stress im öffentlichen Raum
                                                                                                                                        (Foto: Unsplash; User: Timon Studler, https://unsplash.com/photos/ABGaVhJxwDQk)
vosität“, „Nervenschwäche“ und „Neu-          Menschen aus? Wo und warum empfin-           wortung für Gesundheitsförderung liegt
rasthenie“ (heute als Burnout bezeichnet)     den Menschen in Städten besonderen           deshalb nicht nur bei dem Gesundheits-       begünstigt. Als Ort gegenseitiger Berei-                 plexen Zusammenhänge zwischen dem
in den Großstädten als Phantom wirkli-        Stress? Welche strukturellen und bauli-      sektor, sondern bei allen Politikbereichen   cherung wurden Städte zum Ursprung                       menschlichen Gehirn und seiner urbanen
cher Leidenserfahrung durch Lärm und          chen Gegebenheiten wirken krankheits-        und zielt über die Entwicklung gesünderer    gesellschaftlicher, technologischer und                  Umgebung, ohne dabei belehrend oder
Reizüberflutung. Die Betroffenen klag-        fördernd? Wie kann Stadtplanung und          Lebensweisen hinaus auf die Förderung        geistiger Entwicklung. Diese Ambivalenz                  wissenschaftlich überladen das Lesever-
ten über Erschöpfungszustände, Ange-          Psychologie die psychische Gesundheit        von umfassendem Wohlbefinden“ (Otta-         der geistigen Stimulation in der Stadt                   gnügen zu schmählern. Danach leuchtet
spanntheit, chronischer Überanstrengung       den Menschen in Städten fördern?             wa-Charta zur Gesundheitsförderung der       gilt es auszutarieren: soziale Begegnung                 einem wirklich ein, warum die interdiszi-
und Geräuschempfindlichkeit. Durch die                                                     WHO, 1986). Damit rückt die Gesundheit       fördern und Rückzug ermöglichen, Infra-                  plinäre Umgestaltung unserer Städte zu
Industrialisierung der Städte wurde nicht     2015 gründete die Alfred Herrhausen          des Menschen auch wieder in den Fo-          strukturen für alternde Menschen schaf-                  lebensfreundlicheren Lebensräumen in
nur die Produktion selbst zur unüber-         Gesellschaft mit Neurowissenschaftlern,      kus der Stadtentwicklung. Ziel ist es nun    fen und sie zeitgleich länger fit halten,                Bewegung gesetzt werden muss.
hörbaren Lärmquelle, vor allem der Ver-       Architekten und Stadtplanern das Inter-      nicht mehr nur Krankheit zu vermeiden,       Mobilität anbieten, aber Verkehrslärm
kehrslärm nahm durch Elektrisierung und       disziplinäre Forum Neurourbanistik. Das      sondern aktiv die Gesundheit zu fördern.     reduzieren, Naturräume schützen, sie                     Stress and the city. Warum Städte
Ausbau rasant zu. Außerdem wurde der          Forum hat ein konkretes Forschungs-                                                       aber auch vielen Menschen zugänglich                     uns krank machen. Und warum sie
Tagesrhythmus schneller, die Menschen         programm entwickelt, welches auf die         Warum die Gesundheit von Stadtbe-            machen... Wer – wenn nicht die Stadtpla-                 trotzdem gut für uns sind.
schauten ständig auf die Uhr und fühlten      menschengerechte Entwicklung und             wohner*innen so wichtig ist, liegt auf der   nung – wäre prädestiniert für eine solche                Von Mazda Adli, erschienen 2017 beim
sich gehetzt. Die häufige Stimulierung        Gestaltung des öffentlichen Raums in         Hand: Die Anzahl der Menschen, die in        Zukunftsaufgabe. Und um sie zu bewäl-                    C.Bertelsmann Verlag.
der Nerven galt bald als akute Gesund-        unseren Städten abzielt. Einer der Mit-      städtischen Regionen leben, steigt rapi-     tigen, heiratet die Urbanistik die Neuro-
heitsgefahr. Auch Georg Simmel spricht        begründer des Forums ist der Psychiater      de. Heute leben bereits über die Hälfte      wissenschaft. Lasst uns hoffen, dass das
in „Die Großstädte und das Geistesleben“      und Stressforscher Mazda Adli. 2017          der Weltbevölkerung in der Stadt. Wenn       geborene Kind Neurourbanistik den enor-
(1903) davon, dass der Großstädter ei-        trug Adli mit seinem Sachbuch „Stress        diese große Anzahl an Menschen Krank-        men Erwartungen gerecht werden kann.
ner „Steigerung des Nervenlebens, die         and the city“ maßgeblich dazu bei, die       heiten entwickelt, können die Gesund-
aus dem raschen und ununterbrochenen          Stressbelastung in Städten zu einem          heitsfolgen der Urbanisierung langfristig    Und wer jetzt mehr als diesen kurzen An-
Wechsel äußerer und innerer Eindrücke         gesellschaftsrelevanten Thema zu ma-         genauso dramatisch sein wie die Folgen       riss über diese Thematik lesen möchte,
hervorgeht“, ausgesetzt ist. Nun gab es       chen. Dabei ist nicht nur Lärm ein Aus-      des Klimawandels. Außerdem gilt es die       dem empfehle ich das bereits oben ge-
zwei Thesen, wie das Individuum auf die       löser für Stress: Angst, Hektik, soziale     Stadt als Wiege der zivilisatorischen Ent-   nannte Buch „Stress and the city“. Dort
anhaltende Reizüberflutung reagierte: Der     Exklusion oder das Fehlen von Grün und       wicklung zu sichern. Denn die Vielfalt an    wird die volle Bandbreite der Neurour-
Großstädter würde sensibel und erkrank-       Naturelementen beispielsweise können         Stimulierung jeglicher Art ist eigentlich    banistik anschaulich, kurzweilig und un-
te. Oder aber die Lärmbelastung führte        psychisch krank machen. Bereits 1986         das, was den Menschen am Leben in            terhaltsam von Mazda Adli beschrieben.
zu einem Abstumpfen in Form einer lang-       startete die Weltgesundheitsorganisation     der Großstadt reizt und seine Entwicklung    Er erklärt in einfachen Worten die kom-
22   planik 79 : winter 2018/19 : bewegen                                            bewegen : winter 2018/19 : planik 79   23

Hier bewegt sich nichts mehr
von Melana Jäckels & Tabea Enderle (Text und Fotos)

Während andernorts liegengebliebene Leihfahrräder den Weg versperren, vermüllen
in Bukarest herrenlose Autos den ohnehin schon chaotischen und heillos überforder-
ten Straßenraum. Glaubt man Gerüchten, kommen in Bukarest auf 2 Millionen Ein-
wohner*innen 3 Millionen Autos.

 Bucuresti
 _Hauptstadt Rumäniens
 _1,8 Mio. Einwohner*innen (2017)
 _acht größte Stadt in der EU
 _8.011 Einw./km2
 (doppelt so viele wie in Berlin)
raus aus der kiste
26        planik 79 : winter 2018/19 : raus aus der kiste                                                                                                                                                                        raus aus der kiste : winter 2018/19 : planik 79   27

Die 7. Leerstandskonferenz in
Luckenwalde – Ein Reisebericht
von Lara Felicia Danyel

Die bereits zum siebten Mal ausgetragene Leerstandskonferenz, organisiert vom
deutsch-österreichischen Planungsbüro ‘nonconform’, fand diesen Oktober mit dem
Themenschwerpunkt ‘Strategien gegen Leerstand von Produktionsstätten’ in Lu-
ckenwalde statt.

Es ist Mittwochabend - ich steige aus                  genauso orientierungslose Person, einen     Müllner ist Interventionskünstler und für
dem RE3, der mich innerhalb einer drei-                jungen Mann mit Vollbart und Woll-Ja-       die Konferenz tatsächlich aus Mallorca
viertel Stunde vom Potsdamer Platz zum                 ckett, anspreche. Ich bemerke seinen        angereist.
Bahnhof Luckenwalde gebracht hat. Um                   starken Akzent und frage, woher er denn
gerade mal 19 Uhr ist die Sonne ist bereits            angereist sei. Mit einem schiefen Lächeln   So machen wir uns gemeinsam auf den
untergegangen und die Pendler*innen                    antwortet er: ‘Aus dem südlichsten Bun-     Weg zur neuen Bahnhofsbibliothek, wel-
strömen aus dem vollen Zug in Richtung                 desland Deutschlands, Mallorca’. Was        che - wie der Name schon verrät - in die
Bahnhofshalle. Um Orientierung bemüht                  ich zu diesem Zeitpunkt für einen netten    ehemalige Bahnhofsvorhalle hineingebaut      Die ehemalige Hutfabrik in Luckenwalde
lasse ich mich von den aussteigenden                   Scherz halte, wird sich später als völlig   wurde und als teures, aber durchaus gut      (Foto: Lara Felicia Danyel)

Menschen mitziehen, bis ich endlich eine               wahrheitsgemäß herausstellen. Leonhard      gelungenes Millionenprojekt das neue,
                                                                                                   alte Zentrum Luckenwaldes markiert.          onsorten und deren Arbeiter*innen be-          ware’, also den Produktionsstätten und        angedeutet. Außer den Konferenzteilneh-
                                                                                                   Der Eröffnungsabend hat bereits begon-       schäftigen. Die vier bis fünf portraitierten   Arbeitsorten geworden ist, rückt die ‘Soft-   menden ist der Platz leer, einige Busse
                                                                                                   nen: Elisabeth Herzog-von der Heide, die     ehemaligen Produktionsstätten sind ei-         ware’, d.h. die Tradition und Technik der     warten auf ihre letzte Fahrt; das ein oder
                                                                                                   Bürgermeisterin Luckenwaldes, begrüßt        nige wenige Positivbeispiele, welche die       Produktion, der Wissensschatz der Ar-         andere Auto scheppert auf dem Kopf-
                                                                                                   die Teilnehmenden der Konferenz, sowie       Wende überlebt haben. Die interviewten         beiter*innen und ihre Geschichten, ins        steinpflaster an mir vorbei.
                                                                                                   interessierte Anwohner*innen, welche         Arbeiter*innen sind stolz darauf, dass sie     Zentrum der Diskussion. Das Podium
                                                                                                   ebenfalls zum Eröffnungsabend eingela-       die ökonomischen und damit verbunde-           bemerkt: Es geht nicht um das Gebäude         Zusammen mit einem guten Dutzend
                                                                                                   den wurden. Woijciech Czaja, Journalist      nen sozialen Brüche nach 1989 überwin-         und den baulichen Bestand, es geht um         Studierender aus Köln, Kassel und Wien
                                                                                                   und Autor, moderiert den Abend. Ein Film     den konnten.                                   den sozialen Bestand.                         mache ich mich auf den Weg zu unserem
                                                                                                   mit dem Titel ‘Orte der Arbeit - Der lange                                                                                                Aufenthaltsort: Entsprechend dem The-
                                                                                                   Weg zum Neuanfang’ wird gezeigt. An-         ‚Das Schicksal dieser Räume ist, dass sie      Doch wie können Rahmenbedingungen             ma der Konferenz handelt es sich dabei
                                                                                                   schließend diskutiert ein Podium, unter      sich verändern müssen.‘                        geschaffen werden, damit möglichst viele      um eine leerstehende Gewerbeeinheit
                                                                                                   anderem mit Frau Prof. Dolff-Bonekäm-                                                       Menschen (wieder) einen Bezug zu die-         eines Wohnhauses aus den 1930er Jah-
                                                                                                   per.                                         Die Gesichter der Arbeiter*innen, die teils    sen Räumen entwickeln können?                 ren. Wie sich später herausstellt, ist die
                                                                                                                                                zum ersten Mal zurück in ihre ehemali-                                                       Eigentümerin Architektin und enthusiasti-
                                                                                                   Ich sehe mich um: Im Eingangsbereich,        gen Arbeitsorte kehren, sprechen Bände:        Fragen der kulturellen und ästhetischen       sche Teilnehmende der Konferenz - am
                                                                                                   der nun zum Veranstaltungssaal umge-         Neugier, Enttäuschung, Erinnerung - ge-        Aneignung treffen dabei auf die gegebe-       nächsten Morgen versorgt sie uns sogar
                                                                                                   staltet ist, erinnert wenig an eine Bahn-    mischte Gefühle entstehen bei den Be-          nen Rahmenbedingungen: Wer ist heute          mit frischen Brötchen.
                                                                                                   hofsvorhalle. Lediglich die Wände, an        gehungen der verfallenen Industriehallen.      Eigentümer*in? Wie steht es um Altlas-
                                                                                                   denen früher die Ticketautomaten an-         Sie zeigen, welche emotionale Bindung          ten und die infrastrukturelle Anbindung?      Der erste Konferenztag findet in der Tur-
                                                                                                   gebracht waren, deuten auf deren ehe-        zu den Betrieben bis heute besteht.            Wie gehen wir mit Gemengelagen um?            binenhalle des ehemaligen Elektrizitäts-
                                                                                                   malige Nutzung hin. Das Publikum ist                                                        Können Grundstücksgrundrisse an neue          werks statt. Pablo Wendel, der Eigentü-
                                                                                                   überraschend jung. Studierende, Anwoh-       Auch in Luckenwalde herrscht Leerstand:        Nutzungen überhaupt noch angepasst            mer des Veranstaltungsortes, ist Gründer
                                                                                                   ner*innen und Teilnehmer*innen in Anzug      Die ehemalige Hutfabrik, entworfen von         werden? Und wer trägt die Finanzierung?       von Performance Electronics. Wie er uns
                                                                                                   oder legerer Kleidung hören aufmerksam       Erich Mendelsohn, ist nur ein architek-                                                      anschaulich erklärt, versucht er mit Kunst
                                                                                                   zu, während der Filmproduzent Olaf Ja-       tonisch herausragendes Beispiel für die        Mit einem Getränk in der Hand verlas-         Strom zu produzieren.
                                                                                                   cobs den eben gezeigten Film kritisch        Industriegeschichte der Produktionsstadt       se ich die Bibliothek und trete auf den
                                                                                                   einordnet.                                   Luckenwalde, die sich nach der Wende           Bahnhofsvorplatz. Es ist angenehm kühl,       Unter dem Themenimpuls ‘Zukunft auf
                                                                                                                                                ebenfalls mit wirtschaftlichen und sozialen    einige Laternen beleuchten den gepflas-       dem Land’ sprechen die Vortragenden
                                                                                                   Bei dem Dokumentarfilm handelt es sich       Umbrüchen konfrontiert sah.                    terten Platz. Ich schaue mich um: Die         über Leerstand und Denkmalschutz, die
                                                                                                   um eine Aneinanderreihung einzelner                                                         Plattenbauten, die mir gegenüberstehen,       Krux der Zwischennutzungen und Zu-
Blick in die Turbinenhalle des ehemaligen Elektrizitätswerks
                                                                                                   Kurzfilme, die sich mit heute leerste-       Bereits der erste Abend macht deutlich:        sind grell bemalt; auf dem orangefarbe-       kunftsorte für ein neues Landleben.
(Foto: Lara Felicia Danyel)                                                                        henden oder nachgenutzten Produkti-          Neben der Frage, was aus der ‘Hard-            nen Grund sind mir unbekannte Gebäude
28     planik 79 : winter 2018/19 : raus aus der kiste                                                                                                                                                                              raus aus der kiste : winter 2018/19 : planik 79   29
Was ist Stadt und was ist Land?                                                                                                                 wenn jede*r Einwohner*in aus Lucken-
                                                                                                                                                walde einen Schlüssel zu dem selben
Die Mittagspause ist im ehemaligen                                                                                                              leerstehenden Gebäude erhalten würde,
Stadtbad angesetzt. Auch dieser Ort                                                                                                             und wir sie einfach machen ließen?
steht leer. Das Stadtbad hat einen morbi-
den Charme: Abgeblätterte Pastellfarben                                                                                                         Nach einer großen Runde Pecha-Ku-
an den Wänden, handgeschriebene Hin-                                                                                                            cha-Vorträgen endet die Konferenz mit
weisschilder, alte, teils kaputte Fliesen auf                                                                                                   einem gemeinsamen Suppenessen im
dem Boden und im leeren Schwimmbe-                                                                                                              Stadtbad; uns wird aufgetragen, mit den
cken. Der Raum ist lichtdurchflutet - im                                                                                                        Buchstaben der Buchstabensuppe eine
Becken wurden lange, gedeckte Tafeln                                                                                                            Botschaft zu formulieren, mit der wir aus
aufgestellt und in den Nischen des Ein-                                                                                                         der Konferenz gehen.
gangsbereichs stehen kleinere Caféti-                                                                                                           Ich habe Hunger, und fasse mich kurz:
sche. An den Tischen unterhalten sich                                                                                                           ‘Nur Mut’.
die Teilnehmenden angeregt, es gibt
Schweinebraten mit Rotkohl und Kartof-                                                                                                          Ein vorerst letztes Mal laufe ich durch Lu-
feln, serviert vom lokalen Cateringservice.                                                                                                     ckenwalde, schaue mich um und stelle
Ziemlich fasziniert begebe ich mich in                                                                                                          fest: So einfach ist es, einen Bezug zu
die zweite Etage und genieße den Blick                                                                                                          einem Ort zu entwickeln. Nur eine Drei-
von oben auf die Mittagsrunde, spaziere                                                                                                         viertelstunde von Berlin entfernt, sind die
durch die Gänge und lasse den Ort auf                                                                                                           Probleme ganz andere. Meine Fingerspit-
mich wirken.                                                                                                                                    zen kribbeln. Ich habe Lust bekommen,
                                                                                                                                                die lokalen Konflikte kennen zu lernen, zu
Im Vorbeigehen schnappe ich Ge-                                                                                                                 verstehen und mitzugestalten. In diesem
sprächsfetzen auf - anscheinend geht es                                                                                                         Sinne, danke an das nonconform-Team
                                                                                                                                                                                              Betreten verboten! - Situationsaufnahme aus der Konferenz
nicht nur mir so, dass laufend Ideen ent-                                                                                                       für diese interessante Konferenz!             (Foto: Lara Felicia Danyel)
stehen, diskutiert oder wieder verworfen
werden.

Die Workshoprunde beginnt. Eine ganze
Bandbreite an Themen wird dabei abge-
deckt: Rauminterventionen unter dem Ti-
                                                Einer der Mittagstische im ehemaligen Stadtbad
tel ‘Stattbad’ im Stadtbad, Diskussionen        (Foto: Lara Felicia Danyel)
zu den Voraussetzungen für einen Lehr-
und Lernraum StadtLand in Luckenwal-
de, Immovielien - Immobilien von Vielen         Luckenwalde und mündet im Abendes-               bisher vermieden hatte - Fehler einzuge-
für Viele! und weitere Workshops werden         sen im Stadttheater.                             stehen und sich bei den Betroffenen zu
in kleinen Gruppen durchgeführt.                                                                 entschuldigen.
                                                Mit etwas Verspätung beginnt der letz-
Ich entscheide mich für den Workshop zu         te Konferenztag. Ich trinke zwei Tassen          Nach seinem Vortrag frage ich Leonhard
‘Lehr- und Lernraum StadtLand’. Nach-           Kaffee und sehe, dass sich Leonhard              Müllner, was er mir als Studierende der
dem der Workshopleiter Mario Tvrtkovic          Müllner für seinen Vortrag bereit macht.         Stadtplanung mit auf meinen Weg ge-
den Workshopablauf erklärt hat, meldet          Er spricht über die Kunstgeschichte des          ben könne. Mit einem verschmitzten Ge-
sich sofort ein Teilnehmer und fragt, was       schlechten Gewissens und stellt einige           sichtsausdruck lehnt er sich auf seinem
denn StadtLand eigentlich sei. Die ande-        seiner Projekte vor, unter anderem ‘Hypo-        Stuhl nach vorne und sagt: „Wenn ihr
ren Teilnehmenden fangen sofort an zu           logy’, eine “nächtlichen Performance”1 in        später als Architekt*innen in der Altstadt
diskutieren. Wie können wir die zwei Be-        Zagreb. Dabei wurden mit einem Außen-            Wohnungen zu Luxusapartments um-
grifflichkeiten Stadt und Land voneinan-        raumbeamer textliche Entschuldigungen            wandelt, dann zünde ich eure Autos an!“
der abgrenzen? Was ist ländlich, was ist        in drei Sprachen an die Fassade des dor-         Ich muss lachen. Er wird jetzt ernster: „Die
städtisch? Einige Anwohnende merken             tigen Hypobankkomplexes geworfen; ei-            einfachste Art und Weise, Gentrifizierung
fragend an: Ist der ländliche Raum heute        nem Unternehmen, welches dem Künst-              zu betreiben, ist, als Stadt die Bestände
nicht auch städtisch geprägt?                   ler zufolge “[ü]ber Immobilienprojekte (...)     des sozialen Wohnungsbaus zu verkau-
                                                enorme Mengen in Österreich und Kro-             fen.“
Nach einer Stunde angeregter Diskus-            atien an Schwarzgeld [wusch]. Als Folge
sionen nähern wir uns dem letzten Pro-          dessen erlitt das Bundesland Kärnten na-         Torsten Klafft, der als Teil des noncon-
grammschwerpunkt des Abends: Die                hezu Bankrott.” (ebd.) Mit seinem Projekt        form-Teams die Leerstandskonferenz
letzte Vortragsrunde endet mit einem            wolle er endlich den Schritt gehen, den          mitorganisiert hat, stellt die folgende Fra-
                                                                                                                                                Mittagessen im ehemaligen Stadtbad
Stadtspaziergang durch das nächtliche           die “Hochrisikokapitalgesellschaft” (ebd.)       ge in die Raum: Was würde passieren,           (Foto: Lara Felicia Danyel)
30     planik 79 : winter 2018/19 : raus aus der kiste                                                                                                                                                                                        raus aus der kiste : winter 2018/19 : planik 79   31
                                                                                                                                                                                                     nentum in der Eröffnung erster Ladenge-
Dong-Xuan-Center – Blühende Wiese
                                                                                                                                              Die Genese einer                                                                                            vietnamesischem Hintergrund in dem Be-
                                                                                                                                              migrantischen Ökonomie                                 schäfte und führte schließlich auch zu der           zirk, im angrenzenden Marzahn-Hellers-
                                                                                                                                              Die Geschichte des Marktes ist eng mit                 Betätigung einiger Vietnames*innen im                dorf weitere 4.400. Ihre Anzahl ist derzeit

in der Betonwüste Lichtenbergs                                                                                                                der Historie der vietnamesischen Ver-
                                                                                                                                              tragsarbeiter*innen in der DDR verbun-
                                                                                                                                              den. Ende der Achtziger arbeiteten rund
                                                                                                                                                                                                     Großhandel. Der Besitzer der Dong-Xu-
                                                                                                                                                                                                     an GmbH Nguyen van Hien erkannte
                                                                                                                                                                                                     das daraus resultierende Potential und
                                                                                                                                                                                                                                                          im Steigen begriffen und wuchs in den
                                                                                                                                                                                                                                                          letzten Jahren um jeweils rund 5 Prozent.

                                                                                                                                              60.000 Vietnames*innen in den volksei-                 erwarb 2003 die Flächen, auf denen der               Der Stadtraum und seine
von Paul Strobel                                                                                                                              genen Betrieben (VEB) der DDR. Diese                   Markt im Jahr 2005 seine Türen öffnete.              Funktionen
                                                                                                                                                                                                                                                          Das Dong-Xuan-Center stellt ein überre-
Das Dong-Xuan-Center – eine Agglomeration migrantischer Unternehmen in Lichten-                                                                                                                                                                           gionales Zentrum für diese Community
berg – ist augenscheinlich ein besonderer Ort. Stellen ihn verschiedene Medien als                                                                                                                                                                        dar und erfüllt neben seiner wirtschaftli-
                                                                                                                                                                                                                                                          chen Rolle zusätzlich soziale und kultu-
exotischen Markt dar, der einen Kontrast zur restlichen Stadt darstellt und ein „au-                                                                                                                                                                      relle Funktionen. Als Paradebeispiel der
thentisches Vietnamerlebnis“ verspricht, will folgender Artikel die Konfiguration des                                                                                                                                                                     Raumaneignung verdeutlicht es die prä-
Stadtraums, seine Entstehungsgeschichte und Funktionen näher beleuchten.                                                                                                                                                                                  gende Rolle migrantischer Akteur*innen in
                                                                                                                                                                                                                                                          der Konstitution von Stadträumen. Doch
                                                                                                                                                                                                                                                          wie gestaltet sich dieser Stadtraum, wel-
Ostberlin, Lichtenberg – hier erstreckt
                                                                                                                                                                                                                                                          che Funktionen erfüllt er und wie positio-
sich auf rund einem 129 ha großen Areal
                                                                                                                                                                                                                                                          nieren sich lokale Autoritäten gegenüber
östlich von Fennpfuhl das Gewerbegebiet
                                                                                                                                                                                                                                                          den Praktiken der migrantischen Unter-
Hertzbergstraße:       Schrotthändler*innen
                                                                                                                                                                                                                                                          nehmer*innen?
reihen sich an KFZ Dienstleistungsun-
ternehmen und Logistikfirmen, daneben
                                                                                                                                                                                                                                                          Wirtschaftliche Funktion
findet sich der Zentralafrikanische Ver-
                                                                                                                                                                                                                                                          Als Großhandelszentrum bildet das
sandhandel. Auf vielen Grundstücken ist
                                                                                                                                                                                                                                                          Dong-Xuan-Center einen wirtschaftlichen
die Nutzung nicht von außen abzulesen,
                                                                                                                                                                                                                                                          Hub, der zur Versorgung vietnamesischer
einige Hallen scheinen leer zu stehen.
                                                                                                                                                                                                                                                          Einzelhändler*innen und Dienstleister*in-
Produzierendes Gewerbe gibt es hier
                                                                                                                                                                                                                                                          nen beiträgt. Diese können hier spezifi-
bis auf die Pantrac Gmbh nur noch ver-                                                                                                        Wirtschaftliche Prosperität: Kürzlich eröffnete mit Halle 18 die bis heute letzten Geschäftsräume
                                                                                                                                              (Foto Paul Strobel)                                                                                         sche Waren beziehen. Ein gutes Beispiel
einzelt. Mittlerweile finden sich hier auch
                                                                                                                                                                                                                                                          stellt die Ökonomie der Berliner Nagelstu-
kulturell genutzte Gebäude, die mit der
                                                                                                                                              sahen sich nach der Wende mit einer                    Die Wahl der Lokalität ergibt sich aus der           dios dar, die häufig von Vietnames*innen
im Flächennutzungsplan festgeschriebe-
                                                                                                                                              neuen Situation konfrontiert: Die meisten              residentiellen Konzentration der vietna-             betrieben werden. Sie beziehen auf dem
nen Nutzung im Konflikt stehen. Mitten in
                                                                                                                                              der VEB schlossen ihre Türen und die                   mesischen Community in Lichtenberg,                  Markt die nötige Ausstattung: spezielle
dieser Konstellation liegt das Dong-Xu-
                                                                                                                                              ehemaligen Fabrikarbeiter*innen waren                  bereits zu DDR Zeiten waren hier große               Stühle und Tische, sowie weiteren Bedarf
an-Center (vietnamesisch für „blühende
                                                                                                                                              dementsprechend arbeitslos. Obwohl die                 Teile der Vertragsarbeiter*innen in einem            häufig bei Großhandelsbetrieben, die die-
Wiese oder Frühlingswiese“) – ein viet-
                                                                                                                                              BRD den Migrant*innen eine Summe von                   Wohnheim untergebracht. Heute leben                  se günstig in China erwerben. Ähnliches
namesischer Großhandel betrieben von
                                              Der Bogen markiert den Eingang zu „Vietnamtown“                                                 3.000 D-Mark im Falle einer freiwilligen               rund 8.200 der 26.900 Berliner*innen mit             gilt für vietnamesische Imbissbetreiben-
der Dong-Xuan GmbH. Auf einem 16              (Foto Paul Strobel)
                                                                                                                                              Ausreise anbot, entschieden sich viele
ha großen Areal werden hier Ladenge-
                                                                                                                                              der Vietnames*innen zu bleiben. Bis ihr
schäfte in sechs rund 180 mal 40 Me-          Obwohl die Planungen des Landes Ber-              das Publikum auch aus Besucher*innen
                                                                                                                                              rechtlicher Status in auf einen Beschluss
ter großen Hallen an Geschäftstreibende       lins klare Vorgaben zur Nutzung des Ge-           anderer Nationalitäten zusammen. Ein-
                                                                                                                                              der Innenministerkonferenz im Jahr 1994
vermietet. Diese bieten in ihren Geschäf-     bietes festlegen – in einem Gewerbege-            zelhändler*innen aus Tschechien, Polen
                                                                                                                                              mit der Erteilung einer dauerhaften Auf-
ten hauptsächlich Textilwaren aber auch       biet sind lediglich Großhandelsbetriebe,          oder Dänemark; Anwohner*innen und
                                                                                                                                              enthalts- und Arbeitserlaubnis konso-
Geschenk- und Haushaltsartikel, sowie         aber keine Einzelhandelsagglomerationen           Tourist*innen halten sich auf dem Ge-
                                                                                                                                              lidiert wurde, befanden sie sich in einer
Elektronikwaren an. Ergänzt wird das          zugelassen – können auf dem Areal dar-            lände des Berliner Großhandels auf. Die
                                                                                                                                              prekären Situation. Aufgrund schlechter
Angebot durch Lebensmittelgeschäfte.          über hinaus vielfältige andere Nutzungen          Beobachtungen zeigen, wie Händler*in-
                                                                                                                                              Deutschkenntnisse und häufig nicht vor-
Darüber hinaus haben sich in den Hal-         beobachtet werden. Während sich das               nen und Besucher*innen einen Raum
                                                                                                                                              handener Bildungsabschlüsse standen
len unternehmensorientierte Dienstleister     Dong-Xuan-Center unter der Woche als              konstituieren, der mehr als ein Ort des
                                                                                                                                              ihre Chancen auf dem ersten Arbeits-
(bspw. vietnamesisch sprachige Steuer-        wenig bespielter Ort zeigt – in der Regel         Handels ist. Das Dong-Xuan-Center fun-
                                                                                                                                              markt denkbar schlecht. Viele betätigten
beratung, Rechtsberatung) und kunden-         sind nur die Händler*innen und einige             giert als Ort der sozialen Interaktionen,
                                                                                                                                              sich als Textilhändler*innen, griffen auf
orientierte Serviceanbieter (Friseursalons,   Kund*innen anzutreffen – wandelt sich             als Ausflugs- und Erlebnisort, den Besu-
                                                                                                                                              Netzwerke der eigenen Community in Eu-
Restaurants, Nagelstudios, Reisebüros,        das Bild an beiden Tagen des Wochen-              cher*innen in ihrer Freizeit aufsuchen, und
                                                                                                                                              ropa zurück und importierten Waren aus
sowie Sprach- und Fahrschulen) ange-          endes: Auf dem Gelände herrscht ein               scheint insbesondere für die vietnamesi-
                                                                                                                                              Polen und Tschechien, die sie auf Wo-
siedelt. Rund zwei Drittel der 300 Händ-      geschäftiges Treiben, die Terrassen der           sche Community wichtige Funktionen
                                                                                                                                              chenmärkten in Ostdeutschland verkauf-
ler*innen haben einen vietnamesischen         gastronomischen Betriebe sind überwie-            einzunehmen.
                                                                                                                                              ten. Das Geschäft lief aufgrund der hohen
Hintergrund. Insgesamt arbeiten hier          gend voll besetzt und die Hallen gut ge-
                                                                                                                                              Nachfrage nach Konsumgütern der ehe-
nach Angaben des Betreibers rund 1.000        füllt. Ein Großteil der Anwesenden ist vi-
                                                                                                                                              maligen DDR- Bürger*innen überwiegend
Menschen.                                     etnamesischer Herkunft, doch setzt sich                                                                                                                Gürtelabteilung
                                                                                                                                              gut. So mündete das mobile Händler*in-                 (Foto Paul Strobel)
Sie können auch lesen