125 Initiative Minderheiten
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ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG Sie haben Fragen an das Bundeskanzleramt? service@bka.gv.at 0800 222 666 Mo bis Fr: 8 –16 Uhr (gebührenfrei aus ganz Österreich) +43 1 531 15 -204274 Bundeskanzleramt Ballhausplatz 1 1010 Wien Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich auf Ihre Fragen und Anliegen! bundeskanzleramt.gv.at
Inhalt 125 » 04 Aushang Kurzmeldungen 05 Editorial Gamze Ongan 06 Stimmlage Hakan Gürses 08–11 Gibt es eine Globalisierung von Erinnerung? Ljiljana Radonić 12–14 Verborgenheit politisieren Jo Schmeiser Impressum STIMME ist das vierteljährliche Vereinsblatt der Initiative 15–19 Gedenkpolitiken in der postmigrantischen Gesellschaft Minderheiten (Verein zur Förderung des Zusammenlebens Ayşe Güleç von Minderheiten und Mehrheiten). Medieninhaberin, Verlegerin, Herausgeberin und Redaktion: 20–21 Initiative Minderheiten (Verein zur Förderung des Zusam- Queere Geschichte sammeln menlebens von Minderheiten und Mehrheiten | ZVR-Zahl: 393928681) | Gumpendorfer Straße 15/13, 1060 Wien | Andreas Brunner Tel.: +43 1 966 90 01 | office@initiative.minderheiten.at | stimme@initiative.minderheiten.at 22–25 Chefredakteurin: Gamze Ongan Stimme-Talk Redaktionelle Mitarbeit: Vida Bakondy, Beate Eder-Jordan, mh, Jessica Beer, Raffaela Gmeiner, Cornelia Kogoj, Sabine Nadja Danglmaier und Daniel Wutti im Gespräch mit Cornelia Kogoj Schwaighofer, Jana Sommeregger, Gerd Valchars, Vladimir Wakounig Kolumnen: Hakan Gürses, Erwin Riess Grafisches Konzept, Artdirektion & Illustrationen: fazzDesign 26–29 Geschichtsschreibung anhand fragmentierter Erinnerungen (Fatih Aydoğdu) | fazz@fazz3.net Christina Hollomey-Gasser und Tuğba Şababoğlu Lektorat: Daniel Müller | www.syntext.at Herstellung (Repro & Druck): Donau Forum Druck Ges.m.b.H., Walter-Jurmann-Gasse 9, 1230 Wien | office@dfd.co.at 30–31 Lektüre Lizenznehmer Österreichisches Umweltzeichen. Verlags- und Erscheinungsort: Wien | Verlagspostamt: 1060 Wien Anzeigen: Ebru Uzun | office@initiative.minderheiten.at Aboservice: Ebru Uzun | abo@initiative.minderheiten.at 32–33 Nachlese Jahresabo: EUR 20,- Inland, EUR 30,- Ausland (für Vereinsmitglieder kostenlos), Einzelpreis: EUR 5,50 Melanie Konrad Web: www.initiative.minderheiten.at www.zeitschrift-stimme.at www.instagram.com/initiative_minderheiten 34 Groll Namentlich gezeichnete Artikel müssen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wiedergeben. Erwin Riess Offenlegung gemäß §25 Mediengesetz: STIMME − Zeitschrift der Initiative Minderheiten ist das vierteljährliche Vereinsblatt der Initiative Minderheiten (Verein zur Förderung des Zusammenlebens von Minderheiten und Mehrheiten) mit der grundlegenden Richtung gemäß §2 und §3 der Vereinsstatuten, die Kommunikation und das Zusammenleben von Minderheiten und Mehrheiten durch die Selbstdarstellung von Minderheiten und ihren Organisationen, durch Interviews, Erfahrungsberichte, wissenschaftliche Beiträge, Buch-, Periodika- und Tonträger- besprechungen, aktuelle Nachrichten und Veranstaltungshinweise bzw. -berichte auf medialer Ebene zu fördern. Die Initiative Minderheiten (Verein zur Förderung des Zusammenlebens von Minderheiten und Mehrheiten) ist Medieninhaberin und Herausgeberin der Zeitschrift. Die Finanzierung der Zeitschrift erfolgt durch öffentliche Subventionen, Mitgliedsbeiträge, Abonnements und freiwillige Spenden. Die Adresse der Medieninhaberin und der Herausgeberin ist im Impressum angeführt.
Aushang Wir trauern um María Cristina Boidi NS-Herrschaft aus eigener Erfahrung 1941 Santa Fé, Argentinien – 2022, Wien, Österreich sprechen – oder von jenen Menschen berichten, die im Holocaust ermordet wurden. Was bleibt, sind neben literari- Vorbild, Pionierin, Rebellin schen Zeugnissen unzählige Video- und Audiointerviews der Überlebenden – Mitgründerin von LEFÖ – Beratung, Bildung sowie die Frage, wie Gesellschaften in und Begleitung von Migrant*innen Zukunft mit dieser Erbschaft umgehen wollen. Widerstandsmomente 2015 | Filmstill: Sophie Maintigneux Danke für das kritische Vor-Denken und Die Ausstellung „Ende der Zeitzeu- leidenschaftliche Einfordern von Gerech- genschaft?“ des Jüdischen Museums tigkeit in der Gesellschaft und Politik. Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg ist nach der KZ-Gedenk- stätte Flossenbürg, dem NS Doku- mentationszentrum München, dem Jü- dischen Museum Augsburg Schwaben und der Stiftung Neue Synagoge Berlin ab Januar 2023 im Haus der Geschich- te Österreich zu sehen. Die Ausstellung erkundet die komple- xe Beziehung zwischen Zeitzeug:innen und Interviewer:innen. Sie hinterfragt die „Gemachtheit“ der Zeitzeug:in- neninterviews und deutet Formen erzählter Erinnerung und ihre gesell- schaftliche Rolle seit 1945 vor dem Hintergrund der aktuellen Veränderun- gen. Ebenso werden Ansätze zu einem Queer Museum Vienna @ VKM Ende der Zeit- zukünftigen, reflektierten Umgang mit Zeugnissen thematisiert. Ein Preis für ein Gastspiel zeugenschaft? Kuratiert von: Anika Reichwald V on Jänner bis August 2022 war das Queer Museum Vienna (QMV) zu Gast im Volkskundemuseum Wien. Ziel Christine Baumann erhielt ebenso einen Förderpreis für die Kunstzelle mit Pro- gramm – eine ehemalige Telefonzelle, die IdesNS-Verbrechen n der Vermittlung der Geschichte der und der Weitergabe Gedenkens an nachfolgende Gene- in Kooperation mit Miriam Bürer, Hanno Loewy, Christa Schikorra und Jörg Skriebeleit. des Gastspiels war es, einen Ausblick seit 2006 Raum für künstlerische Installa- rationen ist – vielleicht auch aufgrund auf ein projektiertes, zukünftiges Haus tion und Intervention bietet und bisher von der Unvorstellbarkeit des Geschehe- Dauer: für queere Kulturgeschichte und Kunst 70 Künstler:innen gestaltet wurde. nen – der Stellenwert der biografi- 27. Jänner bis 3. September 2003 in Wien zu geben. Man suchte unter an- schen Erzählung oft höher als der von Ort: derem Antworten auf die Frage, wie sich Mit den von der Stadt Wien finanzierten Dokumenten, Filmen, Exkursionen zu Haus der Geschichte Österreich queere künstlerische Arbeiten, Kultur Preisen der freien Szene will man darauf den Tatorten oder Büchern. Neue Burg, Heldenplatz, Wien und Lebensweise zur Volkskunde und aufmerksam machen, was „abseits von deren Musealisierung verhalten. Für die- hoch subventionierter und institutiona- Aus Altersgründen können jedoch Gefördert von der Stiftung Erinnerung, ses Projekt hat nun das Queer Museum lisierter Kultur stattfindet“. Insgesamt nur noch wenige Überlebende der Verantwortung und Zukunft (EVZ). Vienna den Hauptpreis der freien Szene wurden heuer 54 Projekte zum Preis Wiens 2022 erhalten. Und es gibt einen der freien Szene Wiens eingereicht. Alle Ausblick auf ein für 2026 geplantes Haus Einreichungen wurden in einem Katalog für queere Kulturgeschichte und Kunst präsentiert und können auch auf der Märchen zum Innehalten in Wien. Webseite der IG Kultur Wien online be- trachtet werden. Einer der beiden Förderpreise ging an das Kollektiv Red Edition – Migrant Sex Wor- igkulturwien.net P arvis Mamnun, Schauspieler, Regis- seur und Dramaturg, vor allem aber wunderbarer Erzähler orientalischer Die von der Großmutter des Künstlers mündlich überlieferte Geschichte „Das Wasser des ewigen Lebens“ wird erst- kers Group Theater und Performance queermuseumvienna.com für das Stück City of Whores. rededition.wordpress.com Märchen, feiert heuer zwei Jubiläen: 1962, mals auf der aktuellen CD veröffentlicht. vor 60 Jahren, schloss er sein Studium am Wiener Reinhardt-Seminar ab. 1992, Wir gratulieren herzlich zu den beiden vor 30 Jahren, gab er seinen ersten Jubiläen! Erzählabend mit einem klassisch-persi- www.parvismamnun.at schen Liebesepos in Wien. Aus diesem Anlass gibt der „Ent- schleuniger im besten Sinn“, wie der damalige Wiener Kulturstadtrat Peter Marboe Mamnun 2017 in der Festschrift „Freude am Erzählen“ nannte, ein Hörbuch Foto: Iklim Doğan als Doppel-CD heraus. „Derwisch-Ge- schichten“, so der Titel, werden von Mam- nun gesprochen und von persisch-klas- sischer Musik und mit Liedern von Rumi, Saadi und Omar Khajjam (in Nachdichtung von Barbara Frischmuth) begleitet.
Editorial Erinnern heißt verändern. Unter dieser Maxime hat sich die Initiative 19. Februar Hanau der Erinnerungsarbeit für die neun Todesopfer des rassistischen Anschlags 2020 verschrieben. Mit dem selben Slogan überklebten jüdische Akti- vist:innen 2021, am Jahrestag des November- pogroms 1938, 23 nach Nazis benannte Wiener Straßenschilder mit Namen von Widerstands- kämpfer:innen. Das Erinnern an Verbrechen der Mensch- Erinnerungsarbeit für die Opfer rechtsextremer Gewalt – heit darf sich nicht in Pflichterfüllung, in der Stichwort sogenannte NSU-Morde oder Hanau 2020 – wird „Harmonie der Vergangenheitsbewältigung“[1] vor allem von Angehörigen und ihren Verbündeten geleistet. erschöpfen. Der Sinn des Gedenkens kann nur Die Pädagogin und forschende Aktivistin Ayşe Güleç berichtet in seinem Beitrag liegen, die Wiederholung der von Forderungen an eine angemessene Erinnerungspolitik. Verbrechen, an die erinnert wird, zu verhin- Zu Erinnerungskulturen im Kärntner Grenzraum forschen dern, „die Erinnerung an das Geschehene, an und publizieren Nadja Danglmaier und Daniel Wutti. das Vergessene, an das stets Verschwiegene, an Cornelia Kogoj sprach mit ihnen über die Weitergabe von die Ursachen und die Folgen, an das Davor und Traumata an die Nachfolgegenerationen und grenzüberschrei- Danach zu nähren, zu pflegen, zu bewahren“.[2] tende Erinnerungsarbeit. In institutionalisierten Archiven finden minorisierte Grup- Im vorliegenden Schwerpunktheft kommen pen oft nur marginalisierten Raum. Der Historiker Andreas Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen und Brunner, Co-Leiter von QWIEN – Zentrum für queere Ge- Künstler:innen zu Wort, die sich aktiv für wür- schichte, betont die Rolle selbstorganisierter Community-Ar- dige Erinnerungskulturen engagieren. chive als Orte einer historischen Gegenerzählung. Nicht zuletzt fasst Melanie Konrad in der Radio-Stim- Gibt es ein globalisiertes Erinnern? Das For- me-Nachlese die Diskussionsveranstaltung „Ererbte Biogra- schungsprojekt „Globalized Memorial Muse- fien im Land der Täter:innen“ mit Anna Goldenberg, Samuel ums“ an der Österreichischen Akademie der Mago und Peter Schwarz zusammen. Wissenschaften vergleicht weltweit 50 Muse- Erinnern heißt verändern en, die sich dem Zweiten Weltkrieg sowie den In eigener Sache Genoziden in Ruanda und im ehemaligen Ju- Mitte Oktober 2022 mussten wir uns mit einem Unterstüt- goslawien widmen. Die Projektleiterin Ljiljana zungsappell an Freund:innen und Verbündete der Initiative Radonić beschreibt, wie die Art des Erinnerns Minderheiten wenden. mit der jeweiligen nationalen Identitätspolitik Unser Hilferuf löste eine unbeschreibliche Welle an Solidari- einhergeht. tätsbekundungen aus. In kürzester Zeit gewannen wir so viele Im Jahr 2016 begann der Aufbau eines Migra- neue Mitglieder und Stimme-Abos, erhielten so viele Spen- tionsarchivs in Innsbruck. Die Sozialanthropo- den, sodass Sie nun dieses Heft, dessen Produktion ebenso login Christina Hollomey und die Germanistin in Gefahr war, in Händen halten können. Dafür sind wir sehr Tuğba Şababoğlu, beide vom Dokumentati- dankbar. onsarchiv Migration Tirol, berichten über die Viele wichtige NGOs, so auch die Initiative Minderheiten, Herkunft der Bestände und die Unmöglichkeit sind von staatlichen Förderungen abhängig. „Minderhei- einer lückenlosen Erzählung. tenpolitische Standpunkte haben einen Mehrwert für die Was will ich sehen? Und was will ich, ohne Gesamtgesellschaft, vor allen Dingen im Verhindern von es zu wissen, nicht sehen? Zwei von mehreren Rechts- und autoritären Entwicklungen“, wie der Schriftstel- Fragen, die laut der Filmemacherin und Künst- ler und Aktivist der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung Erwin lerin Jo Schmeiser beim politischen Erinnern Riess festhält – und sein Alter Ego Groll unterstreicht: „Die zu stellen sind. Demokratie bedarf einer gesetzlich garantierten Förderung von Widerspruch“ (Seite 34). Davon sind wir aber noch weit entfernt und benötigen weiter- hin Ihre Unterstützung. Spenden Sie bitte jetzt, abonnieren Sie die Stimme, werden Sie Mitglied der Initiative Minderheiten. Damit wir uns auch in Zukunft für die Stärkung von Minder- heitenrechten einsetzen können. [1] Joshua Schultheis: Erinnern heißt Verändern. In: www.jüdische- allgemeine.de, 3. 2. 2022. [2] Nevroz Duman und Ibrahim Arslan (2021): Von Mölln bis Wir bedanken uns sehr herzlich und nach Hanau: Erinnern heißt verändern. In: Rechter Terror. Warum wir eine neue Sicherheitsdebatte brauchen. Hg. v. hoffen auf ein Wiederlesen im neuen Jahr. Heinrich-Böll-Stiftung und Amedeu Antonio Stiftung. Gamze Ongan | Chefredakteurin
Stimmlage Hakan Gürses Minoritäre Allianzen damals – und heute J üngst veranstaltete die Initiative Minderheiten eine Tagung im Wiener Volkskundemuseum zum Thema „minoritäre Allianzen“. Unter diesem programmati- schen Namen schlägt die Organisation seit dem „Minderheiten- und die immer strikter werdenden „Fremden- und Aufenthalts- gesetze“ machten eine Art Vernetzung zum Selbstschutz er- forderlich. Auch hier zeigte sich die Notwendigkeit einer Allianz der Minderheiten. Doch wer sollte sich mit wem vernetzen? jahr 1994“ einen Orientierungsrahmen für politisches Handeln vor. Interessant war für mich auf der Tagung zu beobachten, Die Initiative Minderheiten hatte bereits bei ihrer Gründung wie anders heute, nach knapp 30 Jahren, eine junge Generation klargestellt: Unter dem Terminus Minderheit verstand man ne- von Minderheiten-Aktivist*innen diesen Terminus aufnahm. Wir ben den autochthonen Volksgruppen durchweg auch soziale, hatten ihn jedenfalls in einer besonderen Zeit und politischen sexuelle oder Religionsgruppen, denen Diskriminierung wider- Konstellation eingeführt. fuhr – und Migrant*innen, die sogenannten neuen Minderheiten. Am Anfang der 1990er Jahre war die Welt plötzlich unipolar, Diese Definition war allerdings für die Öffentlichkeit nicht es gab nur mehr den „Westen“, und für die außerparlamentari- selbstverständlich. Auch ein Teil der Volksgruppen-Vertre- sche Politik schien die „Klasse“ als zentrale Achse von Kämpfen ter*innen lehnte es ab, mit diesen Gruppen in einem Atemzug, ziemlich lädiert. Dafür bildeten die sogenannten neuen sozialen geschweige denn unter einem gemeinsamen rechtlich-politi- Bewegungen nach und nach den Hintergrund neuartiger politi- schen Terminus erwähnt zu werden. Auch das machte für uns scher Theorien und Organisationen. Viele partikulare emanzipa- das Forcieren einer minoritären Allianz erforderlich: zur ge- torische Gruppen brachten ihre Forderungen in die politische genseitigen Anerkennung diskriminierter Gruppen als Minder- Agenda ein, ohne dafür ein universal gültiges und zwingendes heiten. (Zeit-)Historische Gemeinsamkeiten, Diskriminierung als „Gesetz“ vorweisen zu müssen. Es ging um ihre Rechte, und sie gemeinsame Erfahrung, Notwendigkeit einer selbstbestimmten fanden die Legitimierung dafür in ihrer eigenen Geschichte der Politik ... Diese Argumente führten wir für die Allianz ins Treffen. Diskriminierung und Unterdrückung. Kritik am Eurozentrismus, Das wichtigste Argument war aber ein strukturelles. am kolonialen Erbe und dem Orientalismus ging mit allmählich entstehenden transversalen Verbindungen zwischen den so- Allianzen können unterschiedliche Motive haben – etwa ein zialen Bewegungen einher. normatives Motiv wie Solidarität; ein pragmatisches wie das Bündeln der knapp bemessenen Kräfte; ein strategisches Unterdessen war die österreichische Gesellschaft offiziell wie der Wille, sich nicht spalten zu lassen, etc. Der wichtigste und öffentlich mit dem Hauptthema „Ausländer“ beschäftigt. Beweggrund für die minoritäre Allianz war und ist jedoch aus Der politisch, medial sowie wissenschaftlich geführte Diskurs meiner Sicht eine strukturelle Mengenlehre. über Migration, vor allem Migrant*innen, bestimmte die Tages- ordnung. Einen der Höhepunkte dieser polarisierenden Thema- Das Wort „Minderheit“ verweist auf keine essenzielle Gemein- tik bildete wohl das „Ausländervolksbegehren“ der FPÖ unter schaft mit besonderen Eigenschaften, sondern sie ist eine Ka- dem Titel „Österreich zuerst“, welches Anfang 1993 von fast tegorie, die ein Verhältnis ausdrückt. Beide Seiten des Verhält- 420.000 Personen unterschrieben wurde. Der erste Punkt lau- nisses, die Minderheit wie die Mehrheit, können nur angesichts tete dabei: „Österreich ist kein Einwanderungsland.“ Die lautes- der jeweils anderen Seite begriffen werden. Wenn eine Gruppe te Reaktion darauf kam von der frisch gegründeten Plattform von Personen aufgrund verschiedener Herrschaftsbeziehungen, SOS Mitmensch: die Demonstration „Lichtermeer“ im Jänner Machtstrategien, politischer Kalküle oder sozialer Mechanismen 1993, an der rund 300.000 Personen teilnahmen. minorisiert wird, so wird die entsprechende Gegengruppe aus denselben Motiven majorisiert. Minderheit und Mehrheit sind also Davor und lange danach blieb hierzulande das paternalistisch keine festen Gruppen oder Gemeinschaften, sondern Funktionen, ausgeprägte und anwaltschaftlich umgesetzte Hilfe-Konzept die von wechselnden Personengruppen in wechselnden Verhält- ausschlaggebend. Eine Art „Licht ins Dunkel für ausländische nissen ausgeübt werden. Eine queere Person kann im nationa- Mitbürger“ war die Normalität. Die Initiative Minderheiten len/ethnischen Sinne der Mehrheit angehören und etwa bei der wollte just diese Anwaltschaft nicht für sich beanspruchen; Diskriminierung von Migrant*innen mitspielen – und vice versa. die Idee war, eine Plattform bereitzustellen, auf der sich die Minderheiten selbst ausdrücken, ihre Anliegen thematisieren Wenn ich potenziell Angehöriger einer Minderheit und einer und über ihre Gemeinsamkeiten, Überlappungen, ähnliche In- Mehrheit zugleich sein kann, ist eine konsequente Politik der teressen und Ziele, aber auch Differenzen diskutieren sollten. Minderheiten nur durch eine Allianz mit anderen Minderheiten Keine Minderheitenpolitik, sondern eine Politik der Minderheiten, zu bewerkstelligen – dass ich also mit meinen potenziellen Geg- die auf einer minoritären Allianz gründete. ner*innen gemeinsam gegen eine Struktur kämpfe, welche auch Macht genannt werden kann. Das ist wohl nicht dasselbe, was 25 Briefbomben, drei Sprengfallen, vier ermordete und 13 heute unter allyship verstanden wird. zum Teil schwer verletzte Menschen zwischen Dezember 1993 und Dezember 1996, dieser Terror der „Bajuwarischen Befrei- Kann jener gegenwärtige politische Zugang, der eine essenzi- ungsarmee“ (die sich am Ende als ein Einzeltäter entpuppen elle Mehrheit (weiß, heterosexuell, dem Mittelstand angehörend, sollte) gegen Minderheitenangehörige und ihre Verbündeten so- männlich ...) als quasi natürliche Gegnergruppe festlegt, mit der wie die zunehmend zum Rassismus neigende „Gesamtstimmung“ minoritären Allianz etwas anfangen? 06
Ljiljana Radonić Gibt es eine Globalisierung von Erinnerung? I m Zeitalter der Globalisierung wird angenommen, dass historische Ereignisse auch in entfernten Ländern erinnert werden, und bei der Art, wie in zeithistorischen Museen und Gedenkstätten mit traumatischen Ereignissen umgegangen wird, scheint es internationale Trends zu geben. Der Holocaust diene als „negative Ikone“ oder als Vorbild für das Thematisieren/ Ausstellen anderer Massenmorde. Aber ist das so? Das Projekt „Globalisierte Gedenk- Den Ausgangspunkt bildet das Genozide in Ruanda und museen“ [1] untersucht 50 Museen Verständnis von Museen als Flagg- Bosnien-Herzegowina auf vier Kontinenten. Der Fokus schiffe nationaler Identitäts- und ausstellen liegt dabei auf Museen, die dem Geschichtspolitik, die nie Geschichte, Zweiten Weltkrieg gewidmet sind, wie sie „wirklich“ war, „authentisch“ Dabei hat sich gezeigt, dass beim mit außereuropäischem Schwer- einfangen können. Denn Erinnerung Ausstellen der neueren Genozide punkt auf China und Japan, sowie ist immer eine Art von Instrumen- tatsächlich verschiedene Verweise der Musealisierung der Genozide talisierung von Geschichte für die auf den Zweiten Weltkrieg und den in den 1990er Jahren in Ruanda (identitätspolitischen) Bedürfnisse Holocaust zu finden sind. So haben und Bosnien-Herzegowina. Inwie- der Gegenwart. Es kommt dabei ruandische Behörden zwei britische weit übernehmen letztere Museen darauf an, wie offen oder autoritär Experten für Holocaust-Ausstellun- Trends aus Holocaust-Museen oder und wie nah am Stand der histori- gen vom Aegis Trust mit der Ausstel- begreifen die eigene Bevölkerung schen Forschung die Vergangen- lung im staatlich finanzierten Kigali als die „neuen Juden von heute“? heit in Demokratien einerseits und Genocide Museum beauftragt. Wie Um einen eurozentrischen Blick autoritären Regimen andererseits der Projektmitarbeiter Eric Sibomana auf die verschiedensten kulturellen verhandelt wird – und wie stark mar- herausgearbeitet hat, erzählt die Kontexte und Museen zu vermeiden, ginalisierte Geschichten inkludiert Ausstellung nicht nur die eigene vergleichen ForscherInnen z. B. mit oder ausgegrenzt werden. Zeithisto- Geschichte, sondern enthält auch ruandischem oder japanischem Hin- rische Museen und Gedenkstätten Abschnitte über den Massenmord tergrund die Museen im jeweiligen sind wichtig für die Aufarbeitung an den Herrero in Namibia 1904– Land untereinander und wir stellen der Vergangenheit, Demokratieerzie- 1905, den Holocaust, Kambodscha sie dann in den größeren Kontext der hung und politische Bildung, aber sie 1975–1979 sowie „den Balkan“ in den Frage nach der „Globalisierung der sind – gerade auch deshalb – immer Erinnerung“. politische Orte. [1] www.oeaw.ac.at/projects/gmm (Stand: 2. 12. 2022) 08
Wand mit Privatfotos im Kigali Genocide Museum | Foto: Eric Sibomana. 1990er Jahren. Auch die Ausstellung welche die Enkelin des Dorffotogra- mit Davidstern verteilt, und eins von in der bosnischen Genozid-Gedenk- fen ausfindig gemacht und dann dem einem Mann mit einer weißen Arm- stätte Srebrenica-Potočari wurde in amerikanischen Museum übergeben binde aus dem Bosnienkrieg. Die ser- Zusammenarbeit mit „westlichen“ hatte. Die Srebrenica-Ausstellung bische „Vernichtungs-Kampagne“ in ExpertInnen, hier der niederländi- thematisiert ferner die Leere, die der bosnischen Stadt Prijedor habe schen Gedenkstätte für das ehema- der Genozid hinterlassen hat. Wäh- zum ersten Mal seit der Nazi-Verord- lige NS-Lager Westerbork, erarbeitet. rend KZ-Gedenkstätten in früheren nung für polnische Juden 1939 „eine Jahrzehnten die Opfer vor allem als ethnische oder religiöse Gruppe so Beide Dauerausstellungen, in im Kampf für die Freiheit Gefallene, zur Vernichtung markiert“, so das Kigali wie in Srebrenica, enthalten als Helden oder Märtyrer begriffen, bosnische Museum. Interessanter- Elemente, die aus Holocaust-Museen vermeiden Holocaust-Museen solche weise findet der Vergleich nicht mit bekannt sind, wie den Fokus auf in- Sinnstiftungsversuche – und das dem Schicksal der Jüdinnen und Ju- dividuelle Schicksale der Verfolgten dient in Srebrenica eben als Vorbild. den aus Sarajevo statt, die ebenfalls und ihre privaten Fotos aus der Zeit, im Holocaust vernichtet wurden, son- bevor sie zu Opfern wurden. So fin- Die Ausstellungen in Kigali und dern mit der globalen Negativikone den sich in Kigali Wände voller sol- in Srebrenica setzen nicht auf die Warschauer Ghetto. Wenn die SerbIn- cher Fotos, die Eric Sibomana zufolge Präsentation der eigenen Opfer als nen als die neuen Nazis von heute dem Museum von Familienangehöri- Juden von heute. Auf diese Strategie dämonisiert werden, verstellt das je- gen übergeben wurden. Diese Instal- der Gleichsetzung setzt hingegen doch den Blick darauf, dass im Bosni- lation erinnert stark an den „Tower das private Museum of Genocide enkrieg nicht nur SerbInnen, sondern of Faces“ im US Holocaust Memorial and Crimes Against Humanity in auch KroatInnen und BosniakInnen Museum – ebenfalls eine Wand vol- Sarajevo. Eines der ersten Exponate bewaffnet gekämpft und auch Ver- ler privater Fotos aus dem 1941 von zeigt zwei Fotos nebeneinander: eins brechen begangen haben, wenn den Nazis ausgelöschten jüdischen von einem jüdischen Jungen aus dem auch keinesfalls in einem mit dem Dorf Eišiškės im heutigen Litauen, Warschauer Ghetto, der Armbinden serbischen Genozid vergleichbaren 09
Weiblicher Schindler im Pekinger Museum of the War of Chinese People's Resistance against Japanese Aggression | Foto: Markéta Bajgerová. Ausmaß. Zusammenleben im heu- André Hertrich hat gezeigt, dass das aus also als einen Ausdruck der tigen Bosnien wird durch solch Thema in Japan in den staatstragen- „Globalisierung der Erinnerung“, eine Dämonisierung erschwert. In den Museen nach wie vor tabuisiert jedoch vor dem Hintergrund der den Museen über die Genozide der ist und es sich vor allem das klei- aktuellen inländischen identitäts- 1990er Jahre finden sich also sowohl ne private Women Action Museum politischen Bedürfnisse.[3] Gleichsetzungen mit dem Holocaust, in Tokyo zum Thema gemacht hat die über entscheidende Unterschiede – mithilfe der bereits bekannten Mu- Verweise auf den Holocaust fin- hinwegsehen, als auch die explizite sealisierungstechniken, wie einer den sich in Japan und China auf Vermeidung solcher Gleichsetzungen Wand voller Privatfotos der Frauen mehreren Ebenen. Erstens gibt es unter Einsatz musealer Zugänge, die als heutige Überlebende.[2] Markéta Museen, Ausstellungen und Ge- Holocaust-Museen zum Vorbild neh- Bajgerová Verly hat im Rahmen des denkorte, die dem Holocaust gewid- men, um sinnloses individuelles Leid Projekts herausgearbeitet, dass in met sind. In Japan dokumentierte und Leere auszustellen. den letzten Jahren – viel später als André Hertrich etwa das Fukuyama z. B. in Korea – die Erinnerung an Holocaust Education Center, das Den Zweiten Weltkrieg die „comfort women“ auch in Chi- Auschwitz Peace Museum in Shira- und Holocaust in China na Einzug gehalten hat. Sie deutet kawa oder die protestantische Anne und Japan ausstellen das vor allem im Kontext der chi- [Frank]'s Rose Church in Amagasaki, nesischen Bemühungen um Aner- in der Asche aus Auschwitz und Ma- Das internationale Projektteam kennung der „comfort stations“ als jdanek im Altar aufbewahrt wird.[4] untersucht auch, wie der Zweite UNESCO-Weltkulturerbe – durch- In China untersucht Bajgerová Verly Weltkrieg in China und Japan aus- gestellt wird sowie ob sich dort [2] André Hertrich: „We would like to see who was responsible for the system of Japan's military sexual slavery”: The Representation of Japanese Perpetrators in Exhibitions on ‚Comfort Women‘, ebenfalls internationale Referenzen, Vortrag bei der 24th Asian Studies Conference Japan (ASCJ) vom 2. 7. 2022. insbesondere auf den Holocaust, fin- https://ascjapan.org/2022-ascj-conference-schedule (Stand: 2. 12. 2022). den. Ein Thema, das sowohl in Ko- [3] Markéta Bajgerová Verly: Survivors, victims and soldiers as figures of nationalism. Representa- tions of women in the War of Resistance against Japan museums in mainland China, in: East Asian rea, Japan und China als auch von Journal of Popular Culture, 8:2 (2002), 291–309. dort ausgehend im „Westen“ Ein- [4] Die globale Verbreitung von Asche aus den Vernichtungslagern untersucht in unserem Projekt gang in die Debatten gefunden hat, Zuzanna Dziuban. ist jenes der sogenannten „comfort Dieser Trend ist aktuell auch im zunehmend autoritären Polen und Ungarn zu beobachten. [5] women“, der von der japanischen “‘China's Schindler’ honored in Shanghai Jewish museum”, in: China Daily, 2. 9. 2016, [6] www.chinadaily.com.cn (Stand: 2. 12. 2022). Armee im Zweiten Weltkrieg ge- [7] Hometown of Japan diplomat who saved 6.000 Jews to seek UNESCO listing, in: Japan Times, haltenen Sexzwangsarbeiterinnen. 18. 6. 2015, www.japantimes.co.jp (Stand: 2. 12. 2022). 10
etwa die im Pekinger Museum of the der Musealisierung von Krieg und kann. Auf den Holocaust wird in den War of Chinese People's Resistance Massensterben. Während etwa in hier untersuchten vier Ländern jedoch Against Japanese Aggression 2013 der alten Ausstellung im Hiroshima auf verschiedenste Weise verwiesen eingerichtete temporäre Ausstellung Peace Memor ial Museum mehr – vom Vorbild für die Musealisierung über Auschwitz, die den Eindruck grauenerregende Fotos von Skelet- der eigenen Leiderfahrung bis hin erweckt, China habe bei der Rettung ten enthalten waren, setzt die 2019 zu explizitem Verständnis von der europäischer Jüdinnen und Juden überarbeitete Dauerausstellung Wir-Gruppe als den „neuen Juden“ eine herausragende Rolle gespielt. nun vermehrt auf individuelle Ge- im bosnischen Kontext. Jeder Erinne- schichten von Überlebenden sowie rungstopos wird letztlich so verwendet, Diese Betonung chinesischer oder Namen, Objekte und Privatfotos der wie es für die nationale Identitätspoli- japanischer „JudenretterInnen“[5] ist Opfer vor dem Atombombenabwurf. tik gerade sinnvoll erscheint – und ist auch auf der zweiten Ebene anzu- In China nannten die MacherInnen daher ein Politikum. treffen, in Dauerausstellungen und der neuen Dauerausstellung der Debatten über den Zweiten Welt- Nanjing Massacre’s Memorial Hall krieg im Allgemeinen, in denen der das israelische Holocaust-Museum Holocaust nur am Rande vorkommt. Yad Vashem als Vorbild. Wie in der Diese RetterInnen werden vielfach „Halle der Namen“ in Jerusalem fin- Ljiljana Radonić leitet am Institut für Kulturwissen- als „chinesische“ oder „japanische den sich auch hier nun Ordner mit schaften und Theatergeschichte der Österrei- chischen Akademie der Wissenschaften ein vom Schindler“ bezeichnet, auch wenn den Namen der Opfer sowie eine European Research Council (ERC) finanziertes es sich im Gegensatz zum deutschen Wand mit ihren Privatfotos. Projekt über „Globalisierte Gedenkmuseen“. 2021 Besitzer einer Emaille-Fabrik in Kra- All diese Beispiele zeigen, dass erschien ihre Habilitation „Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen. Geschichtspolitik kau, Oskar Schindler, nicht um Un- durchaus von einer „Globalisierung zwischen der ‚Anrufung Europas‘ und dem Fokus ternehmer handelte, die Jüdinnen der Erinnerung“ gesprochen werden auf ‚unser‘ Leid.“ De Gruyter 2021 (Open Access). und Juden als ZwangsarbeiterInnen anforderten und so retten konnten. So wird, wie Bajgerová Verly he- Für einen neuen, anderen rausgearbeitet hat, John Rabe, der FürFür einen einen neuen, neuen, anderen anderen deutsche Vertreter von Siemens Blick Blick Blick auf aufauf die diedie Welt Welt Welt in Nanjing, der während des Nan- jing-Massakers 1937 eine inter- nationale Schutzzone in Nanjing errichtete, von dem seiner Person gewidmeten Museum in seiner frü- heren Residenz als der „Schindler von Nanjing“ bezeichnet. Auch die chinesisch-belgische Wissenschaft- lerin Qian Xiuling, die in Belgien ihre noch aus China stammenden Kontakte zu einem Nazi nutzte, um politische Gefangene zu retten, wird im Pekinger Widerstandsmuseum als „weiblicher Schindler“ bezeich- net. Der chinesische Generalkon- sul in Wien, Ho Feng-Shan, der Jüdinnen und Juden mit Visa für Schanghai das Leben rettete, gilt ebenfalls als „Chinas Schindler“.[6] Als „Japans Schindler“ gilt Chiune Sugihara, der als japanischer Kon- sul in Litauen rettende Visa ausstell- te. [7] Filme wie Steven Spielbergs Aktivist*innen, Aktivist*innen, Journalist*innen, Journalist*innen, „Schindlers Liste“ von 1993 haben Holocaust-Verweise zu einem glo- Wissenschaftler*innen Wissenschaftler*innen ausaus demdem balen Phänomen gemacht. Aktivist*innen, Globalen Globalen SüdenJournalist*innen, Süden eröffnen eröffnen uns uns Die dritte Ebene, auf der in Chi- Wissenschaftler*innen neue neue Einsichtenaus dem Einsichten Anzeige na und Japan implizit auf den Ho- locaust verwiesen wird, ist die Art Globalen Süden eröffnen uns neue Einsichten 11
Jo Schmeiser Verborgenheit politisieren Perhaps the immobility of the things that surround us is forced upon them by our conviction that they are themselves and not anything else, by the immobility of our conception of them. For it always happened that when I awoke like this, and my mind struggled in an unsuccessful way to discover where I was, everything revolved around me through the darkness: things, places, years. [1] M arcel Proust liegt im Bett und träumt diese Zeilen im verdunkelten Zimmer, stelle ich mir vor. Er diktiert den Text, weil er zu schwach ist, ihn selbst aufzuschreiben. Eine meist ungenannte Frau, Céleste Albaret, kümmert sich um ihn. Sie pflegt ihn, kocht, macht sein Zimmer sauber, wie ich erst kürzlich erfahre. Ordnet auch seine Manuskripte. Simone Bader und ich wissen das noch nicht, als wir das Proust-Zitat unserem Dokumentarfilm Things. Places. Years. über Jüdische Frauen in London voranstellen.[2] Deshalb noch einmal, mit dieser Information, hier in der Stimme. Politisches Erinnern braucht als Als wir Katherine Klinger anrufen Familiengeschichte beschäftigt habe. Technik die Wiederholung. Wieder und fragen, ob sie eine der Protago- Mein Engagement ist nicht frei von und wieder muss das, was es zu nistinnen unseres Films sein will, persönlicher Verstrickung in Ge- erinnern gilt, neu überlegt, gezeigt sagt sie, dass sie eine unmittelbare schichte, von unbewusster Bearbei- und debattiert werden. Die Formen Aggression uns gegenüber spürt. Ein tung und Verdrängung. Everything I des Zeigens und Erinnerns müssen wichtiges Gefühl, über das sie gerne have done in my life I have done for kritisch untersucht werden. Aber sprechen will, wenn wir uns treffen, myself, wird Katherine Klinger später vor allem anderen ist das vielleicht sagt sie noch, bevor wir einen Ter- sagen, seither mein Leitsatz für kri- wichtigste Moment, sich die eigene min ausmachen und das Telefonat tische Selbstreflexion im politischen Geschichte und gesellschaftliche beenden. An immediate suspicion, Engagement. Positionierung, von der aus erinnert aggression and a need to test you wird, genauer anzuschauen und sie out – as to who exactly are you. Die- Ein Mann läuft bloßfüßig über den bei der Arbeit über die Vergangenheit ser Satz stellt mein Weltbild auf den Asphalt. Ich höre ihn atmen, er läuft mitzudenken. Was will ich sehen? Kopf. Ich bin politisch, engagiere und läuft, und ich frage mich, wo Was kann ich sehen? Was kann ich, mich, setze mich mit der Vergangen- seine Schuhe sind und ob das Lau- ohne den Blick von anderen, nicht heit auseinander. Und trotzdem. Es fen auf dem harten Untergrund nicht sehen? Und was will ich, ohne es zu ist mir entgangen, dass ich mich mit schmerzhaft ist. Das andauernde und wissen vielleicht, nicht sehen? dem Nazismus abseits der eigenen sich wiederholende Bild des Laufens mit dem Atmen des Läufers ist der [1] Marcel Proust, Remembrance of Things Past: 1, translated by C. K. Scott Moncrieff and Terence Anfang von Jonathan Perels Doku- Kilmartin, London 1981:6. mentarfilm Camuflaje, [3] in dem der [2] Things. Places. Years., 70 Min., A/GB 2004. Regie: Klub Zwei, Simone Bader, Jo Schmeiser; Kame- ra: Anita Makris, Daniel Pöhacker, Rainer Egger; Ton: Daniel Pöhacker; Schnitt: Maria Arlamovsky; Protagonist Félix Bruzzone sich das Produktion: Amour Fou, Alexander Ivanceanu, Gabriele Kranzelbinder; Vertrieb: sixpackfilm. Areal des Campo de Mayo erschließt, Camuflaje, 93 Min., AR 2022. Regie, Drehbuch: Jonathan Perel; Kamera: Joaquin Neira; Ton: es sich durch Gespräche mit anderen [3] Andrés Marks, Sebastián Lipszyc; Schnitt: Pablo Mazzolo; Produktion: Alina Films, Off the Grid; Vertrieb: Compañia de Cine. Personen, denen er begegnet und 12
Widerstandsmomente | Foto: Jasmin Trabichler mit denen er ein Stück des Weges Erde an Touristen und Touristinnen. die Verborgenheiten, die bei der Ar- gemeinsam geht, stehenbleibt, wei- Félix Bruzzone fragt, ob das funkti- beit mit Migrantinnen, Kolleginnen, terläuft, vergegenwärtigt. Auf dem oniert und ob sie davon leben kann. Freundinnen auftauchen, sind wie in Campo de Mayo nahe Buenos Aires Sie hat schon vieles probiert, antwor- Camuflaje Tarnungen und Wahrhei- wurden 1976–1983 unter der argen- tet ihm die Frau in der Kapuzenjacke. ten zugleich. Eine Mutter, die bei ei- tinischen Militärdiktatur Tausende Aber ja, es funktioniert, sie bereitet nem Autounfall verunglückt, als ich eingesperrt, gefoltert und ermordet. die Erde auf, füllt sie in Glasröhrchen, drei Monate alt bin. Eine Oma, bei der Viele von ihnen sind Desaparecidos benennt diese und erzählt den Käufe- ich die ersten Jahre aufwachse. Ein und Desaparecidas, Verschwunde- rinnen und Käufern, wo sie die Erde Vater, der nach einer Gehirnblutung ne, deren familiäre, freundschaftli- gefunden hat. Erzählt ihnen die Ge- neu sprechen und schreiben lernt. che und politische Kontexte bis heute schichte des Campo de Mayo. Wie Ein Opa, der ein begeisterter Nazi nicht wissen, wo und wie sie starben. ein Stück der Berliner Mauer, sagt sie. ist. Eine Mutter, die ich erst mit vier Der Film lässt keinen Zweifel daran, Jahren kennenlerne. Ihre Großmutter Félix Bruzzone war drei Monate alt, dass wir eine Schauspielerin sehen. überlebt das KZ Ravensbrück. Großi als seine Mama verhaftet und auf den Er lässt uns darüber nachdenken, schaut auf uns Kinder, wenn die Campo de Mayo gebracht wurde. Wir wie wir uns zu dem Geschehenen in Eltern nicht da sind, und schimpft, begegnen wirklichen Personen, die Beziehung setzen. Betrifft es uns und wenn wir ein kapitalistisches Eis heute auf diesem Areal Dinge tun. wie sind wir betroffen? Wenn wir et- am Stiel kaufen. Die Jacke, die Großi Überlebenden, einem Naturforscher, was selbst nicht erlebt haben? Wenn für ihre Tochter Mila 1941 im Poli- einer Künstlerinnengruppe. Ihre Ge- dieses Etwas vor 80 Jahren war? zeigefängnis in Graz strickt, ist der schichten sind wahr und Jonathan Wenn unsere Familie zu den Tätern Ausgangspunkt für meinen Doku- Perel dokumentiert sie für uns. Aber und Täterinnen gehörte? Wenn …? mentarfilm Widerstandsmomente wir treffen mit Félix Bruzzone auch Was hat mich eigentlich in den Film über Frauen im Widerstand gestern auf erfundene Personen. Sie wurden geführt, in dieses Gestrüpp aus Ge- und heute.[4] geschrieben, um uns Geschichten zu genwart und Vergangenheit, durch erzählen, die möglich sein könnten das sich Félix Bruzzone kämpft? María Cristina Boidi, eine Protago- und es vielleicht auch sind, wären nistin des Films, setzt sich zu Anna Regisseur und Protagonist zur rich- Ich trage mehrere Geschichten mit Čadia in Beziehung und findet Un- tigen Zeit am richtigen Ort mit der mir, in mir. Welche Bedeutungen vergleichbarkeiten, Unterschiede, Kamera gewesen. Fiktion nicht als ich ihnen gebe, geben kann, liegt bei aber auch Berührungspunkte. Anna Phantasie, sondern als Entfaltung mir und der Bereitschaft, unter dem Čadia ist im kommunistischen Wi- der Wirklichkeit, hat Rúbia Salgado Blick der anderen auch Unreflektier- derstand gegen die Nazis aktiv. María das einmal genannt. tes, Unbeabsichtigtes anzuerken- Cristina Boidi engagiert sich in der nen. Die Geschichten sprechen auf Gewerkschaft Trabajadores de la Eine Frau sammelt Erde auf dem der Couch und auf dem Schreibtisch Educación und wird 1975 in Santa Fe Campo de Mayo. Sie verkauft die miteinander, gegeneinander, und verhaftet und gefoltert. 1979 verlässt 13
sie Argentinien mit einem Visum für Österreich, das ihre Familie organi- sieren kann. Bis zuletzt weiß sie nicht, ob das Flugzeug wirklich nach Wien fliegt.[5] María Cristina Boidi bemerkt, dass Anna Čadia immer wieder von Glück spricht. Im Widerstand, in der Haft, im KZ. Wenn sie etwas für ande- re, aber auch für sich erreichen kann. Widerstandsmomente erklärt nicht, dass Anna Čadia Großi ist und zu mei- ner Familie gehört. Ich will sie nicht vereinnahmen, es mir leicht machen, indem ich mich auf der richtigen Seite zeige. Das antibiografische Erzählen ermöglicht noch etwas. Ich kann eine kollektive Geschichte des Wider- stands zeigen und Frauen in den Film aufnehmen, die nicht überlebt haben. Von denen nichts mehr da ist außer geheimen Nachrichten auf winzigen Stücken Stoff oder Papier.[6] Das anti- biografische Erzählen ist außerdem ein Hoffnungsträger – dass wir Zu- sammenhänge erschaffen und gestal- ten können, anstatt unveränderbar in sie hineingeboren zu werden. Die ganze Stadt „hasst die Poli- Klub Zwei | Things. Places. Years. | 2004 zei“. Auch ÖVP, Nazis, steht dane- ben. Isabella Burtschers Kurzfilm angegriffen. Sie würde durch die kri- Ausdruck der Abwehr von eigenen Ganz Wien [7] findet innen und außen tischen Stimmen im Off „Empathie strukturellen Verstrickungen in Ras- statt. Mehrmals sehen wir im Stadt- mit der Polizei“ erzeugen oder sogar sismus und Gewalt. Ganz Wien reicht raum dasselbe Graffiti. Personen ge- mit der Polizeigewalt auf der gezeig- weit über eine Auseinandersetzung hen vorbei und ihrer Arbeit nach. Im ten Demonstration. Ich bin nicht die- mit der Polizei hinaus. Der Film wirft Off zwei Stimmen, die wie die Sprayer ser Ansicht. Wenn der Widerstand die unangenehme Frage auf, wo wir und Sprayerinnen anonym bleiben. gegen unmenschliche Befehle zu Teil einer Institution sind und ihre Ein ehemaliger Polizist erzählt vom blühen beginnt und die Selbstkritik Politik, oder eben auch ihre Gewalt, Unbehagen, Menschen um fünf Uhr in der Polizei grassiert, dann zeigt mittragen und selbst ausüben. Früh aus dem Bett zu holen, um ihre das doch, dass Macht und Gewalt Papiere zu kontrollieren. Eine Po- keine unanfechtbaren Blöcke sind. Vielleicht entsteht die Unbeweglich- lizistin ist nahe daran, den Job zu Dort sitzen Menschen, deren Zweifel keit der Dinge, die uns umgeben, nur kündigen. Sie beschreibt, wie es „oft man nähren kann, vermehren viel- aus der festen Überzeugung, dass erst richtig losgeht“, wenn ein schutz- leicht. Das lässt mich aufatmen und sie so und nicht anders sind, aus suchendes Opfer zur Polizei flüchtet. aufleben. der Unbeweglichkeit unserer Vor- Und wie klargemacht wird, dass „du stellung von ihnen. Verborgenheit nie mehr die Füße auf den Boden Der Reflex, böse, rassistische Poli- politisieren heißt also, unsere Vor- kriegst, wenn du einen Kollegen aufs zeibeamte hören zu wollen, nicht stellung von den Dingen zu mobili- Papier haust“, ihn anzeigst. Dazwi- aber denkende und mit sich und der sieren, sie aufzudehnen, um neuen schen Bilder der Exekutive bei einer Institution hadernde, auch für die Wahrnehmungen und Erkenntnissen Demonstration gegen Abschiebung. demokratischen Rechte von Verhaf- Platz zu machen und sie mit anderen Isabella Burtschers Film wird auch teten kämpfende Polizeibeamte, ist zu diskutieren. [4] Widerstandsmomente, 98 Min., A 2019. Regie: Jo Schmeiser, Bildgestaltung: Sophie Maintigneux; Jo Schmeiser lebt und arbeitet in Wien. Ton: Nora Czamler; Montage: Michael Palm; Produktion: Peter Janecek, Plaesion Film; Vertrieb: sixpackfilm. Ihre Arbeiten entstehen oft in kollektiven Kontexten. Der Dokumentarfilm Widerstands- [5] Faika El-Nagashi, María Rosa Pérez Abellá (Hg.): Wenn du nicht kämpfst, bist du verloren! / ¡Si momente gewann die Austrian Competition no luchas, estás perdida!, Wien 2021. von This Human World 2019. Die Website für [6] Johanna Mertinz, Winfried Garscha (Hg.): „Mut, Mut – noch lebe ich.“ Die Kassiber der Elfriede Jugendliche www.widerstandsmomente.at Hartmann aus der Gestapo-Haft, Wien 2013. wurde mit dem Hans-Maršálek-Preis 2022 [7] Ganz Wien, 17 Min., A 2022. Regie, Kamera, Ton, Montage, Produktion: Isabella Burtscher. ausgezeichnet. 14
Ayşe Güleç Siegerprojekt des Kunstwettbewerbs „Für eine offene und freiheitliche Gesellschaft“: Gedenkpolitiken „86° (WALTER HALİT)" von Natascha Sadr Haghighian| Quelle: Initiative 6. April in der postmigrantischen Gesellschaft Migrantisch situiertes Wissen für eine antirassistische Bildungspraxis S ind Denkmäler und Gedenkorte geeignet, um rassistische Gewalt zu verhandeln und die damit verbundene Traumatisierung zu bewältigen? Wer hat ein Recht auf Erinnerung und wer nicht? Sind Denkmäler und Gedenkstätten da, um eine Vergangenheit als abgeschlossen zu beschreiben? Wie kann ein Denkmal zeigen, dass wir eine andere Zukunft brauchen? Die Mordserie des sogenannten – so auch an den EU-Außengrenzen Wirkmacht in der Gesellschaft hat. Nationalsozialistischen Untergrunds – zu verhindern. Am Beispiel des Jedoch kann die Geschichte der Ta- (NSU) an neun post-migrantischen NSU-Komplex werden die verkoppel- ten des NSU-Komplexes nicht ohne Kleinunternehmern, einer Polizistin ten Wirkungsweisen von Alltagsras- den Widerstand der Angehörigen sowie mindestens drei Bombenan- sismus, institutionellem Rassismus der Mordopfer, nicht ohne den Wi- griffe stellen einen wichtigen Kno- und strukturellem Rassismus deut- derstand der Überlebenden der Bom- tenpunkt dar, der eingebettet ist in lich. Rassismus ist eine Gewaltform, benangriffe erzählt werden. eine lange Geschichte von rassisti- die auf struktureller Ebene in staat- Daher widmet sich der folgende scher Gewalt in postkolonialen und liche Apparate und in Gesetze ein- Text den Forderungen und Erwar- postfaschistischen Verhältnissen gebettet ist. Nach den NSU-Morden tungen der Angehörigen bezüglich Ost- und Westdeutschlands. waren an den rassistischen Ermitt- einer angemessenen Erinnerungspo- lungen gegen die Betroffenen auch litik und thematisiert exemplarisch Mit dem Begriff NSU-Komplex soll weitere Behörden wie z. B. Finanz- ihren Bedeutungswechsel an kon- deutlich gemacht werden, dass die ämter und einige Medien beteiligt, kreten Beispielen der Städte Kassel, Taten des NSU durch Medien, Insti- die gegen die trauernden Angehöri- Köln und Hanau. tutionen wie Ermittlungsbehörden, gen arbeiteten. Ermittlungsbehörden Verfassungsschutzämter und Politik, nutzten fingierte Beweismittel und Spätestens nach dem Mord an aber auch durch die Öffentlichkeit setzten die Angehörigen unter Druck, Halit Yozgat am 6. April 2006 in unterstützt wurden – begleitet von sie wurden verdächtigt, gedemütigt Kassel wussten die Angehörigen der einer strukturellen Empathielosig- und somit innerhalb ihrer Commu- Mordopfer der NSU-Mordserie und keit und Ignoranz. Rassistische Kon- nitys isoliert. ihre Communitys – wie auch die junkturen sind verbunden mit einer Überlebenden des Bombenangriffs staatlichen Regulierungspolitik, die Die Geschichte des NSU zeigt, dass in der Keupstraße in Köln –, dass sie versucht, Migration in Krisenzeiten Rassismus eine strukturierende alle gemeint und bedroht waren. Nur 15
einen Monat nach dem Mord in Kas- sel nahmen Eltern von Halit Yozgat den Kontakt zu den Angehörigen von Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık auf und organisierten zusammen die Demonstration unter dem Titel „Kein nächstes Opfer“. Trotz kollektiven Auftretens und Artikulation von über 3.000 Menschen aus ausschließlich migrantischen Communitys wurde diese Demonstration von der soge- nannten Dominanzgesellschaft nicht wahrgenommen. Berichterstattun- gen in den Medien fanden kaum statt. Ein solches Misslingen von Ver- ständigung und Wahrnehmung ist nicht auf die mangelnde Artikula- tionsfähigkeit der Marginalisierten zurückzuführen, denn über 3.000 Menschen wussten, was vorging. Die Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan argumentiert hierzu, dass es wichtiger sei, „[...] die Unfähig- keit der ‚Dominaten‘ zuzuhören be- ziehungsweise ihr ‚selektives Hören‘ und ihre ‚strategische Taubheit‘ zu skandalisieren“ (Dhawan 2012: 52). In dem 438 Prozesstage (von Mai 2013 bis Juli 2018) dauernden NSU-Prozess wurden das Wissen und die Analysen der Betroffenen nicht als zentrale Analysekatego- Brüder-Grimme-Nationaldenkmal in Hanau | Foto: Ayse Güleç. rien wahrgenommen. Wäre die Ar- beit zum Mord an Halit Yozgat von wir unsere Aufmerksamkeit radikal migrantisch situierte Wissen basiert Forensic Architecture [1] in das lau- dem Wissen und den Analysen der auf Erfahrungen von rassismuser- fende Verfahren aufgenommen wor- Angehörigen der NSU-Opfer und fahrenen, rassifizierten Menschen. den, wäre vielleicht Walter Lübcke, der Überlebenden zuwenden. Denn Wenden wir uns diesem Wissen zu, der Regierungspräsident von Kassel, zu lange waren die Täter*innen im so lernen wir, wie Rassismus im noch am Leben. Er wurde ermordet, Zentrum der medialen Berichterstat- Alltag oder in institutionellen und weil er sich bei einer Bürgerver- tung und leider auch im sogenann- behördlichen Handlungen passiert sammlung sehr klar für Aufnahme ten NSU-Prozess. Hingegen waren und auch, wie wir dagegen vorge- von Geflüchteten eingesetzt hatte. es antirassistische Bewegungen und hen können. Als ein spezifisches Er- Ebenso den Spuren im Kontext lokale Initiativen, die nach dem Öf- fahrungswissen verhandelt es auch der Drohschreiben (versendet von fentlich-Werden des NSU in den so- den Rassismus als eine Realität und Computern der Frankfurter Polizei) genannten Opfer-Städten entstanden, vermittelt zudem, dass die Taten an eine Anwältin, eine Schauspie- die sich den Perspektiven und dem des NSU passieren konnten, weil lerin sowie an eine Politikerin des situierten Wissen der Angehörigen gesellschaftliche Diskurse, gesell- hessischen Landtages wurde nicht und den Überlebenden zuwandten, schaftliche Ausschlüsse und Diskri- gründlich nachgegangen. Diese Ta- um dieses Wissen in die Aufmerk- minierungsprozesse die Grundlage ten gehören ebenso in den Kontext samkeitszonen der Dominanzgesell- dafür bildeten. NSU-Komplex. schaft zu bringen. Das situierte Wissen von rassifi- Für das Lernen – wie auch für das Das situierte Wissen ist eine Wis- zierten, migrantischen oder migran- Verlernen – aus dem NSU-Komplex sensform, die in einem bestimmten tisierten Menschen ist eine zentrale ist es von zentraler Bedeutung, dass Erfahrungskontext entsteht. Das Perspektive. Es ist eine widerständi- ge, subversive Wissensform, die sich [1] forensic-architecture.org/investigation/the-murder-of-halit-yozgat (Stand: 2. 12. 2022). aus Erfahrungen von einzelnen oder 16
kollektiven Zusammenhängen speist, Kontexten verbunden ist, die oft dass Denkmäler und Gedenkstätten die sich aus einer bestimmten, margi- nicht reflektiert werden, müssen wir eine Vergangenheit als abgeschlos- nalisierten Lebensposition generiert. auch das Verlernen lernen (vgl. Cast- sen beschreiben, die Diskussion ei- In einem hegemonialen Raum kann ro Varela/Heinemann 2017). Verler- nes politischen Kontexts für beendet das situierte Wissen eine andere Po- nen bedeutet keineswegs, dass das erklären? Wie kann ein Denkmal das sition einnehmen, diese benennen Gelernte vergessen oder gelöscht Geschehene verhandeln und zeigen, und offenlegen. Dieses Wissen bietet werden soll. Das Verlernen ist viel- dass wir eine Zukunft brauchen, uns daher eine andere Perspektive an. mehr eine Denk- und Analysekate- eine andere Wirklichkeit möglich ist. Eine Perspektive, die den dominan- gorie, um sich der eigenen Position ten Repräsentationspraktiken andere wie auch der Privilegien, der Lern- Halitplatz – Halitstraße Bilder, Darstellungen, Erzählungen quellen sowie der verkörperlichten und Analysen entgegensetzt und uns Annahmen und gespeicherten Vor- Am 1. Oktober 2012 benannte die andere Sicht- und Handlungsweisen urteile bewusst zu werden (vgl. Da- Stadt Kassel einen bis dahin namen- anbietet. Mit Handlungen aus dem si- nius/Jonsson/Spivak 1993). Spivak losen Platz offiziell „Halitplatz“ und tuierten Wissen können die gängigen bezeichnet Verlernen als eine de- stellte eine Stele mit einer Gedenk- Narrative verschoben und verändert konstruktive Praxis, die uns stetig tafel mit den Namen aller NSU-Op- werden, indem in die üblichen Er- über die Frage antreiben sollte, zu fer auf. Weitere Gedenktafeln gibt zählungen neue, starke und ermäch- analysieren, wie Wahrheiten herge- es heute in Dortmund, Nürnberg, tigende Fäden eingewebt werden. stellt werden (Spivak 1996: 25). Hamburg, München, Rostock, Kas- sel und Heilbronn. Schräg gegenüber İbrahim Arslan, der den rassisti- Doch wie lassen sich Gedenkorte vom „Halitplatz“ in Kassel, auf der schen Brandanschlag in Mölln 1992 imaginieren, die mehr als im öffent- anderen Straßenseite, befand sich überlebte, betont, dass die Opfer die lichen Raum in den Boden eingelas- das Internetcafé von Halit Yozgat – Hauptzeug*innen des Geschehenen sene Stelen sind? Wie können wir nur drei Häuser vom örtlichen Poli- sind. Somit rückt er die Wichtigkeit Mahnmale, Gedenkorte oder Mo- zeirevier entfernt. des Zuhörens in den Vordergrund, da numente als Orte der Erinnerung sich auf diese Weise eine politische denken, die nicht die Vergangenheit Die Straßenbahnhaltestelle „Phil- Form des Gedenkens performativ abschließen, sondern die Gegenwart lipp-Scheidemann-Platz“ in direkter im Akt des Zuhörens und Erzählens thematisieren und zugleich in die Zu- Nähe des nunmehrigen Halitplat- kollektiv herstellt und fortschreibt. kunft weisen, damit wir lernen und zes wurde ebenfalls in „Halitplatz“ Dieses Zuhören hat aber nichts mit zugleich verlernen? umbenannt und mit dem neuen dem neoliberalen Tool für ein erfolg- Namen – und im kleineren Schrift- reiches Leben zu tun. Das Zuhören, Eine poetische Definition des Ver- zug „Philipp-Scheidemann-Platz“ – das Zuhören-Wollen wie auch das lernens geben Elena Agudio und ausgeschildert. In der Straßenbahn Nicht-zuhören-Wollen, ist eine akti- Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: werden beide Namen durchgesagt. ve Handlung. Damit ist das Zuhören „Unlearning is not forgetting, it is neit- Auf dem Display in der Straßenbahn eine emotional-kognitive Handlung, her deletion, cancellation nor burning wird nur „Halitplatz“ angezeigt. die eine Grundvoraussetzung für eine off. It is writing bolder and writing sozial-politische Praxis des Sich-Ver- anew. It is commenting and questio- Seit dem Mord in Kassel forderte bindens und für die Solidarisierung ning. It is giving new footnotes to old nicht nur die Familie Yozgat die Um- darstellt. and other narratives. It is wiping off benennung der Holländischen Straße, the dust, clearing the grass, and cra- wo Halit Yozgat geboren worden und Das Lernen ist kein gradliniger cking off the plaster that lays above ermordet wurde, in „Halitstraße“. Bei Speicherprozess von Wissen. Für the erased. Unlearning is flipping the meinen Interviews bekam ich auf die das Lernen selbst ist das „Ver-lernen“ coin and awakening the ghosts. Un- Frage, warum diese Forderung als un- eine grundlegende Voraussetzung. learning is looking in the mirror and möglich bewertet werde, unterschied- Die postkoloniale Theoretikerin seeing the world.“ [2] liche Begründungen wie „die Straße ist Gayatri Chakravorty Spivak betrach- eine historische Straße“ oder „die Stra- tet Bildung als einen Prozess, der Grundsätzlich sind Fragen er- ße verweist auf die historische Verbin- aus Lernen und Verlernen zugleich laubt, ob Denkmäler und Geden- dung zwischen Kassel und Holland“. besteht, und verweist damit auf den korte geeignet sind, um rassistische dialektischen Aspekt von Bildungs- Gewalt zu verhandeln und die da- Würde diese Forderung umge- prozessen. mit verbundene Traumatisierung zu setzt, wäre die sehr lange Straße ein bewältigen. Wer hat ein Recht auf Para-Monument und die über 2.500 Aber was ist mit Verlernen gemeint? Erinnerung und wer nicht? Und vor Menschen, die direkt an der Straße Da Lernen immer mit hierarchischen allem: Wie können wir verhindern, leben, würden Tag für Tag mit der Re- alität und der Erinnerung leben, dass [2] The Long Night of Ideas in SAVVY Contemporary, 2016, savvy-contemporary.com (Stand: 2. 12. 2022). Halit – ein Bürger Kassels, ein Bru- [3] siehe auch Online-Ausstellung „Offener Prozess“, www.offener-prozess.net/spot-halitstrasse. der, ein Freund – ermordet wurde. [3] 17
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