125 Initiative Minderheiten

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125 Initiative Minderheiten
im rechts
            125
            EUR 5,50
            ISSN: 2306-9287

                              2022
                                 Winter
125 Initiative Minderheiten
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                               Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts
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                               bundeskanzleramt.gv.at
125 Initiative Minderheiten
Inhalt

                         125 »                                      04      Aushang
                                                                            Kurzmeldungen

                                                                     05     Editorial

                                                                            Gamze Ongan

                                                                    06      Stimmlage

                                                                            Hakan Gürses

                                                                08–11       Gibt es eine Globalisierung von Erinnerung?

                                                                            Ljiljana Radonić

                                                                12–14       Verborgenheit politisieren

                                                                            Jo Schmeiser
              Impressum
STIMME ist das vierteljährliche Vereinsblatt der Initiative     15–19       Gedenkpolitiken in der postmigrantischen
                                                                            Gesellschaft
Minderheiten (Verein zur Förderung des Zusammenlebens                       Ayşe Güleç
von Minderheiten und Mehrheiten).
Medieninhaberin, Verlegerin, Herausgeberin und Redaktion:

                                                                20–21
Initiative Minderheiten (Verein zur Förderung des Zusam-
                                                                            Queere Geschichte sammeln
menlebens von Minderheiten und Mehrheiten | ZVR-Zahl:
393928681) | Gumpendorfer Straße 15/13, 1060 Wien |
                                                                            Andreas Brunner
Tel.: +43 1 966 90 01 | office@initiative.minderheiten.at |
stimme@initiative.minderheiten.at

                                                                22–25
Chefredakteurin: Gamze Ongan
                                                                            Stimme-Talk
Redaktionelle Mitarbeit: Vida Bakondy, Beate Eder-Jordan,
mh, Jessica Beer, Raffaela Gmeiner, Cornelia Kogoj, Sabine
                                                                            Nadja Danglmaier und Daniel Wutti im Gespräch mit Cornelia Kogoj
Schwaighofer, Jana Sommeregger, Gerd Valchars, Vladimir
Wakounig
Kolumnen: Hakan Gürses, Erwin Riess
Grafisches Konzept, Artdirektion & Illustrationen: fazzDesign   26–29       Geschichtsschreibung anhand fragmentierter
                                                                            Erinnerungen
(Fatih Aydoğdu) | fazz@fazz3.net
                                                                            Christina Hollomey-Gasser und Tuğba Şababoğlu
Lektorat: Daniel Müller | www.syntext.at
Herstellung (Repro & Druck): Donau Forum Druck Ges.m.b.H.,
Walter-Jurmann-Gasse 9, 1230 Wien |
            office@dfd.co.at                                    30–31       Lektüre
            Lizenznehmer Österreichisches Umweltzeichen.
            Verlags- und Erscheinungsort: Wien |
            Verlagspostamt: 1060 Wien
Anzeigen: Ebru Uzun | office@initiative.minderheiten.at
Aboservice: Ebru Uzun | abo@initiative.minderheiten.at          32–33       Nachlese
Jahresabo: EUR 20,- Inland, EUR 30,- Ausland
(für Vereinsmitglieder kostenlos), Einzelpreis: EUR 5,50                    Melanie Konrad
Web: www.initiative.minderheiten.at
www.zeitschrift-stimme.at
 www.instagram.com/initiative_minderheiten                           34     Groll
Namentlich gezeichnete Artikel müssen nicht unbedingt die
Meinung der Redaktion wiedergeben.                                          Erwin Riess

Offenlegung gemäß §25 Mediengesetz: STIMME − Zeitschrift der Initiative Minderheiten ist das vierteljährliche Vereinsblatt der Initiative
Minderheiten (Verein zur Förderung des Zusammenlebens von Minderheiten und Mehrheiten) mit der grundlegenden Richtung gemäß §2
und §3 der Vereinsstatuten, die Kommunikation und das Zusammenleben von Minderheiten und Mehrheiten durch die Selbstdarstellung von
Minderheiten und ihren Organisationen, durch Interviews, Erfahrungsberichte, wissenschaftliche Beiträge, Buch-, Periodika- und Tonträger-
besprechungen, aktuelle Nachrichten und Veranstaltungshinweise bzw. -berichte auf medialer Ebene zu fördern. Die Initiative Minderheiten
(Verein zur Förderung des Zusammenlebens von Minderheiten und Mehrheiten) ist Medieninhaberin und Herausgeberin der Zeitschrift. Die
Finanzierung der Zeitschrift erfolgt durch öffentliche Subventionen, Mitgliedsbeiträge, Abonnements und freiwillige Spenden. Die Adresse
der Medieninhaberin und der Herausgeberin ist im Impressum angeführt.
125 Initiative Minderheiten
Aushang

Wir trauern um María Cristina Boidi
                                                                                                                                                          NS-Herrschaft aus eigener Erfahrung

                                                                                          1941              Santa Fé, Argentinien – 2022,
                                                                                                            Wien, Österreich
                                                                                                                                                          sprechen – oder von jenen Menschen
                                                                                                                                                          berichten, die im Holocaust ermordet
                                                                                                                                                          wurden. Was bleibt, sind neben literari-
                                                                                           Vorbild, Pionierin, Rebellin                                   schen Zeugnissen unzählige Video- und
                                                                                                                                                          Audiointerviews der Überlebenden –
                                                                                           Mitgründerin von LEFÖ – Beratung, Bildung                      sowie die Frage, wie Gesellschaften in
                                                                                           und Begleitung von Migrant*innen                               Zukunft mit dieser Erbschaft umgehen
                                                                                                                                                          wollen.
    Widerstandsmomente 2015 | Filmstill: Sophie Maintigneux

                                                                                           Danke für das kritische Vor-Denken und
                                                                                                                                                            Die Ausstellung „Ende der Zeitzeu-
                                                                                           leidenschaftliche Einfordern von Gerech-
                                                                                                                                                          genschaft?“ des Jüdischen Museums
                                                                                           tigkeit in der Gesellschaft und Politik.                       Hohenems und der KZ-Gedenkstätte
                                                                                                                                                          Flossenbürg ist nach der KZ-Gedenk-
                                                                                                                                                          stätte Flossenbürg, dem NS Doku-
                                                                                                                                                          mentationszentrum München, dem Jü-
                                                                                                                                                          dischen Museum Augsburg Schwaben
                                                                                                                                                          und der Stiftung Neue Synagoge Berlin
                                                                                                                                                          ab Januar 2023 im Haus der Geschich-
                                                                                                                                                          te Österreich zu sehen.

                                                                                                                                                            Die Ausstellung erkundet die komple-
                                                                                                                                                          xe Beziehung zwischen Zeitzeug:innen
                                                                                                                                                          und Interviewer:innen. Sie hinterfragt
                                                                                                                                                          die „Gemachtheit“ der Zeitzeug:in-
                                                                                                                                                          neninterviews und deutet Formen
                                                                                                                                                          erzählter Erinnerung und ihre gesell-
                                                                                                                                                          schaftliche Rolle seit 1945 vor dem
                                                                                                                                                          Hintergrund der aktuellen Veränderun-
                                                                                                                                                          gen. Ebenso werden Ansätze zu einem
Queer Museum Vienna @ VKM                                                                                    Ende der Zeit-                               zukünftigen, reflektierten Umgang mit
                                                                                                                                                          Zeugnissen thematisiert.
Ein Preis für ein Gastspiel                                                                                  zeugenschaft?                                Kuratiert von:
                                                                                                                                                           Anika Reichwald

V   on Jänner bis August 2022 war das
    Queer Museum Vienna (QMV) zu
Gast im Volkskundemuseum Wien. Ziel
                                                              Christine Baumann erhielt ebenso einen
                                                              Förderpreis für die Kunstzelle mit Pro-
                                                              gramm – eine ehemalige Telefonzelle, die
                                                                                                            IdesNS-Verbrechen
                                                                                                               n der Vermittlung der Geschichte der
                                                                                                                               und der Weitergabe
                                                                                                                 Gedenkens an nachfolgende Gene-
                                                                                                                                                          in Kooperation mit Miriam Bürer, Hanno
                                                                                                                                                          Loewy, Christa Schikorra und Jörg
                                                                                                                                                          Skriebeleit.
des Gastspiels war es, einen Ausblick                         seit 2006 Raum für künstlerische Installa-     rationen ist – vielleicht auch aufgrund
auf ein projektiertes, zukünftiges Haus                       tion und Intervention bietet und bisher von    der Unvorstellbarkeit des Geschehe-          Dauer:
für queere Kulturgeschichte und Kunst                         70 Künstler:innen gestaltet wurde.             nen – der Stellenwert der biografi-          27. Jänner bis 3. September 2003
in Wien zu geben. Man suchte unter an-                                                                       schen Erzählung oft höher als der von        Ort:
derem Antworten auf die Frage, wie sich                       Mit den von der Stadt Wien finanzierten        Dokumenten, Filmen, Exkursionen zu           Haus der Geschichte Österreich
queere künstlerische Arbeiten, Kultur                         Preisen der freien Szene will man darauf       den Tatorten oder Büchern.                   Neue Burg, Heldenplatz, Wien
und Lebensweise zur Volkskunde und                            aufmerksam machen, was „abseits von
deren Musealisierung verhalten. Für die-                      hoch subventionierter und institutiona-         Aus Altersgründen können jedoch             Gefördert von der Stiftung Erinnerung,
ses Projekt hat nun das Queer Museum                          lisierter Kultur stattfindet“. Insgesamt       nur noch wenige Überlebende der              Verantwortung und Zukunft (EVZ).
Vienna den Hauptpreis der freien Szene                        wurden heuer 54 Projekte zum Preis
Wiens 2022 erhalten. Und es gibt einen                        der freien Szene Wiens eingereicht. Alle
Ausblick auf ein für 2026 geplantes Haus                      Einreichungen wurden in einem Katalog
für queere Kulturgeschichte und Kunst                         präsentiert und können auch auf der            Märchen zum Innehalten
in Wien.                                                      Webseite der IG Kultur Wien online be-
                                                              trachtet werden.
Einer der beiden Förderpreise ging an das
Kollektiv Red Edition – Migrant Sex Wor-                      igkulturwien.net                              P  arvis Mamnun, Schauspieler, Regis-
                                                                                                               seur und Dramaturg, vor allem aber
                                                                                                            wunderbarer Erzähler orientalischer
                                                                                                                                                           Die von der Großmutter des Künstlers
                                                                                                                                                          mündlich überlieferte Geschichte „Das
                                                                                                                                                          Wasser des ewigen Lebens“ wird erst-
kers Group Theater und Performance                            queermuseumvienna.com
für das Stück City of Whores.                                 rededition.wordpress.com                       Märchen, feiert heuer zwei Jubiläen: 1962,   mals auf der aktuellen CD veröffentlicht.
                                                                                                             vor 60 Jahren, schloss er sein Studium
                                                                                                             am Wiener Reinhardt-Seminar ab. 1992,        Wir gratulieren herzlich zu den beiden
                                                                                                             vor 30 Jahren, gab er seinen ersten          Jubiläen!
                                                                                                             Erzählabend mit einem klassisch-persi-       www.parvismamnun.at
                                                                                                             schen Liebesepos in Wien.
                                                                                                               Aus diesem Anlass gibt der „Ent-
                                                                                                             schleuniger im besten Sinn“, wie der
                                                                                                             damalige Wiener Kulturstadtrat Peter
                                                                                                             Marboe Mamnun 2017 in der Festschrift
                                                                                                            „Freude am Erzählen“ nannte, ein Hörbuch
Foto: Iklim Doğan

                                                                                                             als Doppel-CD heraus. „Derwisch-Ge-
                                                                                                             schichten“, so der Titel, werden von Mam-
                                                                                                             nun gesprochen und von persisch-klas-
                                                                                                             sischer Musik und mit Liedern von Rumi,
                                                                                                             Saadi und Omar Khajjam (in Nachdichtung
                                                                                                             von Barbara Frischmuth) begleitet.
125 Initiative Minderheiten
Editorial

                           Erinnern heißt verändern. Unter dieser Maxime
                            hat sich die Initiative 19. Februar Hanau der
                            Erinnerungsarbeit für die neun Todesopfer des
                            rassistischen Anschlags 2020 verschrieben. Mit
                            dem selben Slogan überklebten jüdische Akti-
                            vist:innen 2021, am Jahrestag des November-
                            pogroms 1938, 23 nach Nazis benannte Wiener
                            Straßenschilder mit Namen von Widerstands-
                            kämpfer:innen.
                              Das Erinnern an Verbrechen der Mensch-                         Erinnerungsarbeit für die Opfer rechtsextremer Gewalt –
                            heit darf sich nicht in Pflichterfüllung, in der               Stichwort sogenannte NSU-Morde oder Hanau 2020 – wird
                           „Harmonie der Vergangenheitsbewältigung“[1]                     vor allem von Angehörigen und ihren Verbündeten geleistet.
                            erschöpfen. Der Sinn des Gedenkens kann nur                    Die Pädagogin und forschende Aktivistin Ayşe Güleç berichtet
                            in seinem Beitrag liegen, die Wiederholung der                 von Forderungen an eine angemessene Erinnerungspolitik.
                            Verbrechen, an die erinnert wird, zu verhin-                     Zu Erinnerungskulturen im Kärntner Grenzraum forschen
                            dern, „die Erinnerung an das Geschehene, an                    und publizieren Nadja Danglmaier und Daniel Wutti.
                            das Vergessene, an das stets Verschwiegene, an                 Cornelia Kogoj sprach mit ihnen über die Weitergabe von
                            die Ursachen und die Folgen, an das Davor und                  Traumata an die Nachfolgegenerationen und grenzüberschrei-
                            Danach zu nähren, zu pflegen, zu bewahren“.[2]                 tende Erinnerungsarbeit.
                                                                                             In institutionalisierten Archiven finden minorisierte Grup-
                                Im vorliegenden Schwerpunktheft kommen                     pen oft nur marginalisierten Raum. Der Historiker Andreas
                               Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen und                   Brunner, Co-Leiter von QWIEN – Zentrum für queere Ge-
                               Künstler:innen zu Wort, die sich aktiv für wür-             schichte, betont die Rolle selbstorganisierter Community-Ar-
                               dige Erinnerungskulturen engagieren.                        chive als Orte einer historischen Gegenerzählung.
                                                                                             Nicht zuletzt fasst Melanie Konrad in der Radio-Stim-
                                 Gibt es ein globalisiertes Erinnern? Das For-             me-Nachlese die Diskussionsveranstaltung „Ererbte Biogra-
                               schungsprojekt „Globalized Memorial Muse-                   fien im Land der Täter:innen“ mit Anna Goldenberg, Samuel
                               ums“ an der Österreichischen Akademie der                   Mago und Peter Schwarz zusammen.
                               Wissenschaften vergleicht weltweit 50 Muse-
Erinnern heißt verändern

                               en, die sich dem Zweiten Weltkrieg sowie den                In eigener Sache
                               Genoziden in Ruanda und im ehemaligen Ju-                     Mitte Oktober 2022 mussten wir uns mit einem Unterstüt-
                               goslawien widmen. Die Projektleiterin Ljiljana              zungsappell an Freund:innen und Verbündete der Initiative
                               Radonić beschreibt, wie die Art des Erinnerns               Minderheiten wenden.
                               mit der jeweiligen nationalen Identitätspolitik               Unser Hilferuf löste eine unbeschreibliche Welle an Solidari-
                               einhergeht.                                                 tätsbekundungen aus. In kürzester Zeit gewannen wir so viele
                                 Im Jahr 2016 begann der Aufbau eines Migra-               neue Mitglieder und Stimme-Abos, erhielten so viele Spen-
                               tionsarchivs in Innsbruck. Die Sozialanthropo-              den, sodass Sie nun dieses Heft, dessen Produktion ebenso
                               login Christina Hollomey und die Germanistin                in Gefahr war, in Händen halten können. Dafür sind wir sehr
                               Tuğba Şababoğlu, beide vom Dokumentati-                     dankbar.
                               onsarchiv Migration Tirol, berichten über die                 Viele wichtige NGOs, so auch die Initiative Minderheiten,
                               Herkunft der Bestände und die Unmöglichkeit                 sind von staatlichen Förderungen abhängig. „Minderhei-
                               einer lückenlosen Erzählung.                                tenpolitische Standpunkte haben einen Mehrwert für die
                                 Was will ich sehen? Und was will ich, ohne                Gesamtgesellschaft, vor allen Dingen im Verhindern von
                               es zu wissen, nicht sehen? Zwei von mehreren                Rechts- und autoritären Entwicklungen“, wie der Schriftstel-
                               Fragen, die laut der Filmemacherin und Künst-               ler und Aktivist der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung Erwin
                               lerin Jo Schmeiser beim politischen Erinnern                Riess festhält – und sein Alter Ego Groll unterstreicht: „Die
                               zu stellen sind.                                            Demokratie bedarf einer gesetzlich garantierten Förderung
                                                                                           von Widerspruch“ (Seite 34).
                                                                                             Davon sind wir aber noch weit entfernt und benötigen weiter-
                                                                                           hin Ihre Unterstützung. Spenden Sie bitte jetzt, abonnieren Sie
                                                                                           die Stimme, werden Sie Mitglied der Initiative Minderheiten.
                                                                                           Damit wir uns auch in Zukunft für die Stärkung von Minder-
                                                                                           heitenrechten einsetzen können.

                               [1]
                                   Joshua Schultheis: Erinnern heißt Verändern.
                               In: www.jüdische- allgemeine.de, 3. 2. 2022.
                               [2]
                                   Nevroz Duman und Ibrahim Arslan (2021): Von Mölln bis                           Wir bedanken uns sehr herzlich und
                               nach Hanau: Erinnern heißt verändern. In: Rechter Terror.
                               Warum wir eine neue Sicherheitsdebatte brauchen. Hg. v.
                                                                                                              hoffen auf ein Wiederlesen im neuen Jahr.
                               Heinrich-Böll-Stiftung und Amedeu Antonio Stiftung.                                    Gamze Ongan | Chefredakteurin
125 Initiative Minderheiten
Stimmlage                                                                                                                 Hakan Gürses

    Minoritäre Allianzen damals – und heute

 J        üngst veranstaltete die Initiative Minderheiten eine
          Tagung im Wiener Volkskundemuseum zum Thema
         „minoritäre Allianzen“. Unter diesem programmati-
  schen Namen schlägt die Organisation seit dem „Minderheiten-
                                                                      und die immer strikter werdenden „Fremden- und Aufenthalts-
                                                                      gesetze“ machten eine Art Vernetzung zum Selbstschutz er-
                                                                      forderlich. Auch hier zeigte sich die Notwendigkeit einer Allianz
                                                                      der Minderheiten. Doch wer sollte sich mit wem vernetzen?
  jahr 1994“ einen Orientierungsrahmen für politisches Handeln
  vor. Interessant war für mich auf der Tagung zu beobachten,            Die Initiative Minderheiten hatte bereits bei ihrer Gründung
  wie anders heute, nach knapp 30 Jahren, eine junge Generation       klargestellt: Unter dem Terminus Minderheit verstand man ne-
  von Minderheiten-Aktivist*innen diesen Terminus aufnahm. Wir        ben den autochthonen Volksgruppen durchweg auch soziale,
  hatten ihn jedenfalls in einer besonderen Zeit und politischen      sexuelle oder Religionsgruppen, denen Diskriminierung wider-
  Konstellation eingeführt.                                           fuhr – und Migrant*innen, die sogenannten neuen Minderheiten.

     Am Anfang der 1990er Jahre war die Welt plötzlich unipolar,        Diese Definition war allerdings für die Öffentlichkeit nicht
  es gab nur mehr den „Westen“, und für die außerparlamentari-        selbstverständlich. Auch ein Teil der Volksgruppen-Vertre-
  sche Politik schien die „Klasse“ als zentrale Achse von Kämpfen     ter*innen lehnte es ab, mit diesen Gruppen in einem Atemzug,
  ziemlich lädiert. Dafür bildeten die sogenannten neuen sozialen     geschweige denn unter einem gemeinsamen rechtlich-politi-
  Bewegungen nach und nach den Hintergrund neuartiger politi-         schen Terminus erwähnt zu werden. Auch das machte für uns
  scher Theorien und Organisationen. Viele partikulare emanzipa-      das Forcieren einer minoritären Allianz erforderlich: zur ge-
  torische Gruppen brachten ihre Forderungen in die politische        genseitigen Anerkennung diskriminierter Gruppen als Minder-
  Agenda ein, ohne dafür ein universal gültiges und zwingendes        heiten. (Zeit-)Historische Gemeinsamkeiten, Diskriminierung als
 „Gesetz“ vorweisen zu müssen. Es ging um ihre Rechte, und sie        gemeinsame Erfahrung, Notwendigkeit einer selbstbestimmten
  fanden die Legitimierung dafür in ihrer eigenen Geschichte der      Politik ... Diese Argumente führten wir für die Allianz ins Treffen.
  Diskriminierung und Unterdrückung. Kritik am Eurozentrismus,        Das wichtigste Argument war aber ein strukturelles.
  am kolonialen Erbe und dem Orientalismus ging mit allmählich
  entstehenden transversalen Verbindungen zwischen den so-              Allianzen können unterschiedliche Motive haben – etwa ein
  zialen Bewegungen einher.                                           normatives Motiv wie Solidarität; ein pragmatisches wie das
                                                                      Bündeln der knapp bemessenen Kräfte; ein strategisches
     Unterdessen war die österreichische Gesellschaft offiziell       wie der Wille, sich nicht spalten zu lassen, etc. Der wichtigste
  und öffentlich mit dem Hauptthema „Ausländer“ beschäftigt.          Beweggrund für die minoritäre Allianz war und ist jedoch aus
  Der politisch, medial sowie wissenschaftlich geführte Diskurs       meiner Sicht eine strukturelle Mengenlehre.
  über Migration, vor allem Migrant*innen, bestimmte die Tages-
  ordnung. Einen der Höhepunkte dieser polarisierenden Thema-           Das Wort „Minderheit“ verweist auf keine essenzielle Gemein-
  tik bildete wohl das „Ausländervolksbegehren“ der FPÖ unter         schaft mit besonderen Eigenschaften, sondern sie ist eine Ka-
  dem Titel „Österreich zuerst“, welches Anfang 1993 von fast         tegorie, die ein Verhältnis ausdrückt. Beide Seiten des Verhält-
  420.000 Personen unterschrieben wurde. Der erste Punkt lau-         nisses, die Minderheit wie die Mehrheit, können nur angesichts
  tete dabei: „Österreich ist kein Einwanderungsland.“ Die lautes-    der jeweils anderen Seite begriffen werden. Wenn eine Gruppe
  te Reaktion darauf kam von der frisch gegründeten Plattform         von Personen aufgrund verschiedener Herrschaftsbeziehungen,
  SOS Mitmensch: die Demonstration „Lichtermeer“ im Jänner            Machtstrategien, politischer Kalküle oder sozialer Mechanismen
  1993, an der rund 300.000 Personen teilnahmen.                      minorisiert wird, so wird die entsprechende Gegengruppe aus
                                                                      denselben Motiven majorisiert. Minderheit und Mehrheit sind also
    Davor und lange danach blieb hierzulande das paternalistisch      keine festen Gruppen oder Gemeinschaften, sondern Funktionen,
  ausgeprägte und anwaltschaftlich umgesetzte Hilfe-Konzept           die von wechselnden Personengruppen in wechselnden Verhält-
  ausschlaggebend. Eine Art „Licht ins Dunkel für ausländische        nissen ausgeübt werden. Eine queere Person kann im nationa-
  Mitbürger“ war die Normalität. Die Initiative Minderheiten          len/ethnischen Sinne der Mehrheit angehören und etwa bei der
  wollte just diese Anwaltschaft nicht für sich beanspruchen;         Diskriminierung von Migrant*innen mitspielen – und vice versa.
  die Idee war, eine Plattform bereitzustellen, auf der sich die
  Minderheiten selbst ausdrücken, ihre Anliegen thematisieren           Wenn ich potenziell Angehöriger einer Minderheit und einer
  und über ihre Gemeinsamkeiten, Überlappungen, ähnliche In-          Mehrheit zugleich sein kann, ist eine konsequente Politik der
  teressen und Ziele, aber auch Differenzen diskutieren sollten.      Minderheiten nur durch eine Allianz mit anderen Minderheiten
  Keine Minderheitenpolitik, sondern eine Politik der Minderheiten,   zu bewerkstelligen – dass ich also mit meinen potenziellen Geg-
  die auf einer minoritären Allianz gründete.                         ner*innen gemeinsam gegen eine Struktur kämpfe, welche auch
                                                                      Macht genannt werden kann. Das ist wohl nicht dasselbe, was
    25 Briefbomben, drei Sprengfallen, vier ermordete und 13          heute unter allyship verstanden wird.
  zum Teil schwer verletzte Menschen zwischen Dezember 1993
  und Dezember 1996, dieser Terror der „Bajuwarischen Befrei-            Kann jener gegenwärtige politische Zugang, der eine essenzi-
  ungsarmee“ (die sich am Ende als ein Einzeltäter entpuppen          elle Mehrheit (weiß, heterosexuell, dem Mittelstand angehörend,
  sollte) gegen Minderheitenangehörige und ihre Verbündeten so-       männlich ...) als quasi natürliche Gegnergruppe festlegt, mit der
  wie die zunehmend zum Rassismus neigende „Gesamtstimmung“           minoritären Allianz etwas anfangen?

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125 Initiative Minderheiten
»
125 Initiative Minderheiten
Ljiljana Radonić

Gibt es eine

Globalisierung
von

Erinnerung?
I  m Zeitalter der Globalisierung wird angenommen, dass historische Ereignisse auch in
   entfernten Ländern erinnert werden, und bei der Art, wie in zeithistorischen Museen und
Gedenkstätten mit traumatischen Ereignissen umgegangen wird, scheint es internationale
Trends zu geben. Der Holocaust diene als „negative Ikone“ oder als Vorbild für das Thematisieren/
Ausstellen anderer Massenmorde. Aber ist das so?

Das Projekt „Globalisierte Gedenk-        Den Ausgangspunkt bildet das          Genozide in Ruanda und
museen“ [1] untersucht 50 Museen       Verständnis von Museen als Flagg-        Bosnien-Herzegowina
auf vier Kontinenten. Der Fokus        schiffe nationaler Identitäts- und       ausstellen
liegt dabei auf Museen, die dem        Geschichtspolitik, die nie Geschichte,
Zweiten Weltkrieg gewidmet sind,       wie sie „wirklich“ war, „authentisch“      Dabei hat sich gezeigt, dass beim
mit außereuropäischem Schwer-          einfangen können. Denn Erinnerung        Ausstellen der neueren Genozide
punkt auf China und Japan, sowie       ist immer eine Art von Instrumen-        tatsächlich verschiedene Verweise
der Musealisierung der Genozide        talisierung von Geschichte für die       auf den Zweiten Weltkrieg und den
in den 1990er Jahren in Ruanda         (identitätspolitischen) Bedürfnisse      Holocaust zu finden sind. So haben
und Bosnien-Herzegowina. Inwie-        der Gegenwart. Es kommt dabei            ruandische Behörden zwei britische
weit übernehmen letztere Museen        darauf an, wie offen oder autoritär      Experten für Holocaust-Ausstellun-
Trends aus Holocaust-Museen oder       und wie nah am Stand der histori-        gen vom Aegis Trust mit der Ausstel-
begreifen die eigene Bevölkerung       schen Forschung die Vergangen-           lung im staatlich finanzierten Kigali
als die „neuen Juden von heute“?       heit in Demokratien einerseits und       Genocide Museum beauftragt. Wie
Um einen eurozentrischen Blick         autoritären Regimen andererseits         der Projektmitarbeiter Eric Sibomana
auf die verschiedensten kulturellen    verhandelt wird – und wie stark mar-     herausgearbeitet hat, erzählt die
Kontexte und Museen zu vermeiden,      ginalisierte Geschichten inkludiert      Ausstellung nicht nur die eigene
vergleichen ForscherInnen z. B. mit    oder ausgegrenzt werden. Zeithisto-      Geschichte, sondern enthält auch
ruandischem oder japanischem Hin-      rische Museen und Gedenkstätten          Abschnitte über den Massenmord
tergrund die Museen im jeweiligen      sind wichtig für die Aufarbeitung        an den Herrero in Namibia 1904–
Land untereinander und wir stellen     der Vergangenheit, Demokratieerzie-      1905, den Holocaust, Kambodscha
sie dann in den größeren Kontext der   hung und politische Bildung, aber sie    1975–1979 sowie „den Balkan“ in den
Frage nach der „Globalisierung der     sind – gerade auch deshalb – immer
Erinnerung“.                           politische Orte.                         [1]
                                                                                      www.oeaw.ac.at/projects/gmm (Stand: 2. 12. 2022)

08
125 Initiative Minderheiten
Wand mit Privatfotos im Kigali Genocide Museum | Foto: Eric Sibomana.

1990er Jahren. Auch die Ausstellung     welche die Enkelin des Dorffotogra-         mit Davidstern verteilt, und eins von
in der bosnischen Genozid-Gedenk-       fen ausfindig gemacht und dann dem          einem Mann mit einer weißen Arm-
stätte Srebrenica-Potočari wurde in     amerikanischen Museum übergeben             binde aus dem Bosnienkrieg. Die ser-
Zusammenarbeit mit „westlichen“         hatte. Die Srebrenica-Ausstellung           bische „Vernichtungs-Kampagne“ in
ExpertInnen, hier der niederländi-      thematisiert ferner die Leere, die          der bosnischen Stadt Prijedor habe
schen Gedenkstätte für das ehema-       der Genozid hinterlassen hat. Wäh-          zum ersten Mal seit der Nazi-Verord-
lige NS-Lager Westerbork, erarbeitet.   rend KZ-Gedenkstätten in früheren           nung für polnische Juden 1939 „eine
                                        Jahrzehnten die Opfer vor allem als         ethnische oder religiöse Gruppe so
  Beide Dauerausstellungen, in          im Kampf für die Freiheit Gefallene,        zur Vernichtung markiert“, so das
Kigali wie in Srebrenica, enthalten     als Helden oder Märtyrer begriffen,         bosnische Museum. Interessanter-
Elemente, die aus Holocaust-Museen      vermeiden Holocaust-Museen solche           weise findet der Vergleich nicht mit
bekannt sind, wie den Fokus auf in-     Sinnstiftungsversuche – und das             dem Schicksal der Jüdinnen und Ju-
dividuelle Schicksale der Verfolgten    dient in Srebrenica eben als Vorbild.       den aus Sarajevo statt, die ebenfalls
und ihre privaten Fotos aus der Zeit,                                               im Holocaust vernichtet wurden, son-
bevor sie zu Opfern wurden. So fin-       Die Ausstellungen in Kigali und           dern mit der globalen Negativikone
den sich in Kigali Wände voller sol-    in Srebrenica setzen nicht auf die          Warschauer Ghetto. Wenn die SerbIn-
cher Fotos, die Eric Sibomana zufolge   Präsentation der eigenen Opfer als          nen als die neuen Nazis von heute
dem Museum von Familienangehöri-        Juden von heute. Auf diese Strategie        dämonisiert werden, verstellt das je-
gen übergeben wurden. Diese Instal-     der Gleichsetzung setzt hingegen            doch den Blick darauf, dass im Bosni-
lation erinnert stark an den „Tower     das private Museum of Genocide              enkrieg nicht nur SerbInnen, sondern
of Faces“ im US Holocaust Memorial      and Crimes Against Humanity in              auch KroatInnen und BosniakInnen
Museum – ebenfalls eine Wand vol-       Sarajevo. Eines der ersten Exponate         bewaffnet gekämpft und auch Ver-
ler privater Fotos aus dem 1941 von     zeigt zwei Fotos nebeneinander: eins        brechen begangen haben, wenn
den Nazis ausgelöschten jüdischen       von einem jüdischen Jungen aus dem          auch keinesfalls in einem mit dem
Dorf Eišiškės im heutigen Litauen,      Warschauer Ghetto, der Armbinden            serbischen Genozid vergleichbaren

                                                                                                                                    09
125 Initiative Minderheiten
Weiblicher Schindler im Pekinger Museum of the War of Chinese People's Resistance against Japanese Aggression | Foto: Markéta Bajgerová.

Ausmaß. Zusammenleben im heu-                 André Hertrich hat gezeigt, dass das                     aus also als einen Ausdruck der
tigen Bosnien wird durch solch                Thema in Japan in den staatstragen-                     „Globalisierung der Erinnerung“,
eine Dämonisierung erschwert. In              den Museen nach wie vor tabuisiert                       jedoch vor dem Hintergrund der
den Museen über die Genozide der              ist und es sich vor allem das klei-                      aktuellen inländischen identitäts-
1990er Jahre finden sich also sowohl          ne private Women Action Museum                           politischen Bedürfnisse.[3]
Gleichsetzungen mit dem Holocaust,            in Tokyo zum Thema gemacht hat
die über entscheidende Unterschiede          – mithilfe der bereits bekannten Mu-                        Verweise auf den Holocaust fin-
hinwegsehen, als auch die explizite           sealisierungstechniken, wie einer                        den sich in Japan und China auf
Vermeidung solcher Gleichsetzungen            Wand voller Privatfotos der Frauen                       mehreren Ebenen. Erstens gibt es
unter Einsatz musealer Zugänge, die           als heutige Überlebende.[2] Markéta                      Museen, Ausstellungen und Ge-
Holocaust-Museen zum Vorbild neh-             Bajgerová Verly hat im Rahmen des                        denkorte, die dem Holocaust gewid-
men, um sinnloses individuelles Leid          Projekts herausgearbeitet, dass in                       met sind. In Japan dokumentierte
und Leere auszustellen.                       den letzten Jahren – viel später als                     André Hertrich etwa das Fukuyama
                                              z. B. in Korea – die Erinnerung an                       Holocaust Education Center, das
Den Zweiten Weltkrieg                         die „comfort women“ auch in Chi-                         Auschwitz Peace Museum in Shira-
und Holocaust in China                        na Einzug gehalten hat. Sie deutet                       kawa oder die protestantische Anne
und Japan ausstellen                          das vor allem im Kontext der chi-                        [Frank]'s Rose Church in Amagasaki,
                                              nesischen Bemühungen um Aner-                            in der Asche aus Auschwitz und Ma-
   Das internationale Projektteam             kennung der „comfort stations“ als                       jdanek im Altar aufbewahrt wird.[4]
untersucht auch, wie der Zweite               UNESCO-Weltkulturerbe – durch-                           In China untersucht Bajgerová Verly
Weltkrieg in China und Japan aus-
gestellt wird sowie ob sich dort               [2]
                                                   André Hertrich: „We would like to see who was responsible for the system of Japan's military
                                               sexual slavery”: The Representation of Japanese Perpetrators in Exhibitions on ‚Comfort Women‘,
ebenfalls internationale Referenzen,           Vortrag bei der 24th Asian Studies Conference Japan (ASCJ) vom 2. 7. 2022.
insbesondere auf den Holocaust, fin-           https://ascjapan.org/2022-ascj-conference-schedule (Stand: 2. 12. 2022).
den. Ein Thema, das sowohl in Ko-             [3]
                                                  Markéta Bajgerová Verly: Survivors, victims and soldiers as figures of nationalism. Representa-
                                              tions of women in the War of Resistance against Japan museums in mainland China, in: East Asian
rea, Japan und China als auch von             Journal of Popular Culture, 8:2 (2002), 291–309.
dort ausgehend im „Westen“ Ein-                [4]
                                                   Die globale Verbreitung von Asche aus den Vernichtungslagern untersucht in unserem Projekt
gang in die Debatten gefunden hat,             Zuzanna Dziuban.
ist jenes der sogenannten „comfort                   Dieser Trend ist aktuell auch im zunehmend autoritären Polen und Ungarn zu beobachten.
                                               [5]

women“, der von der japanischen                 “‘China's Schindler’ honored in Shanghai Jewish museum”, in: China Daily, 2. 9. 2016,
                                               [6]

                                               www.chinadaily.com.cn (Stand: 2. 12. 2022).
Armee im Zweiten Weltkrieg ge-                [7]
                                                  Hometown of Japan diplomat who saved 6.000 Jews to seek UNESCO listing, in: Japan Times,
haltenen Sexzwangsarbeiterinnen.              18. 6. 2015, www.japantimes.co.jp (Stand: 2. 12. 2022).

10
etwa die im Pekinger Museum of the         der Musealisierung von Krieg und       kann. Auf den Holocaust wird in den
War of Chinese People's Resistance         Massensterben. Während etwa in         hier untersuchten vier Ländern jedoch
Against Japanese Aggression 2013           der alten Ausstellung im Hiroshima     auf verschiedenste Weise verwiesen
eingerichtete temporäre Ausstellung        Peace Memor ial Museum mehr           – vom Vorbild für die Musealisierung
über Auschwitz, die den Eindruck           grauenerregende Fotos von Skelet-      der eigenen Leiderfahrung bis hin
erweckt, China habe bei der Rettung        ten enthalten waren, setzt die 2019    zu explizitem Verständnis von der
europäischer Jüdinnen und Juden            überarbeitete Dauerausstellung         Wir-Gruppe als den „neuen Juden“
eine herausragende Rolle gespielt.         nun vermehrt auf individuelle Ge-      im bosnischen Kontext. Jeder Erinne-
                                           schichten von Überlebenden sowie       rungstopos wird letztlich so verwendet,
  Diese Betonung chinesischer oder         Namen, Objekte und Privatfotos der     wie es für die nationale Identitätspoli-
japanischer „JudenretterInnen“[5] ist      Opfer vor dem Atombombenabwurf.        tik gerade sinnvoll erscheint – und ist
auch auf der zweiten Ebene anzu-           In China nannten die MacherInnen       daher ein Politikum.
treffen, in Dauerausstellungen und         der neuen Dauerausstellung der
Debatten über den Zweiten Welt-            Nanjing Massacre’s Memorial Hall
krieg im Allgemeinen, in denen der         das israelische Holocaust-Museum
Holocaust nur am Rande vorkommt.           Yad Vashem als Vorbild. Wie in der
Diese RetterInnen werden vielfach         „Halle der Namen“ in Jerusalem fin-     Ljiljana Radonić leitet am Institut für Kulturwissen-
als „chinesische“ oder „japanische         den sich auch hier nun Ordner mit      schaften und Theatergeschichte der Österrei-
                                                                                  chischen Akademie der Wissenschaften ein vom
Schindler“ bezeichnet, auch wenn           den Namen der Opfer sowie eine         European Research Council (ERC) finanziertes
es sich im Gegensatz zum deutschen         Wand mit ihren Privatfotos.            Projekt über „Globalisierte Gedenkmuseen“. 2021
Besitzer einer Emaille-Fabrik in Kra-        All diese Beispiele zeigen, dass     erschien ihre Habilitation „Der Zweite Weltkrieg in
                                                                                  postsozialistischen Gedenkmuseen. Geschichtspolitik
kau, Oskar Schindler, nicht um Un-         durchaus von einer „Globalisierung     zwischen der ‚Anrufung Europas‘ und dem Fokus
ternehmer handelte, die Jüdinnen           der Erinnerung“ gesprochen werden      auf ‚unser‘ Leid.“ De Gruyter 2021 (Open Access).
und Juden als ZwangsarbeiterInnen
anforderten und so retten konnten.

   So wird, wie Bajgerová Verly he-                  Für einen neuen, anderen
 rausgearbeitet hat, John Rabe, der                  FürFür
                                                         einen
                                                            einen
                                                                neuen,
                                                                  neuen,
                                                                       anderen
                                                                          anderen
 deutsche Vertreter von Siemens                           Blick
                                                         Blick
                                                            Blick
                                                                 auf
                                                               aufauf
                                                                     die
                                                                   diedie
                                                                          Welt
                                                                       Welt
                                                                          Welt
 in Nanjing, der während des Nan-
 jing-Massakers 1937 eine inter-
 nationale Schutzzone in Nanjing
 errichtete, von dem seiner Person
 gewidmeten Museum in seiner frü-
 heren Residenz als der „Schindler
 von Nanjing“ bezeichnet. Auch die
 chinesisch-belgische Wissenschaft-
 lerin Qian Xiuling, die in Belgien
 ihre noch aus China stammenden
 Kontakte zu einem Nazi nutzte, um
 politische Gefangene zu retten, wird
 im Pekinger Widerstandsmuseum
 als „weiblicher Schindler“ bezeich-
 net. Der chinesische Generalkon-
 sul in Wien, Ho Feng-Shan, der
 Jüdinnen und Juden mit Visa für
 Schanghai das Leben rettete, gilt
 ebenfalls als „Chinas Schindler“.[6]
 Als „Japans Schindler“ gilt Chiune
 Sugihara, der als japanischer Kon-
 sul in Litauen rettende Visa ausstell-
 te. [7] Filme wie Steven Spielbergs            Aktivist*innen,
                                                  Aktivist*innen,
                                                                Journalist*innen,
                                                                  Journalist*innen,
„Schindlers Liste“ von 1993 haben
 Holocaust-Verweise zu einem glo-               Wissenschaftler*innen
                                                  Wissenschaftler*innen
                                                                      ausaus
                                                                          demdem
 balen Phänomen gemacht.                      Aktivist*innen,
                                                Globalen
                                                  Globalen
                                                         SüdenJournalist*innen,
                                                           Süden
                                                               eröffnen
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                                                                          uns
  Die dritte Ebene, auf der in Chi-            Wissenschaftler*innen
                                                     neue
                                                       neue  Einsichtenaus dem
                                                          Einsichten
                                                                                                                                          Anzeige

na und Japan implizit auf den Ho-
locaust verwiesen wird, ist die Art              Globalen Süden eröffnen uns
                                                              neue Einsichten                                                      11
Jo Schmeiser

          Verborgenheit
                                         politisieren
Perhaps the immobility of the things that surround us is forced upon them by our conviction that
they are themselves and not anything else, by the immobility of our conception of them. For it
always happened that when I awoke like this, and my mind struggled in an unsuccessful way to
discover where I was, everything revolved around me through the darkness: things, places, years. [1]

M       arcel Proust liegt im Bett und träumt diese Zeilen im verdunkelten Zimmer, stelle ich
        mir vor. Er diktiert den Text, weil er zu schwach ist, ihn selbst aufzuschreiben. Eine
meist ungenannte Frau, Céleste Albaret, kümmert sich um ihn. Sie pflegt ihn, kocht, macht
sein Zimmer sauber, wie ich erst kürzlich erfahre. Ordnet auch seine Manuskripte. Simone
Bader und ich wissen das noch nicht, als wir das Proust-Zitat unserem Dokumentarfilm Things.
Places. Years. über Jüdische Frauen in London voranstellen.[2] Deshalb noch einmal, mit dieser
Information, hier in der Stimme.

Politisches Erinnern braucht als                   Als wir Katherine Klinger anrufen                  Familiengeschichte beschäftigt habe.
Technik die Wiederholung. Wieder                   und fragen, ob sie eine der Protago-               Mein Engagement ist nicht frei von
und wieder muss das, was es zu                     nistinnen unseres Films sein will,                 persönlicher Verstrickung in Ge-
erinnern gilt, neu überlegt, gezeigt               sagt sie, dass sie eine unmittelbare               schichte, von unbewusster Bearbei-
und debattiert werden. Die Formen                  Aggression uns gegenüber spürt. Ein                tung und Verdrängung. Everything I
des Zeigens und Erinnerns müssen                   wichtiges Gefühl, über das sie gerne               have done in my life I have done for
kritisch untersucht werden. Aber                   sprechen will, wenn wir uns treffen,               myself, wird Katherine Klinger später
vor allem anderen ist das vielleicht               sagt sie noch, bevor wir einen Ter-                sagen, seither mein Leitsatz für kri-
wichtigste Moment, sich die eigene                 min ausmachen und das Telefonat                    tische Selbstreflexion im politischen
Geschichte und gesellschaftliche                   beenden. An immediate suspicion,                   Engagement.
Positionierung, von der aus erinnert               aggression and a need to test you
wird, genauer anzuschauen und sie                  out – as to who exactly are you. Die-              Ein Mann läuft bloßfüßig über den
bei der Arbeit über die Vergangenheit              ser Satz stellt mein Weltbild auf den              Asphalt. Ich höre ihn atmen, er läuft
mitzudenken. Was will ich sehen?                   Kopf. Ich bin politisch, engagiere                 und läuft, und ich frage mich, wo
Was kann ich sehen? Was kann ich,                  mich, setze mich mit der Vergangen-                seine Schuhe sind und ob das Lau-
ohne den Blick von anderen, nicht                  heit auseinander. Und trotzdem. Es                 fen auf dem harten Untergrund nicht
sehen? Und was will ich, ohne es zu                ist mir entgangen, dass ich mich mit               schmerzhaft ist. Das andauernde und
wissen vielleicht, nicht sehen?                    dem Nazismus abseits der eigenen                   sich wiederholende Bild des Laufens
                                                                                                      mit dem Atmen des Läufers ist der
[1]
    Marcel Proust, Remembrance of Things Past: 1, translated by C. K. Scott Moncrieff and Terence     Anfang von Jonathan Perels Doku-
Kilmartin, London 1981:6.
                                                                                                      mentarfilm Camuflaje, [3] in dem der
[2]
    Things. Places. Years., 70 Min., A/GB 2004. Regie: Klub Zwei, Simone Bader, Jo Schmeiser; Kame-
ra: Anita Makris, Daniel Pöhacker, Rainer Egger; Ton: Daniel Pöhacker; Schnitt: Maria Arlamovsky;     Protagonist Félix Bruzzone sich das
Produktion: Amour Fou, Alexander Ivanceanu, Gabriele Kranzelbinder; Vertrieb: sixpackfilm.            Areal des Campo de Mayo erschließt,
    Camuflaje, 93 Min., AR 2022. Regie, Drehbuch: Jonathan Perel; Kamera: Joaquin Neira; Ton:         es sich durch Gespräche mit anderen
[3]

Andrés Marks, Sebastián Lipszyc; Schnitt: Pablo Mazzolo; Produktion: Alina Films, Off the Grid;
Vertrieb: Compañia de Cine.                                                                           Personen, denen er begegnet und

12
Widerstandsmomente | Foto: Jasmin Trabichler

mit denen er ein Stück des Weges        Erde an Touristen und Touristinnen.        die Verborgenheiten, die bei der Ar-
gemeinsam geht, stehenbleibt, wei-      Félix Bruzzone fragt, ob das funkti-       beit mit Migrantinnen, Kolleginnen,
terläuft, vergegenwärtigt. Auf dem      oniert und ob sie davon leben kann.        Freundinnen auftauchen, sind wie in
Campo de Mayo nahe Buenos Aires         Sie hat schon vieles probiert, antwor-     Camuflaje Tarnungen und Wahrhei-
wurden 1976–1983 unter der argen-       tet ihm die Frau in der Kapuzenjacke.      ten zugleich. Eine Mutter, die bei ei-
tinischen Militärdiktatur Tausende      Aber ja, es funktioniert, sie bereitet     nem Autounfall verunglückt, als ich
eingesperrt, gefoltert und ermordet.    die Erde auf, füllt sie in Glasröhrchen,   drei Monate alt bin. Eine Oma, bei der
Viele von ihnen sind Desaparecidos      benennt diese und erzählt den Käufe-       ich die ersten Jahre aufwachse. Ein
und Desaparecidas, Verschwunde-         rinnen und Käufern, wo sie die Erde        Vater, der nach einer Gehirnblutung
ne, deren familiäre, freundschaftli-    gefunden hat. Erzählt ihnen die Ge-        neu sprechen und schreiben lernt.
che und politische Kontexte bis heute   schichte des Campo de Mayo. Wie            Ein Opa, der ein begeisterter Nazi
nicht wissen, wo und wie sie starben.   ein Stück der Berliner Mauer, sagt sie.    ist. Eine Mutter, die ich erst mit vier
                                        Der Film lässt keinen Zweifel daran,       Jahren kennenlerne. Ihre Großmutter
Félix Bruzzone war drei Monate alt,     dass wir eine Schauspielerin sehen.        überlebt das KZ Ravensbrück. Großi
als seine Mama verhaftet und auf den    Er lässt uns darüber nachdenken,           schaut auf uns Kinder, wenn die
Campo de Mayo gebracht wurde. Wir       wie wir uns zu dem Geschehenen in          Eltern nicht da sind, und schimpft,
begegnen wirklichen Personen, die       Beziehung setzen. Betrifft es uns und      wenn wir ein kapitalistisches Eis
heute auf diesem Areal Dinge tun.       wie sind wir betroffen? Wenn wir et-       am Stiel kaufen. Die Jacke, die Großi
Überlebenden, einem Naturforscher,      was selbst nicht erlebt haben? Wenn        für ihre Tochter Mila 1941 im Poli-
einer Künstlerinnengruppe. Ihre Ge-     dieses Etwas vor 80 Jahren war?            zeigefängnis in Graz strickt, ist der
schichten sind wahr und Jonathan        Wenn unsere Familie zu den Tätern          Ausgangspunkt für meinen Doku-
Perel dokumentiert sie für uns. Aber    und Täterinnen gehörte? Wenn …?            mentarfilm Widerstandsmomente
wir treffen mit Félix Bruzzone auch     Was hat mich eigentlich in den Film        über Frauen im Widerstand gestern
auf erfundene Personen. Sie wurden      geführt, in dieses Gestrüpp aus Ge-        und heute.[4]
geschrieben, um uns Geschichten zu      genwart und Vergangenheit, durch
erzählen, die möglich sein könnten      das sich Félix Bruzzone kämpft?            María Cristina Boidi, eine Protago-
und es vielleicht auch sind, wären                                                 nistin des Films, setzt sich zu Anna
Regisseur und Protagonist zur rich-     Ich trage mehrere Geschichten mit          Čadia in Beziehung und findet Un-
tigen Zeit am richtigen Ort mit der     mir, in mir. Welche Bedeutungen            vergleichbarkeiten, Unterschiede,
Kamera gewesen. Fiktion nicht als       ich ihnen gebe, geben kann, liegt bei      aber auch Berührungspunkte. Anna
Phantasie, sondern als Entfaltung       mir und der Bereitschaft, unter dem        Čadia ist im kommunistischen Wi-
der Wirklichkeit, hat Rúbia Salgado     Blick der anderen auch Unreflektier-       derstand gegen die Nazis aktiv. María
das einmal genannt.                     tes, Unbeabsichtigtes anzuerken-           Cristina Boidi engagiert sich in der
                                        nen. Die Geschichten sprechen auf          Gewerkschaft Trabajadores de la
Eine Frau sammelt Erde auf dem          der Couch und auf dem Schreibtisch         Educación und wird 1975 in Santa Fe
Campo de Mayo. Sie verkauft die         miteinander, gegeneinander, und            verhaftet und gefoltert. 1979 verlässt

                                                                                                                               13
sie Argentinien mit einem Visum für
Österreich, das ihre Familie organi-
sieren kann. Bis zuletzt weiß sie nicht,
ob das Flugzeug wirklich nach Wien
fliegt.[5] María Cristina Boidi bemerkt,
dass Anna Čadia immer wieder von
Glück spricht. Im Widerstand, in der
Haft, im KZ. Wenn sie etwas für ande-
re, aber auch für sich erreichen kann.
Widerstandsmomente erklärt nicht,
dass Anna Čadia Großi ist und zu mei-
ner Familie gehört. Ich will sie nicht
vereinnahmen, es mir leicht machen,
indem ich mich auf der richtigen Seite
zeige. Das antibiografische Erzählen
ermöglicht noch etwas. Ich kann
eine kollektive Geschichte des Wider-
stands zeigen und Frauen in den Film
aufnehmen, die nicht überlebt haben.
Von denen nichts mehr da ist außer
geheimen Nachrichten auf winzigen
Stücken Stoff oder Papier.[6] Das anti-
biografische Erzählen ist außerdem
ein Hoffnungsträger – dass wir Zu-
sammenhänge erschaffen und gestal-
ten können, anstatt unveränderbar in
sie hineingeboren zu werden.

Die ganze Stadt „hasst die Poli-                                                                                Klub Zwei | Things. Places. Years. | 2004

zei“. Auch ÖVP, Nazis, steht dane-
ben. Isabella Burtschers Kurzfilm                     angegriffen. Sie würde durch die kri-           Ausdruck der Abwehr von eigenen
Ganz Wien [7] findet innen und außen                  tischen Stimmen im Off „Empathie                strukturellen Verstrickungen in Ras-
statt. Mehrmals sehen wir im Stadt-                   mit der Polizei“ erzeugen oder sogar            sismus und Gewalt. Ganz Wien reicht
raum dasselbe Graffiti. Personen ge-                  mit der Polizeigewalt auf der gezeig-           weit über eine Auseinandersetzung
hen vorbei und ihrer Arbeit nach. Im                  ten Demonstration. Ich bin nicht die-           mit der Polizei hinaus. Der Film wirft
Off zwei Stimmen, die wie die Sprayer                 ser Ansicht. Wenn der Widerstand                die unangenehme Frage auf, wo wir
und Sprayerinnen anonym bleiben.                      gegen unmenschliche Befehle zu                  Teil einer Institution sind und ihre
Ein ehemaliger Polizist erzählt vom                   blühen beginnt und die Selbstkritik             Politik, oder eben auch ihre Gewalt,
Unbehagen, Menschen um fünf Uhr                       in der Polizei grassiert, dann zeigt            mittragen und selbst ausüben.
Früh aus dem Bett zu holen, um ihre                   das doch, dass Macht und Gewalt
Papiere zu kontrollieren. Eine Po-                    keine unanfechtbaren Blöcke sind.               Vielleicht entsteht die Unbeweglich-
lizistin ist nahe daran, den Job zu                   Dort sitzen Menschen, deren Zweifel             keit der Dinge, die uns umgeben, nur
kündigen. Sie beschreibt, wie es „oft                 man nähren kann, vermehren viel-                aus der festen Überzeugung, dass
erst richtig losgeht“, wenn ein schutz-               leicht. Das lässt mich aufatmen und             sie so und nicht anders sind, aus
suchendes Opfer zur Polizei flüchtet.                 aufleben.                                       der Unbeweglichkeit unserer Vor-
Und wie klargemacht wird, dass „du                                                                    stellung von ihnen. Verborgenheit
nie mehr die Füße auf den Boden                       Der Reflex, böse, rassistische Poli-            politisieren heißt also, unsere Vor-
kriegst, wenn du einen Kollegen aufs                  zeibeamte hören zu wollen, nicht                stellung von den Dingen zu mobili-
Papier haust“, ihn anzeigst. Dazwi-                   aber denkende und mit sich und der              sieren, sie aufzudehnen, um neuen
schen Bilder der Exekutive bei einer                  Institution hadernde, auch für die              Wahrnehmungen und Erkenntnissen
Demonstration gegen Abschiebung.                      demokratischen Rechte von Verhaf-               Platz zu machen und sie mit anderen
Isabella Burtschers Film wird auch                    teten kämpfende Polizeibeamte, ist              zu diskutieren.
[4]
    Widerstandsmomente, 98 Min., A 2019. Regie: Jo Schmeiser, Bildgestaltung: Sophie Maintigneux;     Jo Schmeiser lebt und arbeitet in Wien.
Ton: Nora Czamler; Montage: Michael Palm; Produktion: Peter Janecek, Plaesion Film; Vertrieb:
sixpackfilm.                                                                                          Ihre Arbeiten entstehen oft in kollektiven
                                                                                                      Kontexten. Der Dokumentarfilm Widerstands-
[5]
    Faika El-Nagashi, María Rosa Pérez Abellá (Hg.): Wenn du nicht kämpfst, bist du verloren! / ¡Si   momente gewann die Austrian Competition
no luchas, estás perdida!, Wien 2021.
                                                                                                      von This Human World 2019. Die Website für
[6]
    Johanna Mertinz, Winfried Garscha (Hg.): „Mut, Mut – noch lebe ich.“ Die Kassiber der Elfriede    Jugendliche www.widerstandsmomente.at
Hartmann aus der Gestapo-Haft, Wien 2013.                                                             wurde mit dem Hans-Maršálek-Preis 2022
[7]
      Ganz Wien, 17 Min., A 2022. Regie, Kamera, Ton, Montage, Produktion: Isabella Burtscher.        ausgezeichnet.

14
Ayşe Güleç
 Siegerprojekt des Kunstwettbewerbs „Für eine offene und freiheitliche Gesellschaft“:

                                                                                        Gedenkpolitiken
„86° (WALTER HALİT)" von Natascha Sadr Haghighian| Quelle: Initiative 6. April

                                                                                                                                                   in der
                                                                                        postmigrantischen
                                                                                                                           Gesellschaft
                                                                                                                     Migrantisch situiertes Wissen
                                                                                                                für eine antirassistische Bildungspraxis

                                                                                        S   ind Denkmäler und Gedenkorte geeignet, um rassistische Gewalt zu verhandeln und die
                                                                                            damit verbundene Traumatisierung zu bewältigen? Wer hat ein Recht auf Erinnerung und
                                                                                        wer nicht? Sind Denkmäler und Gedenkstätten da, um eine Vergangenheit als abgeschlossen zu
                                                                                        beschreiben? Wie kann ein Denkmal zeigen, dass wir eine andere Zukunft brauchen?

                                                                                          Die Mordserie des sogenannten        – so auch an den EU-Außengrenzen         Wirkmacht in der Gesellschaft hat.
                                                                                        Nationalsozialistischen Untergrunds    – zu verhindern. Am Beispiel des         Jedoch kann die Geschichte der Ta-
                                                                                        (NSU) an neun post-migrantischen        NSU-Komplex werden die verkoppel-       ten des NSU-Komplexes nicht ohne
                                                                                        Kleinunternehmern, einer Polizistin     ten Wirkungsweisen von Alltagsras-      den Widerstand der Angehörigen
                                                                                        sowie mindestens drei Bombenan-         sismus, institutionellem Rassismus      der Mordopfer, nicht ohne den Wi-
                                                                                        griffe stellen einen wichtigen Kno-     und strukturellem Rassismus deut-       derstand der Überlebenden der Bom-
                                                                                        tenpunkt dar, der eingebettet ist in    lich. Rassismus ist eine Gewaltform,    benangriffe erzählt werden.
                                                                                        eine lange Geschichte von rassisti-     die auf struktureller Ebene in staat-      Daher widmet sich der folgende
                                                                                        scher Gewalt in postkolonialen und      liche Apparate und in Gesetze ein-      Text den Forderungen und Erwar-
                                                                                        postfaschistischen Verhältnissen        gebettet ist. Nach den NSU-Morden       tungen der Angehörigen bezüglich
                                                                                        Ost- und Westdeutschlands.              waren an den rassistischen Ermitt-      einer angemessenen Erinnerungspo-
                                                                                                                                lungen gegen die Betroffenen auch       litik und thematisiert exemplarisch
                                                                                          Mit dem Begriff NSU-Komplex soll      weitere Behörden wie z. B. Finanz-      ihren Bedeutungswechsel an kon-
                                                                                        deutlich gemacht werden, dass die       ämter und einige Medien beteiligt,      kreten Beispielen der Städte Kassel,
                                                                                        Taten des NSU durch Medien, Insti-      die gegen die trauernden Angehöri-      Köln und Hanau.
                                                                                        tutionen wie Ermittlungsbehörden,       gen arbeiteten. Ermittlungsbehörden
                                                                                        Verfassungsschutzämter und Politik,     nutzten fingierte Beweismittel und        Spätestens nach dem Mord an
                                                                                        aber auch durch die Öffentlichkeit      setzten die Angehörigen unter Druck,    Halit Yozgat am 6. April 2006 in
                                                                                        unterstützt wurden – begleitet von      sie wurden verdächtigt, gedemütigt      Kassel wussten die Angehörigen der
                                                                                        einer strukturellen Empathielosig-      und somit innerhalb ihrer Commu-        Mordopfer der NSU-Mordserie und
                                                                                        keit und Ignoranz. Rassistische Kon-    nitys isoliert.                         ihre Communitys – wie auch die
                                                                                        junkturen sind verbunden mit einer                                              Überlebenden des Bombenangriffs
                                                                                        staatlichen Regulierungspolitik, die    Die Geschichte des NSU zeigt, dass      in der Keupstraße in Köln –, dass sie
                                                                                        versucht, Migration in Krisenzeiten    Rassismus eine strukturierende           alle gemeint und bedroht waren. Nur

                                                                                                                                                                                                          15
einen Monat nach dem Mord in Kas-
sel nahmen Eltern von Halit Yozgat
den Kontakt zu den Angehörigen von
Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık
auf und organisierten zusammen die
Demonstration unter dem Titel „Kein
nächstes Opfer“. Trotz kollektiven
Auftretens und Artikulation von über
3.000 Menschen aus ausschließlich
migrantischen Communitys wurde
diese Demonstration von der soge-
nannten Dominanzgesellschaft nicht
wahrgenommen. Berichterstattun-
gen in den Medien fanden kaum statt.

   Ein solches Misslingen von Ver-
ständigung und Wahrnehmung ist
nicht auf die mangelnde Artikula-
tionsfähigkeit der Marginalisierten
zurückzuführen, denn über 3.000
Menschen wussten, was vorging.
Die Politikwissenschaftlerin Nikita
Dhawan argumentiert hierzu, dass
es wichtiger sei, „[...] die Unfähig-
keit der ‚Dominaten‘ zuzuhören be-
ziehungsweise ihr ‚selektives Hören‘
und ihre ‚strategische Taubheit‘ zu
skandalisieren“ (Dhawan 2012: 52).

  In dem 438 Prozesstage (von
Mai 2013 bis Juli 2018) dauernden
NSU-Prozess wurden das Wissen
und die Analysen der Betroffenen
nicht als zentrale Analysekatego-                                                         Brüder-Grimme-Nationaldenkmal in Hanau | Foto: Ayse Güleç.
rien wahrgenommen. Wäre die Ar-
beit zum Mord an Halit Yozgat von                   wir unsere Aufmerksamkeit radikal                migrantisch situierte Wissen basiert
Forensic Architecture [1] in das lau-               dem Wissen und den Analysen der                  auf Erfahrungen von rassismuser-
fende Verfahren aufgenommen wor-                    Angehörigen der NSU-Opfer und                    fahrenen, rassifizierten Menschen.
den, wäre vielleicht Walter Lübcke,                 der Überlebenden zuwenden. Denn                  Wenden wir uns diesem Wissen zu,
der Regierungspräsident von Kassel,                 zu lange waren die Täter*innen im                so lernen wir, wie Rassismus im
noch am Leben. Er wurde ermordet,                   Zentrum der medialen Berichterstat-              Alltag oder in institutionellen und
weil er sich bei einer Bürgerver-                   tung und leider auch im sogenann-                behördlichen Handlungen passiert
sammlung sehr klar für Aufnahme                     ten NSU-Prozess. Hingegen waren                  und auch, wie wir dagegen vorge-
von Geflüchteten eingesetzt hatte.                  es antirassistische Bewegungen und               hen können. Als ein spezifisches Er-
  Ebenso den Spuren im Kontext                      lokale Initiativen, die nach dem Öf-             fahrungswissen verhandelt es auch
der Drohschreiben (versendet von                    fentlich-Werden des NSU in den so-               den Rassismus als eine Realität und
Computern der Frankfurter Polizei)                  genannten Opfer-Städten entstanden,              vermittelt zudem, dass die Taten
an eine Anwältin, eine Schauspie-                   die sich den Perspektiven und dem                des NSU passieren konnten, weil
lerin sowie an eine Politikerin des                 situierten Wissen der Angehörigen                gesellschaftliche Diskurse, gesell-
hessischen Landtages wurde nicht                    und den Überlebenden zuwandten,                  schaftliche Ausschlüsse und Diskri-
gründlich nachgegangen. Diese Ta-                   um dieses Wissen in die Aufmerk-                 minierungsprozesse die Grundlage
ten gehören ebenso in den Kontext                   samkeitszonen der Dominanzgesell-                dafür bildeten.
NSU-Komplex.                                        schaft zu bringen.
                                                                                                        Das situierte Wissen von rassifi-
   Für das Lernen – wie auch für das                  Das situierte Wissen ist eine Wis-             zierten, migrantischen oder migran-
Verlernen – aus dem NSU-Komplex                     sensform, die in einem bestimmten                tisierten Menschen ist eine zentrale
ist es von zentraler Bedeutung, dass                Erfahrungskontext entsteht. Das                  Perspektive. Es ist eine widerständi-
                                                                                                     ge, subversive Wissensform, die sich
[1]
      forensic-architecture.org/investigation/the-murder-of-halit-yozgat (Stand: 2. 12. 2022).       aus Erfahrungen von einzelnen oder

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kollektiven Zusammenhängen speist,                     Kontexten verbunden ist, die oft                   dass Denkmäler und Gedenkstätten
die sich aus einer bestimmten, margi-                  nicht reflektiert werden, müssen wir               eine Vergangenheit als abgeschlos-
nalisierten Lebensposition generiert.                  auch das Verlernen lernen (vgl. Cast-              sen beschreiben, die Diskussion ei-
In einem hegemonialen Raum kann                        ro Varela/Heinemann 2017). Verler-                 nes politischen Kontexts für beendet
das situierte Wissen eine andere Po-                   nen bedeutet keineswegs, dass das                  erklären? Wie kann ein Denkmal das
sition einnehmen, diese benennen                       Gelernte vergessen oder gelöscht                   Geschehene verhandeln und zeigen,
und offenlegen. Dieses Wissen bietet                   werden soll. Das Verlernen ist viel-               dass wir eine Zukunft brauchen,
uns daher eine andere Perspektive an.                  mehr eine Denk- und Analysekate-                   eine andere Wirklichkeit möglich ist.
Eine Perspektive, die den dominan-                     gorie, um sich der eigenen Position
ten Repräsentationspraktiken andere                    wie auch der Privilegien, der Lern-                Halitplatz – Halitstraße
Bilder, Darstellungen, Erzählungen                     quellen sowie der verkörperlichten
und Analysen entgegensetzt und uns                     Annahmen und gespeicherten Vor-                      Am 1. Oktober 2012 benannte die
andere Sicht- und Handlungsweisen                      urteile bewusst zu werden (vgl. Da-                Stadt Kassel einen bis dahin namen-
anbietet. Mit Handlungen aus dem si-                   nius/Jonsson/Spivak 1993). Spivak                  losen Platz offiziell „Halitplatz“ und
tuierten Wissen können die gängigen                    bezeichnet Verlernen als eine de-                  stellte eine Stele mit einer Gedenk-
Narrative verschoben und verändert                     konstruktive Praxis, die uns stetig                tafel mit den Namen aller NSU-Op-
werden, indem in die üblichen Er-                      über die Frage antreiben sollte, zu                fer auf. Weitere Gedenktafeln gibt
zählungen neue, starke und ermäch-                     analysieren, wie Wahrheiten herge-                 es heute in Dortmund, Nürnberg,
tigende Fäden eingewebt werden.                        stellt werden (Spivak 1996: 25).                   Hamburg, München, Rostock, Kas-
                                                                                                          sel und Heilbronn. Schräg gegenüber
  İbrahim Arslan, der den rassisti-                       Doch wie lassen sich Gedenkorte                 vom „Halitplatz“ in Kassel, auf der
schen Brandanschlag in Mölln 1992                      imaginieren, die mehr als im öffent-               anderen Straßenseite, befand sich
überlebte, betont, dass die Opfer die                  lichen Raum in den Boden eingelas-                 das Internetcafé von Halit Yozgat –
Hauptzeug*innen des Geschehenen                        sene Stelen sind? Wie können wir                   nur drei Häuser vom örtlichen Poli-
sind. Somit rückt er die Wichtigkeit                   Mahnmale, Gedenkorte oder Mo-                      zeirevier entfernt.
des Zuhörens in den Vordergrund, da                    numente als Orte der Erinnerung
sich auf diese Weise eine politische                   denken, die nicht die Vergangenheit                   Die Straßenbahnhaltestelle „Phil-
Form des Gedenkens performativ                         abschließen, sondern die Gegenwart                 lipp-Scheidemann-Platz“ in direkter
im Akt des Zuhörens und Erzählens                      thematisieren und zugleich in die Zu-              Nähe des nunmehrigen Halitplat-
kollektiv herstellt und fortschreibt.                  kunft weisen, damit wir lernen und                 zes wurde ebenfalls in „Halitplatz“
Dieses Zuhören hat aber nichts mit                     zugleich verlernen?                                umbenannt und mit dem neuen
dem neoliberalen Tool für ein erfolg-                                                                     Namen – und im kleineren Schrift-
reiches Leben zu tun. Das Zuhören,                       Eine poetische Definition des Ver-               zug „Philipp-Scheidemann-Platz“ –
das Zuhören-Wollen wie auch das                        lernens geben Elena Agudio und                     ausgeschildert. In der Straßenbahn
Nicht-zuhören-Wollen, ist eine akti-                   Bonaventure Soh Bejeng Ndikung:                    werden beide Namen durchgesagt.
ve Handlung. Damit ist das Zuhören                    „Unlearning is not forgetting, it is neit-          Auf dem Display in der Straßenbahn
eine emotional-kognitive Handlung,                     her deletion, cancellation nor burning             wird nur „Halitplatz“ angezeigt.
die eine Grundvoraussetzung für eine                   off. It is writing bolder and writing
sozial-politische Praxis des Sich-Ver-                 anew. It is commenting and questio-                   Seit dem Mord in Kassel forderte
bindens und für die Solidarisierung                    ning. It is giving new footnotes to old            nicht nur die Familie Yozgat die Um-
darstellt.                                             and other narratives. It is wiping off             benennung der Holländischen Straße,
                                                       the dust, clearing the grass, and cra-             wo Halit Yozgat geboren worden und
  Das Lernen ist kein gradliniger                      cking off the plaster that lays above              ermordet wurde, in „Halitstraße“. Bei
Speicherprozess von Wissen. Für                        the erased. Unlearning is flipping the             meinen Interviews bekam ich auf die
das Lernen selbst ist das „Ver-lernen“                 coin and awakening the ghosts. Un-                 Frage, warum diese Forderung als un-
eine grundlegende Voraussetzung.                       learning is looking in the mirror and              möglich bewertet werde, unterschied-
Die postkoloniale Theoretikerin                        seeing the world.“ [2]                             liche Begründungen wie „die Straße ist
Gayatri Chakravorty Spivak betrach-                                                                       eine historische Straße“ oder „die Stra-
tet Bildung als einen Prozess, der                       Grundsätzlich sind Fragen er-                    ße verweist auf die historische Verbin-
aus Lernen und Verlernen zugleich                      laubt, ob Denkmäler und Geden-                     dung zwischen Kassel und Holland“.
besteht, und verweist damit auf den                    korte geeignet sind, um rassistische
dialektischen Aspekt von Bildungs-                     Gewalt zu verhandeln und die da-                     Würde diese Forderung umge-
prozessen.                                             mit verbundene Traumatisierung zu                  setzt, wäre die sehr lange Straße ein
                                                       bewältigen. Wer hat ein Recht auf                  Para-Monument und die über 2.500
 Aber was ist mit Verlernen gemeint?                   Erinnerung und wer nicht? Und vor                  Menschen, die direkt an der Straße
Da Lernen immer mit hierarchischen                     allem: Wie können wir verhindern,                  leben, würden Tag für Tag mit der Re-
                                                                                                          alität und der Erinnerung leben, dass
[2]
      The Long Night of Ideas in SAVVY Contemporary, 2016, savvy-contemporary.com (Stand: 2. 12. 2022).   Halit – ein Bürger Kassels, ein Bru-
[3]
      siehe auch Online-Ausstellung „Offener Prozess“, www.offener-prozess.net/spot-halitstrasse.         der, ein Freund – ermordet wurde. [3]

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