WEM GEHÖRT DIE STADT? - ASTA FRANKFURT
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Hrsg. AStA der Universität Frankfurt am Main V. i. S. d. P. AStA-Vorstand: Melissa Dutz Kyra Beninga Nils Zumkley Pia Troßbach Sebastian Heidrich Mathias Ochs Anschrift Mertonstr. 26 – 28, 60325 Frankfurt a. M. Web www.asta-frankfurt.de Mail info@asta-frankfurt.de Redaktion AStA-Zeitungsreferat: Malte Tübbecke Finn Gölitzer Alexander Toumanides Lektorat Rebecca Papendieck eMail zeitung@asta-frankfurt.de Gestaltung gegenfeuer.net Druck Bechtle Verlag & Druck Auflage 46 839 Jahrgang 2021 Die Inhalte der Artikel spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Mitglieder des AStA oder der Redaktion wieder. In dem „Forum“ geben wir Raum für Diskussionen zu aktuellen Themen. Das jeweilige Thema wird durch einen auf der AStA Seite veröffentlichen Call for Papers vorgegeben. Wenn mehr Zuschriften eingehen, als Platz zur Ver- fügung steht, treffen wir eine Auswahl unter den Texten, um möglichst viele Sichtweisen zu Wort kommen zu lassen. Die Rechte der Artikel liegen bei den Autor*innen. Eigentumsvorbehalt Liegen bei niemanden. Geben Sie diese Zeitung jeder x-beliebigen Person für x Äquivalente weiter.
Editorial Liebe Studis, liebe Leser*innen, das Problem beim Herausgeben einer nur viertel- jährlich erscheinenden Zeitschrift ist, dass es keine Möglichkeit gibt, noch auf aktuelle Entwicklungen einzugehen. Viele Texte mit aktuellen Bezügen müs- sen daher oftmals noch etwas in unserer Redaktion liegenbleiben, bevor sie dann endlich erscheinen können. In der Zwischenzeit passiert dann meis- tens noch so einiges, was wir gerne in der Ausgabe angesprochen hätten. So wäre die riesige Demons- tration in Berlin nachdem das Bundesverfassungs- gericht entschieden hatte, den Mietendeckel für verfassungswidrig zu erklären, sicher einen Bericht wert gewesen. Auch die extreme Polizeigewalt am 1. Mai in Frankfurt und in anderen Städten hätten wir gerne noch behandelt. Trotzdem sind wir glück- lich diese Entwicklungen quasi antizipiert zu haben und euch trotzdem eine brandaktuelle Zeitung lie- fern zu können. Die zahlreichen Einsendungen zum Thema „Wem gehört die Stadt?“ haben gezeigt, dass die Frage auf vielseitige Weise beschäftigt und das Thema nicht an politischer Dringlichkeit verlo- ren hat. Unseren Autor*innen ist es dabei gelungen, sich dem Thema „Stadt“ auf verschiedensten Weisen und Blickwinkeln anzunähern. Den Auftakt machen unsere Wohnraumreferenten Tim und Niklas, die der Frage auf den Grund gehen, welche Ursachen die studentische Wohnungsnot in Frankfurt hat und wie sich am besten dagegen vorgehen lässt. Im zwei- ten Beitrag zeigt Jonas Conrath, warum zu kurz greift, Hipster und Bioläden für überteuerte Mie- ten verantwortlich zu machen. Leonie Wüst spricht sich in ihrem Text für eine feministische Aneignung Wir der Stadt aus, die darin besteht sich Raum zu neh- men und präsent zu sein. Philipp Leserer zeigt am wünschen viel Beispiel der Grünen Lunge Konfliktlinien der sozia- len und ökologischen Stadtpolitik auf und in einem Interview haben wir über einen Mietkampf im Gallus und Möglichkeiten der Organisierung gesprochen. Auf diese und weitere Beiträge könnt ihr euch in die- Spaß ser Ausgabe freuen. Viel Spaß beim Lesen! beim Lesen! Eure Redaktion
Online Wahlen Studentisches 33 Wohnen in Frankfurt 05 Transformation des urbanen Alltags 15 Grüne Lunge Bleibt Kostenlose Menstruationsprodukte 11 31 lâneuserie, Flexen und F sich die Stadt aneignen 09 Mietkampf Bilder einer Stadt im Gallus 17 21
05 Studentisches Wohnen in Frankfurt Tim Hoppe & Niklas Lehrke Verdrängung durch Latte Macciato 07 Jonas Conrath 09 Flâneuserie, Flexen und sich Verdrängung durch die Stadt aneignen Latte Macciato Leonie Wüst 07 Grüne Lunge Bleibt 11 Phillip Leserer 13 Über Glasfronten und Betonplatten Jannis Gebhard Über Glasfronten und Betonplatte 15 Transformation des urbanen Alltags Regina Schleicher 13 Bilder einer Stadt 17 Paul Vogt Enteignen 19 Phillip Leserer Mietkampf im Gallus (interview) 21 Redaktion Selbstvorstellung 25 Kostenlose Menstruationsprodukte 31 Feminismus Referat Enteignen Online Wahlen 33 19 Pia Troßbach Call for Papers 37 „100 Jahre Antifaschismus“
5 Studentisches Wohnen in Frankfurt Die Lage ist beschissen – was tun? Überhöhte Mieten, Wohnungen in schlechtem Zustand und ein akuter Mangel an Wohnheimplät- zen. Kann man jungen Menschen das Studium in Frankfurt noch empfehlen? Wir werfen einen Blick auf die Ursachen der studentischen Wohnungsnot und mögliche Perspektiven. auf eine versäumte Bauplanung des Stu- dentenwerkes schieben. Vielmehr zeigt sich, dass dem rasanten Anstieg der Stu- dierendenzahl seit der Jahrtausendwende keinerlei ernstzunehmende Planung und Finanzierung von entsprechenden Wohn- heimkapazitäten auf Seiten des Bundes oder des Landes Hessen folgte. Dabei sind gerade in einer Stadt wie Frankfurt Wohn- Studieren in Frankfurt am Main: Für viele diums mehrfach anzureisen, der*die droht heime von enormem Wert für die Lage der eine attraktive Option, wie die Zahlen an in der Orientierungswoche ohne Woh- Studierenden. Sie bieten immerhin in grö- Bewerber*innen und Neueingeschriebe- nung dazustehen. ßerer Zahl Zimmer zu Mieten von weniger nen in den Bachelor- und Masterstudi- Der AStA bot in solchen Fällen im als 400 Euro im Monat. Für Frankfurter engängen der Goethe-Universität Jahr Rahmen der Kampagne „Mieten? Ja wat Studierende ist das bereits ein Schnäpp- für Jahr belegen. Die Universität warb denn?!“ Obdach in improvisierten Schlaf- chen. über Jahre mit ihrem Exzellenzstatus, sälen des Studierendenhauses. Die Not- Bekommt man keinen der heißbe- internationalen Kooperationen, moder- wendigkeit solcher selbst initiierten Not- gehrten Wohnheimplätze, bleibt für über ner Infrastruktur und nicht zuletzt dem schlafstellen für Studienanfänger*innen 90 Prozent der Studierenden nur die Suche „schönsten“ Campus Europas. Was will mag für Studierende in anderen Städten nach einem Zimmer auf dem „freien“ man mehr? absurd erscheinen, in Frankfurt ist sie zur Wohnungsmarkt. In der nach Mietpreisen Wohnen zum Beispiel. Wohnen will Normalität geworden. Der durch Corona zweitteuersten Stadt Deutschlands,1 die man nicht nur, das muss man sogar. Und und Digitalstudium verursachte geringere von einem eklatanten Mangel an geför- hier bekommt die Fassade vom perfek- Zuzug von Erstis sorgt in Frankfurt anders dertem Wohnraum gezeichnet ist, sind ten Studium in der Mainmetropole tiefe als in anderen Städten ebenfalls für keine das nicht unbedingt rosige Aussichten. Die Risse. Wie wir alle zumeist aus eigener Entlastung, wie eine Rückfrage beim Stu- Folgen kennen wir alle: In Frankfurt wird Erfahrung wissen, verläuft der Start in denten[sic]werk ergab. Die Studierenden- jede noch so schlecht renovierte Wohnung Frankfurt für viele Erstsemesterstudis wohnheime sind voll und dies darf nicht für absurde Beträge vermietet. Wenn alles andere als reibungslos. Ein oder zwei verwundern. Das Studentenwerk Frank- man Glück hat, ist in einem WG-Zimmer Besichtigungen reichen so gut wie nie, furt am Main verfügt derzeit nur über zu einem „normalen“ Mietpreis von ca. um ein WG-Zimmer zu finden; am Ende rund 3.000 Wohnheimplätze, bei einer 450 Euro alles enthalten – neben Strom, sind es meist zehn bis zwanzig. Für Stu- Zuständigkeit für mehr als 80.000 Stu- Wasser und schlechtem Internet meist dierende, die nicht bereits im Rhein-Main- dierende im gesamten Rhein-Main-Gebiet. auch eine kaputte Gasleitung im Bad, eine Gebiet leben, beginnt hier der finanzielle Das Auseinanderklaffen von der Studie- bedingt funktionsfähige Heizung oder Aufwand. Wer es sich nicht leisten kann, rendenzahl und den vorhandenen Wohn- eine auseinanderfallende Küche. Wer bei schon in den Monaten vor Beginn des Stu- heimplätzen lässt sich aber nicht einfach solchen Preisen dann noch auf jährlich zu
6 1 https://de.statista.com/statistik/daten/ beantragende Stipendien, ein störrisches guter Wille bezüglich der Lage Frankfur- studie/1885/umfrage/mietpreise-in-den- BAföG Amt oder krisengebeutelte Neben- ter Studierender geäußert, aber ein ech- groessten-staedten-deutschlands/ jobs angewiesen ist, bei der*dem mag das tes Bewusstsein für die existenziellen (Stand: 27.04.2021). Gefühl entstehen, dass für sie*ihn in die- Nöte der Betroffenen scheint nur bedingt 2 https://www.gemeinschaftliches-wohnen.de/ ser Stadt kein Platz ist. vorhanden. Kurzum, es fehlt der politi- informationen/leerstandsmelder/ (Stand: 27.04.2021). Es sei kein Platz, ist tatsächlich das sche Druck innerhalb der verantwortli- häufigste Argument, das man zum Thema chen Parteien, das Thema ganz oben auf 3 https://www.fnp.de/frankfurt/ Wohnraum in Frankfurt hört. Unabhän- die Tagesordnung zu setzen. wohnungsleerstand-frankfurt-13844903.html (Stand: 27.04.2021). gig der Gesprächspartner*innen lautet In der Konsequenz bedeutet dies, den überall die Antwort, wenn es um die Frage politischen Druck von Seiten der Zivil- 4 https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/ nach den Möglichkeiten zur Schaffung von gesellschaft auf die stadtpolitischen Ent- immobilien-blase-muenchen-und-frankfurt- sind-laut-ubs-am-staerksten- bezahlbarem studentischem Wohnraum in scheider*innen zu erhöhen. Dazu gehö- ueberbewertet-a-8314ca02-9a9b-42b7- Frankfurt geht: Man würde gerne bauen, ren Forderungen, wie den Ankauf von Flä- b1dc-c6c66d334930 (Stand: 27.04.2021). doch es fehle an Fläche. Dieser Einschät- chen weiter voranzutreiben, Vorkaufs- 5 https://www.fr.de/frankfurt/cdu-politiker- zung lässt sich in Teilen zustimmen, denn rechte effektiver als bisher zu nutzen laesst-wohnhaus-in-frankfurt-leer- die der Stadt zur Bebauung verfügbar ste- sowie die Quoten für die Schaffung von stehen-90043940.html (Stand: 27.04.2021). henden Flächen sind begrenzt und der sozial gefördertem Wohnraum in den Ankauf neuer entsprechend teuer. Den- neuentstehenden Wohnquartieren deut- noch muss die Erzählung der mangelnden lich zu erhöhen. Die an der Quartiersent- Flächen erheblich aufstoßen, wenn man wicklung beteiligten privaten Bauträger sich so manch eine Episode der Flächen- müssen im Rahmen ihrer Vorhaben ent- planung der letzten Jahre anschaut. weder entschieden an gemeinwohlori- So wurde erst 2018 das bis dahin in entierte Standards gebunden oder durch der Hand des Landes Hessen befindli- kommunale Wohnungsbaugesellschaften che Gelände des ehemaligen Polizeiprä- und gemeinwohlorientierte Träger ersetzt sidiums am Platz der Republik für mehr werden. Ein wesentlicher Teil dieses poli- als 200 Millionen Euro an private Inves- tischen Drucks entspringt der Arbeit der tor*innen verkauft. Aus diesem Betrag außerparlamentarischen wohnungspo- wurde unter anderem ein Fonds gebildet, litischen Initiativen in Frankfurt, welche welcher 60 Millionen Euro für Investi- sich seit Jahren für die genannten Forde- tionen in bezahlbaren Wohnraum, ins- rungen einsetzen. Generell gilt: Politischer besondere den Ankauf von Bauflächen, Wille ist die Voraussetzung für politische enthält. Abgerufen werden konnte von Veränderung. Wenn wir als Studierende diesem Geld bis heute nichts, da laut der gehört werden wollen, müssen wir laut- bisherigen Argumentation des grün-ge- stark auf unsere Wohnungsnot aufmerk- führten hessischen Wirtschaftsministe- sam machen. riums geeignete, sprich günstige Flächen Denn die Aufgabe politischer Ent- zum Erwerb fehlen würden. Die Absurdi- scheider*innen ist es, die Vielfältigkeit tät dieser Argumentation ist erschlagend. der Stadt und ihrer Bewohner*innen in Statt ein zentral gelegenes Grundstück an die Stadtplanung miteinzubeziehen. Zu die Stadt Frankfurt oder gemeinnützige dieser Vielfältigkeit gehört auch anzuer- Träger zu überschreiben und für die Schaf- kennen, dass Frankfurt eine Studieren- fung bezahlbaren Wohnraums nutzbar zu denstadt ist. Bei anhaltend negativer Ent- machen, wurde dieses schlicht an einen wicklung am Wohnungsmarkt stellt sich privaten Bauträger verkauft. für uns jedoch zunehmend die Frage, ob Ein strukturell viel entscheidenderes man jungen Menschen noch guten Gewis- Problem der kommunalen Wohnungspo- sens zu einem Studium in Frankfurt raten litik ist jedoch ein anderes. Denn entgegen kann. aller häufig gehörten Argumente vom Flä- chenmangel hat Frankfurt Platz. Mit einer Tim Hoppe & Niklas Lehrke, Quote von rund 15 Prozent leerstehen- Wohnraumreferenten des AStA den Büro- und Wohnflächen ist Frankfurt Spitzenreiter in Deutschland,2 in absoluten Zahlen wird von etwa 10.000 leerstehen- den Wohnungen im Stadtgebiet ausgegan- gen.3 Der Frankfurter Wohnungsmarkt ist schon seit Jahren Spekulationsobjekt nati- onaler wie internationaler Anleger*in- nen,4 für die sich Leerstand mehr rentiert als jede Vermietung. Auch hier wäre das Land Hessen gefragt, mithilfe entspre- chender Gesetze und Maßnahmen einzu- greifen und die Leerstandsquote zu sen- ken. Dumm nur, dass die CDU genau jenes Gesetz zum Verbot von Wohnraumzwe- ckentfremdung 2004 abgeschafft hat.5 Man macht es sich allerdings zu ein- fach, wenn man die Missstände einzig und allein auf die Landesebene schiebt. Es mangelt auch schlicht an politischem Willen vor Ort. Zwar wird unabhängig der Gesprächspartner*innen Interesse und
F O RU M 7 Verdrängung durch Latte Macchiato? Zur Kritik an sozio-kulturalistischen Erklärungsansätzen von Gentrifizierung Gentrifizierungsprozesse sind komplex und lassen Immer wieder kommt es vor, dass in nach- ders groß ist.3 Ab wann solche Ertragslü- barschaftlichen Gesprächen, in Zeitungs- cken für Investor*innen so attraktiv wer- sich nicht einfach durch individuelle Wohnstand- artikeln oder auch auf Demonstrationen den, dass sie tatsächlich investieren, steht ortentscheidungen bestimmter Bevölkerungsgrup- der Zuzug von Hipstern und Studierenden in einem engen Zusammenhang mit dem pen erklären. Die Gründe für Verdrängung sind oder die Eröffnung von Bioläden und hip- Geschehen auf den globalen Finanzmärk- pen Cafés als Hauptursachen von Gentrifi- ten und kann zudem durch die politischen vielmehr auf einer politischen und ökonomischen zierungsprozessen benannt werden. Dabei Rahmenbedingungen stark beeinflusst Ebene zu finden. ist dieser sozio-kulturalistische Erklä- werden. rungsansatz nicht nur empirisch nicht Solange in anderen Segmenten des belegbar, sondern auch stark verkürzt, Finanzmarktes (Aktien, Produktion von und klammert den zunehmenden Einzug Gütern, Anleihen etc.) höhere Renditen des Neoliberalismus in die Wohnungs- erzielt werden können als im Immobili- politik, das Streben der Immobilienbesit- ensektor, kommt es auch nur zu gerin- zer*innen nach Profitmaximierung und gen Investitionen im selbigen. Selbst ver- Fragen der Vermögensverteilung nahezu gleichsweise attraktive Stadtviertel mit vollständig aus. Zugute kommt dies insbe- hohen Ertragslücken bleiben dann vom sondere den Profiteur*innen der Gentrifi- Verdrängungsdruck verschont, weil kaum zierung, weil hier zwar suggeriert wird, Investitionen erfolgen. Nicht durch einen über die vermeintlichen Ursachen von plötzlichen Zuzug kreativer Bevölke- Verdrängung zu sprechen, auf die wirk- rungsgruppen in die Städte, sondern durch lichen Wirkmechanismen dabei jedoch den Mangel an anderen rentablen Inves- nicht eingegangen wird.1 titionsmöglichkeiten ist die Zunahme von Vielmehr entsteht durch das Ausblen- Gentrifizierungsprozessen seit der Finanz- den politischer und ökonomischer Wirk- krise 2008 zu erklären. Da überschüssi- zusammenhänge der Eindruck, Gentrifi- ges Kapital anderweitig oftmals nicht zierungsprozesse seien die Folge individu- rentabel reinvestiert werden kann, fließt eller Entscheidungen, was verunmöglicht, es zunehmend in die gebaute Umwelt, politische Antworten auf Verdrängungs- da nur hier ausreichend hohe Renditen prozesse zu finden. Aus diesem Grund erzielt werden.4 Aufgrund der Ökonomi- bedarf es tiefgreifender Ansätze, die auch sierung des Grundbedürfnisses Wohnen, die politische und ökonomische Erklä- wird Wohnraum so zu einem Spielball des rungsebene miteinschließen und politi- wachstumsgetriebenen Finanzkapitalis- sche Handlungsalternativen gegen Gen- mus. Dies sorgt insbesondere in Zeiten trifizierung benennen. mangelnder Anlagealternativen dafür, Dahingehende Antworten kommen aus dass Bewohner*innen weniger rentab- der kritischen Stadtforschung. Als eine ler Wohnungen für lohnendere Immobi- Hauptursache von Gentrifizierungspro- lienprojekte Platz machen müssen, damit zessen wird hier die Ertragslücke (Rent- das Kapital entsprechend des kapitalisti- Gap2) zwischen den derzeitig realisierten schen Wachstumszwangs zirkulieren und und den potentiell erzielbaren Mietein- sich vermehren kann. Dabei spielt es nur nahmen identifiziert. Investitionen sind eine untergeordnete Rolle, welche Woh- demnach für die immobilienwirtschaftli- nungsmarktsegmente von der Stadtbevöl- chen Akteur*innen insbesondere an jenen kerung tatsächlich nachgefragt und benö- Orten interessant, wo diese Lücke beson- tigt werden.5 Investiert wird in diejenigen
8 1 Inga Jenssen / Sebastian Schipper, Jenseits von schwäbischen Spätzlemanufakturen und kiezigen Kneipen – polit-ökonomische Perspektiven auf Gentrifizierung, in: PROKLA. Zeitschrift für Kriti- sche Sozialwissenschaft 48 (191), 2018, 317-324. 2 Der Rent-Gap beschreibt die Differenz (Ertragslü- cke) zwischen den derzeitig realisierten und den durch Verkauf und Investitionen potentiell erziel- baren Erträgen. Mit den potentiell erzielbaren Erträgen ist „die profitabelste Verwertung eines Grundstückes gemeint, die sich ergäbe, wenn sich zukünftig die gewinnträchtigste Nutzung durch- setzen würde“. Tabea Latocha / Sebastian Schip- per, Wie lässt sich Verdrängung verhindern?, in: sub\urban – Zeitschrift für kritische Stadtfor- schung 1 (6), 2018, 51-76.. 3 ndrej Holm, Gentrification, in: Bernd Belina u.a. A (Hrsg.), Handbuch kritische Stadtgeographie, 2016, 102-108. 4 iehe hierzu auch: David Harveys, Ausführungen S zum Zusammenhang von Kapitalüberschüssen und Investitionen in urbanen Räumen, in: Rebellische Städte, 2016, 34ff. 5 o ist auch der häufige Mangel an preiswertem S und der Überschuss an luxuriösem Wohnraum zu erklären. In Ersterem sind die Gewinnaussichten schlichtweg zu niedrig. Siehe hierzu auch: Andrej Holm, Wohnung als Ware – Zur Ökonomie und Politik der Wohnungsversorgung, in: Wiedersprüche 31 (121), 2011, 12. 6 Susanne Heeg, Immobilienmärkte, in: Bernd Belina u.a. (Hrsg.), Handbuch kritische Stadt- geographie, 2016, 146-152. 7 https://frankfurt.de/-/media/frankfurtde/ service-und-rathaus/verwaltung/ aemter-und-institutionen/amt-fuer- wohnungswesen/pdf/wohnungsmarktberichte/ wohnungsmarktbericht-2016.ashx (Stand: 19.03.2021). 8 Eric Clark fragt in seinem Aufsatz, wie Woh- nungspolitik gestaltet werden müsste, damit die Rent-Gap-Theorie nicht mehr zutrifft. Vgl. Eric Clark, Good urban Governance: Projekte, die eine hohe Rendite verspre- Making rent gap theory not true, in: Geogra- chen. Immobilien haben sich längst von fiska Annaler: Series B, Human Geography 96 (4), 2014, 392–395. einem Gebrauchsgut zu einem global han- delbaren Finanzprodukt entwickelt. Diese Finanzialisierung des Wohnungssektors stellt die Profitinteressen der Anleger*in- nen über die Bedürfnisse der Stadtbewoh- ner*innen.6 Wie attraktiv und lohnend Investiti- onen in Immobilen sind und ob immobi- noch knapp 70.000 Sozialwohnungen gab, Gegen-Strategien entwickelt und den Fra- lienwirtschaftliche Verwertungsbestre- die fernab der profitorientierten Marktlo- gen nach politischen Handlungsalterna- bungen auch tatsächlich zu Verdrängung giken bestanden, beträgt die Anzahl heute tiven 8 nachgegangen werden. Bei ent- führen, hängt stark von den politisch/ nur noch 26.000.7 Auch die Umwandlung sprechendem politischen Willen gäbe es regulatorischen Rahmenbedingungen ab. der vormals gemeinnützigen städtischen zahlreiche regulatorische Maßnahmen, Die öffentliche Hand hätte die Möglich- Wohnungsbaugesellschaft ABG in eine um der Verdrängung entgegenzuwirken. keit, großen Einfluss auf den Wohnungs- profitorientierte Holding steht charak- Dazu könnte ein stärkerer Schutz von markt auszuüben und regulatorisch im teristisch für die Neoliberalisierung der Mieter*innen, die Wiedereinführung der Interesse der Mieter*innen einzugreifen. Wohnungspolitik. Würde der Staat also Wohnungsgemeinnützigkeit, der Ausbau Allerdings lässt sich in der BRD mit dem seinen Einfluss auf dem Wohnungsmarkt von gefördertem Wohnraum oder auch Einzug des Neoliberalismus oftmals genau stärker geltend machen, würden Markt- die Enteignung großer profitorientierter das Gegenteil erkennen: Wohnungspo- logiken weniger stark über die Verteilung Immobilienkonzerne gehören. Ziel sollte litik wird zunehmend im Interesse der von Wohnraum entscheiden und Verdrän- es also sein, Wohnraum zunehmend der Investor*innen gemacht. Mit dem Aus- gungsprozesse könnten so ausgebremst Marktförmigkeit zu entziehen, um Gen- verkauf von kommunalen Wohnungsbe- werden. trifizierungsprozesse vorzubeugen. ständen, dem Abbau von Sozialwohnun- Deutlich wird also, dass Gentrifizierung gen, der Abschaffung des Wohnungsge- kein natürlicher Prozess ist, der sich ein- Jonas Conrath meinnützigkeitsgesetzes und der Schwä- fach durch individuelle Wohnstandortent- chung des Mieter*innenschutzes seien scheidungen bestimmter Bevölkerungs- hier nur einige Entwicklungen genannt, gruppen erklären lässt. Vielmehr bedarf durch die politische Rahmenbedingungen es eines umfassenderen Blicks, der die geschaffen wurden, die auf die Bedürfnisse Geschehnisse auf den globalen Finanz- von Investor*innen ausgerichtet sind. In märkten und die politischen Rahmenbe- Frankfurt wird dies bei näherer Betrach- dingungen miteinschließt. Denn nur durch tung des Bestandes an Sozialwohnungen die Benennung der eigentlichen Ursachen deutlich. Während es hier im Jahr 1990 von Gentrifizierung können nachhaltige
U M F O R 9 Flâneuserie, Flexen und sich die Stadt aneignen Die Konzeption von Städten aus feministischer Perspektive Moderne Städte wurden nicht, wie häufig angenommen, mit der Intention erbaut, Aus mehr als aktuellem Anlass kommt die Frage danach auf, wie die Doppelbelastung von Frauen in Bezug sich Frauen in der Stadt bewegen (können), mit welchen Blicken, auf Lohnarbeit, Care- sowie Hausarbeit zu Belästigungen und Gewalterfahrungen sie konfrontiert sind, und wie managen. Innerhalb der feministischen Geschichte der Planung und Gestaltung sie sich als Gegenreaktion den Raum aneignen. Wie kann sich also von Wohnsiedlungen und Häusern stand das Flanieren für Frauen durchsetzen? vor allem der Aspekt einer Kollektivierung der Kindererziehung wie auch der Hausar- beit im Fokus. Durch diese Kollektivierung sollte Frauen der Zugang zum Arbeits- markt, die Gleichstellung mit den Män- nern und die „intellektuelle Entwicklung“ erleichtert werden.6 Indem sich Frauen gemeinsam organisieren, eignen sie sich den Raum und die Stadt durch eben diese Ist die Rede vom Flanieren oder dem Flâ- Jahr 1930 darüber schreibt, dass es für sie Organisation an. neur im Spezielleren, geht es dabei meist als Frau eine große Freiheit und Entspan- Aber zurück zum Flanieren selbst: Die um den weißen Mann, der sich als leiden- nung sei, die Straßen Londons für sich ein- Grundvoraussetzung des Flanieren-Kön- schaftlicher Beobachter der Großstadt in zunehmen, zu entdecken und zu erkun- nens besteht in der Möglichkeit, sich die Masse einfügt und sich im Zuge des- den.3 Die feministische Geografin Leslie uneingeschränkt und vor allem unein- sen einerseits im Zentrum des Gesche- Kern beschreibt in ihrem Werk Feminist geschüchtert im öffentlichen Raum zu hens befindet, andererseits jedoch danach City, welches 2020 in der deutschen Über- bewegen. Als (junge) Frau ist ein freies trachtet, unsichtbar zu bleiben. setzung im Unrast Verlag erschien, wie Flanieren ohne Einschränkungen und Als Frau ist das Gefühl völliger Ano- vor allem der schwangere Körper den Bli- Belästigungen kaum möglich: Ängstliche nymität und Unsichtbarkeit in der Stadt cken und Belästigungen eines großstäd- Gefühle auf dem nächtlichen Nach-Hau- ein Seltenes. Die Anonymität der Groß- tischen Treibens ausgesetzt ist. Durch se-Weg, der direkte Griff zum Handy, um stadt existiert nur für bestimmte Subjekte, ihren Bezug auf den schwangeren Kör- mit Freund*innen zu telefonieren (was in vor allem für weiße Männer der Ober- per verweist sie auf eine Leerstelle in meiner Vorstellung einen gewissen Schutz schicht, während sie Frauen, PoC, quee- den feministischen Schriften zur Flâ- vor Übergriffen bieten sollte), oder aber ren Menschen oder Arbeiter*innen ver- neuse* und versucht diese theoretisch der Schlüsselbund, der fest im Handgriff wehrt bleibt. Dem patriarchalen Blick zu füllen. So spricht Kern davon, dass vor verankert ist, um sich wehren zu können, ausgesetzt zu sein und Belästigungen und allem Schwangere ungebetenen Berüh- sind nur ein paar meiner eigenen Erfah- Gewalt zu erfahren, beeinflusst das weib- rungen, Belästigungen und Blicken aus- rungen. All diese Mechanismen sind (jun- liche Auftreten in Städten maßgeblich. gesetzt seien, die es nicht ermöglichen, gen) Frauen verinnerlicht und gehören zur Einige feministische Autor*innen kons- ein Gefühl der Privatheit in der Masse zu weiblichen Subjektivierung. Sie bestim- tatieren daher, dass „das Modell des Flâ- erhalten, sondern sie zu einem öffentli- men die Art und Weise, wie sich Frauen neurs als ausschließende Trope […] kriti- chen Körper werden lassen.4 in der Öffentlichkeit bewegen – immer siert werden sollte“1; andere beziehen sich Abgesehen von der Frage nach der wachsam. Gerade darin liegt der Haupt- auf den Flâneur als „Figur, die angeeig- Flâneuse* sei darauf hingewiesen, dass unterschied zum männlichen Flâneur, net“ werden müsse.2 Während Erstere der Städte im Allgemeinen an die Erwartun- der sich aufgrund seines Geschlechts frei Meinung sind, Frauen könnten nie ganz in gen der patriarchalen, kapitalistischen bewegen kann, ohne sich Gedanken über der Unsichtbarkeit des Großstadtlebens Gesellschaft angepasst sind und in die- das Bewegen zu machen. verschwinden, weil sie stets dem männ- sem Sinne an die Bedürfnisse des weißen Wie kann sich also das Flanieren auch lichen Blick ausgesetzt seien, bestehen Mannes als Stadtbewohner. Dabei ist bei- für Frauen durchsetzen? Und was bedarf Zweitere auf der Annahme, der weibliche spielsweise die Lage der Wohngebiete und es für die Flâneuse*, um sich uneinge- Flâneur bzw. die Flâneuse* hätte schon Arbeitsplätze, der öffentliche Nahverkehr schränkt die Stadt anzueignen? immer existiert. Sie verweisen in ihrer wie auch die Konzeption von Städten ein Sich als Frau des Flanierens zu ermäch- Argumentation auf Autor*innen wie Vir- allgemeiner Ausdruck dessen, wer, wo, tigen, bedeutet, den patriarchalen Blick ginia Woolf, die in ihrem Aufsatz Street wann, welche Aktivitäten ausführen kann anzugreifen und sich den Raum zu neh- Haunting: A London Adventure aus dem und soll.5 men, um die Großstadt in all ihren Facet-
10 »Die Anonymität der Großstadt existiert nur für bestimmte Subjekte, vor allem für weiße Männer der Oberschicht, während sie Frauen, PoC, queeren Menschen oder Arbeiter*innen verwehrt bleibt.« ten wahrnehmen und genießen zu kön- „Flex|en, das, – kein Pl.: 1. trenn- nen. Dabei soll die Stadt all jenen gehö- schleifen 2. biegen 3. Sex haben 4. ren, die in ihr auftreten, leben und fla- das Variieren der Geschwindigkeit nieren. Die Frage danach, wie sich Frauen beim Rap 5. die Muskeln anspannen heute auf den Straßen bewegen (können), 6. seine Muskeln zur Schau stellen 7. ist dabei weder eine ausschließlich aka- Flâneuserie.“9 demische noch eine unbedeutende. Damit unmittelbar in Zusammenhang stehen Dabei geht es darum, den Begriff des Fla- Aspekte ungleicher Machtverteilung und nierens neu zu erfinden und zu erweitern. Herrschaft: Die Frage danach, ob es dafür wirklich eines neuen Begriffs bedürfe, beantwor- „Seit dem 19. Jahrhundert ist die Flâ- ten die Autor*innen mit einem entschlos- nerie, also das Phänomen, über das senen „Ja“. Gerade deshalb, weil es für Benjamin theoretisiert und das Baude- Frauen bis dato noch keinen Platz in der laire gefeiert hat, nicht nur das Privileg Flânerie gibt. Als Frau bedeutet die Bewe- des bürgerlichen, gebildeten, wohl- gung in den Städten entweder „aufpassen“, habenden und weißen Mittelstands „gesehen werden“ oder „unsichtbar sein“.10 gewesen, sondern vor allem eines der Damit gilt es zu brechen. Flexen bedeutet, Männergesellschaft.“7 an Orten zu sein, die für die Flâneuse* erst einmal nicht vorgesehen scheinen, sich Somit wird deutlich, wie sehr vor allem den Raum zu nehmen und präsent zu sein.11 Frauen vor der Frage stehen: Wie sich die Also, lasst uns Flexen! Straße und die Stadt aneignen, die nicht für mich gebaut wurde, die nicht dafür gemacht Leonie Wüst wurde, mir zu gehören? Von der Frauenbewegung zum Flexen In diesem Zusammenhang darf vor allem die Frauen„bewegung“ nicht nur als Metapher begriffen, sondern muss im wörtlichen Sinne ernst genommen und umgesetzt werden.8 Solange Frauen auf den Straßen Belästigungen, Überwa- 1 Kern, Feminist City, 2020, 31. chung und Gewalt ausgesetzt sind, solange 2 Vgl. Kern, 31. sieht sich die Flâneuse* mit zunehmen- den Schwierigkeiten konfrontiert. Solange 3 Vgl. ebenda. also der männliche Blick immanent ist, 4 Vgl. Kern, 33. bleibt Frauen ein freies Bewegen und Fla- nieren in den Städten verwehrt. 5 Vgl. ebenda. Es geht vor allem darum, sich als Frau 6 Vgl. Rodenstein, Wege zur nicht-sexistischen einen Platz in dieser Tradition zu erkämp- Stadt. Architektinnen und Planerinnen in fen. Mit dem Bild des Stock und Hut tra- den USA, 1994, 53f. genden weißen Mannes, das beim Spre- 7 Gleber, Die Frau als Flaneur und die Sinfonie chen über den Flâneur omnipräsent ist, der Großstadt, In: Katharina von Ankum zu brechen. Das Wort Flâneuserie ist noch (Hrsg.), Frauen in der Großstadt – in keinem Wörterbuch zu finden, wes- Herausforderung der Moderne?, 1999, 62. halb verschiedene Frauen, queere Men- 8 Vgl. Gleber, S. 67. schen und PoC in einem 2019 erschienenen 9 Özlem Özgül Dündar / Ronya Othmann / Buch ein neues, schon vorhandenes Wort Mia Göhring / Lea Sauer (Hrsg.), dafür einbringen: Flexen. Zu Beginn des Flexen – Flâneusen* schreiben Städte, 2019, 9. Buchs beschreiben die Autor*innen den 10 Vgl. Dündar, 9. Begriff in seinen verschiedenen Bedeu- tungsebenen: 11 Vgl. ebenda.
11 FO UM R Grüne Lunge Bleibt Anhand des Kampfes um die Grüne Lunge lassen sich unterschiedliche Konfliktlinien der sozialen und ökologischen Stadtpolitik aufzeigen. Ökologische und soziale auch eine Abgrenzung zum umliegenden Das Beispiel der Grünen Lunge zeigt Wohnraumpolitik Gebiet durch Zäune gibt. Seit mehr als zwei auch, wie eine neoliberale Umwandlung Nördlich des Günthersburgparks im Jahren jedoch wurden und werden viele des Wohnungsmarktes dazu geführt hat, Frankfurter Nordend verbirgt sich mit der der Gärten, die verwildert sind oder leer dass Wohnraum nicht mehr als Grund- Grünen Lunge eine 16 ha große Grünflä- stehen, von verschiedenen Leuten ange- recht gesehen wird, sondern als profita- che, die man so in der Stadt nicht vermuten eignet. Außerdem gibt es auf dem Gelände ble Ware und staatliche Interventionen würde. Abgesehen von der ökologischen ein Urban Gardening Projekt, welches kol- zu einer Ausnahme geworden sind. Zwar Bedeutung dieses Raumes, ist die Grüne lektiv und ökologisch Gemüse angebaut. versprach der Frankfurter Planungsde- Lunge – wenn einmal der Eingang gefun- Daneben existieren politische Initiativen zernent Mike Josef (SPD) 500 geförderte den wird – ein frei zugänglicher Ort. Die und Gruppen, die für ihre Arbeit die Gär- Wohnungen – von diesen gehört jedoch Grüne Lunge stellt mit ihren Gärten und ten temporär oder dauerhaft besetzen und nur die Hälfte zum sozialen Wohnungs- kleinen Wegen ein ökologisches Erho- die Aneignung als Teil ihrer politischen bau. Dass bei der Bewerbung der Gün- lungsgebiet dar. Sie ist geprägt von wil- Arbeit verstehen. Beispielsweise werden thersburghöfe das ökologische Bauen den Gärten, einer großen Biodiversität und Strukturen aufgebaut, die eine zukünftige und die begrünten Gebäude angeprie- Teil der drittgrößten Frischluftschneise Räumung erschweren sollen. Insgesamt sen werden, deutet zudem eher auf eine Frankfurts. Damit hat die Fläche einen ent- wird die Grüne Lunge also als Ort für poli- Form der Green Gentrification3 hin, als auf scheidenden Einfluss auf das städtische tische Prozesse und kollektive Formen der eine wirklich ökologische Planung. Klar ist Klima – vor allem auf die Stadtteile Born- Organisation und Produktion genutzt. auch, dass der geplante Anteil an gemein- heim und Nordend. Eine Versiegelung die- Auch die am Projekt Günthersburghöfe schaftlichem Wohnen für viele Initiativen ser Fläche hätte nicht nur Auswirkungen beteiligte städtische Wohnungsbauge- durch den hohen Erbbauzins nicht bezahl- auf das städtische Klima, sondern auch sellschaft ABG steht in der Kritik, da sie bar sein wird. Das Märchen, vermehrtes auf den Wasserhaushalt im nordöstlichen nicht gemeinwohlorientiert, sondern Bauen führe zu sinkenden Mieten, soll Stadtgebiet. nach wirtschaftlichen Interessen handelt verschleiern, was wirklich passiert: Der Trotz alledem sollen auf diesem für und somit die Schaffung von bezahlba- Bau von hochpreisigen Wohnungen führt das innerstädtische Klima so wichtigen rem Wohnraum nicht oberste Priorität zu teurem Wohnraum! Ort unter dem Namen Günthersburghöfe besitzt.1 Zusammen mit Instone Real Estate Als Gegenforderung muss in die Offen- bis zu 1.500 Wohnungen gebaut werden. wurde Mitte Februar 2021 eine Image- sive gebracht werden, dass die Grüne Vor allem das Unternehmen Instone Reale kampagne unter dem Motto Nordend für Lunge erhalten bleibt und eine kollektive, Estate, eine finanzialisierte Wohnungs- alle ins Leben gerufen, über die versucht unkommerzielle Nutzung für Politik, Kul- baugesellschaft, welche vor allem Woh- wird, mit fadenscheinigen ökologischen tur usw. möglich gemacht wird. Auch die nungen im hochpreisigen Sektor anbietet, und sozialen „Argumenten“ für das Pro- Forderung nach 100 Prozent sozialem steht dabei im Mittelpunkt. Ihr Ziel ist es, jekt der Günthersburghöfe zu werben und Wohnungsbau auf den bereits versiegel- anhand von Ertragslücken möglichst hohe die öffentliche Meinung zu beeinflussen. ten Randflächen muss erkämpft werden, Profite zu generieren. Die Kampagne stellt aus vielerlei Hinsicht da dies vermutlich weit über 500 bezahl- Die Gärten in der Grünen Lunge unter- einen Angriff auf Wohnrauminitiativen bare Wohnungen ermöglichen würde. liegen dem Eigentumsrecht verschiedener dar. Schließlich suggeriert der Name, es Dies würde die jetzige Planung um eini- Akteur*innen und auch die städtischen würde sich hier um ein soziales Bauprojekt ges übersteigen und somit den Preisdruck Flächen werden verpachtet. Als Ganzes handeln. Darüber hinaus wird auf die Ini- im Nordend ein wenig abfedern. ist die Grüne Lunge allerdings keineswegs tiative Eine Stadt für Alle! – Wem gehört die exklusiv. Zum einen steht das Gelände ABG? angespielt, welche als eine der wich- Eine ökologische Stadt für Alle allen Menschen für einen Aufenthalt oder tigsten Initiativen der letzten Jahre rund Anhand der Grünen Lunge ist exempla- Spaziergang auf diesem Stück „urbaner um Themen wie Wohnraum, Verdrängung risch zu sehen, wie immer wieder versucht Natur“ zur Verfügung. Natürlich darf dies und Wohnungsbaupolitik betrachtet wer- wird, die soziale gegen die ökologische nicht darüber hinwegtäuschen, dass es den kann.2 Frage auszuspielen: Günstiger Wohnraum
12 vs. Erhalt von Grünflächen. Diese Argu- mentation scheitert aber zum einen daran, dass kaum bezahlbarer Wohnraum gebaut wird, und zum anderen daran, dass außen vor gelassen wird, dass die ökologische Frage auch immer eine soziale ist. Die Tatsache, dass Wohnraum vor allem im Urbanen eine Klassenfrage ist, gerät allzu oft in den Hintergrund sowie auch der Umstand, dass ökologische Fol- gen innerhalb der Stadt zumeist auf den Schultern der Ärmsten abgeladen wer- den. Stadtteile und Quartiere, in denen überwiegend ärmere und migrantisierte Menschen leben, sind am stärksten von Schadstoffbelastung, Lärm, schlechten Wohnverhältnissen und dichter Bebau- ung – sprich wenig Grünflächen – betrof- fen. Um dies einmal zu veranschaulichen: Die Mieten an viel befahrenen Straßen sind günstiger als in verkehrsberuhig- ten Wohngebieten. An den stark frequen- tierten Verkehrswegen ist die Schadstoff- belastung durch Autoabgase jedoch viel höher, was mit negativen gesundheitli- chen Folgen und einer kürzeren Lebenser- wartung für die Bewohner*innen einher- geht. Außerdem wohnen niedrige Einkom- mensklassen häufiger in Wohnräumen mit Feuchteschäden, Schimmelpilzbefall und Schadstoffbelastung. Im Zusammen- hang mit einem ungerechten Zugang zu Umweltressourcen – wie Parks und Grün- anlagen – kann hier von einer sozial-öko- logischen Segregation gesprochen wer- den. Grün- und Freiflächen können die ökologischen Folgen in der Stadt abmil- dern und wahrgenommene Lebensquali- tät und Gesundheit verbessern. Eine hohe Bevölkerungsdichte, wenige Parks und Wasserflächen betreffen aber vor allem Stadtteile prekarisierter Menschen. Ver- stärkt wird dies noch durch einen unge- rechten Zugang zu Mobilität marginali- sierter Menschen und den dadurch einge- schränkten Zugang zu Naherholungsge- bieten. Die Stadt im Kapitalismus ist also maßgeblich durch eine sozial-ökologi- sche Segregation bestimmt, in der Wohn- raum immer mehr einen Warencharak- ter annimmt, um kapitalistisch verwertet zu werden.4 Für wohnungspolitische Initiativen bedeutet dies, ökologische Aspekte mit- zudenken, da auch hier eine Form der sozi- alen Segregation stattfinden kann. Vor allem müssen sie jedoch darauf gefasst 1 Vgl. Eva Kuschinski, Sozialer Wohnungsbau lohnt sein, dass versucht wird, soziale und öko- sich nicht - Ökonomisierung der Frankfurter Wohnungspolitik am Beispiel der ABG Frankfurt logische Aspekte gegeneinander auszu- Holding, in: Susanne Heeg und Marit Rosol (Hrsg.), spielen. Diese Auseinandersetzung ist Gebaute Umwelt. Aktuelle stadtpolitische nicht immer widerspruchsfrei, jedoch ist Konflikte in Frankfurt am Main und Offenbach, 2014, 23–39. und bleibt die ökologische Frage in der Stadt immer auch eine soziale. Auch der 2 Vgl. https://www.fr.de/frankfurt/ Kampf um die Grüne Lunge kann nur dann frankfurt-abg-und-instone-kaempfen- fuer-guenthersburghoefe-90202482.html gewonnen werden, wenn beide Aspekte (Stand: 17.02.2021). zusammengedacht werden und eine sozi- 3 nter Green Gentrification wird die Miet- und U ale, ökologische Alternative aufgezeigt Preissteigerung durch die ökologische Aufwertung wird, mit deren Hilfe Wohnraum in eine von Quartieren und Stadtteilen verstanden. nicht profitorientierte, demokratische 4 Vgl. Hendrik Sander, Städtische Umweltgerech- Verwaltung überführt werden kann. tigkeit. Zwischen progressiver Verwaltungspraxis und sozial-ökologischen Transformationskonflikten, Philipp Leserer 2019, 2-9.
13 F O R U M Über Glasfronten und Betonplatten Eine Kritik aktueller Stadtentwicklung und eine Liebeserklärung an den Campus Bockenheim Steigende Mietpreise sind kein neues Phänomen, sondern schon seit Längerem in Großstädten wie Frankfurt ein Problem. Für Viele, unter anderem Studierende, wird es immer schwieriger eine Wohnung in der Stadt bezahlen zu können. Eine „Wohnraumoffensive“ soll hel- fen, doch für wen wird hier gebaut und was benötigt eine Stadt, um ihren Bewohner*innen ein gutes Leben zu ermöglichen? Stadt für Wenige? zum Treffpunkt für Viele. Auch wenn der Mit dem sich in den letzten Bauschrit- Platz ästhetisch betrachtet vielleicht nicht ten befindlichen, brandneuen One Forty der Modernste oder „Schönste“ ist, steht West erhält Bockenheim nun seinen gerade dieser Eindruck von Zerfall jenem lang ersehnten Nachfolger des AfE- Schein von klinischer Sauberkeit der Neu- Turms. Es ist der nächste verglaste Tem- bauten entgegen und macht seine Atmo- pel des „Highlife“ in Frankfurt und wie sphäre aus. Dabei ist der Campus nicht es der Name schon verrät, ist diese wilde ausschließlich ein Ort für Studierende, Mischung aus Hotelgebäude und „Premi- sondern wird von einer auffallend viel- um-Wohnen“ kein Ort für alle, sondern fältigen Gruppe an Menschen genutzt. mehr eine Festung (engl. „fort“) für die- Repräsentativ dafür ist der Wandel des jenigen, die es sich leisten können. Doch ehemaligen Studierendenhauses zum abseits der Frage, wie rechteckig, glä- Offenen Haus der Kulturen, welches das sern und futuristisch moderne Archi- Ziel verfolgt, ein vielfältiger, kultureller tektur eigentlich sein muss, setzt sich Freiraum Frankfurts jenseits von „Kapi- hier ein aktueller Trend fort. Seien es die talismus, Rassismus, Patriarchat und Wohnungen rund um das Bockenheimer Nationalismus“ zu bleiben1. Dass selbst- Depot oder die weiter westlich liegenden verwalteter, alternativer Raum in Zeiten Neubausiedlungen am Rebstock: Auch einer fortschreitenden Ökonomisierung der Gegenentwurf zu exklusiven, kli- Bockenheim wird zusehends zugebaut mit von Wohnraum keine Selbstverständlich- nisch gepflegten Bürokomplexen, Hotels immer gleich aussehendem, hochpreisi- keit ist, zeigen die Kämpfe der Bockenhei- und Neubausiedlungen. Während Letz- gem Wohnraum. Es scheint, als ob sich der mer Bürger*innen und ihrer Initiativen, tere abgeschlossene, nicht zugängliche Dämon des kapitalistischen Plattenbaus die sich seit über 10 Jahren gegen den Räume sind, ist der Campus ein öffent- für Spitzenverdienende seinen Weg aus Abriss des ehemaligen Studierendenhau- licher und offener Ort, an dem Begeg- dem Europaviertel in Richtung Bocken- ses einsetzen. Trotz vorhandenem Kon- nungen und gegenseitiger Austausch für heim bahnt. zept, öffentlicher Kampagnen und breiter jede*n ermöglicht werden. Er ist außer- gesellschaftlicher Unterstützung bleibt dem auch aufgrund seiner Lage gut in das Der Campus Bockenheim der Verbleib unsicher und ist noch nicht Stadtviertel integriert und dadurch deut- als Antithese endgültig geklärt. Auch das ehrenamtli- lich zugänglicher als es beispielsweise Inmitten dieser exklusiven Gebäude- che und spendenbasierte Projekt der Ada der Campus Westend oder auch der Cam- brocken laden die heruntergekomme- Kantine2 in der ehemaligen Akademie der pus Riedberg sind. Das hat zur Folge, dass nen Betonplatten mit den quadratischen Arbeit, das kostenloses Essen, aber dar- Universität dort immer mehr ein Ort des Holzsitzbänken des alten Campus Bocken- über hinaus auch ein wechselndes Pro- reinen „Studierens“ wird und ein Diskurs heim als einer der letzten Freiräume des gramm wie zum Beispiel Filmabende über Themen außerhalb der eigenen Fach- Viertels zum Verweilen ein und werden anbietet, gibt Hoffnung. Der Campus ist disziplin verloren geht. Nichtsdestotrotz
14 »… doch Stadtplanung muss das materielle, soziale und ökologische Wohl aller in der Stadt lebenden Personen berücksichtigen.« ist unsicher, wie sich das Klima auf dem Damit die Stadt ein Ort für alle Menschen Campus Bockenheim verändern wird, wird, muss dafür gesorgt werden, dass nachdem die letzten Teile der Goethe-Uni- sich jede*r die Stadt leisten und sich hier versität umgezogen sind und der geplante wohlfühlen kann. In einer kapitalisti- „Kulturcampus“ errichtet ist. Es bleibt zu schen Stadt wie Frankfurt wird der ver- hoffen, dass das Gelände weiterhin ein Ort fügbare Platz jedoch überproportional von der Offenheit, Gelassenheit und Gemein- einem vermögenden Teil der Gesellschaft schaft bleibt. besetzt und ein Großteil der Bevölkerung somit aktiv aus der Stadt ausgeschlos- Stadt für alle! sen. Offene, gemeinschaftlich genutzte Vielleicht mögen Hotels und hochprei- Räume, an denen alle partizipieren, Ideen sige Wohnungen für die Profitinteressen ausgetauscht und nicht-gewinnorientierte eines vermögenden Teils der Gesellschaft Projekte entstehen können, verschwin- von Vorteil sein, doch Stadtplanung muss den zusehends. Deshalb gilt es, Orte wie das materielle, soziale und ökologische den Campus Bockenheim, die dieser zu Wohl aller in der Stadt lebenden Per- kritisierenden Entwicklung Frankfurts sonen berücksichtigen. Dazu gehören gegenüberstehen, zu bewahren und mehr unter anderem mehr günstiger Wohn- solcher Orte zu schaffen. raum, mehr Platz für alternative Projekte und ausreichend Grüne Lungen. Beson- Jannis Gebhard ders Studierende sind in der Regel auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen. Selbst mit einer Nebentätigkeit benötigt man als Student*in Glück und Geduld bei der Suche nach einer bezahlbaren Woh- nung oder einem preiswerten WG-Zim- mer. Fallen die Nebeneinkünfte plötzlich weg, wie momentan während der Coro- na-Pandemie, wird Leben in Frankfurt für Viele nicht mehr möglich. Private Studie- rendenwohnheime, deren Preise erst ab 800 € monatlich für ein Einzimmerapart- ment beginnen, sind hier definitiv nicht die Lösung. 1 https://www.ohdk.de/about/konzept (Stand: 31.03.2021). 2 https://ada-kantine.org/ueber-uns/ (Stand: 31.03.2021).
15 F R U O M Transformation des urbanen Alltags „Planer, Programmatiker, Benutzer rufen nach Anwei- sungen. Zu welchem Zweck? Um die Leute glücklich zu machen. Um ihnen zu befehlen, glücklich zu sein. Merkwürdige Vorstellung vom Glück.“ (Henri Lefèbvre) hergestellt werden. Neben das Wohnen tritt das Bewohnbar-Machen und hier- für benötigen wir nicht nur bezahlbare Wohnungen, sondern auch Diskussionen, Werkstätten und Labore. Das Studierendenhaus war von Beginn an ein Ort, an dem etwas Neues versucht wurde. Es sollte ein Beitrag zur Demokra- tisierung sein, bestimmt als „Ungezwun- genheit im Verkehr mit sich und anderen, der Freude an persönlicher Unabhängig- keit und Selbstbehauptung“3. Dies bedeu- tete, das Haus im weiten Sinne bewohn- bar zu machen. Hier entstand nicht nur ein Wohnheim für 130 Studierende, son- dern ein Festsaal, eine Mensa, die nicht nur für Studierende geöffnet war, eine Biblio- thek, Leseräume, ein Klubzimmer, ein Sit- Nur auf den ersten Blick scheint das Zitat jeder bemalte Stein im öffentlichen Raum zungssaal, eine Wein- und Bierstube etc. von Lefèbvre, das die Planungen „von drückt diese Teilhabe und die Forderung Fast hätte auch ein Hallenbad im Keller oben“ ohne Beteiligung der Leute als Pro- nach mehr aus. Jede Veranstaltung, jedes weitere Glücksmomente möglich gemacht blem benennt, Folgendes auf den Punkt zu Treffen, jeder Streit im Offenen Haus der – dieses schien dann jedoch zu teuer. Über bringen: Wer den heutigen urbanen Alltag Kulturen1 stellt bereits eine Übernahme die Jahrzehnte konnte sich das Demokra- betrachtet, vermisst selbst die genannte des Hauses dar und fordert mehr ein. Die tie-Labor transformieren, Räume wur- Zweckbestimmung glücklich zu machen, Stadtbewohner*innen sind nicht passi- den verändert, neue Nutzungen entstan- oder den Befehl dies zu sein. An Lefèbv- viert. Sie sind aktiviert und bringen selbst den, die Idee der Selbstverwaltung wurde res „Revolution der Städte“ anzuknüpfen eine neue Urbanität hervor. gestärkt. 1964 traten aus Protest gegen bedeutet jedoch nicht, die Analysen auf eine Erhöhung der Mensapreise Studie- die heutigen Verhältnisse zu übertragen, 2. Was ist Wohnen? rende in den Streik und schufen mit einem sondern neue Antworten auf seine Fra- Wird Wohnen tatsächlich mit der urba- Feuer vor dem Studierendenhaus symbo- gen zu finden. nistischen Rationalität auf „elementare lisch ihre eigene Mensa. 1976 entstand Funktionen wie Essen, Schlafen und Fort- der „Frauen-AStA“ und setzte durch, dass 1. Wie stellt sich der heutige pflanzung“2 reduziert? Wohnen ist auch aus zwei zusammenhängenden Räumen städtische Alltag dar? im Französischen ein Verb und drückt eine im Erdgeschoss ein „Frauenraum“ wurde. Der städtische Alltag lässt sich nicht als Aktivität aus. Kein Wohnen lässt sich auf Das Haus war bereits seit Ende der 1960er Passivität der Bewohner*innen beschrei- die hier sogenannten elementaren Funkti- Jahre Ausgangspunkt von Protestbewe- ben. Viele Einzelpersonen und ebenso onen reduzieren. Wohnen bedeutet immer gungen; in den 1980er und 1990er Jahren viele Initiativen experimentieren und auch Gestalten. Das Problem ist jedoch, richteten sich Kritik und Protest auch nach erschaffen im Kleinen eine neue Urbani- dass nicht einmal die urbanistische Rati- innen: Es fanden verstärkt Auseinander- tät, die sich durch eine Teilhabe an der onalität herrscht, sondern ein Regime, setzungen zwischen verschiedenen Nut- Gestaltung auszeichnet. Eine solche Teil- dass es nicht allen – und immer weniger zergruppen statt.4 habe ist nicht genehmigungspflichtig und Menschen – ermöglicht zu Wohnen. Die Eine andere Erzählung würde den Alltag es muss nicht zu ihr eingeladen werden. Bewohnbarkeit der Stadt kann nur durch in den Blick nehmen, der zeigt, dass es hier Jedes Beet, jedes bestrickte Geländer, eine Verbindung von Protest und Projekt nicht an Beispielen dafür mangelt, dass
16 »Eine solche Teilhabe ist nicht genehmigungs- pflichtig und es muss nicht zu ihr eingeladen werden. Jedes Beet, jedes bestrickte Geländer, jeder bemalte Stein im öffentlichen Raum drückt diese Teilhabe und die Forderung nach mehr aus.« soziale Praktik nicht als Sache der Poli- tiker*innen begriffen wurde. Auch über Jahrzehnte hinweg bedeutete all dies, dass es einen gemeinsamen Alltag gab. Hier trafen sich – konjunkturellen Schwankun- gen unterworfen – täglich Studierende in der Kaffeepause zwischen Seminaren, aber auch Theorie-Arbeitsgruppen und Mit- glieder verfeindeter Hochschulgruppen sowie Menschen, die sich dort aus allen möglichen anderen Gründen aufhielten. Bei einer Tasse Kaffee im KOZ konnte man in den 1980er und 1990er Jahren in eine drogenpolitische Auseinandersetzung verwickelt werden oder etwas über die nächste Party erfahren. Nach dem schritt- weisen Umzug der Universität kehrte im Haus auch das Uni-Alltagsleben zurück. Doch es treffen sich hier weiterhin Grup- pen und es finden politische und kulturelle Veranstaltungen oder Kneipenabende und Partys statt – hoffentlich bald wieder! Diese Traditionslinie nimmt das Offene Haus der Kulturen auf, um ein neues Kapi- tel des Labors für Demokratie, für Selbst- bestimmung und für einen anderen städ- tischen Alltag zu schreiben. Regina Schleicher Offenes Haus der Kulturen 1 Das Offene Haus der Kulturen ist ein Verein, der das Studierendenhaus auf dem „alten“ Campus in Frankfurt-Bockenheim mitgestaltet und nach einem Auszug des AStAs übernehmen möchte. Siehe hierzu: https://www.ohdk.de/ (Stand: 31.03.2021). 2 Klaus Ronneberger, Vorwort zu Henri Lefèbvre: Die Revolution der Städte, 2014, 11. 3 Rede Max Horkheimer am 21. Februar 1953 beim Akademischen Festakt: Einweihung des Studentenhauses, 1953, 12f. 4 Vgl. Regina Schleicher, Kreative Muße und Protest: Das Studierendenhaus an der Goethe- Universität in Frankfurt am Main, in: Forum Wissenschaft 32 (1), 2015, 20ff.
U M FO 17 R Bilder einer Stadt Von Idealen des Wohnens und der Stadt Wenn man durch ein durchschnittliches Konsum vorbehalten, das Wohnen spielt Stadt kann nur auf der Basis einer Redefi- Wohnviertel schlendert, das in den letz- sich in reinen Wohnquartieren ab. nition der alten Praxis des Wohnens [...] ten Jahren entstanden ist, dann scheint Vollzieht man diese Entwicklung nach, geschaffen werden.“6 es, als würden wir uns weniger in einer so zeigt sich, wie sich Wohnen nach und Zentrale Begriffe dieser Grundlage für „Wohnungskrise“ als in einer „stadträum- nach zu einem Produkt gewandelt hat, die Zukunft der Stadt sind das Urbane und lichen Misere“ befinden. Doch die Krise des das von dem Gefüge der Stadt getrennt der Ausdruck des Wohnens. Der Begriff Wohnens liegt nicht in steigenden Prei- gesehen wird. 3 Diese Produktwerdung des „Urbanen Wohnens“ ist stark vom sen und der Wohnungsknappheit in Bal- des Wohnens beginnt mit der Rationali- Immobilienmarketing geprägt, das Pro- lungszentren, sondern im Verständnis von sierung des Wohnungsbaus in der Stadt dukte verkauft. Doch muss der Begriff neu Wohnen und der daraus resultierenden des neunzehnten Jahrhunderts. Da die besetzt sowie insbesondere mit tatsäch- Stadtproduktion. Stadt die Arbeiter*innen, die sie anzieht, lichen Erfahrungen gefüllt werden. nicht mehr aufnehmen kann, entstehen „Jeder [...] neue Siedlungstyp bringt neue Siedlungen vor den Toren der Stadt. Was ist eigentlich Urbanität? für sich wiederum eine neue Form des Zugleich steigt der Wert des Bodens im Der Gegenstand der Stadt ist komplex Wohnens und der Stadt hervor.“1 Zentrum der Stadt immens an. Ein sich und vielschichtig. Bei der Frage, was Stadt Christoper Dell entwickelnder Wohnungsmarkt wird zum eigentlich ausmacht, wird schnell klar, Hauptmechanismus der Wohnraumver- dass durch abstrakte Größen wie der Ein- Das Wohnen berührt jeden Menschen. Im sorgung. Eigentum an und die Investition wohnerzahl oder der Anzahl von Arbeits- Wohnen drückt sich die Art, wie wir in in Wohnraum werden vermehrt zu gezielt plätzen das Wesen des Städtischen nicht Gemeinschaft, Nachbarschaft und Gesell- gesellschaftspolitisch geförderten Geld- zu greifen ist. Um sich dem Phänomen schaft zusammenleben, aus. Wie wir woh- anlagen4 und durch die Wertsteigerung Stadt zu nähern, muss man auf die Quali- nen ist also ein bestimmender Faktor des Bodens zum Spekulationsobjekt. Der täten der Stadt, sprich auf die Merkmale für das Bild unserer Städte. Doch woher Anlagewert der Wohnungen gewinnt an von Urbanität schauen.7 kommen die Wohntrends und Normen, Bedeutung, der praktische Nutzen, das In der Minimaldefinition, die Louis nach denen heute überwiegend gebaut Wohnen, tritt demgegenüber in den Hin- Wirth 1938 formulierte, wird Urbanität und gelebt wird? Wesentliche Züge heu- tergrund. Analog vollzieht sich die Funk- wie folgt beschrieben: „Thus the larger, tiger Wohnvorstellungen haben ihren tionalisierung des Wohnens. Wohnen, das the more densely populated, and the more Ursprung im neunzehnten Jahrhun- zuvor eingebettet war und Teilhabe an heterogeneous a community, the more dert. 2 Das Wohnen in der Kernfamilie sozialem Leben bedeutete, wird als Funk- accentuated the characteristics associa- wird dort zum breiten gesellschaftlichen tion isoliert und aus dem hochkomplexen ted with urbanism will be.“8 Der Titel des Ideal, das mit der Trennung von Arbei- Ensemble der Stadt herausgelöst.5 Mit der Aufsatzes, ‚Urbanism as a way of Life‘ – ten und Wohnen einhergeht. Während Warenförmigkeit geht auch eine zuneh- also Urbanität als Lebensform – gibt Auf- die Stadt des neunzehnten Jahrhunderts mende Gleichförmigkeit des Wohnraums schluss darüber, wie hier das Urbane defi- jedoch nur einem gewissen Teil der Gesell- einher. Die Wohnform entspricht der Pro- niert wird: Die physisch realen Struktu- schaft ermöglichte, die neuen Wohnide- duktform. ren der Stadt haben Einfluss auf den Men- ale auch zu leben, hob der Städtebau der Dem Wohnen als Produkt steht das Kon- schen und die Lebensführung in der Stadt, Nachkriegszeit den Wohnstandard Vie- zept von Wohnen als Praxis gegenüber. Um sie sind also eng mit dem verschlungen, ler. Während neue Wohnquartiere in Form der heutigen „stadträumlichen Misere“ was Urbanität ausmacht; dennoch sind von Groß- und Eigenheimsiedlungen nicht begegnen zu können, braucht es eine Auf- sie nicht mit deren Wesen gleichzuset- nur am Rand, sondern auch weiter außer- fassung von Stadt, in der das Wohnen eine zen. Urbanität wird nicht an der Ansamm- halb der Stadt realisiert werden, voll- zentrale Rolle einnimmt, und ein Bewusst- lung von Häusern, Straßen und Denkmä- zieht sich eine zunehmende Trennung der sein für das Wohnen, welches weit über lern, sondern an den Menschen, den Stadt- städtischen Funktionen. Die Innenstadt eine funktionalistische Definition hinaus- bewohner*innen, festgemacht. Sie wird ist mehr und mehr der Arbeit und dem geht: „[Die] Grundlage für eine Theorie der anhand der „Art und Weise, wie die Stadt-
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