150 Jahre 218 - Eine Kampagne zum "Jubiläumsjahr" Kriminalisierung und Abtreibungsstigma

Die Seite wird erstellt Dirk Martin
 
WEITER LESEN
150 Jahre 218 - Eine Kampagne zum "Jubiläumsjahr" Kriminalisierung und Abtreibungsstigma
Nr. 2–3 I 2021

 150 Jahre §218

Eine Kampagne         Kriminalisierung und        Was kommt nach
zum „Jubiläumsjahr“   Abtreibungsstigma           dem §218 StGB?
 2–3 I 2021                                                        I1
150 Jahre 218 - Eine Kampagne zum "Jubiläumsjahr" Kriminalisierung und Abtreibungsstigma
INHALT

EDITORIAL 3
                                                                                                                                            150
                                                                                                                                        KRIMINAJLAISH RE
NACHRICHTEN – AKTUELLES                                             4
                                                                                                                                          SIN D GENIEURUNG
                                                                                                                                                       G!
150 Jahre §218
Hexen-Bulle, Peinliche Gerichtsordnung – und immer der §218 StGB
Verena Mörath                                                   6

Die Haltung von pro familia zum ­Schwangerschaftsabbruch 

Wie sich Kriminalisierung und
                                                               11
                                                                                                                                        § 218
Abtreibungsstigma gegenseitig bedingen
Marietta Wildt                                               12

Die Uhr für sichere Schwangerschafts­abbrüche                                                                                                    SCHW GE
                                                                                                                                                ABBRUCAN   RSCHAFTS-
                                                                                                                                                       H – CH
steht auf fünf vor zwölf                                                                                                                            VERURTRE   T ST
                                                                                                                                                          EI LUNG ATT
                                                                                          www.prof

Kersten Artus                                           15
                                                                                                        amilia.de/150j
                                                                          © 2021 pro
                                                                                       familia Deutsc                         ahre
                                                                                                     he Gesellschaft
                                                                                                                       für Familie
                                                                                                                                  nplanung,
                                                                                                                                              Sexualpädag
                                                                                                                                                         ogik und Sexual
                                                                                                                                                                        beratung e.V.,
                                                                                                                                                                                         Bundesverba
                                                                                                                                                                                                    nd, Mainze
                                                                                                                                                                                                              r Landstraße
                                                                                                                                                                                                                             250-254, 60326
                                                                                                                                                                                                                                              Frankfurt am
                                                                                                                                                                                                                                                             Main, Telefo
                                                                                                                                                                                                                                                                         n 069 / 26
                                                                                                                                                                                                                                                                                      95 77 90, www.p
                                                                                                                                                                                                                                                                                                     rofamilia.de

Streichung der §§218/219 aus dem Strafgesetzbuch –
und dann?
Gespräch mit Dörte Frank-Boegner, Prof. Dr. Ulrike Busch,
Dr. Christine Gathmann und Heike Pinne16

Das Projekt ELSA –
„Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer“
Daphne Hahn                                             24

Nationale Leitlinie Sicherer Schwangerschaftsabbruch –
was sie bewirken könnte
Katharina Rohmert                                       28

pro familia Bundesdelegiertenversammlung tagte virtuell
Regine Wlassitschau                                    31

§218 StGB: 150 Jahre Kriminalisierung sind genug!       32

PIA – PRO FAMILIA IN ACTION
Happy (?) BIRTHday, §218 20                                                                                      In eigener Sache
                                                                                                                  Die Bundesgeschäftsstelle hat das Adress­
NACHRICHTEN AUS DEM VERBAND                                             33                                       verwaltungssystem für den Versand des
                                                                                                                  pro familia magazins modernisiert und digi­
REZENSIONEN                                                                                                       talisiert. Dabei können Fehler auftauchen oder
                                                                                                                  Unstimmigkeiten in den Daten auftauchen.
Trans* und Sex                                                          37                                       Bei prüfen Sie daher die Adressangaben auf
Fünfzig Frauen – kein Kind                                              38                                       der Rückseite Ihres Heftes. Stimmt alles?
                                                                                                                  ­Unstimmigkeiten, doppelt versendete oder
Sex ist wie Brokkoli, nur anders                                        38
                                                                                                                   ­fehlende Hefte können Sie uns an
                                                                                                                    info@profamilia.de melden.
                                                                                                                    Vielen Dank für Ihre Unterstützung.
TERMINE / VORSCHAU / IMPRESSUM 39

2I                                                                                                                                                                                                                                                               2–3 I 2021
150 Jahre 218 - Eine Kampagne zum "Jubiläumsjahr" Kriminalisierung und Abtreibungsstigma
EDITORIAL

    150 Jahre Kriminalisierung sind genug
             Schwangerschaftsabbruch: Recht statt Verurteilung

   Seit Mai 1871, also seit                                                                  sende medizinische Ver-
150 Jahren, steht der §218                                                                   sorgung, Beratung und
im Strafgesetz. Das wol-                                                                     Information zum Schwan-
len und können wir nicht                                                                     gerschaftsabbruch.     Die
unwidersprochen hinneh-                                                                      bestehende verpflichten-
men, sondern wir müssen                                                                      de und zielorientierte Be-
als pro familia Verband für                                                                  ratung zum Schwanger-
das Recht auf medizinische Versorgung und Information          schaftsabbruch entmündigt gebärfähige Menschen und
zum Schwangerschaftsabbruch eintreten. Seit der Grün-          diskreditiert sie in ihrer selbstbestimmten verantwort-
dung des pro familia Bundesverbands vor fast 70 Jahren         lichen Entscheidungsfähigkeit. Ärzt*innen müssen das
begleitet uns die Auseinandersetzung um den §218. Bis          Recht und die Freiheit haben, über ihre medizinische Ver-
1974 standen Schwangere und Ärzt*innen, die Schwanger-         sorgung und Behandlung zum Schwangerschaftsabbruch
schaftsabbrüche durchführen wollten, unter Strafe. 1974        zu informieren. Der §219a hat eine Stigmatisierung und
gab es den Versuch von SPD und FDP, eine Fristenregelung       Kriminalisierung der Ärzt*innen zur Folge und verhindert,
bis zur zwölften Schwangerschaftswoche einzuführen,            dass sich Schwangere umfassend und sachgerecht über
die 1975 durch eine erweiterte Indikationsregelung er-         medizinische Leistungen zum Schwangerschaftsabbruch
setzt wurde. In der DDR wurde 1972 eine Fristenregelung        informieren können.
eingeführt, die bis zur Wende Bestand hatte. Seit 1995
besteht die jetzige Regelung in den §§218/219 StGB, die ei-    Deshalb wollen wir innerhalb unseres Verbands und in
nen Schwangerschaftsabbruch nach wie vor unter Strafe          Gesellschaft und Politik einen Prozess anstoßen. In diesem
stellt. Für den pro familia Bundesverband ist der §218 ein     „Jubiläumsjahr“ arbeiten wir mit unserer Kampagne und
zentraler Dreh- und Angelpunkt, der uns in allen Arbeits-      zusammen mit vielen anderen Akteur*innen zunächst
bereichen beschäftigt: In der Verhütungsberatung, in der       daran, dass in Gesellschaft und Politik das Bewusstsein
Pflichtberatung zum Schwangerschaftsabbruch, in der            dafür geschärft wird, welche negativen Auswirkungen die
Schwangerschaftsberatung, in den medizinischen Zent-           Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und der
ren, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, in sexu-        Strafrechtsparagraf 218ff für Schwangere, Beratungs- und
alpädagogischen Veranstaltungen … Der Grund dafür: Die         ärztliche Praxis hat. Aber es kann nicht nur um „weg mit
Möglichkeit, einen sicheren Schwangerschaftsabbruch            §218“ gehen. Wir sagen: Der Schwangerschaftsabbruch
vorzunehmen und bei der Entscheidung und Umsetzung             muss und kann anders geregelt werden, im Einklang mit
unterstützt zu werden, ist zentral für viele gebärfähige       den Menschenrechten und evidenzbasiert. So planen
Menschen.                                                      wir mit unserer Kampagne „150 Jahre Krimina­lisierung
                                                               sind genug …“ bundesweit zahlreiche Aktionen, um uns
Im Zuge unserer Arbeit im Spannungsfeld geltender              lautstark für eine Neuregelung des Schwangerschaftsab-
­Gesetze haben wir uns immer wieder mit den §§218/219a         bruchs einzusetzen. Wir freuen uns sehr, dass Ihr alle da-
 auseinandergesetzt, aber uns auch mit der gesetzlichen        bei seid! Herzlichen Dank!
 Regelung im Schwangerschaftskonfliktgesetz arrangiert.
 Jetzt ist es Zeit, als pro familia Verband eine außerstraf-   Dörte Frank-Boegner, Vorsitzende des pro familia Bundes-
 rechtliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs           verbands, und Stephanie Schlitt, stellvertretende Vorsitzen-
 zu fordern. Schwangere brauchen das Recht auf umfas-          de des pro familia Bundesverbands

2–3 I 2021                                                                                                              I3
150 Jahre 218 - Eine Kampagne zum "Jubiläumsjahr" Kriminalisierung und Abtreibungsstigma
NACHRICHTEN – AKTUELLES

                           Keine Belagerung                         Eilverfahren des Verwaltungsgerichts    der Versammlungs-, Meinungs- so-
                           von Beratungsstellen                     mit der Begründung abgelehnt wor-       wie Glaubens- und Bekenntnisfrei-
                              Vor zwei Jahren war die Belage-       den war, dass die Entscheidung der      heit der Klägerin gebracht, so das
                           rung der Pforzheimer pro familia         Versammlungsbehörde voraussicht-        Gericht. Außerdem sei bei der Aufla-
                           Beratungsstelle durch Gegner*innen       lich rechtmäßig sei. Diese Einschät-    ge berücksichtigt worden, dass eine
                           reproduktiver    Selbstbestimmung        zung hat das Verwaltungsgericht         Versammlung noch im Nahbereich
                           gerichtlich untersagt worden. Das        nun mit Urteil im Hauptverfahren        der Beratungsstelle möglich sei. Das
                           Verwaltungsgericht Karlsruhe be-         bestätigt.                              Urteil ist noch nicht rechtskräftig und
                           fand nun, dass diese Entscheidung        Die geplante Versammlung hätte          kann mit der Berufung vor dem VGH
                           rechtmäßig war (AZ 2 K 5046/19,          in ihrer beabsichtigten Form das        Baden-Württemberg         angefochten
                                                                            allgemeine Persönlichkeits-     werden.
©: pro familia Pforzheim

                                                                            recht der Frauen verletzt,      https://t1p.de/a0gz
                                                                            die aufgrund eines Schwan-
                                                                            gerschaftskonflikts die Be-
                                                                            ratungsstelle hätten aufsu-     Wie lange noch? Der §219a
                                                                            chen wollen. Das allgemeine     StGB kriminalisiert Ärzt*innen!
                                                                            Persönlichkeitsrecht schütze      Erneut ist ein Arzt wegen §219a
                                                                            die engere persönliche Le-      StGB verurteilt worden. Das Amts-
                                                                            benssphäre, wozu Schwan-        gericht Coesfeld hat am 20. Mai
                                                                            gerschaftskonflikte gehörten.   2021 den Gynäkologen Detlef Mer-
                           Urteil vom am 12. Mai 2021). Denn        Das Gericht betont in der Urteilsbe-    chel zu einer Geldstrafe verurteilt,
                           Frauen, die sich in einem Schwan-        gründung das Recht der betroffenen      weil er auf seiner Webseite über
                           gerschaftskonflikt befinden, dürfen      Frauen, eine anerkannte Schwanger-
                                                                                                            ©: Kersten Artus

                           keinem Spießrutenlauf zwischen           schaftsberatungsstelle ohne „Spieß-
                           Abtreibungsgegner*innen         ausge-   rutenlauf“ durch eine 40 Tage und
                           setzt werden, wenn sie eine Bera-        damit über mehrere Wochen dau-
                           tungsstelle betreten.                    ernde, blockadeartige Versammlung
                           Mit dem Urteil hat das Verwaltungs-      von Abtreibungsgegner*innen zu
                           gericht seine bereits zuvor in einem     erreichen. Der geplante Versamm-
                           Eilverfahren ergangene Entscheidung      lungsort direkt gegenüber der Bera-
                           (VG Karlsruhe, Beschluss v. 12.4.2019,   tungsstelle sei gerade darauf aus-
                           2 K 1979/19) bestätigt. In beiden Ver-   gerichtet gewesen, die betroffenen      den Schwangerschaftsabbruch, den
                           fahren hat das Gericht die Unter-        Frauen einer Anprangerung und           er in seiner Praxis durchführt, in-
                           sagung einer von– zum Teil religiös      Stigmatisierung auszusetzen. Die-       formiert. Durch den §219a können
                           motivierten – Demonstrant*innen          ser hätten sie aufgrund des langen      Abtreibungsgegner*innen dies als
                           geplanten 40-tägigen „Mahnwache“         Versammlungszeitraums und des           „Werbung“ deklarieren und ihn des-
                           unmittelbar gegenüber dem Gebäu-         begrenzten Angebots an anderen          halb anzeigen.
                           de der Beratungsstelle von pro fa-       Beratungsstellen in Pforzheim auch      Um gegen den §219a StGB und diesen
                           milia für rechtmäßig erklärt. Die De-    kaum ausweichen können. Darüber         erneuten Prozess zu protestieren, ha-
                           monstration war für den Zeitraum 6.      hinaus hätte die geplante Versamm-      ben 43 Organisationen, darunter der
                           März 2019 bis 14. April 2019 beantragt   lung auch das Beratungskonzept des      pro familia Bundesverband, sich mit
                           worden, die Versammlungsbehörde          Schwangerschaftskonfliktgesetzes        Detlev Merchel solidarisiert. In ei-
                           der Stadt Pforzheim hatte die Ver-       nachhaltig beeinträchtigt. Die räum-    ner gemeinsamen Pressemitteilung
                           sammlung aber zeitlich und örtlich       liche Verlagerung der Demonstrati-      forderten sie die Abschaffung des
                           beschränkt. Die Organisator*innen        on habe das allgemeine Persönlich-      §219 StGB. „Die §218 und §219a StGB
                           der Versammlung hatten dagegen           keitsrecht der betroffenen Frauen in    verletzen in unerträglicher Weise die
                           Widerspruch eingelegt, der in einem      einen angemessenen Ausgleich mit        sexuellen und reproduktiven Rechte

                           4I                                                                                                            2–3 I 2021
150 Jahre 218 - Eine Kampagne zum "Jubiläumsjahr" Kriminalisierung und Abtreibungsstigma
NACHRICHTEN – AKTUELLES

von Frauen, wie sie die Menschen-         den Gesetzesentwurf mit dem Titel       Erschwerter Zugang
rechte und die UN-Konvention zur          „Legaler Schwangerschaftsabbruchs       zu Cytotec®
Beseitigung jeder Form von Diskri-        ohne Kompromisse“ vorstellten. Das        16 Organisationen, darunter pro
minierung der Frau (CEDAW) inter-         Komitee will 100.000 Unterschriften     familia, haben sich am 16. April 2021
national garantieren“, heißt es darin.    sammeln, damit dieser bürgerliche       in einem gemeinsamen Brief an
Die BRD hat die genannten Verträge        Gesetzesentwurf dem polnischen          Bundesgesundheitsminister Spahn
unterschrieben und sich damit ver-        Parlament zur Debatte vorgelegt         und an das Bundesinstitut für Arz-
pflichtet, diese Rechte umzusetzen.       werden kann. Die Hauptforderungen
https://t1p.de/tdsp                       im Gesetzesentwurf sind:
                                          ●
                                            Legaler Schwangerschaftsabbruch
                                          im Rahmen der öffentlichen Gesund-
Bürgerinitiative für die                  heitsfürsorge bis zur 12. Woche, ohne
Legalisierung des Schwanger-              die Patientin nach dem Grund zu fra-
schaftsabbruchs in Polen                  gen;
   Am 22. Oktober 2020 entschied das      ●
                                            Legaler Schwangerschaftsabbruch
polnische Verfassungsgericht, dass        im Rahmen des öffentlichen Gesund-
der Zugang zum Schwangerschafts-          heitssystems nach der 12. Woche im
abbruch aufgrund einer „hohen             Falle von fötalen Defekten oder wenn
Wahrscheinlichkeit einer schweren         die Schwangerschaft eine Folge einer    neimittel und Medizinprodukte
und irreversiblen Behinderung des         kriminellen Handlung ist;               (BfArM) gewandt. Grund dafür ist die
Fötus oder einer unheilbaren Krank-       ●
                                            Einführung von Fristen, innerhalb     Entscheidung des Bundesgesund-
heit, die sein Leben bedroht“ verfas-     derer die Ärzt*innen dem Wunsch         heitsministeriums, dass Cytotec®
sungswidrig ist. Diese Entscheidung       nach       Schwangerschaftsabbruch      nur noch unter erschwerten Bedin-
noch dazu von einem Gericht, dessen       nachgekommen sein müssen und            gungen nach Deutschland einge-
Legitimität selbst der Europäische        Sanktionen für Ärzt*innen, die das      führt werden kann, weil es für Ne-
Gerichtshof für Menschenrechte            Recht auf Weigerung aus Gewissens-      benwirkungen und Komplikationen
anzweifelt, führte immer wieder zu        gründen missbrauchen;                   in der Geburtshilfe verantwortlich
heftigen Protesten. Am 27. Januar         ●
                                            Verpflichtung der Klinikleitun-       gemacht wird. Die 16 Organisatio-
2021 wurde der Beschluss des Verfas-      gen, Subunternehmer einzustellen,       nen fordern, die Entscheidung für
sungsgerichts im Gesetzblatt veröf-       wenn alle in der Einrichtung tätigen    den erschwerten Zugang zu Cytotec®
fentlicht, was das formelle Inkrafttre-   Ärzt*innen vom Weigerungsrecht          zurückzunehmen. Denn Cytotec®
ten der Entscheidung bedeutet. Die        aus Gewissensgründen Gebrauch           (Misoprostol) hat viele wichtige An-
Veröffentlichung löste erneut Protes-     machen;                                 wendungsgebiete und ist nicht ohne
te in ganz Polen aus.                     ●
                                            Entkriminalisierung des Schwan-       Grund seit 2009 von der Weltgesund-
Als Antwort auf diese Entschei-           gerschaftsabbruchs: keine straf-        heitsorganisation WHO auf der Liste
dung der Politiker, die von der ka-       rechtliche Verfolgung von Ärzt*innen    der „essentiellen Medikamente“ auf-
tholischen Kirche und religiösen          und medizinischem Personal, die         geführt. Diese Medikamente sollen
Fundamentalist*innen unterstützt          gegen die restriktiven Regelungen       laut WHO in einem funktionierenden
werden, gründeten die Vertreterin-        des Schwangerschaftsabbruchs ver-       Gesundheitssystem in notwendiger
            nen polnischer feminis-       stoßen.                                 Dosierung und zu einem vernünfti-
              tischer Organisationen      Die Gesetzesinitiative wird von der     gen Preis verfügbar sein. Den Zugang
               und Abgeordnete der        Polnischen Föderation für Frauen        zu diesem essentiellen Medikament
                Linkspartei   (Lewica)    und Familienplanung unterstützt,        zu erschweren, hätte große Folgen
                ein Legislativkomitee     einer Nichtregierungsorganisation,      für die Gesundheitsversorgung von
              und organisierten im        die 1991 gegründet wurde, um für se-    ungewollten und gestörten Schwan-
            Februar 2021 eine Pres-       xuelle und reproduktive Gesundheit      gerschaften. Der Offene Brief ist hier
           sekonferenz, auf der sie       und Rechte zu kämpfen.                  abrufbar: https://t1p.de/3pyv
150 Jahre 218 - Eine Kampagne zum "Jubiläumsjahr" Kriminalisierung und Abtreibungsstigma
150 JAHRE §218

Hexen-Bulle, Peinliche Gerichtsordnung –
      und immer der §218 StGB
                                                    Verena Mörath

Im Laufe der letzten Jahrhunderte         ne positive Entwicklung im Sinne der     den Räumen des Frank-Mehring-Plat-
gab es einige „Abtreibungsparagra-        reproduktiven      Selbstbestimmung      zes 1 (FMP1) in Berlin-Friedrichshain:
fen“, in seiner letzten Fassung exis-     von Frauen zu bilanzieren. Deshalb       Hier ist eine Ausstellung mit dem Ti-
tiert der §218 nunmehr seit 150 Jah-      gab es in den letzten anderthalb         tel „Maria und der Paragraph“ zu se-
ren. Die Autorin schildert, welche        Jahrhunderten viele Initiativen und      hen, die multimedial die Geschichte
Auswirkungen er auf ungeplant             heftige Proteste gegen die Krimina-      und die Debatten um den §218 StGB
schwangere Frauen hatte und hat.          lisierung des Schwangerschaftsab-        rückblickend von heute nach dem
                                          bruchs und für die Streichung des        Mauerfall und der deutschen Einheit,
                                          Paragrafen. Frauen haben immer           im Nationalsozialismus, in der Wei-
Jubiläen und besondere Jahrestage         wieder versucht, sich gegen die Ver-     marer Republik und im Kaiserreich
werden meist groß gefeiert. Es gibt       einnahmung ihres Körpers und Le-         erzählt. Maria, als fiktive Figur, führt
jedoch Daten, die keinerlei Anlass        bens sowie eine Gebärpflicht zu wi-      Besucher*innen durch 150 Jahre mit
zum Jubeln geben. Vor 150 Jahren,         dersetzen beziehungsweise haben          dem §218 StGB und macht die Not
im Jahr 1871, wurde der §218 mit der      sich für einen legalen Schwanger-        ungewollt Schwangerer greifbar. Die
Gründung des Deutschen Reichs in          schaftsabbruch eingesetzt. Fakt aber     zusammengestellten Exponate ver-
das Reichsstrafgesetzbuch aufge-          ist, dass seit 150 Jahren (und schon     mitteln hautnah, wie sehr die Lega-
nommen. Er sah für einen Schwan-          viele Jahrhunderte zuvor) Frauen in      lität beziehungsweise Illegalität ei-
gerschaftsabbruch eine Zuchthaus-         deutschen Gebieten und in Deutsch-       nes Schwangerschaftsabbruchs von
strafe von bis zu fünf Jahren vor:        land der Zugang zu einem straffreien     moralischen, religiösen, rechtlichen
Für ungewollt Schwangere, die eine        Schwangerschaftsabbruch verwehrt         und bevölkerungspolitischen Vorstel-
Schwangerschaft abbrechen, und            oder erschwert wurde und wird.           lungen von vorwiegend männlichen
                                                                                   Machthabenden abhängig war.

„Frauen haben die grundsätzliche Pflicht,
                                                                                   Hebammen sollen Schwangere
eine Schwangerschaft auszutragen.“                                                 ­überwachen
                                                                                    Tatsächlich verordnete schon 1484
ebenso für Ärzt*innen oder andere         Lediglich im Zeitraum 1972 bis zur        Papst Innozenz VIII. die „Hexen-Bul-
Personen, die einen Abbruch ma-           deutschen Einheit konnten Frauen          le“ und ließ Hebammen und kundige
chen. Seitdem der §218 StGB in der        in der DDR dank der außerstrafrecht­      Frauen verfolgen, weil sie „die Ge-
deutschen Geschichte existiert, wur-      lichen Fristenlösung bis zur zwölften     burte der Weiber umkommen ma-
de er mehrmals reformiert, aber eins      Schwangerschaftswoche ohne große          chen“ und rund 50 Jahre später, im
hat sich niemals verändert: Frauen        Hürden und Stigmatisierung einen          Jahr 1532, wurde mit der „Pein­lichen
haben die grundsätzliche Pflicht,         Schwangerschaftsabbruch vorneh-           Gerichtsordnung“ („Constitutio Cri-
eine Schwangerschaft auszutragen,
­                                         men lassen.                               minalis Carolina“) in weiten Teilen
und können nicht wirklich selbst-                                                   des europäischen Kontinents ein
bestimmt darüber entscheiden, ob          2021, im 150. Jahr seiner Gültigkeit,     Schwangerschaftsabbruch als straf-
und wann sie ein Kind bekommen            wird bundesweit kritisch und mah-         barer Tatbestand definiert – modifi-
wollen. So gibt es keinen Grund, den      nend auf die Folgen des §218 StGB auf-    ziert nach beseeltem und unbeseel-
150 Jahre alten §218 zu feiern oder ei-   merksam gemacht. So zum Beispiel in       tem Fötus – und Hebammen wurden

6I                                                                                                              2–3 I 2021
150 Jahre 218 - Eine Kampagne zum "Jubiläumsjahr" Kriminalisierung und Abtreibungsstigma
150 JAHRE §218

angehalten, Schwangere

                             ©: Andreas Domma, Ausstellung“ Maria und der Paragraph“
zu überwachen und Ver-
dächtige zu melden. Da
kam 1851 die Entschei-
dung, die Todesstrafe
im Preußischen Gesetz-
buch aufzuheben, quasi
einer Lockerung gleich,
es drohten „nur“ noch
fünf bis 20 Jahre Zucht-
hausstrafe.

Die      gesellschaftliche
Ordnung der Kaiserzeit
war schlicht: Die gute
deutsche Hausfrau be-
kommt viele Kinder und
erfüllt ihrem Ehemann
und dem Staat alle Wün-
sche. Das Frauenleben          Während des Nationalsozialismus sollten Frauen viele Kinder bekommen – es sei denn, sie waren
                               ­Angehörige sogenannter „minderwertigen Volksgruppen“. Diese waren oft von Zwangssterilisationen
gestaltete sich ganz            betroffen und die Strafe bei Schwangerschaftsabbrüchen galt für sie nicht.
nach dem Motto „Kir-
che-Küche-Kinderstube“. Es gab kein schaftsabbruch durchführen und zur Verbesserung des sozialen Elends
Wahlrecht, kein Recht auf Bildung halfen sich mit Kräutertrunken, mit zu bewegen. Aber schon damals war
und schon gar nicht auf Erwerbsar- Stricknadeln oder suchten „Engelma- die Bewegung gegen den §218 ge-
beit. Der §218 wurde in dieser Epoche cherinnen“ auf. Überliefert sind aus spalten: So sprach sich unter anderen
als der „Klassenparagraf“ betitelt, da der Jahrhundertwende von damals Clara Zetkin gegen eine Geburten-
er vor allem sozial schwache Frauen auch Sprünge von Tischen oder Trep- kontrolle aus, weil für den großen
in die Hände von Pfuschern gezwun- penabsätzen, Heben von sehr schwe- Befreiungskampf der Arbeiterklasse
gen hat. Wohlhabendere Frauen ren Gegenständen, sehr heiße Bäder jedes Kind gebraucht würde, nur eine
konnten sich seit jeher eine bessere oder direkte Einwirkungen auf den große Masse hatte aus ihrer Perspek-
gesundheitliche Versorgung leisten. Bauch einer Frau. Viele Frauen – ob tive die Chance zu gewinnen. Aber
Schließlich wurde der §218 als Straf- arm oder reich – sind an den Folgen viele Engagierte machten deutlich,
bestand 1871 offiziell in das Preußi- illegaler Schwangerschaftsabbrüche dass sie mit Clara Zetkin nicht über-
sche Strafgesetzbuch des Deutschen gestorben oder trugen gesundheit­ einstimmten und unterstützten den
Reiches aufgenommen und die Strafe liche Spätfolgen davon.                                  Gebärstreik mit dem Ziel, dass ein
auf sechs Monate hin zu fünf Jahren                                                         Mutter- und Säuglingsschutz durch-
Zuchthaus festgelegt. Der §218 sah Gebärstreik als politisches                              gesetzt und der Zugang zu Verhü-
somit eine strafrechtliche Verfolgung ­Kampfmittel                                          tungsmitteln und gesundheitlicher
in Fällen von Schwangerschaftsab- Ein erstes Aufbäumen von Frauen Versorgung ermöglicht wird sowie
brüchen vor.                                gegen den §218 und den staatlich Sexualaufklärung stattfindet.
                                            verordneten Muttermythos gab es
Schwangere, die ihr Kind nicht be- 1913. Dies ist als Gebärstreik in die Ge- Nach dem Ersten Weltkrieg loderte
kommen wollten beziehungsweise schichte eingegangen. Kinder nicht der Protest gegen §218 StGB in der
konnten – weil es unehelich oder zu gebären wurde von der damaligen Weimarer Republik wieder auf, 1926
ihre wirtschaftliche Not groß war –, Frauenbewegung als ein politisches wurde der Paragraf reformiert: Er galt
mussten einen illegalen Schwanger- Kampfmittel gesehen, um den Staat nicht mehr als ein Verbrechen gegen

2–3 I 2021                                                                                                                  I7
150 Jahre 218 - Eine Kampagne zum "Jubiläumsjahr" Kriminalisierung und Abtreibungsstigma
150 JAHRE §218

das Leben und wurde strafmildernd        Staat noch von Gemeinde genügend         Nach der nationalsozialistischen
„nur“ noch auf ein Vergehen herab-       berücksichtigt wird, solange die wirt-   Machtergreifung wurde die in der
gestuft. 1927 wurde im Kontext einer     schaftliche Not, besonders der Un-       Reform von 1926 gestrichenen §§219
höchstrichterlichen      Entscheidung    ehelichen, nicht aufhört, kann ich mir   und 220 (Bestrafung der Beihilfe zum
über einen des illegalen Schwan-         nicht gut eine Abnahme der Abtrei-       Schwangerschaftsabbruch) wieder
gerschaftsabbruchs        angezeigten    bungsseuche vorstellen“.                 eingeführt, zudem das Werben für
Arzt befunden, dass der Schwanger-                                                Mittel für den Schwangerschaftsab-
schaftsabbruch zur Behebung eines        Eindrücklich schilderte die deut-        bruch unter Strafe gestellt. Deutsche
Notstands erforderlich gewesen war.      sche Ärztin und Sexualreformerin         Frauen sollten viele Kinder bekom-
Dies führte jedoch nicht dazu, dass      Else Kienle in ihrem Buch „Frauen.       men, und solche, die viele hatten,
die schon damals diskutierte medi-       Aus dem Tagebuch einer Ärztin“, das      wurden mit dem Mutterkreuz ge-
zinische Indikation in ein Gesetz ge-    1932 in Berlin erschien, welche Nöte     würdigt und finanziell unterstützt.
fasst wurde. Für das Leben der Frauen    ungewollt Schwangere durchlebten.        Aber den Nationalsozialisten ging es
änderte sich durch die Gesetzesno-       Das Buch hatte Kienle während ihrer      nicht um den Schutz ungeborener
velle von 1926 nichts, zum einen blie-   sechswöchigen Untersuchungshaft          Kinder, sondern strategisch um Ras-
ben        Schwangerschaftsabbrüche      verfasst. Sie wurde unter dem Ver-       senpolitik: Am 1. Januar 1934 trat das
strafbar, zum anderen gab es in die-     dacht verhaftet, gewerblich Schwan-      Gesetz zur „Verhütung erbkranken
ser Ära kaum Ärzt*innen, die den Ein-    gerschaftsabbrüche durchzuführen.        Nachwuchses“ in Kraft und erlaubte
griff (legal) durchführen wollten.       Tatsächlich leitete Kienle die einzige   einen straffreien Schwangerschafts-
                                         Beratungsstelle des Reichsverbands       abbruch bei körperlich und/oder geis-
Eine Gegnerin des §218 StGB war die      für Geburtenregelung und Sozialhy-       tig beeinträchtigten Schwangeren
Berliner Frauenärztin Hermine Heus-      giene, aber das Gericht bezweifelte,     sowie ihre Zwangssterilisation aus
ler-Edenhuizen. Sie schrieb, „ein Volk   dass die von ihr vorgenommenen           „rassenhygienischen Gründen“. Be-
in Not lässt sich nicht durch einen      Schwangerschaftsabbrüche medizi-         troffen waren davon bis zu 400.000
Strafparagraphen erziehen, Not noch      nisch indiziert waren. Sie wurde nach    Menschen – nicht nur Frauen, eben-
weiter zu steigern, sondern es hilft     einem Hungerstreik schließlich ohne      so alkoholkranke und homosexuelle
sich verzweifelt, so gut und schlecht    Prozess entlassen. Mit ihrem Arztkol-    Männer. Die „Verordnung zum Schutz
es kann“. Ihre Forderungen von 1930      legen, Friedrich Wolf, initiierte Else   von Ehe, Familie und Mutterschaft“
sind noch heute aktuell: die kosten-     Kienle eine breite Bewegung gegen        verschärfte die Strafe bei Schwanger-
lose Abgabe von Verhütungsmitteln        den §218 StGB, die zu einer Kund-        schaftsabbrüchen: Diese konnten ab
durch Krankenkassen und Fürsorge-        gebung im Berliner Sportpalast mit       18. März 1943 mit der Todesstrafe für
verbände sowie eine Preisregelung        weit über 100.000 Menschen führte.       „Täter“ und Zuchthausstrafe für die-
für den Schwangerschaftsabbruch          „Weil wir glauben, dass kein noch so     jenigen, die den Schwangerschafts-
beziehungsweise die Versorgung Un-       gemildeter, noch so veränderter Pa-      abbruch machen ließen, geahndet
                                                                                  werden, nur dann nicht, wenn sie für
                                                                                  oder von nichtdeutschen Personen
„… weil wir wissen, dass jeder Strafparagraph
                                                                                  oder sogenannten „minderwertigen
nur neues Elend bringen kann.“                                                    Volksgruppen“ durchgeführt wurden.
                                                                                  Es ist nicht dokumentiert, wie vie-
bemittelter auf Kosten der Versiche-     ragraph sich gegenüber der Not, der      le Schwangerschaftsabbrüche zwi-
rungsträger. Auch Wilhelm Liepmann,      allgemeinen Zwangslage behaupten         schen 1933 und 1945 zwangsweise
damals Direktor des Deutschen Insti-     kann – weil wir wissen, dass jeder       stattgefunden haben.
tuts für Frauenkunde, betonte 1927       Strafparagraph nur neues Elend brin-
angesichts der geschätzten 25.000        gen kann, treten wir für eine gänzlich   Bundesrepublik übernimmt
Todesfälle auf 500.000 (illegale)        neue Regelung mit völliger Straffrei-    den Paragrafen fast unverändert
Schwangerschaftsabbrüche im Jahr,        heit ein“, argumentierte die Reforme-    Der §218 StGB wurde nach der Grün-
„solange Kindersegen weder von           rin damals.                              dung der Bundesrepublik Deutsch-

8I                                                                                                            2–3 I 2021
150 Jahre 218 - Eine Kampagne zum "Jubiläumsjahr" Kriminalisierung und Abtreibungsstigma
150 JAHRE §218

land tatsächlich fast unverändert

                                              ©: picture-alliance / dpa | Wolfgang Kumm
übernommen, die 1943 wieder ein-
geführte Todesstrafe wurde erst nach
zehn Jahren (!), 1953, gestrichen und
die medizinischen Indikationen no-
velliert. Es etablierten sich in der BRD
konservative sexual- und familien-
politische Vorstellungen und bevöl-
kerungspolitische Ziele: viele Kinder.
Ungewollt Schwangere mussten im-
mer noch illegale Schwangerschafts-
abbrüche für sich organisieren, und
diese kosteten zwischen 400 und
700 DM. In dieser Zeit verdienten
Arbeiter*innen in Vollzeit zwischen
298 (1951) und 467 (1959) im Monat,
wer einen Schwangerschaftsabbruch
finanzieren musste, kam leicht in fi-
nanzielle Nöte. Oder aber sie wurden
verurteilt: 1955 waren es 1033 Frauen                                                     DDR-Bürger*innen demonstrieren am 22. April 1990 in Ost-Berlin gegen die
                                                                                          ­Übernahme des bundesdeutschen Paragraphen 218.
und Ärzt*innen, die wegen des Tat-
bestands des illegalen Schwanger-
schaftsabbruchs bestraft wurden.           nicht die moralische Ächtung und                                                       gerichts durch die konservative CDU
Der Autor Michael Karl schreibt in         auch nicht die Gefahr für Gesundheit                                                   wurde am 18. Mai 1976 in der BRD
seinem Buch „Geschichte der Frauen-        und Leben.“ Aber die geforderte Libe-                                                  eine Indikationslösung gesetzlich
bewegung“ (2011), dass es 1961 – dem       ralisierung im Zuge der Strafrechtsre-                                                 verankert: Bei medizinischer, eugeni-
Jahr der Einführung der Antibaby-          form des §218 lief auch 1972 ins Leere.                                                scher, kriminologischer und sozialer
Pille – schätzungsweise eine Million       Dabei kamen in der BRD auf eine Ge-                                                    Indikation und einer verpflichten-
illegaler Schwangerschaftsabbrüche         burt drei illegale Schwangerschafts-                                                   den Beratung blieb ein Schwanger-
in Deutschland gegeben hat.                abbrüche. Die Persönlichkeitsrechte                                                    schaftsabbruch nunmehr straffrei. In
                                           der Frau versus uneingeschränktes                                                      Bayern beispielweise wurde aber die
Schwangerschaftsabbruch                    Lebensrecht des Ungeborenen wur-                                                       Indikationsregelung rigide ausgelegt,
im Westen …                                den gegeneinander ausgespielt.                                                         nur wenige Ärzt*innen waren bereit,
Mit dem Erstarken der Frauenbe­                                                                                                   eine Indikation auszustellen, und
wegung(en) ab 1968 wurde wieder            Noch bis zur letzten Minute wollte                                                     zudem gab es zu wenig Klinikbet-
die völlige Freigabe des Schwan-           die Frauenbewegung in der BRD mit                                                      ten für Schwangerschaftsabbrüche.
gerschaftsabbruchs gefordert, ein          der „Aktion letzter Versuch“ die Poli-                                                 In dieser Zeit fuhren Zehntausende
Höhepunkt der Zeit damals war das          tik 1974 umstimmen und drängte auf                                                     Frauen nach Holland oder England,
Stern-Manifest: 347 Frauen gaben           eine Fristenlösung. Im „Der Spiegel“                                                   um einen Schwangerschaftsabbruch
mit Foto und Namen zu: „Wir haben          bekannten sich über 300 Ärzt*innen                                                     durchführen zu lassen.
abgetrieben!“ Alice Schwarzer veröf-       dazu, dass sie Frauen in Not gehol-
fentlichte ein Buch, in dem 18 Frauen,     fen und abgetrieben hatten – ohne                                                      … und Osten
die abgetrieben hatten, über ihre Er-      Honorar. Ab dem 26. April 1974 galt                                                    In der DDR gab es außerstrafrechtli-
fahrungen berichteten und im Vor-          in der BRD tatsächlich für kurze Zeit                                                  che Regelungen für einen Schwan-
wort betonte sie: „Frauen treiben ab,      die Fristenregelung, wenn auch noch                                                    gerschaftsabbruch ab 1950, wenn
nichts kann sie daran hindern – nicht      im Rahmen des StGB. Aber nach der                                                      „die Austragung des Kindes das Le-
die von Gesetzen angedrohte Strafe,        Anhörung des Bundesverfassungs-                                                        ben oder die Gesundheit der schwan-

2–3 I 2021                                                                                                                                                           I9
150 Jahre 218 - Eine Kampagne zum "Jubiläumsjahr" Kriminalisierung und Abtreibungsstigma
150 JAHRE §218

geren Frau ernstlich gefährdet oder       Bayerische Staatsregierung, reichten     stärker in den Fokus der Öffentlich-
wenn ein Elternteil mit schwerer          eine Klage beim BVerfG ein – und         keit gerückt.
Erbkrankheit belastet ist“ (§11, Gesetz   gewannen. Die fortschrittlichere Re-
über den Mutter- und Kinderschutz         form des §218 wurde 1993 gekippt         Es gehört zur Lebensrealität von Frau-
und die Rechte der Frau). Jede andere     und der Paragraf verschärft: Wieder      en dazu, dass sie Kinder bekommen
Unterbrechung der Schwangerschaft         war ein Schwangerschaftsabbruch          können, aber auch, dass sie unge-
war auch hier verboten und wurde          rechtswidrig, wenn auch straffrei.       plant schwanger werden können
geahndet. Frauen nutzten in den           Wie schon 1927.                          und ein Kind nicht bekommen möch-
späten 1960er-Jahren daher die libe-                                               ten. Sie haben das Recht auf einen
ralen Regelungen in Polen und der         Eine nächste und letzte Reform des       niedrigschwelligen Zugang zu Be-
ČSSR, um für sich einen Schwanger-        §218 kam am 29. Juni 1995: „Wer ei-      ratung wie auch zu einem Schwan-
schaftsabbruch zu ermöglichen, bis        ne Schwangerschaft abbricht, wird        gerschaftsabbruch, der sie nicht zu-
dann ein Schwangerschaftsabbruch          mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jah-     sätzlich psychisch unter Druck setzt,
durch einen ärztlichen Eingriff bis zur   ren oder mit Geldstrafe bestraft.“       stigmatisiert oder in anderer Weise
zwölften Schwangerschaftswoche ab         Wenn auch nicht mehr als „Verbre-        belastet.
150 JAHRE §218

                                                            Position

      Die Haltung von pro familia zum ­Schwangerschaftsabbruch
   Seit der Gründung von pro familia im      staatlicher Einflussnahme über die      nicht in der Lage sind, einen Schwan-
   Jahr 1952 ist Schwangerschaftsab-         Fortsetzung oder den Abbruch einer      gerschaftsabbruch zu bezahlen, müs-
   bruch eines der herausragenden The-       Schwangerschaft entscheiden kön-        sen in einer ohnehin schon belasteten
   men in der Arbeit. Die Schwerpunkte       nen. In der Verankerung der beste-      Situation Anträge stellen und gera-
   der Auseinandersetzung mit dem            henden gesetzlichen Regelungen          ten möglicherweise sogar unter wei-
   Thema haben sich im Laufe der Jahre       zum Schwangerschaftsabbruch im          teren Rechtfertigungsdruck. Frauen*,
   verschoben und verändert. Konstant        Strafgesetzbuch sieht pro familia       die nicht unter die Verdienstgrenze
   geblieben sind Grundhaltungen und         eine Diskriminierung von Frauen in      fallen, wird eine beachtliche finanzi-
   elementare Forderungen, für die sich      Form einer massiven Einschränkung       elle Belastung zugemutet. Insgesamt
   der Verband einsetzt.                     ihrer Entscheidungsfreiheit und         erschwert die in Deutschland beste-
   Während sich die Gründungsmitglie-        Selbstbestimmung.                       hende Kostenregelung den Zugang
   der von pro familia 1952 darauf kon-                                              zum Schwangerschaftsabbruch.
   zentrierten, aufzuklären und wirk-        Die strafrechtliche Regelung            ● Der §219a StGB erschwert die Infor-
   same Prävention von ungewollten           ist kein theoretisches Problem          mation über das lokale Versorgungs-
   Schwangerschaften zu leisten, setzte      Die Verortung des Schwangerschafts-     angebot, da Ärzt*innen nicht veröf-
   sich pro familia in den 1960er-Jahren     abbruchs im Strafgesetzbuch hat         fentlichen dürfen, welche Methoden
   für eine Liberalisierung der straf-       unmittelbare Folgen für Frauen* und     sie anwenden, wie der Ablauf ist und
   rechtlichen Regelung des Schwan-          für Ärzt*innen:                         welche Kosten entstehen.
   gerschaftsabbruchs ein. In den            ● Frauen* sind in ihrem Recht auf       ● Das Weigerungsrecht (§12 SchKG)
   1970er-Jahren wirkte pro familia im       reproduktive Selbstbestimmung ein-      für das medizinische Personal, an
   Programm „§218-Modellberatungs-           geschränkt.                             einem      Schwangerschaftsabbruch
   stellen“ mit, entwickelte aber in der     ● Die Strafandrohung trägt zur          teilzunehmen, kann zu lokalen Ver-
   Folge eine immer kritischere Haltung      Stigmatisierung von Frauen* und         sorgungsengpässen führen.
   zum Indikationsmodell mit Pflicht-        Ärzt*innen, die Schwangerschafts-       ● Der Druck des Strafgesetzes führt
   beratung und beschrieb 1983 erst-         abbrüche durchführen, bei, da           zu einer schlechteren Versorgung
   mals die Perspektive einer Regelung       der Schwangerschaftsabbruch in          ungewollt schwangerer Frauen*. Dies
   des Schwangerschaftsabbruchs mit          die Nähe von Mord und Totschlag         betrifft vor allem die Bereitstellung
   anderen als strafrechtlichen Mitteln.     gerückt wird.                           eines flächendeckenden Angebots
   1986 schließlich verabschiedete die       ● Die Pflichtberatung und die drei-     an medizinischen Einrichtungen, die
   pro familia Delegiertenversammlung        tägige Wartezeit vor einem Schwan-      Qualität medizinischer Behandlung
   den Beschluss: „Der Verband setzt         gerschaftsabbruch erleichtern keine     und persönlicher Betreuung sowie die
   sich für die ersatzlose Streichung des    Entscheidungsprozesse,       sondern    Wahlmöglichkeit der Methoden.
150 JAHRE §218

             Wie sich Kriminalisierung und
             Abtreibungsstigma gegenseitig
                       bedingen
                                                     Marietta Wildt

Das 150-jährige Jubiläum des Para-        nicht an soziale Erwartungen hält.2      kann etwa der Zwang, an einen ande-
grafen 218 gibt Anlass, seine viel-       Stigmatisierung ist also ein Prozess,    ren Ort reisen zu müssen, um einen
fältigen Auswirkungen genau zu            in dem Individuen als negativ abwei-     Schwangerschaftsabbruch vorneh-
betrachten. Als Vorstandsmitglied         chend von der Mehrheitsgesellschaft      men zu lassen, für Menschen eine
von inroads, einem internationalen        eingestuft werden, woraufhin sie ih-     ganz unterschiedliche Belastung be-
Netzwerk, das sich für die Entstig-       ren sozialen Status verlieren und der    deuten je nach ihrer finanziellen und
matisierung von Schwangerschafts-         Diskriminierung ausgesetzt werden.3      ökonomischen Situation oder abhän-
abbrüchen einsetzt, zeigt die Autorin     Dieser Prozess dient dazu, den gesell-   gig davon, ob sie den Zweck ihrer Rei-
das Wechselverhältnis von Krimina-        schaftlichen Status quo zu erhalten,     se zu Hause oder im Beruf verheim-
lisierung und Stigmatisierung auf.        da er Abweichungen bestraft.4 Hin-       lichen müssen. Wenn jemand nicht
inroads bietet als loses Netzwerk         zu kommt, dass die betroffenen Per-      alleine reisen kann oder darf oder
aus Akademiker*innen, Advocates,          sonen das Stigma als Schamgefühl         keinen Pass besitzt, um eine Grenze
Aktivist*innen und Künstler*innen         internalisieren und es somit fortfüh-    zu überqueren, treffen verschiedene
eine Plattform zur Diskussion und         ren.                                     Marginalisierungen      intersektional
Bearbeitung jeglicher Facetten des                                                 aufeinander. Der erschwerte Zugang
Abtreibungsstigma.                        Auf den Schwangerschaftsabbruch          zu Gesundheitsleistungen betrifft vor
                                          angewandt bedeutet Stigmatisie-          allem arme und von Rassismus be-
                                          rung, dass Individuen, die einen         troffene Personen sowie Menschen
Beginnen wir mit dem Konzept von          Schwangerschaftsabbruch vorneh-          mit Behinderung.
Stigma. Nachdem Stigma vor allem          men (lassen) oder unterstützen, als
in Bezug auf HIV, mentale Gesund-         moralisch minderwertig kategorisiert     Nun stellt sich die Frage, wie die Stig-
                                                                                   matisierung und die Kriminalisierung
„Bestraft wird eine Abweichung von                                                 von Schwangerschaftsabbrüchen zu-
                                                                                   sammenhängen. Das Abtreibungs-
traditionellen Frauenrollen, zum Beispiel des                                      stigma wird auf mehreren gesell-
Wunschs nach Mutterschaft. “                                                       schaftlichen Ebenen (re)produziert:
                                                                                   auf der individuellen, gemeinschaft-
heit und sexuelle Orientierung un-        werden. Hier bestraft die Stigmati-      lichen, institutionellen, strukturel-
tersucht wurde, wird das Konzept          sierung eine Abweichung zum Bei-         len und gesellschaftlichen Ebene.6
vermehrt auch auf den Schwanger-          spiel von traditionellen Frauenrollen    Diese Ebenen wirken zusammen
schaftsabbruch angewandt. Laut Er-        und ein Nicht-Erfüllen gesellschaft-     und verstärken sich gegenseitig. Das
ving Goffman, der sich in den 1960er-     licher Erwartungen, zum Beispiel         bedeutet, dass der gesellschaftliche
Jahren als einer der ersten Forscher      des Wunschs nach Mutterschaft.5          und legale Kontext, also die Krimi-
mit dem Thema Stigma beschäftig-          Je nach ihrer sozialen Stellung sind     nalisierung des Schwangerschafts-
te1, ist Stigma ein Attribut, das einer   Menschen unterschiedlich von die-        abbruchs, Stigma fortsetzt und ver-
Person zugeordnet wird, weil sie sich     ser Diskriminierung betroffen. So        stärkt, sowohl internalisiert als auch

12 I                                                                                                            2–3 I 2021
150 JAHRE §218

                                                                                                                                           ©: electravk / istock
Entkriminalisierung ist ein wichtiger Teil eines Prozesses, Schwangerschaftsabbrüche zugänglich und sicher zu machen.

durch externen Einfluss. Wie sich das           ohne dass es Raum gibt, dies zu hin-             darzustellen. Der §219a erschwert
genau auswirkt, möchte ich anhand               terfragen oder gesellschaftlich zu dis-          den Zugang zu medizinischen In-
von fünf Punkten ausführen, die teil-           kutieren.8                                       formationen und fördert so Abtrei-
weise aus anderen geografischen                                                                  bungsstigma.
Kontexten stammen, aber auf den                 2. Stigma führt zu erschwertem
deutschen Kontext übertragbar sind:             ­Zugang zu Informationen                         3. Stigma führt zu Scham
                                                 Die Kriminalisierung des Schwan-                Sowohl die gesellschaftliche Kate-
1. Kriminalisierung bedeutet,                    gerschaftsabbruchs durch das deut-              gorisierung von Schwangerschafts-
­dass etwas als gefährlich und                  sche Strafgesetzbuch findet nicht                abbrüchen als gefährlich und falsch
 ­unmoralisch wahrgenommen wird                 nur durch den §218 statt, sondern                als auch die Verbreitung von Fehl-
  Kriminalisierung ist ein wichtiger            auch durch den §219a, der durch ein              informationen tragen zur Margina­
  Bestandteil davon, wie Schwanger-             Verbot der „Bewerbung des Schwan-                lisierung des Themas bei. Menschen,
  schaftsabbrüche       gesellschaftlich        gerschaftsabbruchs“ vor allem den                die einen Schwangerschaftsabbruch
  wahrgenommen wird. Wir gehen da-              Zugang zu evidenzbasierten, me-                  hatten oder durchgeführt haben,
  von aus, dass, wenn etwas verboten            dizinisch geprüften Informationen                können sich schlechter anderen
  ist, es gefährlich oder unmoralisch           durch Gynäkolog*innen über die                   anvertrauen, und sind isoliert.9 Ih-
  ist. Durch den Schatten der Krimina-          verschiedenen angebotenen Me-                    re Erfahrungen und Perspektiven
  lisierung zementiert der Staat den            thoden erschwert. Dies bedeutet                  werden nicht gehört und können
  Schwangerschaftsabbruch als etwas             unweigerlich, dass diejenigen, die               entsprechend nicht dazu genutzt
  Gefährliches.7 Forschungsarbeiten             einen      Schwangerschaftsabbruch               werden, eine auf ihren Bedürfnissen
  aus Irland belegen, dass die intensive        vornehmen lassen möchten, leichter               basierende verbesserte Versorgung
  Kriminalisierung zu der gesellschaft-         an Fehlinformationen geraten, was                anzubieten. Würde der Schwanger-
  lich tief verwurzelten Annahme                gern von Gegner*innen reprodukti-                schaftsabbruch nicht kriminalisiert,
  führt, dass Schwangerschaftsabbrü-            ver Selbstbestimmung genutzt wird,               sondern stattdessen als ein Bestand-
  che fragwürdig und gefährlich sind,           um Methoden besonders martialisch                teil öffentlicher Gesundheit thema-

2–3 I 2021                                                                                                                          I 13
150 JAHRE §218

tisiert und reguliert, erschiene er als   men. Wo dies illegal ist, gibt es häufig     Management of Spoiled Identity. Englewood
                                                                                       Cliffs, N.J.: Prentice-Hall.
Teil einer umfassenden Gesundheits-       feministisch organisierte Care-Netz-
                                                                                       2 Ebd.
versorgung und Gesundheitsförde-          werke, die die Pillen beschaffen und
                                                                                       3 Cárdenas, R., Labandera, A., Baum, S.E. et
rung.10                                   Informationen und Unterstützung              al. (2018): “It’s something that marks you”:
                                                                                       Abortion stigma after decriminalization in
                                          anbieten. Die Unterstützer*innen             Uruguay. Reprod Health 15, 150; p 9.
4. Kriminalisierung bedeutet eine         setzen sich nicht nur legalen Risiken        4 Fernández Vázquez, S. S., Brown, J. (2019):
Belastung für Gynäkolog*innen             aus, sondern sind auch selbst von            From stigma to pride: health professionals
                                                                                       and abortion policies in the Metropolitan
Gynäkolog*innen sind auf vielerlei        Stigmatisierung betroffen, da sie            Area of Buenos Aires. Sex Reprod Health Mat-
                                                                                       ters. 27(3):1691898. doi:10.1080/26410397.
Weisen von der Kriminalisierung und       mit dem Schwangerschaftsabbruch              2019.1691898
Abtreibungsstigma betroffen, weil         ­assoziiert werden.                          5 Kumar, A., Hessini, L., Mitchell, E.M. (2009):
                                                                                       Conceptualising abortion stigma. Cult
Schwangerschaftsabbrüche stigma-                                                       Health Sex. Aug; 11(6):625-39, p. 625.
tisiert und wie jede andere Gesund-       Kriminalisierung ist nur ein Teil von        6 Ebd., p. 593.
heitsleistung behandelt werden,           Stigma, und Entkriminalisierung              7 Cook, R. J., Erdman, J. N., Dickens, B. M.,
                                                                                       Rebecca J. Cook, Joanna N. Erdman (2021):
●
   ist die legale Lage häufig unklar,     wird daher nicht einfach zum Ende            Abortion law in transnational perspective,
   (wie der Kampf um den §219a zeigt),    der Stigmatisierung von Schwanger-           Penn Press, Pennsylvania.
   was zu Verunsicherung führt,           schaftsabbrüchen führen. Dennoch             8 Aiken, A., Johnson, D. M., Broussard, K., &
                                                                                       Padron, E. (2018): Experiences of women in
●
   werden Methoden der Abtreibung         ist Entkriminalisierung ein wichti-          Ireland who accessed abortion by travelling
                                                                                       abroad or by using abortion medication at
   nicht im Studium gelehrt, sondern      ger Teil eines Prozesses, Schwanger-         home: a qualitative study. BMJ sexual &
   müssen extracurricular und unter       schaftsabbrüche zugänglich und               reproductive health, bmjsrh-2018-200113.
                                                                                       9 Kumar, A., Hessini, L., Mitchell, E.M. (2009):
   größerem Aufwand, wie zum Bei-         sicher zu machen. Die Forschung              Conceptualising abortion stigma. Cult
   spiel durch Medical Students for       aus Mexiko zeigt zum Beispiel, dass          Health Sex. Aug; 11(6):625-39, p. 625.
   Choice, erlernt werden,                in Mexiko-Stadt, wo der Schwanger-           10 Cook, R. J., Erdman, J. N., Dickens, B. M.,
                                                                                       Rebecca J. Cook, Joanna N. Erdman (2021):
●
   sind sie Drohungen, Einschüchte-       schaftsabbruch legal ist, das Stigma         Abortion law in transnational perspective.
                                                                                       Pennsylvania: Penn Press.
   rungen, Diskriminierungen und          wesentlich geringer ist als in anderen
                                                                                       11 Harris, L.H., Debbink, M., Martin, L.,
   Belästigungen durch Gegner*innen       Teilen des Landes, wo er illegal ist.13      ­Hassinger, J. (2011): Dynamics of stigma in
   reproduktiver Selbstbestimmung         Entkriminalisierung ist ein wichti-           abortion work: findings from a pilot study of
                                                                                        the Providers Share Workshop. Soc Sci Med.
   ausgesetzt,                            ger Schritt, um Stigma aufzulösen.            2011 Oct; 73(7):1062-70.
●
   sind sie sozialen Vorurteilen ausge-   Dennoch wird Stigma ein bewegli-             12 pro familia (2018): Fakten zum
                                                                                       Schwanger­schaftsabbruch, pro familia,
   liefert und werden häufig als geld-    ches Ziel bleiben, das es auf vielerlei      Zuletzt gesichtet: 20. April 2021,
                                                                                       https://www.profamilia.de/fileadmin/
   gierig und gewissenlos dargestellt.    gesellschaftlichen Ebenen zu be-             profamilia/8_Fakten_zum_Schwanger
Eine Studie aus den USA zeigt, dass       kämpfen gilt. Die Praxis des Schwan-         schaftsabbruch-WEB.pdf.

Abtreibungsstigma einer der häu-          gerschaftsabbruchs verändert sich            13 Cockrill, K., Hessini, L. (2014): Introduc-
                                                                                       tion: Bringing Abortion Stigma into Focus.
figsten Gründe ist, warum so wenige       ständig, und so tut es auch das Stig-        Women & Health, 54:7, 593-598, p. 595.
Gynäkolog*innen diese Leistung an-        ma.
bieten.11
                                          Wer sich intensiver mit diesem The-
5. Kriminalisierung = Belastung für       ma beschäftigen möchte oder dies
informelle Unterstützer*innen             bereits tut und mehr Austausch
Nicht nur Gynäkolog*innen sind            sucht, ist herzlich eingeladen, inroads                          Marietta Wildt
betroffen, auch informelle Unter­         beizutreten. Wir sind unter www.                                 arbeitet im
stützer*innen der reproduktiven           endabortionstigma.org zu finden. Wir                             ­Bereich Advo­
Selbstbestimmung. Wenn es auch in         teilen Informationen, bieten Mini-                                cacy für sexuelle
Deutschland (noch) nicht die Norm         Grants, halten Webinare und haben                                 und reproduk­
ist und im internationalen Vergleich      jährliche Mitgliedertreffen. Jede*r ist      tive Gesundheit und Rechte (SRGR)
selten12, werden in vielen Ländern        willkommen – bei weiteren Fragen             und Engagement für Jugendliche.
Schwangerschaftsabbrüche zu gro-          kontaktieren Sie mich gerne.
150 JAHRE §218

                                                        Kommentar

     Die Uhr für sichere Schwangerschafts­abbrüche
                 steht auf fünf vor zwölf
   Kristina Hänel hat alle Informatio-     fluss auf Gesetze und Forschungs-      auf Patient*inneninformationen.
   nen für ungewollt Schwangere von        vorhaben zu bekommen. Auch im          Zudem erfüllen die Bundesländer
   ihrer Website genommen. Sie tat         Bundestag haben sie bewirkt, dass      ihren Versorgungsauftrag auf-
   das nicht freiwillig. Sie ist nunmehr   Gesetzesanträge auf Streichung         grund des §219a nicht mehr. Denn
   rechtskräftig verurteilt, gegen den     des §219a von Linken, Grünen und       er hält nachgewiesen Ärzt*innen
   §219a StGB verstoßen zu haben.          SPD keine Mehrheit fanden: Die         davon ab, Schwangerschaften
   Dennoch hat sie gewonnen: Ihre          damalige SPD-Fraktionsvorsitzen­de     abzubrechen.
   Petition war 2017 Start einer neuen     Andrea Nahles zog im März 2018
   Bewegung, die den §219a in weni-        ohne Rücksprache mit ihrer Frak-       Machen wir uns aber nichts vor:
   gen Wochen in den Mainstream der        tion deren Antrag zurück. Nahles       Es tobt ein uralter gesellschaftli-
   Medienberichterstattung rückte –        ist Mitglied im Zentralkomitee der     cher Kampf um die Deutungsho-
   und damit umgehend in die Schalt-       deutschen Katholiken.                  heit, wann menschliches Leben
   stellen der Politik, Parlamente und                                            beginnt und wer das Recht hat, es
   Ministerien gelangte. Zehntau-          Warum haben Kristina Hänel und         zu beenden. Und obwohl religiöse
   sende haben Hänel dabei unter-          die Pro-Choice-Bewegung dann           Auffassungen und auch das Rechts-
   stützt.                                 trotzdem gewonnen? Vor allem           verständnis der Nazis diesbezüglich
                                           aus zwei Gründen: Die Bewegung         längst nicht mehr mehrheitsfähig
   Es war höchste Zeit: Die Uhr für        besteht fort und bietet gerade Jün-    sind, ist deren Gedankengut noch
   sichere Schwangerschaftsabbrü-          geren erstmals eine Plattform, indi-   in unseren Gesetzen verankert und
   che steht auf fünf vor zwölf: Die       viduellen Protest gemeinschaft-        finden sich auch in alten Ausfüh-
   Anzahl an Kliniken, Einrichtungen       lich auszudrücken. Und: Nach           rungen des Bundesverfassungs-
   und Praxen, die Schwangerschafts-       ihrer rechtskräftigen Verurteilung     gerichts wieder. Körperliche und
   abbrüche durchführen, ist seit 2003     konnte Kristina Hänel das Bundes-      sexuelle Selbstbestimmung stehen
   um 40 Prozent auf 1.200 gesunken.       verfassungsgericht Ende Februar        als Rechtsgüter dagegen. Und die
   Im Medizinstudium kommt der             2021 anrufen. Dies ist nach dem        Vernunft: Verbote verhindern keine
   Schwangerschaftsabbruch nur am          kläglichen Scheitern des Bundes-       Schwangerschaftsabbrüche, son-
   Rande vor – erst jetzt ist geplant,     tages der zweite Weg, den 219a zu      dern machen sie unsicherer und
   Leitlinien dafür zu erarbeiten.         kippen.                                gefährlicher. Oder anders gesagt:
                                                                                  Wer Schwangerschaftsabbrüche
   Parallel wurde bekannt, wie strate-     Die Aussichten, dass beide Ärz-        verbieten will, nimmt den gesund-
   gisch Gegner*innen reproduktiver        tinnen, Kristina Hänel und Bet-        heitlichen Schaden Schwangerer
   Selbstbestimmung agieren und            tina Gaber (die Ende 2019 Verfas-      billigend in Kauf. Deswegen muss
   verankert sind. Einige Beispiele: Als   sungsbeschwerde einreichte), in        zunächst der §219a gestrichen wer-
   „Märsche für das Leben“ titulieren      Karlsruhe Recht bekommen, ste-         den … und dann der §218!
150 JAHRE §218

       Streichung der §§218/219 aus dem
          Strafgesetzbuch – und dann?
        Gespräch mit Dörte Frank-Boegner, Prof. Dr. Ulrike Busch, Dr. Christine Gathmann und Heike Pinne

Einer der zentralen Kritikpunkte          die Reform des §218 Mitte der 1990er-    erlebe ich, dass die Frauen eigentlich
pro familias an der derzeitigen ge-       Jahre anders nicht verfassungskon-       nicht anders kommen als zu der Zeit,
setzlichen Regelung des Schwan-           form „über die Bühne gegangen“           in der die psychosoziale Indikation er-
gerschaftsabbruchs ist die zielori-       wäre. Frauen spüren das offensicht-      forderlich war. Das heißt, viele Frauen
entierte Pflichtberatung. Für das         lich, auch wenn sie das nicht so ge-     kommen mit dem Gefühl, ich muss
pro familia magazin haben sich vier       nau wissen. Die Studie „frauen leben     mich rechtfertigen. Ich muss die Frau,
Fachfrauen des Verbands in einem          3“ hat im qualitativen Teil ermittelt,   die mir da gegenübersitzt, überzeu-
Online-Gespräch darüber ausge-            dass Frauen als häufigstes Thema in      gen, dass ich diesen Schritt gehen
tauscht, wie ein Konzept zu freiwil-      den Interviews benannten, dass sie       will. Deshalb ist fast immer der ers-
liger Beratung aussehen kann und          einen Überredungsversuch befürch-        te Schritt, klarzustellen, dass sie die
welche Visionen es für die Zeit nach      ten. Aus dieser Befürchtung heraus       Entscheidende ist. Ich als ihre Bera-
der strafgesetzlichen Regelung gibt.      richten sie ihre „Antennen“ auf. Diese   terin bin verpflichtet, sie nach den
                                          Dinge fließen subtil in die berateri-    Gründen für den Schwangerschafts-
                                          sche Begegnung ein. Es gibt natür-       abbruch zu fragen, aber sie ist nicht
Heike Pinne: Tragen wir zunächst          lich auch Frauen, so ebenso „frauen      verpflichtet, mir zu antworten. Das
einmal zusammen, was wir darüber          leben 3“, die in die Beratung gehen      ist schon ein Standardsatz, den ich
wissen, wie die Beratung zum soge-        nach dem Motto, ich muss das eben        immer voranstelle. Und dann kann
nannten Schwangerschaftskonflikt          machen, kann ja nicht schaden. Und       man darüber reden, was sind die
unter den derzeitigen Rahmenbe-           wenn die Beraterin sie respektiert       Gründe, hat sie einen Bedarf, möch-
dingungen auf ungewollt/ungeplant         und bestärkt, dann sind sie erleich-     te sie noch irgendetwas erfahren.
Schwangere wirkt.                         tert. Das ist aber eigentlich Ausdruck   Relativ wenig Frauen fragen, warum
                                          einer subtil befürchteten gefühlten      muss ich überhaupt zur Beratung. Sie
Ulrike Busch: Ich möchte voranschi-       Stigmatisierung.                         kommen eher mit dem Gefühl, ich
cken, dass Schwangerschaftskon-                                                    muss meine Gründe gut präsentie-
fliktberatung ein missverständlicher      Heike Pinne: Christine, du bist lang-    ren, damit mir dieser fremde Mensch
Begriff ist. Die meisten Frauen be-       jährige Beraterin und Ärztin, die frü-   zustimmt, dass das die richtige Ent-
finden sich nicht in einem originären     her Indikationen geschrieben hat.        scheidung ist.
psychischen Konflikt. Sie befinden        Welche Erfahrungen hast du damals,
sich in einer besonderen Lebenssi-        als die Indikationsregelung noch galt,   Heike Pinne: Dörte, du hast lange
tuation. Es ist irritierend, wenn sie     gemacht, und wie begegnen dir heute      als Beraterin gearbeitet und stehst
dennoch in eine Schwangerschafts-         Frauen, die in die Beratung kommen?      jetzt als Bundesvorsitzende für die
konfliktberatung gehen müssen, die                                                 Haltung des Verbands ein. Wie wirkt
noch dazu eine Beratung im straf-         Christine Gathmann: Ich stelle tat-      es auf Frauen, wie der Schwanger-
rechtlichen Kontext der §§218/219         sächlich immer noch Indikationen         schaftsabbruch im Moment juristisch
ist. Diese Pflichtberatung gibt es ori-   aus, zum Beispiel wenn es um me-         und auch gesellschaftlich gefasst ist?
ginär nicht deshalb, weil die Frauen      dizinische Gründe geht, die zur Ent-
in einem Konflikt sind, für den sie Un-   scheidung für einen Schwanger-           Dörte Frank-Boegner: Ich stelle er-
terstützung bräuchten, sondern weil       schaftsabbruch führen. Insgesamt         schreckt fest, dass es immer noch

16 I                                                                                                            2–3 I 2021
Sie können auch lesen