2 Letzter Ausweg: Protestcamp Zur Selbstorganisation von Flüchtenden vor einer Notunterkunft - Institut für Protest- und Bewegungsforschung
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Salome Gunsch, Aryan Sehatkar Langroudi und Judith Vey Letzter Ausweg: Protestcamp Zur Selbstorganisation von Flüchtenden vor einer Notunterkunft 2 2021 ipb working paper ISSN 2747 - 5700
Autor*innen ipb working paper | Berlin, Mai 2021 Salome Gunsch Aryan Sehatkar Langroudi ISSN (Print) 2699-2019 ISSN (Online) 2747-5700 Judith Vey Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) Die ipb working papers werden vom Verein für Protest- und Bewegungsforschung e.V. heraus- Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG), Techni- gegeben. Sie erscheinen in loser Folge. Der Ver- sche Universität Berlin ein ist Träger des gleichnamigen Instituts. Des- vey@ztg.tu-berlin.de sen Aktivitäten sind unter http://protestinsti- tut.eu dokumentiert. Für die Redaktion der ipb- working papers sind Jannis Julien Grimm, Dieter Rucht und Verena Stern verantwortlich. Alle bisher erschienenen Texte aus der Reihe sind online abrufbar unter: https://protestinstitut.eu/ipb-working-papers/ „Letzter Ausweg: Protestcamp. Zur Selbstorga- nisation von Flüchtenden vor einer Notunter- kunft“ von Salome Gunsch, Aryan Sehatkar Langroudi und Judith Vey ist lizenziert unter ei- ner Creative Commons Namensnennung Inter- national Lizenz (CC-BY 4.0). Die Titelseite wurde unter Verwendung des Fo- tos „Hunger strike von Flüchtlingen“ von iStock/FooTToo erstellt (Stock-Fotografie-ID: 525357569). Das Foto von ist zur redaktionel- len Nutzung lizensiert mit einer iStock Stan- dard Lizenz. Bildbeschreibung: Munich, Ger- many - November 24, 2014: refugees in a hun- ger strike in munich - Sendlingertor. the refu- gees demonstrate for more rights and against racism. The photo shows the third day. Gunsch, Salome; Sehatkar Langroudi, Aryan; Vey, Judith. 2021. Letzter Ausweg: Protestcamp. Zur Selbst- organisation von Flüchtenden vor einer Notunterkunft, ipb working paper series, 2/2021. Berlin: ipb.
Zusammenfassung Abstract Mit der Zunahme der Asylantragszahlen in With the increase in the number of asylum see- Deutschland seit 2008 haben auch die Proteste kers in Germany since 2008, protests against the gegen die Unterbringungsbedingungen in Sam- housing conditions in collective accommodations melunterkünften wieder zugenommen. Einer have risen again. One of these protests is the sub- dieser Proteste ist Gegenstand dieses working ject of this working paper. In front of an paper. Vor einer Notunterkunft einer bundes- emergency shelter in a major German city, resi- deutschen Großstadt haben Bewohner:innen dents set up a protest camp to draw attention to ein Protestcamp aufgebaut, um auf die desola- the desolate housing conditions and to advocate ten Unterbringungsbedingungen aufmerksam for their improvement. zu machen und um für deren Verbesserung ein- Through qualitative interviews, informal conver- zutreten. sations, participant observations, and media and Mittels qualitativer Leitfadeninterviews, infor- document analysis we obtained a differentiated mellen Gesprächen, teilnehmender Beobach- picture of the protest and its context. tungen und einer Medien- und Dokumen- The focus of our analysis was on the conditions in tenanalyse haben wir ein differenziertes Bild the shelter, the formation of the protest camp des Protests und dessen Kontext erhalten. and its course, the demands raised, relevant ac- Der Schwerpunkt unserer Analyse lag auf den tors (constellations), and key outcomes. Based on Ausgangsbedingungen in der Unterkunft, der this, we identified factors that hindered those Formierung des Protestcamps und dessen Ver- who promoted protest and participation. The lauf, den erhobenen Forderungen, relevanten analysis of the protest camp not only reveals how Akteur:innen(konstellationen) und zentralen difficult it is for refugees to campaign for an im- Erfolgen. Darauf aufbauend haben wir protest- provement of their situation. It also provides in- und partizipationshemmende sowie -fördernde sights into the conditions under which refugees Faktoren identifiziert. Die Analyse des Protest- are accommodated in Germany. camps macht nicht nur sichtbar, wie schwierig es für Flüchtende ist, sich für eine Verbesserung ihrer Situation einzusetzen. Sie gibt darüber hin-aus auch Einblicke in die Unterbringungsbe- din-gungen von Flüchtenden.
Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 Forschungsaufbau und Durchführung 2 Ausgangsbedingungen 3 Unzureichende Verpflegung 3 Mangelnde Sauberkeit 3 Gewaltsame Übergriffe und fehlende Sicherheit 4 Isolation und mangelnde Unterstützung durch Ehrenamtliche 4 Das Protestcamp 5 Formierung des Protestcamps und Protestverlauf 5 Forderungen 6 Beteiligte Akteur:innen 7 Bewohner:innen 7 Personal 8 Interne und externe Ehrenamtliche 8 Weitere Akteur:innen 9 Zentrale Erfolge 9 Verlegung in andere Unterkünfte 9 Einführung eines Qualitätszirkels 9 Einflussfaktoren 10 Partizipationshemmende Faktoren 10 Druck auf protestierende Bewohner:innen und Aktivist:innen 10 Physische und psychische Belastungen 10 Komplexe Unterstützter:innenverhältnisse 11 Verlegung von Protestierenden 11 Hierarchische Kommunikationsstrukturen 12 Protestfördernde Faktoren 12 Protestform: Dauerhaftes Besetzen des öffentlichen Raums 12 Kontakt zu externen Ehrenamtlichen, Unterstützungs- und zivilgesellschaftlichen Gruppen 13 Veränderte Gelegenheitsstrukturen 13 Fazit 13 Literaturverzeichnis 16
Einleitung 1 lokaler Unterkünfte – zusammengeschlossen, um gegen die Bedingungen der Unterbringung zu de- In den Jahren 2015/2016 sind über eine Million monstrieren. Es wurden Protestcamps errichtet, Menschen nach Deutschland geflüchtet. Ihre Ver- Bewohner:innen sind in den Hungerstreik getre- sorgung und Unterbringung hat die bundesdeut- ten, Märsche wurden organisiert oder öffentliche sche Verwaltung und soziale Infrastruktur vor Plätze besetzt, um u.a. für mehr Selbstbestim- große Herausforderungen gestellt, die nicht ohne mung einzutreten (Mai 2017; Klotz 2016; Nie- die Hilfe Zehntausender ehramtlicher Unterstüt- bauer 2016; Ünsal 2015; Karakayali 2015; Plöger zer:innen 2 möglich gewesen wäre (dazu u.a. Graf 2014). Einer dieser Proteste ist Gegenstand die- 2016; Hamann/Karakayali 2016; Karakayali/Kleist ses working papers. In einer Notunterkunft in ei- 2015 und 2016; van Dyk/Miesbach 2016; Vey ner bundesdeutschen Großstadt haben sich Be- 2018b; Vey/Sauer 2016). Durch diesen enormen wohner:innen im Jahr 2017 zusammengeschlos- Anstieg der Antragszahlen – auch schon in den sen und vor ihrer Unterkunft ein Protestcamp er- Jahren zuvor – kam es bundesweit zu Versor- richtet, da sie dies als letzten Ausweg sahen, um gungs- und Unterbringungsengpässen. Vielerorts auf die miserablen Unterbringungsbedingungen herrschten desaströse Zustände in und vor den aufmerksam zu machen. Unterkünften und behördlichen Stellen. Diese In unserer Analyse haben wir den Schwer- wurden bereits in zahlreichen Studien – nicht nur punkt auf die Ausgangsbedingungen in der Unter- über die Unterbringung in Notunterkünften – do- kunft (Kapitel 2), die Formierung des Protestca- kumentiert und analysiert (u.a. Christ et al. 2017; mps und dessen Verlauf, die erhobenen Forde- Deutsches Institut für Menschenrechte 2017; Dil- rungen, die relevanten Akteur:innen(konstellati- ger und Dohrn 2016; Dittmer und Lorenz 2016; onen) und die zentralen Erfolge (Kapitel 3) gelegt. Foroutan et al. 2017; Vey 2018a und 2019; Vey Darauf aufbauend haben wir protest- und partizi- und Gunsch 2021 (i.E.); UNICEF 2017). pationshemmende sowie -fördernde Faktoren Mit der Zunahme der Sammelunterkünfte spä- identifiziert (Kapitel 4). In einem Fazit (Kapitel 5) testens 2015 ist auch die Zahl der Proteste gegen geben wir eine Zusammenfassung und einen Aus- die Unterbringungsbedingungen gestiegen. An blick bezüglich der Proteste von Flüchtenden. 3 vielen Orten im gesamten Bundesgebiet haben sich Bewohner:innen – oft zunächst auf Ebene _____ 1 Die vorliegende Kurzstudie ist Teil des Forschungs- geeignet, da dieser von Screenreadern (je nach Ein- projekts „Handlungsfähigkeit in der bundesdeutschen stellung) als Pause und nicht als Sonderzeichen vorge- Unterbringung von Flüchtenden“ (https://www.tu- lesen wird. berlin.de/ztg/menue/projekte_und_kompeten- 3 In den vergangenen Jahren wurde im deutschspra- zen/projekte_laufend/fluechtlingsunterbringung/), in chigen Raum viel über den Terminus „Flüchtling“ dis- welchem verschiedene Formen der Unterbringung kutiert und ihm der Begriff „Geflüchtete:r“ entgegen- von Flüchtenden, deren Auswirkungen auf die Be- gestellt. Da die Flucht für die meisten Geflüchteten wohner:innen und diesbezügliche Handlungsräume auch nach der Ankunft in Deutschland noch nicht ab- sowie -strategien untersucht werden. Wir bedanken geschlossen ist, sondern oftmals erst nach Erhalt ei- uns bei allen, die an der empirischen Feldforschung nes sicheren Aufenthaltsstatus‘ und dem Umzug in teilgenommen haben, für ihre Gesprächsbereitschaft eine eigene Wohnung, erscheint es uns sinnvoller, und Offenheit, sowie bei Dieter Rucht, Sabrina Zajak von „Flüchtenden“ zu sprechen. Auch Julia Devlin, und Jannis Grimm für ihre sehr hilfreiche Kommentie- Tanja Evers und Simon Goebel weisen auf diesen As- rung dieses Papers. Darüber hinaus bedanken wir uns pekt hin: „Die Erfahrungen mit und Entscheidungen bei der Fritz Thyssen Stiftung für die Förderung dieses zu (Im-)Mobilität enden zudem nicht mit der ‚An- Projekts. kunft‘ in einer Aufnahmegesellschaft; vielmehr tref- 2 Wir haben uns für den Doppelpunkt als Mittel einer fen sie sodann auf die Restriktionen eines Asylre- geschlechtergerechten Schreibweise entschieden. Er gimes“ (2021: 15). ist für Menschen mit einer Sehbehinderung besser 1
Forschungsaufbau und Durchführung Umständen in der Unterkunft betroffen. Die Hin- zuziehung von Medienmaterial vertiefte Erkennt- Um den verschiedenen Bedürfnissen der Befrag- nisse, die aus der Perspektive der Protestieren- ten und der besonderen Forschungssituation im den gewonnen wurden. Dieses umfasste unter Kontext von Flucht und Asyl gerecht werden zu anderem sechs Fernsehbeitrage mit Interviews können, wurde eine Kombination verschiedener von Bewohner:innen der Notunterkunft. Die Ein- qualitativer Methoden gewählt. Diese beinhal- schätzungen der Unterstützer:innen des Protests tete die Durchführung halbstandardisierter Leit- wurden in Form von Interviews, Telefonaten und fadeninterviews mit Flüchtenden und Unterstüt- Emails wie auch anhand von Webrecherchen und zer:innen, informelle Gespräche, (teilnehmende) zahlreichen Protokollen verschiedener Veranstal- Beobachtungen sowie eine Medienanalyse. Die tungen und Gespräche nachvollzogen. Wir haben Kurzstudie wurde im Mai/Juni 2017 direkt zum mit einer (im Folgenden: externen) Ehrenamtli- und nach dem Höhepunkt der Proteste vor der chen gesprochen, die nicht an den Angeboten Unterkunft durchgeführt. Die größte Herausfor- und Tätigkeiten der internen Ehrenamtlichen be- derung stellte der begrenzte Zeitrahmen dar. teiligt war, aber eine am Protest beteiligte Familie Zum Zeitpunkt der Untersuchung wurden die unterstützte, sowie mit einer Mitarbeiterin einer meisten der Protestierenden entweder in andere Hilfsorganisation. Beide Interviewten konnten Unterkünfte verlegt, mussten aufgrund gesund- uns hilfreiche Einblicke geben, da sie das Gesche- heitlicher Gründe das Protestcamp verlassen hen von Anfang bis Ende begleitet haben. Die Mit- oder hatten den Protest aufgegeben. Die Unter- arbeiterin einer sozialen Einrichtung, die psycho- kunftsleitung, das Personal und die direkt in der soziale Hilfen für politisch Verfolgte anbietet, er- Unterkunft tätigen (im Folgenden: internen4) Eh- läuterte uns den Einfluss der Wohnverhältnisse renamtlichen waren nicht zu einem Interview be- auf das psychische Wohlbefinden. Um das Pro- reit bzw. konnten nicht erreicht werden. Deren testcamp zu kontextualisieren, wurde zusätzlich Darstellung konnte folglich nicht in die Auswer- mit der lokalen Koordinierungsstelle für Demo- tung miteinfließen. Insgesamt wurden fünf (Grup- kratieentwicklung gesprochen, welche uns über pen-)Interviews und vier informelle Gespräche einen Hungerstreik in einer anderen Flüchten- mit insgesamt zehn Bewohner:innen, je nach denunterkunft berichten konnte. Sprachkenntnissen auf Deutsch oder Farsi, ge- führt. Der Austausch mit den Bewohner:innen Für den Feldzugang, die Gewinnung von Inter- wurde entweder direkt von einem Projektmitar- viewpartner:innen und die Herstellung einer offe- beiter auf Farsi durchgeführt oder von den Pro- nen Gesprächsatmosphäre waren drei Aspekte jektmitarbeiter:innen auf Deutsch und dann von zuträglich: Erstens war es hilfreich, dass die Inter- einem anderen Flüchtenden übersetzt. Damit in views von einem Mitarbeiter und einer Mitarbei- der Studie trotz des begrenzten Zeitrahmens terin des Projekts geführt wurden; zweitens möglichst verschiedene Perspektiven berücksich- konnte ein Projektmitarbeiter aufgrund seiner tigt werden konnten, wurde auf eine größtmögli- Sprachkenntnisse Interviews und Gespräche in che Heterogenität der befragten Protestbeteilig- Farsi führen; und drittens trugen die Erfahrungen ten geachtet. Deshalb war es uns wichtig, dass einer Projektmitarbeiterin als Traumaberaterin diese sich nach Geschlecht, Familienstand, Her- für Flüchtende zu einem verbesserten Gesprächs- kunft und Protestbeteiligung unterscheiden. Die klima bei. befragten Personen sind teilweise mit ihren Kin- Viele der Flüchtenden hatten großes Interesse dern geflohen und waren zum Zeitpunkt der Be- daran, uns über ihre Situation zu berichten. Sie fragung seit mehreren Monaten von den berichteten von ihren Gründen und Motiven am _____ 4 Die Unterscheidung von internen und externen Ehrenamtlichen wird auf den Seiten 8-9 genauer erläutert. 2 2
Protestcamp teilzunehmen und schilderten den unter anderem zunächst drei Jahre im Iran ver- Verlauf des Protestes. Auch die Mitarbeiterin der bracht hatten und nirgends so sehr wie in der Hilfsorganisation und die Ehrenamtliche zeigten Notunterkunft gelitten hätten. Die gesamte Fami- eine große Gesprächsbereitschaft und waren lie sei sehr erschöpft und brauche dringend Ruhe. sehr bemüht, zusätzliches Informationsmaterial Die Unterbringungssituation belastete die Be- zur Analyse zur Verfügung zu stellen. wohner:innen enorm. Im Folgenden gehen wir auf die diesbezüglichen Kritikpunkte ausführli- Die geführten Interviews wurden teilweise di- cher ein. gital aufgenommen und anschließend transkri- biert, teils wurden die informellen Gespräche in Form von Notizen festgehalten. Die Interview- Unzureichende Verpflegung dauer betrug durchschnittlich eine Stunde. Alle Die Verpflegungssituation wurde seitens der Be- Gespräche wurden anonymisiert. Aus diesem wohner:innen als unzureichend beschrieben. Da Grund werden weder die Unterkunft, vor der sich keine Kochmöglichkeit zur Verfügung stand, be- das Protestcamp befand, die befragten Personen, stand Vollverpflegung durch einen Caterer. Die die Hilfsorganisation noch die Stadt namentlich Speisen mussten in der Kantine zu den Essenszei- genannt. Die Analyse der Daten erfolgte mit Hilfe ten verzehrt werden. Die Vorschriften in der Kan- des qualitativen Analyseprogramms MAXQDA. tine waren sehr rigide. Um sicher zu stellen, dass Die zueinander in Verbindung stehenden Inhalte es nicht zu Geschirr- oder Lebensmittelentwen- wurden nach thematischen Kriterien exzerpiert dung kommt, mussten die Bewohner:innen vor und strukturiert zusammengeführt. Betreten der Kantine ihre Taschen einschließen. Die Qualität der Verpflegung wurde von vielen als minderwertig bewertet und sie war nicht an die Ausgangsbedingungen Bedürfnisse der Bewohner:innen aus unter- schiedlichen Kulturräumen angepasst. Teilweise „In diesem einen Jahr erging es uns sehr gab es über Monate hinweg das gleiche Essen mit schwer. […] Was ist das für ein Leben? Ist nur wenig Variation. Gelegentlich wurden Reste, das ein Leben? Es ist die Hölle. […] Keiner die vom Mittagessen übrigblieben, kalt zum kümmert sich. Wenn sich keiner kümmert, Abendessen serviert. Ein Bewohner berichtete sollen sie uns doch in ein anderes Verder- von verdorbenen Mahlzeiten, durch die einmal ben schicken. Wie sehr sollen wir noch lei- eine große Anzahl der Bewohner:innen an einer den? Und das mit sechs Kindern. Es ist er- Lebensmittelvergiftung erkrankte. müdend.” (Interview 2, Herr Rahmani) Mangelnde Sauberkeit Die beforschte Notunterkunft wurde im August 2015 eröffnet. Sie wurde von einem Wohlfahrts- Die mangelnde Sauberkeit in der Notunterkunft verband betrieben und es wurden ca. 900 Flüch- stellte ein weiteres Problem dar. Duschen und tende dort untergebracht, darunter Alleinrei- Toiletten befanden sich auf den Fluren und wur- sende und Familien. Viele der Bewohner:innen den gemeinschaftlich von den Flüchtenden ge- wurden von einer Turnhalle in diese Notunter- nutzt. Die nicht in ausreichender Anzahl vorhan- kunft mit Mehrbettzimmern verlegt. denen sanitären Einrichtungen waren dabei eine der größten Schwierigkeiten. Die von uns inter- Die Unterbringungsbedingungen wurden von viewten Personen berichten von knapp 35 Du- allen Befragten als äußerst schlecht beschrieben. schen für ca. 900 Bewohner:innen. Aufgrund von Kritisiert wurden vor allem die unzureichende zahlreichen reparaturbedingten Ausfällen war oft Verpflegung, mangelnde Sauberkeit, gewaltsame nur ein Bruchteil der Duschen und Toiletten ver- Übergriffe und Isolation. Erschwerend kam hinzu, fügbar. Gingen diese ebenfalls kaputt, nahm die dass diese Zustände nicht nur wenige Wochen Reparatur teilweise Wochen in Anspruch. Es gab und damit eine absehbare Zeitspanne andauer- feste Duschzeiten, außerhalb derer die Nutzung ten, sondern für viele Monate anhielten. Ein af- der Duschanlagen nicht gestattet war. Die Be- ghanischer Vater berichtete bspw., dass er und wohner:innen berichteten uns außerdem von seine Familie nach ihrer Flucht aus Afghanistan Krankheiten, die sich infolge der unzureichenden 3
Sanitäreinrichtungen binnen kürzester Zeit ver- nicht abschließbar und es gab keine Möglichkeit, breiteten. Vor allem Hautkrankheiten und Erkäl- persönliche Wertgegenstände und Gepäck sicher tungen haben sich schnell auf eine Vielzahl der zu verwahren. Bewohner:innen übertragen. Ein Bewohner er- Vor Verfolgung in ihrer Heimat geflohen, sa- zählte uns, dass sich seine Kinder in der Unter- hen sie sich in Deutschland wieder einer funda- kunft aufgrund von mangelnder Sauberkeit mit mental unsicheren Lebenssituation ausgeliefert: Hepatitis infiziert hätten: „Wir haben unserer Heimat den Rücken gekehrt, „Vier meiner Kinder sind hier an Hepatitis weil wir nicht mehr diese Gewalt für uns und un- erkrankt. Woher? Der Arzt meint von den sere Kinder wollen, und jetzt leben wir wieder in Klamotten und sonst was. Die Hygiene ist einer so unsicheren Situation“, so gab uns eine halt nicht da. Hier war schon oft auf den befragte Ehrenamtliche das Erleben einer Bewoh- Toiletten alles voll mit Blut“ (Interview 2, nerin wieder (Interview 4, Frau Wagner). Herr Rahmani). Isolation und mangelnde Unterstüt- Des Weiteren wurde berichtet, dass einige zung durch Ehrenamtliche Räume von massivem Ungezieferbefall betroffen seien und die Bekämpfung von Seiten der Unter- Da die internen Ehrenamtlichen von Anfang an kunftsleitung nur inkonsequent und ineffizient eng mit dem Unterkunftspersonal zusammenge- stattfände. Bewohner:innen zeigten uns ihre arbeitet haben und sie den Flüchtenden gegen- Arme, die von Bettwanzenbissen übersät waren. über z.T. sehr kritisch eingestellt waren, fehlte in Diese wurden von der Unterkunftsleitung zu- dieser Unterkunft die externe Kontrolle durch un- nächst als allergische Reaktion eingestuft, der abhängige Ehrenamtliche, wie sie in anderen Un- keine weitere Beachtung geschenkt wurde. terkünften oft der Fall ist (Vey/ Sauer 2016). Die Mitarbeiterin der Hilfsorganisation berichtete Gewaltsame Übergriffe und fehlende z.B., dass die internen Ehrenamtlichen sich u.a. Sicherheit darüber empörten, dass die Bewohner:innen so viel Müll verursachen würden und man sich vor Die Bewohner:innen berichteten uns, dass es zu- den Nachbarn schämen müsse. Folglich blieben dem des Öfteren Übergriffe auf Frauen und Kin- die Missstände in der Notunterkunft lange unver- der gebe. Dieser zusätzlichen Bedrohung inner- ändert und wurden kaum kritisch reflektiert und halb der Bewohner:innenschaft ausgesetzt, sa- thematisiert. Die festeingesessenen Ehrenamtli- hen sich einige Eltern gezwungen, entsprechende chen ließen es zudem kaum zu, dass neue Ehren- Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. So wurden Kin- amtliche in der Notunterkunft tätig wurden. der selten unbeaufsichtigt gelassen und bei Toi- lettengängen mindestens von einer Person be- Dies führte dazu, dass sich Hierarchien und gleitet. Die gewaltsamen Übergriffe fänden auch Machtstrukturen zwischen Mitarbeiter:innen und durch die Angestellten des Wachpersonals statt. Bewohner:innen entwickeln und verstärken Regelmäßig hätten diese ihre Befugnisse über- konnten, infolge derer sich die Situation zusätz- schritten; es wurden widerrechtlich Taschen kon- lich verschlechtert hat. Auf Beschwerden wurde trolliert sowie Bewohner:innen körperlich ange- dementsprechend überwiegend nicht reagiert. griffen. Den gewaltsamen Übergriffen in der Un- Befragte Bewohner:innen beklagten, dass sie sich terkunft wurde nicht oder nicht in ausreichender wie im Gefängnis fühlten. Da die Unterbringung Form nachgegangen und den von den Bewoh- in Sammelunterkünften Isolation verstärkt und es ner:innen geäußerten Beschwerden und Forde- in dieser Unterkunft jenseits der Aktivitäten der rungen nach einer bedarfsgerechten Unterbrin- Ehrenamtlichen wenig Kontakt- und Austausch- gung nicht nachgekommen. Die Kinder erzählten möglichkeiten im Alltag gab, blieben die Zustände in Fernsehinterviews, dass sie große Angst vor in der Notunterkunft über viele Monate hinweg dem als äußerst aggressiv empfundenen Wach- in der Öffentlichkeit unbemerkt. personal hätten. Die befragten Bewohner:innen vermuteten, dass diese Übergriffe auch rassis- tisch motiviert seien. Zudem waren die Zimmer 4 4
Das Protestcamp gleiche Zurückweisung. Im Interview berichtete uns die externe Ehrenamtliche Frau Wagner, dass In diesem Kapitel gehen wir ausführlich auf das kritische Äußerungen bezüglich der Notunter- Protestcamp ein. Dabei stehen die Formierung kunft von den internen Ehrenamtlichen zurückge- des Protests und der Protestverlauf (Teil 1), die wiesen worden seien: gestellten Forderungen (Teil 2), die zentralen Ak- „Wenn man das in der Facebookgruppe teur:innen (Teil 3) und die wichtigsten Erfolge oder unter den ehrenamtlich Tätigen an- (Teil 4) im Fokus der Analyse. gesprochen hat, dann sind die sofort hoch- gegangen: ,Wir machen so viel. Die [Unter- Formierung des Protestcamps und kunftsleitung] kann doch nicht so schnell Protestverlauf und es wird ja alles noch.‘ Also hat man ge- Die Flüchtenden berichteten, dass sie bei ihrem merkt, wenn man versucht das vorsichtig Einzug in die Notunterkunft im August 2015 froh anzusprechen, dass das so nicht vorgese- waren, die Turnhalle verlassen zu können. Dem- hen sein kann, man nicht auf offene Ohren entsprechend ließen sie sich auch darauf ein, für gestoßen ist.“ (Interview 4, Frau Wagner) ein paar Monate in einer weiteren temporären Es wird deutlich, wie schwierig es für Flüchtende Unterkunft zu leben, bis sie in eine Gemein- ist, auf formalem und informellen Wege Einfluss schaftsunterkunft oder eine Wohnung mit mehr zu nehmen und sich gegen schlechte Unterbrin- Möglichkeit zur Selbstbestimmung umziehen gungsbedingungen zur Wehr zu setzen. Die Isola- können. Es zeigte sich jedoch, dass ein Auszug aus tionserfahrung in der Notunterkunft lehrte die der Notunterkunft auch nach 21 Monaten nicht Bewohner:innen, dass sie andere Wege gehen geplant war und dass sich die Unterbringungsbe- müssen, um ihrer Stimme Gehör zu verleihen. dingungen im Vergleich zur Turnhalle in der Not- unterkunft nicht wesentlich verbessert hatten. Als Auslöser für die Errichtung des Camps Nach einiger Zeit verstärkte sich schließlich die wurde von den befragten Bewohner:innen ein ge- Unzufriedenheit unter den Bewohner:innen, und waltsamer Übergriff eines Mitarbeiters des sie suchten vereinzelt über viele Monate das Ge- Wachpersonals auf einen der Bewohner genannt. spräch mit der Unterkunftsleitung. Dort erhofften Das Scheitern einer formellen Beschwerde führte sie sich Verständnis und Veränderungen. Sie dann im Mai 2017 zur Mobilisierung einiger Be- konnten und wollten die in der Notunterkunft wohner:innen in der Form eines Protestcamps di- herrschenden Missstände nicht weiter akzeptie- rekt vor der Unterkunft, um den Forderungen ren, wurden jedoch enttäuscht. Die Unterkunfts- Nachdruck zu verleihen. Zunächst wurde nur das leitung gab lediglich die Information, sich bis zum Nötigste verwendet, um ein Protestcamp vor der geplanten Auszug aus der Notunterkunft Ende Notunterkunft zu errichten. Im Verlauf des Pro- 2016 zu gedulden. testes wurde das Camp dann immer weiter den konkreten Bedarfen angepasst. So kamen bei- Ein Bewohner erzählte: „Wir haben viel ge- spielsweise mit der Zeit nicht nur Kissen, Tücher sprochen mit der Unterkunftsleitung. Aber sie ak- und Kartons, sondern auch Zelte und Matratzen zeptieren nicht. Sie hat gesagt, du musst hier war- zum Einsatz. Zum Schutz vor direkter Sonnenein- ten bis Schluss“ (Interview 1, Herr Akram). Der- strahlung oder starken Regenfällen wurden Pla- selbe Bewohner berichtete, wie er nach den er- nen gespannt. folglosen Kommunikationsversuchen mit der Un- terkunftsleitung versucht hat, sich direkt bei der Auf Pappe verfasste Botschaften verliehen zuständigen Stelle für Flüchtende oder beim Job- dem Protest zusätzlichen Ausdruck und infor- center zu beschweren, doch es wurde immer wie- mierten Passant:innen des belebten Stadtteils. Zu der darauf verwiesen, sich direkt an die Unter- Beginn betrug die Anzahl der Beteiligten etwa 30 kunftsleitung zu wenden. Die zahlreichen Versu- Personen, innerhalb weniger Tage stieg die Zahl che, gehört zu werden und eine Veränderung zu auf etwa 80 Protestierende an. Die Beteiligung bewirken, liefen ins Leere. Von den internen Eh- der Protestierenden variierte stark. Manche ver- renamtlichen erfuhren die Flüchtenden die ließen das Protestcamp innerhalb der ersten bei- den Wochen, da sie in eine andere Unterkunft 5
verlegt wurden oder selbstständig eine andere Plastiktüten gesammelte Bettwanzen aus der Wohnmöglichkeit gefunden hatten. Ein Protestie- Notunterkunft. Dadurch wurde ihr Protest für ei- render berichtete, dass er nach einem Tag das nen breiteren Teil der Gesellschaft sichtbar und Protestcamp bereits wieder verließ, da er Restrik- die öffentliche Wahrnehmung und Anteilnahme tionen durch die Unterkunftsleitung befürchtete. veränderte sich. Die Form des Protests ermöglichte für die Be- Ein Großteil der protestierenden Flüchtenden wohner:innen der Notunterkunft einen nied- erhielt innerhalb weniger Wochen einen Platz in rigschwelligen Zugang: Dadurch, dass das Camp einer anderen Unterkunft. Zudem wurde von be- direkt vor der Unterkunft der Flüchtenden aufge- hördlicher Seite ein Qualitätszirkel ins Leben ge- baut wurde, konnten Bewohner:innen flexibel rufen, in dem die kritisierten Zustände themati- mobilisiert werden und in den Protest ein- und siert und behoben werden sollten. Nach dem wieder aussteigen. Diese Protestform passte zu Auszug der meisten Protestierenden formierte der Lebensrealität der flüchtenden Familien. So sich eine zweite Gruppe, die jedoch nicht mehr konnten Kinder und kranke Familienmitglieder die gleiche mediale und öffentliche Aufmerksam- weiterhin in der Notunterkunft übernachten und keit erfuhr und überwiegend keine Plätze in an- waren trotzdem in der Nähe ihrer Familie. Die Ak- deren Unterkünften vermittelt bekam. Nach und tivist:innen eigneten sich den öffentlichen Raum nach gaben die Protestierenden der zweiten an. Durch das Heraustreten aus ihrer Unsichtbar- Gruppe auf und zogen zurück in die Unterkunft. keit in der Unterkunft machten sie auf diesem Weg auf sich und ihre Situation öffentlichkeits- Forderungen wirksam aufmerksam. Die Aktivist:innen formulierten verschiedene For- Die externen Unterstützer:innen wandten sich derungen, die primär folgende Aspekte umfass- gemeinsam mit den Bewohner:innen in Form ei- ten: nes offenen Briefes an die zuständigen politi- schen und administrativen Stellen. Darin stellten Verbesserung der hygienischen Situation und sie die Zustände der Notunterkunft dar. Dieses Verpflegung Schreiben sowie das Heraustreten der Flüchten- Die Protestierenden waren nicht mehr gewillt, die den aus der Notunterkunft in den öffentlichen schlechten Bedingungen in der Unterkunft zu ak- Raum führten zu einem großen medialen und po- zeptieren und forderten eine Verbesserung der litischen Interesse an den dort herrschenden sanitären Situation, eine gezielte und effektive Missständen. Unterstützung erhielten die Protes- Ungezieferbekämpfung und eine Verbesserung tierenden dabei auch von Hilfsorganisationen, die der Qualität des Essens. Besonders der Bettwan- Kontakte zu den Medien herstellten. Die für zenbefall war für die Bewohner:innen unerträg- Flüchtende zuständige politische Verantwortliche lich, da er dazu führte, dass eine Vielzahl der Be- besuchte die Notunterkunft, um sich ein Bild von wohner:innen Bisse an ihren Körpern hatte. der Situation vor Ort zu machen: Regelmäßige, unabhängige Kontrollen seitens „Die [Vertreterin der zuständigen politi- der Behörden in der Unterkunft schen Stelle] war auch vor Ort und dann Bezüglich der geforderten Verbesserungen in der gab es große Artikel, wo diese Mängel ge- Notunterkunft verlangten die Protestierenden nannt wurden. Sie hat gesagt, dass sie das Kontrollmechanismen, die von einer unabhängi- sehr schockiert hat, das nicht ginge und die gen Stelle durchgeführt werden sollten. Leute schnell woanders untergebracht Beendigung und Nachverfolgung der gewalttä- werden müssten.“ (Interview 3, Hilfsinitia- tigen Übergriffe tive L) Eine weitere Forderung bezüglich der Unterbrin- Die protestierenden Flüchtenden gaben Inter- gungssituation bezog sich auf die Beendigung und views und berichteten über Ereignisse und Miss- Nachverfolgung der Gewalt und der Diskriminie- stände, die sie bereits seit vielen Monaten erlei- rung der Bewohner:innen sowie der als men- den mussten. Diese Berichte waren teilweise sehr schenverachtend wahrgenommenen Behandlung plastisch. Die Flüchtenden zeigten z.B. in und Überschreitung der Befugnisse seitens des 6 6
Wachpersonals. Die Flüchtenden hatten große Des Weiteren äußerten die Protestierenden den Angst vor diesen Übergriffen und wollten sie Wunsch nach Partizipationsmöglichkeiten in Be- nicht länger hinnehmen. zug auf die Begegnungs- und Gesprächsformen seitens der Behörden. Sie wollten bei Vermitt- Schneller Umzug in eine andere, bedarfsge- lungsgesprächen nicht nur formal einbezogen rechte Unterkunft werden, sondern gleichberechtigte Gesprächs- Die protestierenden Flüchtenden formulierten partner:innen sein. konkrete Vorschläge, wie eine verbesserte Unter- bringungssituation für die Bewohner:innen aus- Beteiligte Akteur:innen sehen müsste. Der Fokus ihrer Forderungen lag jedoch auf dem schnellen Auszug aus der Notun- Im Kontext des Protestcamps waren verschie- terkunft in eine Gemeinschaftsunterkunft oder in dene Akteur:innengruppen in unterschiedlichem eine reguläre Wohnung, in der sie über mehr Ausmaß relevant. In der folgenden Darstellung Selbstbestimmungsmöglichkeiten und Pri- (Abb. 1) werden diese und deren Rolle im Kontext vatsphäre verfügen. Dabei waren die Möglichkeit des Protestcamps dargestellt. Für einen besseren zur Selbstversorgung sowie das Vorhandensein Überblick wurden die Akteur:innengruppen in abschließbarer Zimmer wesentlich. Diese Forde- verschiedene Cluster eingeteilt. Die farbliche Un- rung bestand nicht von Beginn an. Nach über ei- terscheidung indiziert das Cluster, das durch die nem Jahr in der Notunterkunft wurde diese For- jeweilige Gruppierung gebildet wird. derung jedoch dringlicher. Die Bewohner:innen forderten nun eine Unterbringung mit mehr Bewohner:innen Raum für Selbstbestimmung. Besonders für Fami- Die Bewohner:innenschaft lässt sich in am Protest lien und kranke Menschen wurde der rasche Um- beteiligte und nicht beteiligte Bewohner:innen zug in eine Unterkunft mit höheren Standards ge- unterteilen. Am Protest teilgenommen haben Er- fordert. wachsene und Kinder. Zu der Gruppe der protes- Gespräche auf Augenhöhe zwischen Behörden tierenden Flüchtenden gehören Familien sowie und protestierenden Flüchtenden alleinstehende Personen. Abb. 1: Beteiligte Akteur:innen (Darstellung: Salome Gunsch und Aryan Sehatkar Langroudi) 7
Hervorzuheben ist hierbei die außerordentliche Gemüter zu beruhigen. Um den Ansprüchen der Unterstützungsstruktur unter den Flüchtenden Bewohner:innen ausreichend Raum zu geben und selbst. Protestteilnehmer:innen, die im Laufe der keine Eskalation oder weitere Unruhe zu riskie- Bewegung in eine andere Unterkunft gezogen ren, lehnte er die Möglichkeit eines Zusammen- sind, erschienen weiterhin vor der Unterkunft, schlusses mit dem Protest einer weiteren Unter- um die Protestierenden mit Lebensmitteln und kunft ab: „Er wollte gegen diese [Unterkunft] pro- anderen Dingen des alltäglichen Bedarfs zu ver- testieren nicht gegen die andere Unterkunft“ (In- sorgen und um zu zeigen, dass es ihnen nicht le- terview 4, Frau Wagner). Nach seiner Verlegung diglich um ihren eigenen Auszug ging, sondern in eine andere Unterkunft war er jedoch völlig um grundlegende Veränderungen in der Unter- ausgelaugt und wurde für längere Zeit krank. kunft. Diese intensive Vernetzung und Organisie- In der Unterkunft gab es auch einen Bewoh- rung untereinander trugen maßgeblich zu einer ner:innenrat, der die Interessen der Bewoh- aktiveren und effizienteren Formierung des Pro- ner:innen innerhalb der Qualitätszirkel vertreten tests und dem Fortbestand des Camps bei. sollte. In diesem waren jedoch die am Protest be- Ein Flüchtender wurde von anderen Protestie- teiligten Bewohner:innen nicht beteiligt. renden als Initiator der Mobilisierung und als Sprecher des Protestcamps genannt. Ihm kam da- Personal her eine besondere Rolle im Kontext des Protest- Das zweite relevante Cluster, das den Bewoh- camps zu. Nach dem gewalttätigen Übergriff ei- ner:innen diametral entgegensteht, bildeten das nes Mitarbeiters des Wachpersonals auf einen in der Unterkunft tätige Personal und der Betrei- Bewohner beschloss er, gemeinsam mit anderen ber. Die konsequente und effiziente Beseitigung Bewohner:innen, sich nicht weiter vertrösten zu der kritisierten Mängel fiel eigentlich in deren Be- lassen und gegen diese Zustände zu protestieren. reich. Für die Beziehung zwischen Bewohner:in- Er übernahm dann auch die Aufgabe, die Forde- nen und Personal war eine Reihe erfolgloser Kom- rungen der protestierenden Flüchtenden nach munikationsversuche kennzeichnend. Des Weite- außen zu vertreten. Der ca. 45 Jahre alte Vater ren zählt auch das Wachpersonal in der Notunter- von mehreren Kindern konnte als Verbindungs- kunft zu diesem Cluster. Die regelmäßige Über- punkt zwischen den Bewohner:innen fungieren, schreitung der Befugnisse und vor allem die ge- da er aufgrund seiner Afghanisch- wie auch sehr walttätigen Übergriffe des Wachpersonals auf guten Farsikenntnisse mit einem Großteil der Be- einzelne Bewohner:innen waren für die Initiie- wohner:innen kommunizieren konnte. Er wies zu- rung des Protestcamps ausschlaggebend. dem bessere Deutschkenntnisse als andere Be- wohner:innen auf. Seine Familie und er waren be- Interne und externe Ehrenamtliche reits seit vielen Monaten bei verschiedenen An- gelegenheiten von der externen Ehrenamtlichen Ein weiteres Cluster stellen die Unterstützer:in- Frau Wagner unterstützt worden. Durch diese nen dar. Diese sind wiederum unterteilt in Hilfs- enge Beziehung zu der Ehrenamtlichen erfuhr organisationen sowie externe und interne Ehren- diese von den Missständen in der Unterkunft. amtliche. Der Unterscheidung in externe und in- Dieser Kontakt stellte einen entscheidenden Fak- terne Ehrenamtliche liegt einer in dieser Notun- tor bei der Mobilisierung dar, da der Sprecher in- terkunft herrschenden Besonderheit zu Grunde. folgedessen darüber informiert war, dass Flüch- Die internen Ehrenamtlichen haben über die ers- tende in Deutschland einen Anspruch auf men- ten Wochen nach Errichtung der Unterkunft hin- schenwürdige Unterbringung haben und es Mög- aus Aufgaben übernommen, die eigentlich im lichkeiten gibt, gegen das Unrecht in der Unter- Aufgaben- und Verantwortungsbereich des Per- kunft vorzugehen. sonals lagen. Einige Ehrenamtliche wurden dann auch hauptamtlich in der Unterkunft angestellt. Als Initiator der Mobilisierung fühlte sich der In anderen Unterkünften folgte aus diesem Sprecher für die anderen Protestierenden und Wechsel ein besonders gutes Verhältnis zwischen das Auftreten in der Öffentlichkeit verantwort- Bewohner:innen und Personal. Dies war in dieser lich. Er verstand sich als Schlichter und machte es Unterkunft jedoch nicht der Fall. Stattdessen ent- sich zur Aufgabe, die manchmal erhitzten wickelte sich in der Notunterkunft ein besonderes 8 8
enges Verhältnis zwischen internen Ehrenamtli- Qualitätszirkel war die zuständige Behörde für die chen und Mitarbeiter:innen. Dieses führte dazu, Versorgung und Unterbringung von Flüchtenden dass ihre Wahrnehmung der Situation und dies- eine zentrale Akteurin in diesem Kontext. Die u.a. bezüglichen Einstellungen denen der Unter- für den Bereich der Versorgung und Unterbrin- kunftsmitarbeiter:innen näher waren als denen gung zuständige politisch Verantwortliche hat die der Flüchtenden und sie daher tendenziell deren Notunterkunft besucht, öffentlich eine Stellung- Sichtweise vertraten. nahme abgegeben und dementsprechend den Verlauf des Protestcamps ebenfalls beeinflusst. Externe Hilfsorganisationen und Ehrenamtli- Medienvertreter:innen haben mit ihrer intensi- che waren bei Eröffnung der Notunterkunft da- ven Berichterstattung zu einer breiteren öffentli- bei, zogen sich aber im Laufe des Protests zuneh- chen Wahrnehmung und Anteilnahme an der Si- mend zurück, um nicht mit der internen ehren- tuation der Bewohner:innen beigetragen und den amtlichen Arbeit zu konkurrieren. Dennoch Protest überregional sichtbar gemacht. wurde der Kontakt zu einzelnen Bewohner:innen oder Familien aus der Notunterkunft beibehalten. Die gemeinnützigen Hilfsorganisationen sind auf Zentrale Erfolge die desolaten Zustände in der Unterkunft über Die Erfolge, die die Flüchtenden mit der Errich- mehrere Wege aufmerksam geworden. Einerseits tung des Protestcamps erzielt haben, sind auf ver- haben die Betroffenen selbst den Austausch mit schiedenen Ebenen angesiedelt. Auf die zwei ihnen gesucht und über die Gegebenheiten be- wichtigsten Erfolge wird im Folgenden eingegan- richtet; andererseits wurden diese von einzelnen gen. externen ehrenamtlich Tätigen darauf hingewie- sen und haben sich daraufhin ein eigenes Bild vor Verlegung in andere Unterkünfte Ort gemacht. Diese Hilfsorganisationen unter- Die Forderung der Bewohner:innen nach Verle- stützen die Flüchtenden auf mehrfache Weise. gung in eine Unterkunft mit mehr Selbstbestim- Neben der Schaffung und Erfüllung von Bedarfs- mungsmöglichkeiten, wie bspw. der Möglichkeit listen wurde individuelle und problemorientierte zur Selbstversorgung oder abschließbaren Zim- Unterstützung geleistet. So wurden zum Beispiel mer, wurde schließlich innerhalb weniger Wo- aus Spendengeldern Familien Übernachtungen in chen für eine große Zahl der Protestierenden ver- einem Hostel oder andere vorübergehende Über- wirklicht. Sie wurden nach Beginn des Protestca- nachtungsmöglichkeiten ermöglicht. Auch bei der mps binnen kürzester Zeit in anderen Unterkünf- langfristigen Suche nach einer alternativen Unter- ten untergebracht. Der Auszug aus der Notunter- bringung standen die Hilfsorganisationen den kunft in eine andere Unterbringung war Bestand- Flüchtenden mit Sprechstunden zur aktiven Woh- teil der Forderungen der Flüchtenden und kann nungssuche in ihren Vereinsräumen zur Seite. In deshalb als großer Erfolg ihrer Mobilisierung ge- den Qualitätszirkeln traten sie für die Forderun- sehen werden. Allerdings bewirkten diese Um- gen der Flüchtenden ein. Die externen Ehrenamt- züge auch, dass die zurückbleibenden Flüchten- lichen haben in diesem Kontext auf verschiedene den an Einfluss verloren und ihnen seitens der re- Weise ihren Beitrag geleistet: im Gespräch mit levanten Stellen keine Beachtung mehr ge- der Unterkunftsleitung, im Schriftverkehr mit po- schenkt wurde. litisch und behördlich Verantwortlichen, aber auch in der Interessenvertretung gegenüber dem Einführung eines Qualitätszirkels Qualitätszirkel. Sie haben aber auch vor allem seelischen Beistand sowie die Aufklärung über Als ein weiterer Erfolg lässt sich die Initiierung ei- behördliche und soziale Strukturen und Vorge- nes Dialogprozesses auf politischer und behörd- hensweisen geleistet. lich-administrativer Ebene werten. Die Qualitäts- zirkel wurden infolge der öffentlich und medial Weitere Akteur:innen sichtbaren Proteste als Mittel für die Initiierung von Veränderungsprozessen in die Wege geleitet. Weitere Akteur:innen waren behördliche und po- Die zunächst wöchentlich, später zweiwöchent- litische Vertreter:innen und Medienvertreter:in- lich stattfindenden Treffen hatten das Ziel, dass nen. Als Initiatorin und Organisatorin der die beteiligten Akteur:innen in einen Dialog 9
treten und Wege und Mittel finden, die Mängel allem auf ihre psychischen und physischen Res- nachhaltig zu beseitigen und den Bedürfnissen sourcen hatten. der Flüchtenden gerecht zu werden. Dort konn- ten die Missstände in der Unterkunft thematisiert Druck auf protestierende Bewoh- werden. ner:innen und Aktivist:innen Diese Handlungsebene stellte sich vor allem Bewohner:innen, die nicht am Protest beteiligt für die Flüchtenden jedoch als extrem begrenzt waren, berichteten uns, dass sie die Forderungen dar. Die zuständige behördliche Stelle für Flüch- der Protestierenden unterstützten und sich ledig- tende machte zwar einige Zugeständnisse, lich aus Angst vor Restriktionen gegen eine Teil- wodurch die Forderungen nach mehr Selbstbe- nahme entschieden hatten. Es seien Gerüchte im stimmung und Teilhabe teilweise und für manche Umlauf, dass die Unterkunftsleitung die am Pro- erfüllt wurden. Allerdings stellten die Qualitäts- test beteiligten Bewohner:innen benachteiligen zirkel keine gleichberechtigten Kommunikations- würde. Aus Angst vor negativen Konsequenzen foren dar. Die zuständige Stelle für Flüchtende und zum Schutz ihrer Familie haben sich somit bestimmte, wer an den Qualitätszirkeln teilnahm, manche nicht aktiv an den Protesten beteiligt Termin und Ort wurden nicht rechtzeitig und oder sie haben sich aufgrund des wachsenden nicht allen Teilnehmenden bekannt gegeben, die Drucks auf die Aktivist:innen wieder zurückgezo- Anwesenheit von Dolmetscher:innen und Ver- gen. trauenspersonen der Flüchtenden war nur zeit- Seitens der Unterkunftsleitung, der internen weise gestattet. Laut Aussagen der Unterstüt- Ehrenamtlichen, des Ordnungsamts und der Ver- zer:innen wurde den Flüchtenden die Mitsprache treter:innen der Polizei wurde insbesondere teils untersagt. Um eine gleichberechtigte Beteili- weiblichen Protestierenden zugeredet, dass die gung der Flüchtenden zu ermöglichen, hätten im Kinder sofort wieder in der Unterkunft übernach- Qualitätszirkel aktiv partizipativere Mechanismen ten müssten. Dieses massive Bedrängen wie auch und Kommunikationswege ermöglicht werden Gerüchte, dass das Jugendamt ihnen die Kinder müssen. entziehen und man sie wegen Verletzung der Für- sorgepflicht inhaftieren würde, zehrten zusätzlich vor allem an den Kräften der weiblichen Protes- Einflussfaktoren tierenden, wodurch manche physisch wie psy- chisch kollabierten und schließlich den Protest Im Rahmen einer Kurzstudie stellt es sich schwie- aufgaben. Die Frauen zogen mit den Kindern wie- rig dar, die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg der in die Unterkunft. Dadurch hat sich nicht nur einer Mobilisierung umfassend und vollständig zu die Protestbewegung enorm verkleinert; der Wi- durchdringen. Dennoch soll hier auf mehrere Ein- derstand hat zusätzlich auch an Durchsetzungs- flussfaktoren eingegangen werden, die sich aus kraft verloren. unserer Sicht negativ oder positiv auf den Mobili- sierungsprozess, Partizipationsmöglichkeiten und Physische und psychische Belas- den Protestverlauf ausgewirkt haben. tungen Neben dem auf die Bewohner:innen ausgeübten Partizipationshemmende Faktoren Druck waren es vor allem die psychischen und Die Bereitschaft seitens der Bewohner:innen, an physischen Belastungen, die die Bewohner:innen dem Protest teilzunehmen und sich im Kontext an der Teilnahme am Protest hinderten und die des Protestcamps zu engagieren, wurde durch protestierenden Flüchtenden belastete. Im Ge- verschiedene Faktoren erschwert oder behindert, spräch mit Herrn Rahmani wurde deutlich, dass er die wir im Folgenden darstellen möchten. Auch sich zwar für seine Rechte einsetzen wollte, der die protestierenden Flüchtenden waren mit die- psychische Druck durch die extrem erschöpfende sen und weiteren Hindernissen und Schwierigkei- Unterbringungssituation jedoch zu Demotivation ten konfrontiert, die Einfluss auf ihre aktive Teil- geführt hat und eine Schwierigkeit für die Mobili- nahme, ihre Partizipationsmöglichkeiten und vor sierung darstellte. Diese negativen Auswirkungen auf die psychische Verfassung der Flüchtenden im 10 10
Kampf um ihre Rechte und gesellschaftliche Teil- nicht mit Ihnen für das Protestcamp gemeinsam habe beschrieben die Flüchtenden als entmuti- einsetzten: gend und kräftezehrend. Zwar erlebten sie den „Was schwierig ist, weil man die Leute un- Umzug in eine andere Unterkunft als Erfolg. Sie terstützen will, aber ständig Gegenwind waren jedoch entsetzt, dass sie erst solche drasti- bekommt. Sich nicht nur für die Flüchten- schen Mittel ergreifen mussten, damit ihre den und ihren Forderungen gegen [die zu- Stimme gehört wurde und die Behörden hinsicht- lich der Behebung der desolaten Lebensbedin- ständige Stelle für Flüchtende] und den Be- gungen aktiv wurden. Herr Karzai berichtete, dass treiber durchsetzen muss, sondern auch für ihn und seine Familie das Protestcamp zwar gegen die Ehrenamtlichen, das ist ja auch erfolgreich war – im Sinne eines Umzugs in eine [etwas] was man nicht erwartet.“ (Inter- Gemeinschaftsunterkunft mit mehr Selbstbe- view 3, Hilfsinitiative L) stimmungsmöglichkeiten. Allerdings sei er nach Die internen Ehrenamtlichen haben den externen dem Protest direkt krank geworden und fühle sich Unterstützer:innen u.a. vorgeworfen, sie würden immer noch körperlich und psychisch erschöpft. sich von außen in etwas einmischen, das sie gar Auch weitere Flüchtende beschrieben diese Situ- nichts anginge, und sie die Arbeit der dort ehren- ation als strapaziös und emotional anstrengend. amtlich tätigen Menschen diskreditieren würden. Komplexe Unterstützter:innenverhält- Diese komplexen Unterstützer:innenverhält- nisse nisse erschwerten die Mobilisierung der Bewoh- ner:innen und wirkten sich im weiteren Verlauf Das beschriebene schlechte Verhältnis zwischen des Protests negativ auf die Erfolgsaussichten des den in der Unterkunft tätigen Ehrenamtlichen Camps aus. und den Bewohner:innen setzte sich im Kontext des Camps weiter fort und wurde durch den Pro- Verlegung von Protestierenden test verstärkt. Laut der Hilfsinitiative L. habe sich der Ehrenamtskoordinator von dem Protest per- Die Behörden veranlassten innerhalb kurzer Zeit sönlich beleidigt und angegriffen gefühlt. Er habe nach der Errichtung des Protestcamps die Verle- kritisiert, dass die Flüchtenden doch gar keinen gung von einigen Protestierenden in andere Ge- Grund hätten zu protestieren, denn die Ehren- meinschaftsunterkünfte. Dies ist zwar als Erfolg amtlichen würden doch immer gute Arbeit leis- zu werten, da eine der zentralen Forderungen der ten. Auch über soziale Plattformen wie Facebook Protestierenden erfüllt wurde. Diese Reaktion seien diese Ansichten geteilt worden. So seien hatte jedoch auch zur Folge, dass das Protestnetz- von Ehrenamtlichen Aussagen gepostet worden werk und damit der Protest selbst maßgeblich ge- wie „Erwarten die etwa ein 5-Sterne-Hotel?“ oder schwächt wurde. Die Protestierenden wurden zu- „Die sollten mal froh sein, dass sie nicht in Aleppo dem in unterschiedlichen Unterkünften unterge- sind“ (zitiert nach Interview 3, Hilfsinitiative L.). bracht, was die weitere Unterstützung und Orga- Nachdem einige der Protestierenden einen Platz nisation des Protestcamps erschwerte. Nach dem in einer anderen Unterkunft erhalten hatten, Umzug der „ersten Gruppe“ von Protestierenden habe sich interne Ehrenamtliche dann auch dem- formierte sich eine neue „zweite Gruppe“, welche entsprechend erleichtert gezeigt: „Endlich sind jedoch nicht so zügig einen Platz in einer Gemein- die Randalierer weg“ (zitiert nach Interview 3, schaftsunterkunft vermittelt bekam. Diese zweite Hilfsinitiative L.). Gruppe erfuhr nicht mehr die gleiche mediale und politische Aufmerksamkeit wie die Protestieren- Das besonders enge Verhältnis zwischen in den zuvor, was an der geringeren Anzahl Protes- der Unterkunft tätigen Haupt- und Ehrenamtli- tierender oder dem Fehlen eines Sprechers nach chen führte dazu, dass externe Ehrenamtliche bei dessen Umzug in eine andere Gemeinschaftsun- dem Versuch, die Flüchtenden bei der Behebung terkunft gelegen haben könnte. Manche Flüch- der Missstände in der Notunterkunft zu unter- tenden konnten nach und nach in eine andere stützten, auf einige auch unerwartete Hinder- Unterkunft umziehen, andere gaben ihren Pro- nisse stießen. So waren externe Ehrenamtliche test vor der Unterkunft auf und kehrten trotz der überrascht, dass die internen Ehrenamtliche sich weiterhin bestehenden Missstände in die 11
Notunterkunft zurück. Zuletzt war es lediglich ein Zudem wurde die aktive Teilnahme der Flüch- Vater, der weiterhin unerschütterlich für bessere tenden dadurch erschwert, dass die Veranstal- Lebensbedingungen für sich und seine Familie tungen ausschließlich auf Deutsch stattfanden kämpfte. Er gab erst nach einigen Wochen wäh- und den Flüchtenden untersagt wurde, eigene rend des Fastenmonats auf, als es ihm aufgrund Sprachmittler:innen mitzubringen. Mit den ge- seines schlechten gesundheitlichen Zustandes stellten Sprachmittler:innen waren sie jedoch nicht mehr möglich war im Protestcamp zu näch- nicht zufrieden, da diese ihrer Ansicht nach nur tigen. Das Fasten und der an den körperlichen Ka- partiell oder tendenziös übersetzten. Außerdem pazitäten zehrende Protest ließen ihn schließlich wurden die Flüchtenden auf verschiedene Wei- kapitulieren. Vor allem infolge der Verlegungen sen daran gehindert, ihrer Position Ausdruck zu der Protestierenden in andere Unterkünfte wur- verleihen, indem ihnen das Sprechen verboten den die Proteste zerstreut. Dies wurde von exter- wurde oder sie in ihren Aussagen unterbrochen nen Ehrenamtlichen als aktive Strategie beschrie- wurden. Auch wurden die Protokolle der Treffen ben, um die Proteste zu destabilisieren und zu trotz Zusage nach mehrmaligem Nachfragen entkräften, da ihnen im wahrsten Sinne des Wor- nicht in die Landessprache der Teilnehmenden tes „wo/men-power“ fehlte. übersetzt. Für eine erfolgreiche Partizipation wäre eine grundlegende Veränderung der Kom- Hierarchische Kommu- munikations- und Organisationsstrukturen not- nikationsstrukturen wendig gewesen, was jedoch nicht der Fall war. Der beschriebene Qualitätszirkel setzte sich unter Im Qualitätszirkel wurden dementsprechend die anderem aus Vertreter:innen der zuständigen Be- bestehenden gesellschaftlichen Machtverhält- hörde, einer Mitarbeiterin eines Integrationsbü- nisse reproduziert, welche verhindern, dass ros, der Unterkunftsleitung, Vertretern:innen des Flüchtende gleichberechtigte Teilhabemöglich- Wachpersonals, einem Bewohner:innenrat der keiten erhalten. Flüchtenden, internen sowie externen Ehrenamt- lichen, der Ehrenamtskoordination, Sprachmitt- Protestfördernde Faktoren lern:innen und Hilfsorganisationen zusammen. Trotz der dargestellten protesthemmenden Fak- Die Planung der Treffen für den Qualitätszirkel toren haben es die Bewohner:innen geschafft, ein oblag der zuständigen Stelle für Flüchtende. De- bundesweit sichtbares Protestcamp zu formieren ren Mitarbeiter:innen trafen die Entscheidung, und es über mehrere Wochen zu erhalten. Dieser wer eingeladen wird, wo die Treffen stattfinden Mobilisierungserfolg und die Tatsache, dass der und bestimmten auch den Gesprächsrahmen. Der Protest nicht gleich wieder abgeebbt ist, sind min- Zugang und noch wichtiger die aktive Teilhabe destens drei Faktoren geschuldet, auf die wir im der Protestierenden wurde dabei wenig berück- Folgenden genauer eingehen werden. sichtigt. Die protestierenden Flüchtenden und ihre Unterstützer:innen kritisierten die erschwer- Protestform: Dauerhaftes Besetzen ten Partizipationsmöglichkeiten und das Fehlen des öffentlichen Raums eines wertschätzenden Umgangs mit ihnen. Die ersten Termine der Qualitätszirkel fanden ohne Ein zentraler Faktor für den Erfolg des Protest- Beteiligung der protestierenden Flüchtenden camps stellt sicherlich die gewählte Protestform statt. Nach einigen Treffen gelang es den Flüch- dar. Da das Camp direkt vor der Unterkunft auf- tenden, sich ihre Teilnahme in Begleitung zu er- gebaut wurde, gestaltete sich die Teilnahme für kämpfen. Allerdings gestaltete sich der Dialog auf die Bewohner:innen zunächst relativ nied- Augenhöhe weiterhin schwierig. Eine beim Pro- rigschwellig und flexibel; sie konnten spontan ein- testcamp beteiligte Hilfsorganisation beschrieb und wieder aussteigen. Durch die langfristige und auf ihrer Social Media-Seite die ausgrenzende Ge- dauerhafte Präsenz im öffentlichen Raum wurden sprächskultur, die ihnen bereits bekannt sei und zudem die Sichtbarkeit und die Reichweite der die sie in den Dialogen des Qualitätszirkel wieder- Beschwerden und Proteste enorm erhöht. So ha- fände. ben bspw. Passant:innen von dem Protest Notiz genommen; das mediale Interesse wuchs schlag- artig, sodass über das Protestcamp auch 12 12
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