2 Letzter Ausweg: Protestcamp Zur Selbstorganisation von Flüchtenden vor einer Notunterkunft - Institut für Protest- und Bewegungsforschung

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2 Letzter Ausweg: Protestcamp Zur Selbstorganisation von Flüchtenden vor einer Notunterkunft - Institut für Protest- und Bewegungsforschung
Salome Gunsch, Aryan Sehatkar Langroudi und Judith Vey

Letzter Ausweg: Protestcamp
Zur Selbstorganisation von Flüchtenden vor einer
Notunterkunft

                                           2
                                                 2021
                                                 ipb working paper
                                                 ISSN 2747 - 5700
2 Letzter Ausweg: Protestcamp Zur Selbstorganisation von Flüchtenden vor einer Notunterkunft - Institut für Protest- und Bewegungsforschung
Autor*innen

ipb working paper | Berlin, Mai 2021                 Salome Gunsch
                                                     Aryan Sehatkar Langroudi
ISSN (Print)     2699-2019
ISSN (Online)    2747-5700                           Judith Vey
                                                     Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb)
Die ipb working papers werden vom Verein für
Protest- und Bewegungsforschung e.V. heraus-         Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG), Techni-
gegeben. Sie erscheinen in loser Folge. Der Ver-     sche Universität Berlin
ein ist Träger des gleichnamigen Instituts. Des-     vey@ztg.tu-berlin.de
sen Aktivitäten sind unter http://protestinsti-
tut.eu dokumentiert. Für die Redaktion der ipb-
working papers sind Jannis Julien Grimm, Dieter
Rucht und Verena Stern verantwortlich.

Alle bisher erschienenen Texte aus der Reihe
sind online abrufbar unter:

https://protestinstitut.eu/ipb-working-papers/

„Letzter Ausweg: Protestcamp. Zur Selbstorga-
nisation von Flüchtenden vor einer Notunter-
kunft“ von Salome Gunsch, Aryan Sehatkar
Langroudi und Judith Vey ist lizenziert unter ei-
ner Creative Commons Namensnennung Inter-
national Lizenz (CC-BY 4.0).

Die Titelseite wurde unter Verwendung des Fo-
tos „Hunger strike von Flüchtlingen“ von
iStock/FooTToo erstellt (Stock-Fotografie-ID:
525357569). Das Foto von ist zur redaktionel-
len Nutzung lizensiert mit einer iStock Stan-
dard Lizenz. Bildbeschreibung: Munich, Ger-
many - November 24, 2014: refugees in a hun-
ger strike in munich - Sendlingertor. the refu-
gees demonstrate for more rights and against
racism. The photo shows the third day.

Gunsch, Salome; Sehatkar Langroudi, Aryan; Vey, Judith. 2021. Letzter Ausweg: Protestcamp. Zur Selbst-
organisation von Flüchtenden vor einer Notunterkunft, ipb working paper series, 2/2021. Berlin: ipb.
2 Letzter Ausweg: Protestcamp Zur Selbstorganisation von Flüchtenden vor einer Notunterkunft - Institut für Protest- und Bewegungsforschung
Zusammenfassung                                     Abstract

Mit der Zunahme der Asylantragszahlen in            With the increase in the number of asylum see-
Deutschland seit 2008 haben auch die Proteste       kers in Germany since 2008, protests against the
gegen die Unterbringungsbedingungen in Sam-         housing conditions in collective accommodations
melunterkünften wieder zugenommen. Einer            have risen again. One of these protests is the sub-
dieser Proteste ist Gegenstand dieses working       ject of this working paper. In front of an
paper. Vor einer Notunterkunft einer bundes-        emergency shelter in a major German city, resi-
deutschen Großstadt haben Bewohner:innen            dents set up a protest camp to draw attention to
ein Protestcamp aufgebaut, um auf die desola-       the desolate housing conditions and to advocate
ten Unterbringungsbedingungen aufmerksam            for their improvement.
zu machen und um für deren Verbesserung ein-
                                                    Through qualitative interviews, informal conver-
zutreten.
                                                    sations, participant observations, and media and
Mittels qualitativer Leitfadeninterviews, infor-    document analysis we obtained a differentiated
mellen Gesprächen, teilnehmender Beobach-           picture of the protest and its context.
tungen und einer Medien- und Dokumen-
                                                    The focus of our analysis was on the conditions in
tenanalyse haben wir ein differenziertes Bild
                                                    the shelter, the formation of the protest camp
des Protests und dessen Kontext erhalten.
                                                    and its course, the demands raised, relevant ac-
Der Schwerpunkt unserer Analyse lag auf den         tors (constellations), and key outcomes. Based on
Ausgangsbedingungen in der Unterkunft, der          this, we identified factors that hindered those
Formierung des Protestcamps und dessen Ver-         who promoted protest and participation. The
lauf, den erhobenen Forderungen, relevanten         analysis of the protest camp not only reveals how
Akteur:innen(konstellationen) und zentralen         difficult it is for refugees to campaign for an im-
Erfolgen. Darauf aufbauend haben wir protest-       provement of their situation. It also provides in-
und partizipationshemmende sowie -fördernde         sights into the conditions under which refugees
Faktoren identifiziert. Die Analyse des Protest-    are accommodated in Germany.
camps macht nicht nur sichtbar, wie schwierig
es für Flüchtende ist, sich für eine Verbesserung
ihrer Situation einzusetzen. Sie gibt darüber
hin-aus auch Einblicke in die Unterbringungsbe-
din-gungen von Flüchtenden.
Inhaltsverzeichnis

Einleitung                                    1
Forschungsaufbau und Durchführung             2
Ausgangsbedingungen                           3
Unzureichende Verpflegung                     3
Mangelnde Sauberkeit                          3
Gewaltsame Übergriffe und fehlende Sicherheit 4
Isolation und mangelnde Unterstützung durch
Ehrenamtliche                                 4
Das Protestcamp                              5
Formierung des Protestcamps und Protestverlauf
                                             5
Forderungen                                  6
Beteiligte Akteur:innen                      7
Bewohner:innen                               7
Personal                                     8
Interne und externe Ehrenamtliche            8
Weitere Akteur:innen                         9
Zentrale Erfolge                             9
Verlegung in andere Unterkünfte              9
Einführung eines Qualitätszirkels            9
Einflussfaktoren                              10
Partizipationshemmende Faktoren               10
Druck auf protestierende Bewohner:innen und
Aktivist:innen                                10
Physische und psychische Belastungen          10
Komplexe Unterstützter:innenverhältnisse      11
Verlegung von Protestierenden                 11
Hierarchische Kommunikationsstrukturen        12
Protestfördernde Faktoren                     12
Protestform: Dauerhaftes Besetzen des
öffentlichen Raums                            12
Kontakt zu externen Ehrenamtlichen,
Unterstützungs- und zivilgesellschaftlichen
Gruppen                                       13
Veränderte Gelegenheitsstrukturen             13
Fazit                                         13
Literaturverzeichnis                          16
Einleitung 1                                              lokaler Unterkünfte – zusammengeschlossen, um
                                                          gegen die Bedingungen der Unterbringung zu de-
In den Jahren 2015/2016 sind über eine Million            monstrieren. Es wurden Protestcamps errichtet,
Menschen nach Deutschland geflüchtet. Ihre Ver-           Bewohner:innen sind in den Hungerstreik getre-
sorgung und Unterbringung hat die bundesdeut-             ten, Märsche wurden organisiert oder öffentliche
sche Verwaltung und soziale Infrastruktur vor             Plätze besetzt, um u.a. für mehr Selbstbestim-
große Herausforderungen gestellt, die nicht ohne          mung einzutreten (Mai 2017; Klotz 2016; Nie-
die Hilfe Zehntausender ehramtlicher Unterstüt-           bauer 2016; Ünsal 2015; Karakayali 2015; Plöger
zer:innen 2 möglich gewesen wäre (dazu u.a. Graf          2014). Einer dieser Proteste ist Gegenstand die-
2016; Hamann/Karakayali 2016; Karakayali/Kleist           ses working papers. In einer Notunterkunft in ei-
2015 und 2016; van Dyk/Miesbach 2016; Vey                 ner bundesdeutschen Großstadt haben sich Be-
2018b; Vey/Sauer 2016). Durch diesen enormen              wohner:innen im Jahr 2017 zusammengeschlos-
Anstieg der Antragszahlen – auch schon in den             sen und vor ihrer Unterkunft ein Protestcamp er-
Jahren zuvor – kam es bundesweit zu Versor-               richtet, da sie dies als letzten Ausweg sahen, um
gungs- und Unterbringungsengpässen. Vielerorts            auf die miserablen Unterbringungsbedingungen
herrschten desaströse Zustände in und vor den             aufmerksam zu machen.
Unterkünften und behördlichen Stellen. Diese                  In unserer Analyse haben wir den Schwer-
wurden bereits in zahlreichen Studien – nicht nur         punkt auf die Ausgangsbedingungen in der Unter-
über die Unterbringung in Notunterkünften – do-           kunft (Kapitel 2), die Formierung des Protestca-
kumentiert und analysiert (u.a. Christ et al. 2017;       mps und dessen Verlauf, die erhobenen Forde-
Deutsches Institut für Menschenrechte 2017; Dil-          rungen, die relevanten Akteur:innen(konstellati-
ger und Dohrn 2016; Dittmer und Lorenz 2016;              onen) und die zentralen Erfolge (Kapitel 3) gelegt.
Foroutan et al. 2017; Vey 2018a und 2019; Vey             Darauf aufbauend haben wir protest- und partizi-
und Gunsch 2021 (i.E.); UNICEF 2017).                     pationshemmende sowie -fördernde Faktoren
   Mit der Zunahme der Sammelunterkünfte spä-             identifiziert (Kapitel 4). In einem Fazit (Kapitel 5)
testens 2015 ist auch die Zahl der Proteste gegen         geben wir eine Zusammenfassung und einen Aus-
die Unterbringungsbedingungen gestiegen. An               blick bezüglich der Proteste von Flüchtenden. 3
vielen Orten im gesamten Bundesgebiet haben
sich Bewohner:innen – oft zunächst auf Ebene
_____

1
  Die vorliegende Kurzstudie ist Teil des Forschungs-     geeignet, da dieser von Screenreadern (je nach Ein-
projekts „Handlungsfähigkeit in der bundesdeutschen       stellung) als Pause und nicht als Sonderzeichen vorge-
Unterbringung von Flüchtenden“ (https://www.tu-           lesen wird.
berlin.de/ztg/menue/projekte_und_kompeten-                3
                                                            In den vergangenen Jahren wurde im deutschspra-
zen/projekte_laufend/fluechtlingsunterbringung/), in      chigen Raum viel über den Terminus „Flüchtling“ dis-
welchem verschiedene Formen der Unterbringung             kutiert und ihm der Begriff „Geflüchtete:r“ entgegen-
von Flüchtenden, deren Auswirkungen auf die Be-           gestellt. Da die Flucht für die meisten Geflüchteten
wohner:innen und diesbezügliche Handlungsräume            auch nach der Ankunft in Deutschland noch nicht ab-
sowie -strategien untersucht werden. Wir bedanken         geschlossen ist, sondern oftmals erst nach Erhalt ei-
uns bei allen, die an der empirischen Feldforschung       nes sicheren Aufenthaltsstatus‘ und dem Umzug in
teilgenommen haben, für ihre Gesprächsbereitschaft        eine eigene Wohnung, erscheint es uns sinnvoller,
und Offenheit, sowie bei Dieter Rucht, Sabrina Zajak      von „Flüchtenden“ zu sprechen. Auch Julia Devlin,
und Jannis Grimm für ihre sehr hilfreiche Kommentie-      Tanja Evers und Simon Goebel weisen auf diesen As-
rung dieses Papers. Darüber hinaus bedanken wir uns       pekt hin: „Die Erfahrungen mit und Entscheidungen
bei der Fritz Thyssen Stiftung für die Förderung dieses   zu (Im-)Mobilität enden zudem nicht mit der ‚An-
Projekts.                                                 kunft‘ in einer Aufnahmegesellschaft; vielmehr tref-
2
  Wir haben uns für den Doppelpunkt als Mittel einer      fen sie sodann auf die Restriktionen eines Asylre-
geschlechtergerechten Schreibweise entschieden. Er        gimes“ (2021: 15).
ist für Menschen mit einer Sehbehinderung besser

                                                                                                              1
Forschungsaufbau und Durchführung                   Umständen in der Unterkunft betroffen. Die Hin-
                                                    zuziehung von Medienmaterial vertiefte Erkennt-
Um den verschiedenen Bedürfnissen der Befrag-
                                                    nisse, die aus der Perspektive der Protestieren-
ten und der besonderen Forschungssituation im
                                                    den gewonnen wurden. Dieses umfasste unter
Kontext von Flucht und Asyl gerecht werden zu
                                                    anderem sechs Fernsehbeitrage mit Interviews
können, wurde eine Kombination verschiedener
                                                    von Bewohner:innen der Notunterkunft. Die Ein-
qualitativer Methoden gewählt. Diese beinhal-
                                                    schätzungen der Unterstützer:innen des Protests
tete die Durchführung halbstandardisierter Leit-
                                                    wurden in Form von Interviews, Telefonaten und
fadeninterviews mit Flüchtenden und Unterstüt-
                                                    Emails wie auch anhand von Webrecherchen und
zer:innen, informelle Gespräche, (teilnehmende)
                                                    zahlreichen Protokollen verschiedener Veranstal-
Beobachtungen sowie eine Medienanalyse. Die
                                                    tungen und Gespräche nachvollzogen. Wir haben
Kurzstudie wurde im Mai/Juni 2017 direkt zum
                                                    mit einer (im Folgenden: externen) Ehrenamtli-
und nach dem Höhepunkt der Proteste vor der
                                                    chen gesprochen, die nicht an den Angeboten
Unterkunft durchgeführt. Die größte Herausfor-
                                                    und Tätigkeiten der internen Ehrenamtlichen be-
derung stellte der begrenzte Zeitrahmen dar.
                                                    teiligt war, aber eine am Protest beteiligte Familie
Zum Zeitpunkt der Untersuchung wurden die
                                                    unterstützte, sowie mit einer Mitarbeiterin einer
meisten der Protestierenden entweder in andere
                                                    Hilfsorganisation. Beide Interviewten konnten
Unterkünfte verlegt, mussten aufgrund gesund-
                                                    uns hilfreiche Einblicke geben, da sie das Gesche-
heitlicher Gründe das Protestcamp verlassen
                                                    hen von Anfang bis Ende begleitet haben. Die Mit-
oder hatten den Protest aufgegeben. Die Unter-
                                                    arbeiterin einer sozialen Einrichtung, die psycho-
kunftsleitung, das Personal und die direkt in der
                                                    soziale Hilfen für politisch Verfolgte anbietet, er-
Unterkunft tätigen (im Folgenden: internen4) Eh-
                                                    läuterte uns den Einfluss der Wohnverhältnisse
renamtlichen waren nicht zu einem Interview be-
                                                    auf das psychische Wohlbefinden. Um das Pro-
reit bzw. konnten nicht erreicht werden. Deren
                                                    testcamp zu kontextualisieren, wurde zusätzlich
Darstellung konnte folglich nicht in die Auswer-
                                                    mit der lokalen Koordinierungsstelle für Demo-
tung miteinfließen. Insgesamt wurden fünf (Grup-
                                                    kratieentwicklung gesprochen, welche uns über
pen-)Interviews und vier informelle Gespräche
                                                    einen Hungerstreik in einer anderen Flüchten-
mit insgesamt zehn Bewohner:innen, je nach
                                                    denunterkunft berichten konnte.
Sprachkenntnissen auf Deutsch oder Farsi, ge-
führt. Der Austausch mit den Bewohner:innen             Für den Feldzugang, die Gewinnung von Inter-
wurde entweder direkt von einem Projektmitar-       viewpartner:innen und die Herstellung einer offe-
beiter auf Farsi durchgeführt oder von den Pro-     nen Gesprächsatmosphäre waren drei Aspekte
jektmitarbeiter:innen auf Deutsch und dann von      zuträglich: Erstens war es hilfreich, dass die Inter-
einem anderen Flüchtenden übersetzt. Damit in       views von einem Mitarbeiter und einer Mitarbei-
der Studie trotz des begrenzten Zeitrahmens         terin des Projekts geführt wurden; zweitens
möglichst verschiedene Perspektiven berücksich-     konnte ein Projektmitarbeiter aufgrund seiner
tigt werden konnten, wurde auf eine größtmögli-     Sprachkenntnisse Interviews und Gespräche in
che Heterogenität der befragten Protestbeteilig-    Farsi führen; und drittens trugen die Erfahrungen
ten geachtet. Deshalb war es uns wichtig, dass      einer Projektmitarbeiterin als Traumaberaterin
diese sich nach Geschlecht, Familienstand, Her-     für Flüchtende zu einem verbesserten Gesprächs-
kunft und Protestbeteiligung unterscheiden. Die     klima bei.
befragten Personen sind teilweise mit ihren Kin-
                                                       Viele der Flüchtenden hatten großes Interesse
dern geflohen und waren zum Zeitpunkt der Be-
                                                    daran, uns über ihre Situation zu berichten. Sie
fragung seit mehreren Monaten von den
                                                    berichteten von ihren Gründen und Motiven am
_____

4
 Die Unterscheidung von internen und externen
Ehrenamtlichen wird auf den Seiten 8-9 genauer
erläutert.

                                                                                                       2
2
Protestcamp teilzunehmen und schilderten den        unter anderem zunächst drei Jahre im Iran ver-
Verlauf des Protestes. Auch die Mitarbeiterin der   bracht hatten und nirgends so sehr wie in der
Hilfsorganisation und die Ehrenamtliche zeigten     Notunterkunft gelitten hätten. Die gesamte Fami-
eine große Gesprächsbereitschaft und waren          lie sei sehr erschöpft und brauche dringend Ruhe.
sehr bemüht, zusätzliches Informationsmaterial      Die Unterbringungssituation belastete die Be-
zur Analyse zur Verfügung zu stellen.               wohner:innen enorm. Im Folgenden gehen wir
                                                    auf die diesbezüglichen Kritikpunkte ausführli-
    Die geführten Interviews wurden teilweise di-
                                                    cher ein.
gital aufgenommen und anschließend transkri-
biert, teils wurden die informellen Gespräche in
Form von Notizen festgehalten. Die Interview-       Unzureichende Verpflegung
dauer betrug durchschnittlich eine Stunde. Alle     Die Verpflegungssituation wurde seitens der Be-
Gespräche wurden anonymisiert. Aus diesem           wohner:innen als unzureichend beschrieben. Da
Grund werden weder die Unterkunft, vor der sich     keine Kochmöglichkeit zur Verfügung stand, be-
das Protestcamp befand, die befragten Personen,     stand Vollverpflegung durch einen Caterer. Die
die Hilfsorganisation noch die Stadt namentlich     Speisen mussten in der Kantine zu den Essenszei-
genannt. Die Analyse der Daten erfolgte mit Hilfe   ten verzehrt werden. Die Vorschriften in der Kan-
des qualitativen Analyseprogramms MAXQDA.           tine waren sehr rigide. Um sicher zu stellen, dass
Die zueinander in Verbindung stehenden Inhalte      es nicht zu Geschirr- oder Lebensmittelentwen-
wurden nach thematischen Kriterien exzerpiert       dung kommt, mussten die Bewohner:innen vor
und strukturiert zusammengeführt.                   Betreten der Kantine ihre Taschen einschließen.
                                                    Die Qualität der Verpflegung wurde von vielen als
                                                    minderwertig bewertet und sie war nicht an die
Ausgangsbedingungen                                 Bedürfnisse der Bewohner:innen aus unter-
                                                    schiedlichen Kulturräumen angepasst. Teilweise
 „In diesem einen Jahr erging es uns sehr           gab es über Monate hinweg das gleiche Essen mit
 schwer. […] Was ist das für ein Leben? Ist         nur wenig Variation. Gelegentlich wurden Reste,
 das ein Leben? Es ist die Hölle. […] Keiner        die vom Mittagessen übrigblieben, kalt zum
 kümmert sich. Wenn sich keiner kümmert,            Abendessen serviert. Ein Bewohner berichtete
 sollen sie uns doch in ein anderes Verder-         von verdorbenen Mahlzeiten, durch die einmal
 ben schicken. Wie sehr sollen wir noch lei-        eine große Anzahl der Bewohner:innen an einer
 den? Und das mit sechs Kindern. Es ist er-         Lebensmittelvergiftung erkrankte.
 müdend.” (Interview 2, Herr Rahmani)
                                                    Mangelnde Sauberkeit
Die beforschte Notunterkunft wurde im August
2015 eröffnet. Sie wurde von einem Wohlfahrts-      Die mangelnde Sauberkeit in der Notunterkunft
verband betrieben und es wurden ca. 900 Flüch-      stellte ein weiteres Problem dar. Duschen und
tende dort untergebracht, darunter Alleinrei-       Toiletten befanden sich auf den Fluren und wur-
sende und Familien. Viele der Bewohner:innen        den gemeinschaftlich von den Flüchtenden ge-
wurden von einer Turnhalle in diese Notunter-       nutzt. Die nicht in ausreichender Anzahl vorhan-
kunft mit Mehrbettzimmern verlegt.                  denen sanitären Einrichtungen waren dabei eine
                                                    der größten Schwierigkeiten. Die von uns inter-
    Die Unterbringungsbedingungen wurden von        viewten Personen berichten von knapp 35 Du-
allen Befragten als äußerst schlecht beschrieben.   schen für ca. 900 Bewohner:innen. Aufgrund von
Kritisiert wurden vor allem die unzureichende       zahlreichen reparaturbedingten Ausfällen war oft
Verpflegung, mangelnde Sauberkeit, gewaltsame       nur ein Bruchteil der Duschen und Toiletten ver-
Übergriffe und Isolation. Erschwerend kam hinzu,    fügbar. Gingen diese ebenfalls kaputt, nahm die
dass diese Zustände nicht nur wenige Wochen         Reparatur teilweise Wochen in Anspruch. Es gab
und damit eine absehbare Zeitspanne andauer-        feste Duschzeiten, außerhalb derer die Nutzung
ten, sondern für viele Monate anhielten. Ein af-    der Duschanlagen nicht gestattet war. Die Be-
ghanischer Vater berichtete bspw., dass er und      wohner:innen berichteten uns außerdem von
seine Familie nach ihrer Flucht aus Afghanistan     Krankheiten, die sich infolge der unzureichenden

                                                                                                    3
Sanitäreinrichtungen binnen kürzester Zeit ver-    nicht abschließbar und es gab keine Möglichkeit,
breiteten. Vor allem Hautkrankheiten und Erkäl-    persönliche Wertgegenstände und Gepäck sicher
tungen haben sich schnell auf eine Vielzahl der    zu verwahren.
Bewohner:innen übertragen. Ein Bewohner er-
                                                      Vor Verfolgung in ihrer Heimat geflohen, sa-
zählte uns, dass sich seine Kinder in der Unter-
                                                   hen sie sich in Deutschland wieder einer funda-
kunft aufgrund von mangelnder Sauberkeit mit
                                                   mental unsicheren Lebenssituation ausgeliefert:
Hepatitis infiziert hätten:
                                                   „Wir haben unserer Heimat den Rücken gekehrt,
    „Vier meiner Kinder sind hier an Hepatitis     weil wir nicht mehr diese Gewalt für uns und un-
    erkrankt. Woher? Der Arzt meint von den        sere Kinder wollen, und jetzt leben wir wieder in
    Klamotten und sonst was. Die Hygiene ist       einer so unsicheren Situation“, so gab uns eine
    halt nicht da. Hier war schon oft auf den      befragte Ehrenamtliche das Erleben einer Bewoh-
    Toiletten alles voll mit Blut“ (Interview 2,   nerin wieder (Interview 4, Frau Wagner).
    Herr Rahmani).
                                                   Isolation und mangelnde Unterstüt-
Des Weiteren wurde berichtet, dass einige
                                                   zung durch Ehrenamtliche
Räume von massivem Ungezieferbefall betroffen
seien und die Bekämpfung von Seiten der Unter-     Da die internen Ehrenamtlichen von Anfang an
kunftsleitung nur inkonsequent und ineffizient     eng mit dem Unterkunftspersonal zusammenge-
stattfände. Bewohner:innen zeigten uns ihre        arbeitet haben und sie den Flüchtenden gegen-
Arme, die von Bettwanzenbissen übersät waren.      über z.T. sehr kritisch eingestellt waren, fehlte in
Diese wurden von der Unterkunftsleitung zu-        dieser Unterkunft die externe Kontrolle durch un-
nächst als allergische Reaktion eingestuft, der    abhängige Ehrenamtliche, wie sie in anderen Un-
keine weitere Beachtung geschenkt wurde.           terkünften oft der Fall ist (Vey/ Sauer 2016). Die
                                                   Mitarbeiterin der Hilfsorganisation berichtete
Gewaltsame Übergriffe und fehlende                 z.B., dass die internen Ehrenamtlichen sich u.a.
Sicherheit                                         darüber empörten, dass die Bewohner:innen so
                                                   viel Müll verursachen würden und man sich vor
Die Bewohner:innen berichteten uns, dass es zu-    den Nachbarn schämen müsse. Folglich blieben
dem des Öfteren Übergriffe auf Frauen und Kin-     die Missstände in der Notunterkunft lange unver-
der gebe. Dieser zusätzlichen Bedrohung inner-     ändert und wurden kaum kritisch reflektiert und
halb der Bewohner:innenschaft ausgesetzt, sa-      thematisiert. Die festeingesessenen Ehrenamtli-
hen sich einige Eltern gezwungen, entsprechende    chen ließen es zudem kaum zu, dass neue Ehren-
Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. So wurden Kin-      amtliche in der Notunterkunft tätig wurden.
der selten unbeaufsichtigt gelassen und bei Toi-
lettengängen mindestens von einer Person be-           Dies führte dazu, dass sich Hierarchien und
gleitet. Die gewaltsamen Übergriffe fänden auch    Machtstrukturen zwischen Mitarbeiter:innen und
durch die Angestellten des Wachpersonals statt.    Bewohner:innen entwickeln und verstärken
Regelmäßig hätten diese ihre Befugnisse über-      konnten, infolge derer sich die Situation zusätz-
schritten; es wurden widerrechtlich Taschen kon-   lich verschlechtert hat. Auf Beschwerden wurde
trolliert sowie Bewohner:innen körperlich ange-    dementsprechend überwiegend nicht reagiert.
griffen. Den gewaltsamen Übergriffen in der Un-    Befragte Bewohner:innen beklagten, dass sie sich
terkunft wurde nicht oder nicht in ausreichender   wie im Gefängnis fühlten. Da die Unterbringung
Form nachgegangen und den von den Bewoh-           in Sammelunterkünften Isolation verstärkt und es
ner:innen geäußerten Beschwerden und Forde-        in dieser Unterkunft jenseits der Aktivitäten der
rungen nach einer bedarfsgerechten Unterbrin-      Ehrenamtlichen wenig Kontakt- und Austausch-
gung nicht nachgekommen. Die Kinder erzählten      möglichkeiten im Alltag gab, blieben die Zustände
in Fernsehinterviews, dass sie große Angst vor     in der Notunterkunft über viele Monate hinweg
dem als äußerst aggressiv empfundenen Wach-        in der Öffentlichkeit unbemerkt.
personal hätten. Die befragten Bewohner:innen
vermuteten, dass diese Übergriffe auch rassis-
tisch motiviert seien. Zudem waren die Zimmer

                                                                                                     4
4
Das Protestcamp                                       gleiche Zurückweisung. Im Interview berichtete
                                                      uns die externe Ehrenamtliche Frau Wagner, dass
In diesem Kapitel gehen wir ausführlich auf das       kritische Äußerungen bezüglich der Notunter-
Protestcamp ein. Dabei stehen die Formierung          kunft von den internen Ehrenamtlichen zurückge-
des Protests und der Protestverlauf (Teil 1), die     wiesen worden seien:
gestellten Forderungen (Teil 2), die zentralen Ak-     „Wenn man das in der Facebookgruppe
teur:innen (Teil 3) und die wichtigsten Erfolge        oder unter den ehrenamtlich Tätigen an-
(Teil 4) im Fokus der Analyse.                         gesprochen hat, dann sind die sofort hoch-
                                                       gegangen: ,Wir machen so viel. Die [Unter-
Formierung des Protestcamps und                        kunftsleitung] kann doch nicht so schnell
Protestverlauf                                         und es wird ja alles noch.‘ Also hat man ge-
Die Flüchtenden berichteten, dass sie bei ihrem        merkt, wenn man versucht das vorsichtig
Einzug in die Notunterkunft im August 2015 froh        anzusprechen, dass das so nicht vorgese-
waren, die Turnhalle verlassen zu können. Dem-         hen sein kann, man nicht auf offene Ohren
entsprechend ließen sie sich auch darauf ein, für      gestoßen ist.“ (Interview 4, Frau Wagner)
ein paar Monate in einer weiteren temporären          Es wird deutlich, wie schwierig es für Flüchtende
Unterkunft zu leben, bis sie in eine Gemein-          ist, auf formalem und informellen Wege Einfluss
schaftsunterkunft oder eine Wohnung mit mehr          zu nehmen und sich gegen schlechte Unterbrin-
Möglichkeit zur Selbstbestimmung umziehen             gungsbedingungen zur Wehr zu setzen. Die Isola-
können. Es zeigte sich jedoch, dass ein Auszug aus    tionserfahrung in der Notunterkunft lehrte die
der Notunterkunft auch nach 21 Monaten nicht          Bewohner:innen, dass sie andere Wege gehen
geplant war und dass sich die Unterbringungsbe-       müssen, um ihrer Stimme Gehör zu verleihen.
dingungen im Vergleich zur Turnhalle in der Not-
unterkunft nicht wesentlich verbessert hatten.           Als Auslöser für die Errichtung des Camps
Nach einiger Zeit verstärkte sich schließlich die     wurde von den befragten Bewohner:innen ein ge-
Unzufriedenheit unter den Bewohner:innen, und         waltsamer Übergriff eines Mitarbeiters des
sie suchten vereinzelt über viele Monate das Ge-      Wachpersonals auf einen der Bewohner genannt.
spräch mit der Unterkunftsleitung. Dort erhofften     Das Scheitern einer formellen Beschwerde führte
sie sich Verständnis und Veränderungen. Sie           dann im Mai 2017 zur Mobilisierung einiger Be-
konnten und wollten die in der Notunterkunft          wohner:innen in der Form eines Protestcamps di-
herrschenden Missstände nicht weiter akzeptie-        rekt vor der Unterkunft, um den Forderungen
ren, wurden jedoch enttäuscht. Die Unterkunfts-       Nachdruck zu verleihen. Zunächst wurde nur das
leitung gab lediglich die Information, sich bis zum   Nötigste verwendet, um ein Protestcamp vor der
geplanten Auszug aus der Notunterkunft Ende           Notunterkunft zu errichten. Im Verlauf des Pro-
2016 zu gedulden.                                     testes wurde das Camp dann immer weiter den
                                                      konkreten Bedarfen angepasst. So kamen bei-
   Ein Bewohner erzählte: „Wir haben viel ge-         spielsweise mit der Zeit nicht nur Kissen, Tücher
sprochen mit der Unterkunftsleitung. Aber sie ak-     und Kartons, sondern auch Zelte und Matratzen
zeptieren nicht. Sie hat gesagt, du musst hier war-   zum Einsatz. Zum Schutz vor direkter Sonnenein-
ten bis Schluss“ (Interview 1, Herr Akram). Der-      strahlung oder starken Regenfällen wurden Pla-
selbe Bewohner berichtete, wie er nach den er-        nen gespannt.
folglosen Kommunikationsversuchen mit der Un-
terkunftsleitung versucht hat, sich direkt bei der        Auf Pappe verfasste Botschaften verliehen
zuständigen Stelle für Flüchtende oder beim Job-      dem Protest zusätzlichen Ausdruck und infor-
center zu beschweren, doch es wurde immer wie-        mierten Passant:innen des belebten Stadtteils. Zu
der darauf verwiesen, sich direkt an die Unter-       Beginn betrug die Anzahl der Beteiligten etwa 30
kunftsleitung zu wenden. Die zahlreichen Versu-       Personen, innerhalb weniger Tage stieg die Zahl
che, gehört zu werden und eine Veränderung zu         auf etwa 80 Protestierende an. Die Beteiligung
bewirken, liefen ins Leere. Von den internen Eh-      der Protestierenden variierte stark. Manche ver-
renamtlichen erfuhren die Flüchtenden die             ließen das Protestcamp innerhalb der ersten bei-
                                                      den Wochen, da sie in eine andere Unterkunft

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verlegt wurden oder selbstständig eine andere        Plastiktüten gesammelte Bettwanzen aus der
Wohnmöglichkeit gefunden hatten. Ein Protestie-      Notunterkunft. Dadurch wurde ihr Protest für ei-
render berichtete, dass er nach einem Tag das        nen breiteren Teil der Gesellschaft sichtbar und
Protestcamp bereits wieder verließ, da er Restrik-   die öffentliche Wahrnehmung und Anteilnahme
tionen durch die Unterkunftsleitung befürchtete.     veränderte sich.
    Die Form des Protests ermöglichte für die Be-       Ein Großteil der protestierenden Flüchtenden
wohner:innen der Notunterkunft einen nied-           erhielt innerhalb weniger Wochen einen Platz in
rigschwelligen Zugang: Dadurch, dass das Camp        einer anderen Unterkunft. Zudem wurde von be-
direkt vor der Unterkunft der Flüchtenden aufge-     hördlicher Seite ein Qualitätszirkel ins Leben ge-
baut wurde, konnten Bewohner:innen flexibel          rufen, in dem die kritisierten Zustände themati-
mobilisiert werden und in den Protest ein- und       siert und behoben werden sollten. Nach dem
wieder aussteigen. Diese Protestform passte zu       Auszug der meisten Protestierenden formierte
der Lebensrealität der flüchtenden Familien. So      sich eine zweite Gruppe, die jedoch nicht mehr
konnten Kinder und kranke Familienmitglieder         die gleiche mediale und öffentliche Aufmerksam-
weiterhin in der Notunterkunft übernachten und       keit erfuhr und überwiegend keine Plätze in an-
waren trotzdem in der Nähe ihrer Familie. Die Ak-    deren Unterkünften vermittelt bekam. Nach und
tivist:innen eigneten sich den öffentlichen Raum     nach gaben die Protestierenden der zweiten
an. Durch das Heraustreten aus ihrer Unsichtbar-     Gruppe auf und zogen zurück in die Unterkunft.
keit in der Unterkunft machten sie auf diesem
Weg auf sich und ihre Situation öffentlichkeits-     Forderungen
wirksam aufmerksam.
                                                     Die Aktivist:innen formulierten verschiedene For-
     Die externen Unterstützer:innen wandten sich    derungen, die primär folgende Aspekte umfass-
gemeinsam mit den Bewohner:innen in Form ei-         ten:
nes offenen Briefes an die zuständigen politi-
schen und administrativen Stellen. Darin stellten        Verbesserung der hygienischen Situation und
sie die Zustände der Notunterkunft dar. Dieses           Verpflegung
Schreiben sowie das Heraustreten der Flüchten-       Die Protestierenden waren nicht mehr gewillt, die
den aus der Notunterkunft in den öffentlichen        schlechten Bedingungen in der Unterkunft zu ak-
Raum führten zu einem großen medialen und po-        zeptieren und forderten eine Verbesserung der
litischen Interesse an den dort herrschenden         sanitären Situation, eine gezielte und effektive
Missständen. Unterstützung erhielten die Protes-     Ungezieferbekämpfung und eine Verbesserung
tierenden dabei auch von Hilfsorganisationen, die    der Qualität des Essens. Besonders der Bettwan-
Kontakte zu den Medien herstellten. Die für          zenbefall war für die Bewohner:innen unerträg-
Flüchtende zuständige politische Verantwortliche     lich, da er dazu führte, dass eine Vielzahl der Be-
besuchte die Notunterkunft, um sich ein Bild von     wohner:innen Bisse an ihren Körpern hatte.
der Situation vor Ort zu machen:                        Regelmäßige, unabhängige Kontrollen seitens
    „Die [Vertreterin der zuständigen politi-           der Behörden in der Unterkunft
    schen Stelle] war auch vor Ort und dann          Bezüglich der geforderten Verbesserungen in der
    gab es große Artikel, wo diese Mängel ge-        Notunterkunft verlangten die Protestierenden
    nannt wurden. Sie hat gesagt, dass sie das       Kontrollmechanismen, die von einer unabhängi-
    sehr schockiert hat, das nicht ginge und die     gen Stelle durchgeführt werden sollten.
    Leute schnell woanders untergebracht
                                                        Beendigung und Nachverfolgung der gewalttä-
    werden müssten.“ (Interview 3, Hilfsinitia-
                                                        tigen Übergriffe
    tive L)
                                                     Eine weitere Forderung bezüglich der Unterbrin-
Die protestierenden Flüchtenden gaben Inter-         gungssituation bezog sich auf die Beendigung und
views und berichteten über Ereignisse und Miss-      Nachverfolgung der Gewalt und der Diskriminie-
stände, die sie bereits seit vielen Monaten erlei-   rung der Bewohner:innen sowie der als men-
den mussten. Diese Berichte waren teilweise sehr     schenverachtend wahrgenommenen Behandlung
plastisch. Die Flüchtenden zeigten z.B. in           und Überschreitung der Befugnisse seitens des

                                                                                                      6
6
Wachpersonals. Die Flüchtenden hatten große                   Des Weiteren äußerten die Protestierenden den
Angst vor diesen Übergriffen und wollten sie                  Wunsch nach Partizipationsmöglichkeiten in Be-
nicht länger hinnehmen.                                       zug auf die Begegnungs- und Gesprächsformen
                                                              seitens der Behörden. Sie wollten bei Vermitt-
    Schneller Umzug in eine andere, bedarfsge-
                                                              lungsgesprächen nicht nur formal einbezogen
    rechte Unterkunft
                                                              werden, sondern gleichberechtigte Gesprächs-
Die protestierenden Flüchtenden formulierten                  partner:innen sein.
konkrete Vorschläge, wie eine verbesserte Unter-
bringungssituation für die Bewohner:innen aus-                Beteiligte Akteur:innen
sehen müsste. Der Fokus ihrer Forderungen lag
jedoch auf dem schnellen Auszug aus der Notun-                Im Kontext des Protestcamps waren verschie-
terkunft in eine Gemeinschaftsunterkunft oder in              dene Akteur:innengruppen in unterschiedlichem
eine reguläre Wohnung, in der sie über mehr                   Ausmaß relevant. In der folgenden Darstellung
Selbstbestimmungsmöglichkeiten       und    Pri-              (Abb. 1) werden diese und deren Rolle im Kontext
vatsphäre verfügen. Dabei waren die Möglichkeit               des Protestcamps dargestellt. Für einen besseren
zur Selbstversorgung sowie das Vorhandensein                  Überblick wurden die Akteur:innengruppen in
abschließbarer Zimmer wesentlich. Diese Forde-                verschiedene Cluster eingeteilt. Die farbliche Un-
rung bestand nicht von Beginn an. Nach über ei-               terscheidung indiziert das Cluster, das durch die
nem Jahr in der Notunterkunft wurde diese For-                jeweilige Gruppierung gebildet wird.
derung jedoch dringlicher. Die Bewohner:innen
forderten nun eine Unterbringung mit mehr                     Bewohner:innen
Raum für Selbstbestimmung. Besonders für Fami-                Die Bewohner:innenschaft lässt sich in am Protest
lien und kranke Menschen wurde der rasche Um-                 beteiligte und nicht beteiligte Bewohner:innen
zug in eine Unterkunft mit höheren Standards ge-              unterteilen. Am Protest teilgenommen haben Er-
fordert.                                                      wachsene und Kinder. Zu der Gruppe der protes-
   Gespräche auf Augenhöhe zwischen Behörden                  tierenden Flüchtenden gehören Familien sowie
   und protestierenden Flüchtenden                            alleinstehende Personen.

Abb. 1: Beteiligte Akteur:innen (Darstellung: Salome Gunsch und Aryan Sehatkar Langroudi)

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Hervorzuheben ist hierbei die außerordentliche        Gemüter zu beruhigen. Um den Ansprüchen der
Unterstützungsstruktur unter den Flüchtenden          Bewohner:innen ausreichend Raum zu geben und
selbst. Protestteilnehmer:innen, die im Laufe der     keine Eskalation oder weitere Unruhe zu riskie-
Bewegung in eine andere Unterkunft gezogen            ren, lehnte er die Möglichkeit eines Zusammen-
sind, erschienen weiterhin vor der Unterkunft,        schlusses mit dem Protest einer weiteren Unter-
um die Protestierenden mit Lebensmitteln und          kunft ab: „Er wollte gegen diese [Unterkunft] pro-
anderen Dingen des alltäglichen Bedarfs zu ver-       testieren nicht gegen die andere Unterkunft“ (In-
sorgen und um zu zeigen, dass es ihnen nicht le-      terview 4, Frau Wagner). Nach seiner Verlegung
diglich um ihren eigenen Auszug ging, sondern         in eine andere Unterkunft war er jedoch völlig
um grundlegende Veränderungen in der Unter-           ausgelaugt und wurde für längere Zeit krank.
kunft. Diese intensive Vernetzung und Organisie-
                                                          In der Unterkunft gab es auch einen Bewoh-
rung untereinander trugen maßgeblich zu einer
                                                      ner:innenrat, der die Interessen der Bewoh-
aktiveren und effizienteren Formierung des Pro-
                                                      ner:innen innerhalb der Qualitätszirkel vertreten
tests und dem Fortbestand des Camps bei.
                                                      sollte. In diesem waren jedoch die am Protest be-
    Ein Flüchtender wurde von anderen Protestie-      teiligten Bewohner:innen nicht beteiligt.
renden als Initiator der Mobilisierung und als
Sprecher des Protestcamps genannt. Ihm kam da-        Personal
her eine besondere Rolle im Kontext des Protest-      Das zweite relevante Cluster, das den Bewoh-
camps zu. Nach dem gewalttätigen Übergriff ei-        ner:innen diametral entgegensteht, bildeten das
nes Mitarbeiters des Wachpersonals auf einen          in der Unterkunft tätige Personal und der Betrei-
Bewohner beschloss er, gemeinsam mit anderen          ber. Die konsequente und effiziente Beseitigung
Bewohner:innen, sich nicht weiter vertrösten zu       der kritisierten Mängel fiel eigentlich in deren Be-
lassen und gegen diese Zustände zu protestieren.      reich. Für die Beziehung zwischen Bewohner:in-
Er übernahm dann auch die Aufgabe, die Forde-         nen und Personal war eine Reihe erfolgloser Kom-
rungen der protestierenden Flüchtenden nach           munikationsversuche kennzeichnend. Des Weite-
außen zu vertreten. Der ca. 45 Jahre alte Vater       ren zählt auch das Wachpersonal in der Notunter-
von mehreren Kindern konnte als Verbindungs-          kunft zu diesem Cluster. Die regelmäßige Über-
punkt zwischen den Bewohner:innen fungieren,          schreitung der Befugnisse und vor allem die ge-
da er aufgrund seiner Afghanisch- wie auch sehr       walttätigen Übergriffe des Wachpersonals auf
guten Farsikenntnisse mit einem Großteil der Be-      einzelne Bewohner:innen waren für die Initiie-
wohner:innen kommunizieren konnte. Er wies zu-        rung des Protestcamps ausschlaggebend.
dem bessere Deutschkenntnisse als andere Be-
wohner:innen auf. Seine Familie und er waren be-      Interne und externe Ehrenamtliche
reits seit vielen Monaten bei verschiedenen An-
gelegenheiten von der externen Ehrenamtlichen         Ein weiteres Cluster stellen die Unterstützer:in-
Frau Wagner unterstützt worden. Durch diese           nen dar. Diese sind wiederum unterteilt in Hilfs-
enge Beziehung zu der Ehrenamtlichen erfuhr           organisationen sowie externe und interne Ehren-
diese von den Missständen in der Unterkunft.          amtliche. Der Unterscheidung in externe und in-
Dieser Kontakt stellte einen entscheidenden Fak-      terne Ehrenamtliche liegt einer in dieser Notun-
tor bei der Mobilisierung dar, da der Sprecher in-    terkunft herrschenden Besonderheit zu Grunde.
folgedessen darüber informiert war, dass Flüch-       Die internen Ehrenamtlichen haben über die ers-
tende in Deutschland einen Anspruch auf men-          ten Wochen nach Errichtung der Unterkunft hin-
schenwürdige Unterbringung haben und es Mög-          aus Aufgaben übernommen, die eigentlich im
lichkeiten gibt, gegen das Unrecht in der Unter-      Aufgaben- und Verantwortungsbereich des Per-
kunft vorzugehen.                                     sonals lagen. Einige Ehrenamtliche wurden dann
                                                      auch hauptamtlich in der Unterkunft angestellt.
    Als Initiator der Mobilisierung fühlte sich der   In anderen Unterkünften folgte aus diesem
Sprecher für die anderen Protestierenden und          Wechsel ein besonders gutes Verhältnis zwischen
das Auftreten in der Öffentlichkeit verantwort-       Bewohner:innen und Personal. Dies war in dieser
lich. Er verstand sich als Schlichter und machte es   Unterkunft jedoch nicht der Fall. Stattdessen ent-
sich zur Aufgabe, die manchmal erhitzten              wickelte sich in der Notunterkunft ein besonderes

                                                                                                        8
8
enges Verhältnis zwischen internen Ehrenamtli-       Qualitätszirkel war die zuständige Behörde für die
chen und Mitarbeiter:innen. Dieses führte dazu,      Versorgung und Unterbringung von Flüchtenden
dass ihre Wahrnehmung der Situation und dies-        eine zentrale Akteurin in diesem Kontext. Die u.a.
bezüglichen Einstellungen denen der Unter-           für den Bereich der Versorgung und Unterbrin-
kunftsmitarbeiter:innen näher waren als denen        gung zuständige politisch Verantwortliche hat die
der Flüchtenden und sie daher tendenziell deren      Notunterkunft besucht, öffentlich eine Stellung-
Sichtweise vertraten.                                nahme abgegeben und dementsprechend den
                                                     Verlauf des Protestcamps ebenfalls beeinflusst.
     Externe Hilfsorganisationen und Ehrenamtli-
                                                     Medienvertreter:innen haben mit ihrer intensi-
che waren bei Eröffnung der Notunterkunft da-
                                                     ven Berichterstattung zu einer breiteren öffentli-
bei, zogen sich aber im Laufe des Protests zuneh-
                                                     chen Wahrnehmung und Anteilnahme an der Si-
mend zurück, um nicht mit der internen ehren-
                                                     tuation der Bewohner:innen beigetragen und den
amtlichen Arbeit zu konkurrieren. Dennoch
                                                     Protest überregional sichtbar gemacht.
wurde der Kontakt zu einzelnen Bewohner:innen
oder Familien aus der Notunterkunft beibehalten.
Die gemeinnützigen Hilfsorganisationen sind auf      Zentrale Erfolge
die desolaten Zustände in der Unterkunft über        Die Erfolge, die die Flüchtenden mit der Errich-
mehrere Wege aufmerksam geworden. Einerseits         tung des Protestcamps erzielt haben, sind auf ver-
haben die Betroffenen selbst den Austausch mit       schiedenen Ebenen angesiedelt. Auf die zwei
ihnen gesucht und über die Gegebenheiten be-         wichtigsten Erfolge wird im Folgenden eingegan-
richtet; andererseits wurden diese von einzelnen     gen.
externen ehrenamtlich Tätigen darauf hingewie-
sen und haben sich daraufhin ein eigenes Bild vor    Verlegung in andere Unterkünfte
Ort gemacht. Diese Hilfsorganisationen unter-
                                                     Die Forderung der Bewohner:innen nach Verle-
stützen die Flüchtenden auf mehrfache Weise.
                                                     gung in eine Unterkunft mit mehr Selbstbestim-
Neben der Schaffung und Erfüllung von Bedarfs-
                                                     mungsmöglichkeiten, wie bspw. der Möglichkeit
listen wurde individuelle und problemorientierte
                                                     zur Selbstversorgung oder abschließbaren Zim-
Unterstützung geleistet. So wurden zum Beispiel
                                                     mer, wurde schließlich innerhalb weniger Wo-
aus Spendengeldern Familien Übernachtungen in
                                                     chen für eine große Zahl der Protestierenden ver-
einem Hostel oder andere vorübergehende Über-
                                                     wirklicht. Sie wurden nach Beginn des Protestca-
nachtungsmöglichkeiten ermöglicht. Auch bei der
                                                     mps binnen kürzester Zeit in anderen Unterkünf-
langfristigen Suche nach einer alternativen Unter-
                                                     ten untergebracht. Der Auszug aus der Notunter-
bringung standen die Hilfsorganisationen den
                                                     kunft in eine andere Unterbringung war Bestand-
Flüchtenden mit Sprechstunden zur aktiven Woh-
                                                     teil der Forderungen der Flüchtenden und kann
nungssuche in ihren Vereinsräumen zur Seite. In
                                                     deshalb als großer Erfolg ihrer Mobilisierung ge-
den Qualitätszirkeln traten sie für die Forderun-
                                                     sehen werden. Allerdings bewirkten diese Um-
gen der Flüchtenden ein. Die externen Ehrenamt-
                                                     züge auch, dass die zurückbleibenden Flüchten-
lichen haben in diesem Kontext auf verschiedene
                                                     den an Einfluss verloren und ihnen seitens der re-
Weise ihren Beitrag geleistet: im Gespräch mit
                                                     levanten Stellen keine Beachtung mehr ge-
der Unterkunftsleitung, im Schriftverkehr mit po-
                                                     schenkt wurde.
litisch und behördlich Verantwortlichen, aber
auch in der Interessenvertretung gegenüber dem
                                                     Einführung eines Qualitätszirkels
Qualitätszirkel. Sie haben aber auch vor allem
seelischen Beistand sowie die Aufklärung über        Als ein weiterer Erfolg lässt sich die Initiierung ei-
behördliche und soziale Strukturen und Vorge-        nes Dialogprozesses auf politischer und behörd-
hensweisen geleistet.                                lich-administrativer Ebene werten. Die Qualitäts-
                                                     zirkel wurden infolge der öffentlich und medial
Weitere Akteur:innen                                 sichtbaren Proteste als Mittel für die Initiierung
                                                     von Veränderungsprozessen in die Wege geleitet.
Weitere Akteur:innen waren behördliche und po-
                                                     Die zunächst wöchentlich, später zweiwöchent-
litische Vertreter:innen und Medienvertreter:in-
                                                     lich stattfindenden Treffen hatten das Ziel, dass
nen. Als Initiatorin und Organisatorin der
                                                     die beteiligten Akteur:innen in einen Dialog

                                                                                                         9
treten und Wege und Mittel finden, die Mängel          allem auf ihre psychischen und physischen Res-
nachhaltig zu beseitigen und den Bedürfnissen          sourcen hatten.
der Flüchtenden gerecht zu werden. Dort konn-
ten die Missstände in der Unterkunft thematisiert      Druck auf protestierende Bewoh-
werden.                                                ner:innen und Aktivist:innen
    Diese Handlungsebene stellte sich vor allem        Bewohner:innen, die nicht am Protest beteiligt
für die Flüchtenden jedoch als extrem begrenzt         waren, berichteten uns, dass sie die Forderungen
dar. Die zuständige behördliche Stelle für Flüch-      der Protestierenden unterstützten und sich ledig-
tende machte zwar einige Zugeständnisse,               lich aus Angst vor Restriktionen gegen eine Teil-
wodurch die Forderungen nach mehr Selbstbe-            nahme entschieden hatten. Es seien Gerüchte im
stimmung und Teilhabe teilweise und für manche         Umlauf, dass die Unterkunftsleitung die am Pro-
erfüllt wurden. Allerdings stellten die Qualitäts-     test beteiligten Bewohner:innen benachteiligen
zirkel keine gleichberechtigten Kommunikations-        würde. Aus Angst vor negativen Konsequenzen
foren dar. Die zuständige Stelle für Flüchtende        und zum Schutz ihrer Familie haben sich somit
bestimmte, wer an den Qualitätszirkeln teilnahm,       manche nicht aktiv an den Protesten beteiligt
Termin und Ort wurden nicht rechtzeitig und            oder sie haben sich aufgrund des wachsenden
nicht allen Teilnehmenden bekannt gegeben, die         Drucks auf die Aktivist:innen wieder zurückgezo-
Anwesenheit von Dolmetscher:innen und Ver-             gen.
trauenspersonen der Flüchtenden war nur zeit-              Seitens der Unterkunftsleitung, der internen
weise gestattet. Laut Aussagen der Unterstüt-          Ehrenamtlichen, des Ordnungsamts und der Ver-
zer:innen wurde den Flüchtenden die Mitsprache         treter:innen der Polizei wurde insbesondere
teils untersagt. Um eine gleichberechtigte Beteili-    weiblichen Protestierenden zugeredet, dass die
gung der Flüchtenden zu ermöglichen, hätten im         Kinder sofort wieder in der Unterkunft übernach-
Qualitätszirkel aktiv partizipativere Mechanismen      ten müssten. Dieses massive Bedrängen wie auch
und Kommunikationswege ermöglicht werden               Gerüchte, dass das Jugendamt ihnen die Kinder
müssen.                                                entziehen und man sie wegen Verletzung der Für-
                                                       sorgepflicht inhaftieren würde, zehrten zusätzlich
                                                       vor allem an den Kräften der weiblichen Protes-
Einflussfaktoren                                       tierenden, wodurch manche physisch wie psy-
                                                       chisch kollabierten und schließlich den Protest
Im Rahmen einer Kurzstudie stellt es sich schwie-      aufgaben. Die Frauen zogen mit den Kindern wie-
rig dar, die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg     der in die Unterkunft. Dadurch hat sich nicht nur
einer Mobilisierung umfassend und vollständig zu       die Protestbewegung enorm verkleinert; der Wi-
durchdringen. Dennoch soll hier auf mehrere Ein-       derstand hat zusätzlich auch an Durchsetzungs-
flussfaktoren eingegangen werden, die sich aus         kraft verloren.
unserer Sicht negativ oder positiv auf den Mobili-
sierungsprozess, Partizipationsmöglichkeiten und       Physische und psychische Belas-
den Protestverlauf ausgewirkt haben.                   tungen
                                                       Neben dem auf die Bewohner:innen ausgeübten
Partizipationshemmende Faktoren                        Druck waren es vor allem die psychischen und
Die Bereitschaft seitens der Bewohner:innen, an        physischen Belastungen, die die Bewohner:innen
dem Protest teilzunehmen und sich im Kontext           an der Teilnahme am Protest hinderten und die
des Protestcamps zu engagieren, wurde durch            protestierenden Flüchtenden belastete. Im Ge-
verschiedene Faktoren erschwert oder behindert,        spräch mit Herrn Rahmani wurde deutlich, dass er
die wir im Folgenden darstellen möchten. Auch          sich zwar für seine Rechte einsetzen wollte, der
die protestierenden Flüchtenden waren mit die-         psychische Druck durch die extrem erschöpfende
sen und weiteren Hindernissen und Schwierigkei-        Unterbringungssituation jedoch zu Demotivation
ten konfrontiert, die Einfluss auf ihre aktive Teil-   geführt hat und eine Schwierigkeit für die Mobili-
nahme, ihre Partizipationsmöglichkeiten und vor        sierung darstellte. Diese negativen Auswirkungen
                                                       auf die psychische Verfassung der Flüchtenden im

                                                                                                      10
10
Kampf um ihre Rechte und gesellschaftliche Teil-        nicht mit Ihnen für das Protestcamp gemeinsam
habe beschrieben die Flüchtenden als entmuti-           einsetzten:
gend und kräftezehrend. Zwar erlebten sie den
                                                         „Was schwierig ist, weil man die Leute un-
Umzug in eine andere Unterkunft als Erfolg. Sie
                                                         terstützen will, aber ständig Gegenwind
waren jedoch entsetzt, dass sie erst solche drasti-
                                                         bekommt. Sich nicht nur für die Flüchten-
schen Mittel ergreifen mussten, damit ihre
                                                         den und ihren Forderungen gegen [die zu-
Stimme gehört wurde und die Behörden hinsicht-
lich der Behebung der desolaten Lebensbedin-             ständige Stelle für Flüchtende] und den Be-
gungen aktiv wurden. Herr Karzai berichtete, dass        treiber durchsetzen muss, sondern auch
für ihn und seine Familie das Protestcamp zwar           gegen die Ehrenamtlichen, das ist ja auch
erfolgreich war – im Sinne eines Umzugs in eine          [etwas] was man nicht erwartet.“ (Inter-
Gemeinschaftsunterkunft mit mehr Selbstbe-               view 3, Hilfsinitiative L)
stimmungsmöglichkeiten. Allerdings sei er nach          Die internen Ehrenamtlichen haben den externen
dem Protest direkt krank geworden und fühle sich        Unterstützer:innen u.a. vorgeworfen, sie würden
immer noch körperlich und psychisch erschöpft.          sich von außen in etwas einmischen, das sie gar
Auch weitere Flüchtende beschrieben diese Situ-         nichts anginge, und sie die Arbeit der dort ehren-
ation als strapaziös und emotional anstrengend.         amtlich tätigen Menschen diskreditieren würden.
Komplexe Unterstützter:innenverhält-                       Diese komplexen Unterstützer:innenverhält-
nisse                                                   nisse erschwerten die Mobilisierung der Bewoh-
                                                        ner:innen und wirkten sich im weiteren Verlauf
Das beschriebene schlechte Verhältnis zwischen          des Protests negativ auf die Erfolgsaussichten des
den in der Unterkunft tätigen Ehrenamtlichen            Camps aus.
und den Bewohner:innen setzte sich im Kontext
des Camps weiter fort und wurde durch den Pro-          Verlegung von Protestierenden
test verstärkt. Laut der Hilfsinitiative L. habe sich
der Ehrenamtskoordinator von dem Protest per-           Die Behörden veranlassten innerhalb kurzer Zeit
sönlich beleidigt und angegriffen gefühlt. Er habe      nach der Errichtung des Protestcamps die Verle-
kritisiert, dass die Flüchtenden doch gar keinen        gung von einigen Protestierenden in andere Ge-
Grund hätten zu protestieren, denn die Ehren-           meinschaftsunterkünfte. Dies ist zwar als Erfolg
amtlichen würden doch immer gute Arbeit leis-           zu werten, da eine der zentralen Forderungen der
ten. Auch über soziale Plattformen wie Facebook         Protestierenden erfüllt wurde. Diese Reaktion
seien diese Ansichten geteilt worden. So seien          hatte jedoch auch zur Folge, dass das Protestnetz-
von Ehrenamtlichen Aussagen gepostet worden             werk und damit der Protest selbst maßgeblich ge-
wie „Erwarten die etwa ein 5-Sterne-Hotel?“ oder        schwächt wurde. Die Protestierenden wurden zu-
„Die sollten mal froh sein, dass sie nicht in Aleppo    dem in unterschiedlichen Unterkünften unterge-
sind“ (zitiert nach Interview 3, Hilfsinitiative L.).   bracht, was die weitere Unterstützung und Orga-
Nachdem einige der Protestierenden einen Platz          nisation des Protestcamps erschwerte. Nach dem
in einer anderen Unterkunft erhalten hatten,            Umzug der „ersten Gruppe“ von Protestierenden
habe sich interne Ehrenamtliche dann auch dem-          formierte sich eine neue „zweite Gruppe“, welche
entsprechend erleichtert gezeigt: „Endlich sind         jedoch nicht so zügig einen Platz in einer Gemein-
die Randalierer weg“ (zitiert nach Interview 3,         schaftsunterkunft vermittelt bekam. Diese zweite
Hilfsinitiative L.).                                    Gruppe erfuhr nicht mehr die gleiche mediale und
                                                        politische Aufmerksamkeit wie die Protestieren-
   Das besonders enge Verhältnis zwischen in            den zuvor, was an der geringeren Anzahl Protes-
der Unterkunft tätigen Haupt- und Ehrenamtli-           tierender oder dem Fehlen eines Sprechers nach
chen führte dazu, dass externe Ehrenamtliche bei        dessen Umzug in eine andere Gemeinschaftsun-
dem Versuch, die Flüchtenden bei der Behebung           terkunft gelegen haben könnte. Manche Flüch-
der Missstände in der Notunterkunft zu unter-           tenden konnten nach und nach in eine andere
stützten, auf einige auch unerwartete Hinder-           Unterkunft umziehen, andere gaben ihren Pro-
nisse stießen. So waren externe Ehrenamtliche           test vor der Unterkunft auf und kehrten trotz der
überrascht, dass die internen Ehrenamtliche sich        weiterhin bestehenden Missstände in die

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Notunterkunft zurück. Zuletzt war es lediglich ein       Zudem wurde die aktive Teilnahme der Flüch-
Vater, der weiterhin unerschütterlich für bessere     tenden dadurch erschwert, dass die Veranstal-
Lebensbedingungen für sich und seine Familie          tungen ausschließlich auf Deutsch stattfanden
kämpfte. Er gab erst nach einigen Wochen wäh-         und den Flüchtenden untersagt wurde, eigene
rend des Fastenmonats auf, als es ihm aufgrund        Sprachmittler:innen mitzubringen. Mit den ge-
seines schlechten gesundheitlichen Zustandes          stellten Sprachmittler:innen waren sie jedoch
nicht mehr möglich war im Protestcamp zu näch-        nicht zufrieden, da diese ihrer Ansicht nach nur
tigen. Das Fasten und der an den körperlichen Ka-     partiell oder tendenziös übersetzten. Außerdem
pazitäten zehrende Protest ließen ihn schließlich     wurden die Flüchtenden auf verschiedene Wei-
kapitulieren. Vor allem infolge der Verlegungen       sen daran gehindert, ihrer Position Ausdruck zu
der Protestierenden in andere Unterkünfte wur-        verleihen, indem ihnen das Sprechen verboten
den die Proteste zerstreut. Dies wurde von exter-     wurde oder sie in ihren Aussagen unterbrochen
nen Ehrenamtlichen als aktive Strategie beschrie-     wurden. Auch wurden die Protokolle der Treffen
ben, um die Proteste zu destabilisieren und zu        trotz Zusage nach mehrmaligem Nachfragen
entkräften, da ihnen im wahrsten Sinne des Wor-       nicht in die Landessprache der Teilnehmenden
tes „wo/men-power“ fehlte.                            übersetzt. Für eine erfolgreiche Partizipation
                                                      wäre eine grundlegende Veränderung der Kom-
Hierarchische Kommu-                                  munikations- und Organisationsstrukturen not-
nikationsstrukturen                                   wendig gewesen, was jedoch nicht der Fall war.
Der beschriebene Qualitätszirkel setzte sich unter    Im Qualitätszirkel wurden dementsprechend die
anderem aus Vertreter:innen der zuständigen Be-       bestehenden gesellschaftlichen Machtverhält-
hörde, einer Mitarbeiterin eines Integrationsbü-      nisse reproduziert, welche verhindern, dass
ros, der Unterkunftsleitung, Vertretern:innen des     Flüchtende gleichberechtigte Teilhabemöglich-
Wachpersonals, einem Bewohner:innenrat der            keiten erhalten.
Flüchtenden, internen sowie externen Ehrenamt-
lichen, der Ehrenamtskoordination, Sprachmitt-        Protestfördernde Faktoren
lern:innen und Hilfsorganisationen zusammen.          Trotz der dargestellten protesthemmenden Fak-
Die Planung der Treffen für den Qualitätszirkel       toren haben es die Bewohner:innen geschafft, ein
oblag der zuständigen Stelle für Flüchtende. De-      bundesweit sichtbares Protestcamp zu formieren
ren Mitarbeiter:innen trafen die Entscheidung,        und es über mehrere Wochen zu erhalten. Dieser
wer eingeladen wird, wo die Treffen stattfinden       Mobilisierungserfolg und die Tatsache, dass der
und bestimmten auch den Gesprächsrahmen. Der          Protest nicht gleich wieder abgeebbt ist, sind min-
Zugang und noch wichtiger die aktive Teilhabe         destens drei Faktoren geschuldet, auf die wir im
der Protestierenden wurde dabei wenig berück-         Folgenden genauer eingehen werden.
sichtigt. Die protestierenden Flüchtenden und
ihre Unterstützer:innen kritisierten die erschwer-    Protestform: Dauerhaftes Besetzen
ten Partizipationsmöglichkeiten und das Fehlen        des öffentlichen Raums
eines wertschätzenden Umgangs mit ihnen. Die
ersten Termine der Qualitätszirkel fanden ohne        Ein zentraler Faktor für den Erfolg des Protest-
Beteiligung der protestierenden Flüchtenden           camps stellt sicherlich die gewählte Protestform
statt. Nach einigen Treffen gelang es den Flüch-      dar. Da das Camp direkt vor der Unterkunft auf-
tenden, sich ihre Teilnahme in Begleitung zu er-      gebaut wurde, gestaltete sich die Teilnahme für
kämpfen. Allerdings gestaltete sich der Dialog auf    die Bewohner:innen zunächst relativ nied-
Augenhöhe weiterhin schwierig. Eine beim Pro-         rigschwellig und flexibel; sie konnten spontan ein-
testcamp beteiligte Hilfsorganisation beschrieb       und wieder aussteigen. Durch die langfristige und
auf ihrer Social Media-Seite die ausgrenzende Ge-     dauerhafte Präsenz im öffentlichen Raum wurden
sprächskultur, die ihnen bereits bekannt sei und      zudem die Sichtbarkeit und die Reichweite der
die sie in den Dialogen des Qualitätszirkel wieder-   Beschwerden und Proteste enorm erhöht. So ha-
fände.                                                ben bspw. Passant:innen von dem Protest Notiz
                                                      genommen; das mediale Interesse wuchs schlag-
                                                      artig, sodass über das Protestcamp auch

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