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2 Vorbereitendes

Ehe in die Detailarbeit der Forschungsdiskussion und der fiktionstheoretischen
Modellierung der Kontrafaktik eingestiegen wird, sollen zunächst einige grund-
legende Begrifflichkeiten und Konzepte geklärt werden, die für den gesamten
weiteren Argumentationsgang zentral sind und daher gleich eingangs erläutert
werden sollen. Hinsichtlich des methodologischen Ansatzes erlaubt das Phäno-
men kontrafaktischen Erzählens eine Vielzahl theoretischer Rahmungen, die al-
lerdings jeweils zu einer Betonung sehr unterschiedlicher Teilaspekte führen
würden. So könnte eine literarhistorische Betrachtung die Anknüpfung an Dis-
kussionen rund um Mimesis, Poiesis und Realismus hervorheben; eine rezepti-
onspsychologische, wenn nicht gar psychoanalytische Sichtweise könnte auf
die psychische Bedeutung des Transgressiv-Imaginären in fiktionalen Diskur-
sen hinweisen36; eine gattungstheoretische Beschreibung könnte versuchen,
einen Systematik kontrafaktischer Erzählverfahren in unterschiedlichen Genres
sowie zu unterschiedlichen Zeiten zu entwickeln – die Liste ließe sich fortset-
zen. Für die vorliegende Studie wurde eine primär fiktionstheoretische Betrach-
tungsweise gewählt, da diese eine grundlegende Bestimmung der Kontrafaktik
erlaubt, nämlich als ein genuin künstlerisches, nicht notwendigerweise the-
men- oder genregebundenes Erzählphänomen mit einer spezifischen Referenz-
struktur. Darüber hinaus verspricht, wie im Rahmen der Forschungsdiskussion
deutlich werden soll, eine solche Betrachtungsweise die Klärung zahlreicher
der in der einschlägigen Forschung diskutierten Fragen.
     Eine Unterscheidung, die für die folgenden Ausführungen zum Fiktions-
status des kontrafaktischen Erzählens, zu den realweltlichen Referenzen die-
ses Erzählphänomens sowie seinem etwaigen epistemischen Anspruch von
grundlegender Bedeutung sein wird, ist diejenige zwischen Fiktionalität und
Faktualität sowie die parallele Unterscheidung zwischen Fiktivität und Rea-
lität. Die Kategorien Fiktionalität und Faktualität gehen bekanntlich auf die

36 Eine psychoanalytische Theorie des kontrafaktischen Denkens oder der künstlerischen Kon-
trafaktik liegt bisher nicht vor, und das, obwohl die für die psychoanalytische (Kunst-)Theorie
zentralen Kategorien der Fantasie bzw. des Fantasierens (Sigmund Freud) und des Imaginären
(Jacques Lacan) sich plausibel an die Diskussion rund um das kontrafaktische Denken anschlie-
ßen ließen. Einige anregende Überlegungen zum Thema finden sich bei Robert Pfaller: Das
schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur. Frankfurt a. M.
2008, darin besonders das Kapitel: Das vertraute Fremde, das Unheimliche, das Komische. Die
ästhetischen Effekte des Gedankenexperiments (ebd., S. 251–272).

  Open Access. © 2022 Michael Navratil, publiziert von De Gruyter.             Dieses Werk ist lizenziert
unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110763119-003
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Erzähltheorie Gérard Genettes zurück.37 Bezeichnet werden damit zwei unter-
schiedliche Modi des pragmatischen Umgangs mit Texten. Ob ein fiktionaler oder
ein faktualer Text vorliegt, entscheidet sich nicht danach, was in dem Text mit-
geteilt wird, sondern danach, mit welchem Geltungsanspruch ein Text ausgestattet
ist: Faktuale Texte und Äußerungen – etwa wissenschaftliche Texte, Beschreibun-
gen realer Sachverhalte, Gebrauchsanweisungen etc. – erheben einen Wahrheits-
anspruch in der realen Welt. Fiktionale Texte und Medien hingegen – also Werke
der fiktionalen Literatur, Spielfilme, teilweise auch Werbung etc. – sind von die-
sem Wahrheitsanspruch ausgenommen.
     Im Gegensatz zur Unterscheidung von Fiktionalität und Faktualität bezieht
sich die Unterscheidung von Fiktivität und Realität auf den ontologischen Sta-
tus einer Aussage: Gefragt wird danach, ob ein beschriebener Sachverhalt in
der realen Welt zutrifft beziehungsweise ob ein beschriebener Gegenstand real-
weltlich existiert. So bemerken Christian Klein und Matías Martínez: „Ent-
scheidend für die Bestimmung eines dargestellten Geschehens als real oder
fiktiv ist die Referenz, nämlich die Frage, ob der im Text dargestellte Sachver-
halt in der außersprachlichen Realität tatsächlich der Fall war/ist oder nicht.“38
Einhörner, Zauberer und Hobbits sind in diesem Sinne fiktive Gegenstände, auch
wenn sie in fiktionalen Welten existieren mögen. Bei Fiktionalität versus Faktua-
lität handelt es sich also, knapp zusammengefasst, um eine Unterscheidung auf
der pragmatischen Ebene des Umgangs mit Texten und anderen Medien, bei Rea-
lität versus Fiktivität um eine Unterscheidung auf der Ebene der Ontologie der
Aussagegegenstände.39
     Hinsichtlich der Ontologie der Aussagegegenstände ist das kontrafaktische
Erzählen nun eindeutig klassifizierbar: Ihrem Inhalt nach ist das in kontrafakti-
schen Äußerungen Ausgesagte grundsätzlich und offenkundig fiktiv; gerade die
fehlende Referenzialisierbarkeit des Ausgesagten in der realen Welt bildet die

37 Gérard Genette: Fiktion und Diktion. München 1992, S. 11–40, 65–94. Siehe zur Unter-
scheidung zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen auch Matías Martínez / Michael
Scheffel. Einführung in die Erzähltheorie. 9., erweiterte und aktualisierte Aufl. München
2012, S. 11–22.
38 Christian Klein / Matías Martínez: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktio-
nen nicht-literarischen Erzählens. In: Dies. (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen
und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart / Weimar 2009, S. 1–13, hier S. 2.
39 Siehe hierzu auch die Parallelformulierungen bei Gottfried Gabriel: „Ich unterscheide ‚fik-
tiv‘ als Prädikat von Gegenständen von ‚fiktional‘ als Prädikat von Texten, Geschichten, Dis-
kursen o. ä.“ (Gottfried Gabriel: „Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht“. Sind literarische Figuren
fiktive Gegenstände? In: Ders.: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung,
Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart 1991, S. 133–146, hier S. 136).
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Konstitutionsbedingung für den kontrafaktischen Charakter dieser Aussagen
(was freilich nicht bedeutet, dass die realen Sachverhalte, von denen abgewichen
wird, in kontrafaktischen Aussagen nicht gewissermaßen mitgemeint würden –
nur werden sie eben nicht explizit genannt40). Die Unterscheidung zwischen fik-
tionalen und faktualen Äußerungskontexten hingegen erfordert beim kontrafak-
tischen Erzählen eine Falldifferenzierung, da sich der pragmatische Status einer
kontrafaktischen Aussage nicht über das hier in Frage stehende Erzählphänomen
allein bestimmen lässt. Kontrafaktisches Erzählen findet sowohl in faktualen als
auch in fiktionalen Kontexten Verwendung, wobei die konkreten Ausprägungen
kontrafaktischer Szenarien im faktualen respektive fiktionalen Bereich einander
formal sogar ähneln können (etwa Alternativgeschichtsroman und kontrafaktische
Geschichtsschreibung, literarische Dystopie und Futurologie etc.).
     Bedauerlicherweise wurde in der bisherigen Forschung von einer Art natür-
licher Hierarchie zwischen faktualen und fiktionalen Anwendungsgebieten des
kontrafaktischen Denkens ausgegangen, solcherart nämlich, dass das faktuale
kontrafaktische Erzählen – insbesondere in der Geschichtswissenshaft – als das
primäre Phänomen gewertet und das fiktionale kontrafaktische Erzählen als von
diesem abgeleitet begriffen wurde. Gerade diese Subordination des fiktionalen
kontrafaktischen Erzählens unter das kontrafaktische Denken in faktualen An-
wendungsbereichen dürfte die Ausformung einer genuin ästhetischen Theorie
des kontrafaktischen Erzählens beträchtlich behindert haben. Demgegenüber ist
es ein zentrales Anliegen der vorliegenden Studie, eine spezifisch kunst- und lite-
raturwissenschaftliche Theorie der Kontrafaktik zu entwickeln, welche den Limi-
tationen, aber auch den Lizenzen sowie Funktionen speziell des fiktionalen
kontrafaktischen Erzählens – verstanden als ästhetisches Phänomen eigenen
Rechts – Rechnung trägt.
     Im Folgenden wird verschiedentlich von den ‚fiktionalen Welten‘ der Kon-
trafaktik die Rede sein. Gemeint sind damit jene Welten, zu deren Imagination
kontrafaktische Werke – sowie fiktionale Werke überhaupt – auffordern. Die fik-
tionalen Welten der Kontrafaktik sind dabei notwendigerweise zugleich fiktiv, da
sie fiktive Elemente enthalten, mindestens nämlich die kontrafaktischen Ele-
mente selbst.41 Es wird im gegebenen Kontext allerdings von den ‚fiktionalen Wel-
ten‘ der Kontrafaktik und nicht von ‚fiktiven Welten‘ gesprochen, um die Differenz
zwischen fiktionalen und faktualen Gebrauchsformen kontrafaktischen Denkens
zu markieren: Schließlich konstituieren auch die kontrafaktischen Imaginationen

40 Siehe Kapitel 4.3.5. Transfiktionale Doppelreferenz.
41 Vgl. Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und
zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001, S. 102.
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in der Geschichtswissenschaft, in philosophischen Gedankenexperimenten oder in
der theoretischen Physik ‚fiktive Welten‘, ohne dass diese Welten deshalb fiktional
wären.42

2.1 Terminologie

Da im Rahmen dieser Studie der Begriff ‚Kontrafaktik‘ durchgängig und von
allem Anfang an verwendet werden soll, erscheint es sinnvoll, bereits an dieser
Stelle eine kurze Begründung für seine Einführung zu liefern. Hierzu wird zu-
nächst ein Überblick über die bereits bestehende Terminologie in der Forschung
rund um das kontrafaktische Denken geboten.
    Bei einer Durchsicht der Forschungsbeiträge zum ‚kontrafaktischen Erzählen‘
stößt man auf eine Vielzahl von Termini zur Bezeichnung des Erzählphänomens
sowie zur Bezeichnung des kontrafaktischen Genres der Alternativgeschichte.
Diese Pluralität in der Terminologie führt im Einzelfall nur selten zu Problemen, da
die meisten Studien ihre eigenen Begriffe hinreichen klar erläutern oder sich die
jeweilige Bedeutung der Begriffe kontextuell leicht desambiguieren lässt. Mitunter
geht die Verwendung gewisser Begriffe aber auch mit sehr spezifischen Konzeptio-
nen kontrafaktischen Erzählens einher, wie sie mit dem in dieser Studie vorgestell-
ten Verständnis der Kontrafaktik inkompatibel sind. Insofern erscheint es sinnvoll,
knapp auf bestehende terminologische Vorschläge sowie auf deren theoretische
Implikationen einzugehen.
    Für die bestehende Forschung ebenso wie für die weitere Diskussion unmaß-
geblich ist eine umgangssprachliche, eher unpräzise Verwendung des Begriffs
‚kontrafaktisch‘ im Sinne von ‚nicht den Fakten entsprechend‘, ‚nicht durch Fak-
ten gedeckt‘ oder ‚nicht auf Fakten reduzierbar‘. Drei Beispiele für eine solche ter-
minologisch vage, mehr suggestive Verwendungsweise seien genannt:
1. Moritz Baßler schreibt in einem Aufsatz über das parahistorische Erzählen
    von „George W. Bushs kontrafaktische[r] Begründung für den Irakkrieg“.43

42 Über die Frage, ob alle fiktionalen Welten fiktiv sind, lässt sich streiten (diejenigen der Kon-
trafaktik und auch der Fantastik sind es aber auf jeden Fall). Unzweifelhaft ist hingegen, dass
nicht alle fiktiven Welten fiktional sind: Auch auf der Basis (bestimmter) fiktiver Annahmen
lässt sich schließlich über die Realität streiten. Vgl. Frank Zipfel: Imagination, fiktive Welten
und fiktionale Wahrheit. In: Eva-Maria Konrad u. a. (Hg.): Fiktion, Wahrheit, Interpretation. Phi-
lologische und philosophische Perspektiven. Münster 2013, S. 38–64, hier S. 51; Albrecht / Dan-
neberg: First Steps Toward an Explication of Counterfactual Imagination, S. 14.
43 Moritz Baßler: „Have a nice apocalypse!“ Parahistorisches Erzählen bei Christian Kracht.
In: Reto Sorg / Stefan Bodo Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne. München
2010, S. 257–272, hier S. 272.
2.1 Terminologie          25

     Bei der fingierten Begründung für die Invasion des Iraks durch die Bush-
     Administration handelte es sich jedoch nicht um ein Beispiel kontrafakti-
     schen Denkens, sondern schlicht um eine Lüge. Es wurde hier also nicht
     auf das produktive Potenzial einer durchschauten Fiktivität spekuliert, wie
     es beim kontrafaktischen Denken typischerweise der Fall ist. Stattdessen
     wurden Täuschungsabsichten verfolgt: Das Fiktive sollte für wahr gehalten
     werden. Im konkreten Fall diente die kaschierte Fiktivität der Legitimation
     eines Kriegseinsatzes.
2.   In einem Artikel in der FAZ schreibt Johannes Franzen: „Wir leben, wie es
     scheint, in einer Zeit kontrafaktischer Verbote. Zumindest hört man gerade
     öfters, dass ein Werk – ein Buch, ein Film – heute wohl so nicht hätte veröf-
     fentlicht werden können, und zwar weil der Geist einer moralischen Zensur
     im Sinne der politischen Korrektheit umgeht.“44 Gemeint sind hier aller-
     dings weniger kontrafaktische als hypothetische Verbote (wie es im Titel
     des Artikels auch tatsächlich heißt): Bei der beschriebenen „Fiktion der
     Zensur“ wird nicht ein reales Verbot mit einer kontrafaktischen Variante
     desselben Verbots verglichen. Stattdessen wird ein nicht existentes Verbot
     imaginiert, oder aber es wird insinuiert, ein solches Verbot sei unter der
     Hand längt in Kraft getreten.
3.   In der Einleitung eines jüngeren Sammelbandes zum literarischen Engage-
     ment schreiben die Herausgeber vom „kontrafaktischen Einspruch“ auto-
     nomer Kunstwerke.45 Hier wird im Rekurs auf die Ästhetik Theodor W.
     Adornos das gesellschaftskritische Potenzial beschworen, das künstleri-
     schen Werken angeblich auch und gerade angesichts ihrer Unabhängigkeit
     gegenüber den ‚Fakten‘ der realen Welt zukommt. Ein solcher Begriff des
     Kontrafaktischen hängt mit Vorstellungen der Autonomieästhetik sowie
     einer voraussetzungsreichen Konzeption politischer Kunst zusammen. Ein
     spezifisches Referenz- oder Erzählverfahren, wie es im Falle der Kontrafak-
     tik vorliegt, ist damit jedoch nicht gemeint.

Ein bereits etwas spezifischeres Begriffsverständnis, welches für die Literatur-
wissenschaft allerdings ebenfalls von untergeordneter Bedeutung ist, betrifft
das ‚kontrafaktische‘ Denken im Sinne des Spekulativen oder Hypothetisch-
Resultativen. Dieser Begriff des Kontrafaktischen spielt vor allem in nicht-fiktio-
nalen und argumentativen Kontexten eine Rolle, etwa bei der Beschreibung

44 Johannes Franzen: Hypothetische Verbote. Eine Fiktion der Zensur. In: Frankfurter Allge-
meine Zeitung, 25.08.2019.
45 Jürgen Brokoff / Ursula Geitner / Kerstin Stüssel: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Engagement.
Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur. Göttingen 2016, S. 9–18, hier S. 9.
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alltagspsychologischer Vorgänge (wie dem Bedauern, das sich in dem Satz
„Wenn ich früher losgegangen wäre, hätte ich den Bus nicht verpasst!“ aus-
drückt46), bei Modellen der theoretischen Physik (etwa Überlegungen von der
Art: „Wie würde das Universum aussehen, wenn bestimmte physikalische Para-
meter andere wären?“47) oder bei den in den letzten Jahren intensiv diskutier-
ten Gedankenexperimenten (etwa Hilary Putnams Überlegungen zum ‚Gehirn
im Tank‘48). Das Kontrafaktische wird hier nicht so sehr im Sinne einer bestimm-
ten Negation realweltlicher Faktenannahmen verstanden, sondern eher als eine
Kausalfolgerung, die auf realweltlich offenkundig nicht-zutreffenden Voraus-
setzungen basiert. Ähnlich liegen die Dinge im Fall der sogenannten kontrafak-
tischen Konditionale, wie sie in der analytischen Philosophie und Linguistik
diskutiert werden: Kontrafaktische Konditionale vom Typ „Wenn x der Fall wäre,
dann wäre y ... “ beruhen meist nicht auf dem Vergleich eines realen mit einem
fiktiven Sachverhalt, sondern ziehen Schlüsse aus fiktiven Ausgangsbedingun-
gen. Ihre Funktion besteht vor allem in der Isolierung von Kausalfaktoren.49
     Auch die Frage „Was wäre, wenn ...?“, die oftmals geradezu reflexhaft mit
dem kontrafaktischen Denken in Verbindung gebracht wird50, bezieht sich für

46 „The emotion of regret is a negative feeling that hinges on a counterfactual inference, speci-
fically the recognition that a decision, if made differently, would have resulted in a better out-
come.“ (Neal J. Roese / Mike Morrison: The Psychology of Counterfactual Thinking. In: Roland
Wenzlhuemer (Hg.): Counterfactual Thinking as a Scientific Method. Special Issue: Historical So-
cial Research 34/2 (2009), S. 16–26, hier S. 17) Zum Zusammenhang von kontrafaktischem Den-
ken und der Psychologie des Bedauerns siehe auch Thomas Gilovich / Victoria Husted Medvec:
Some Counterfactual Determinants of Satisfaction and Regret. In: Neal J. Roese / James M. Olson
(Hg.): What Might Have Been. The Social Psychology of Counterfactual Thinking. Mahwah, New
Jersey 1995, S. 259–282.
47 Vgl. Miko Elwenspoek: Counterfactual Thinking in Physics. In: Dorothee Birke / Michael Butter /
Tilmann Köppe (Hg.): Counterfactual Thinking – Counterfactual Writing. Berlin 2011, S. 62–80.
48 Vgl. Hilary Putnam: Brain in a Vat. In: Ders.: Reason, Truth and History. Cambridge 1981,
S. 1–21. Danneberg zufolge können „[k]ontrafaktische Imaginationen [...] als eine besondere
Form des Gedankenexperiments charakterisiert werden, und zwar als Gedankenexperimente,
die von offenkundig falschen Prämissen ausgehen.“ (Danneberg: Das Sich-Hineinversetzen
und der sensus auctoris et primorum lectorum, S. 422).
49 Siehe einführend zum Konzept der kontrafaktischen Konditionale Peter Baumann: Er-
kenntnistheorie. 3., aktualisierte Aufl. Stuttgart 2015, S. 118–121, 242.
50 Siehe etwa die folgenden Werktitel: Michael Salewski (Hg.): Was Wäre Wenn. Alternativ-
und Parallelgeschichte. Brücken zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Stuttgart 1999; Philip
E. Tetlock / Richard Ned Lebow / Geoffrey Parker (Hg.): Unmaking the West. “What-If” Scena-
rios That Rewrite World History. Ann Arbor 2006; Gabriel D. Rosenfeld (Hg.): What Ifs of Jewish
History. From Abraham to Zionism. Cambridge 2016; Demandt: Ungeschehene Geschichte. Ein
Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn ...?; Robert Cowley (Hg.): What If? The
World’s Foremost Military Historians Imagine What Might Have Been. New York 1999; Daniel
2.1 Terminologie           27

gewöhnlich weniger auf das Kontrafaktische im Sinne eines Vergleichs von Fakt
und Faktenvariation, sondern eher auf das bloß Mögliche oder Hypothetische.
So trägt etwa Randall Munroes Fachbuch-Bestseller what if? den bezeichnenden
Untertitel „Wirklich wissenschaftliche Antworten auf absurde hypothetische Fra-
gen“. Verhandelt werden darin Fragen wie „Was wäre, wenn sich alle Menschen
der Erde möglichst dicht aneinanderstellen, hochspringen und im selben Mo-
ment wieder auf dem Boden aufkommen?“ oder „Aus welcher Höhe müsste man
ein Steak abwerfen, damit es gar ist, wenn es am Boden ankommt?“.51 Derartige
Fragen lassen sich mit der literarischen Kontrafaktik nur sehr bedingt in Verbin-
dung bringen, da hier nicht zwei Versionen desselben Sachverhalts – Fakt und
Kontra-Fakt – interpretatorisch miteinander korreliert werden, sondern lediglich
ein einzelnes hypothetisches Szenario ersonnen und rational evaluiert wird.
    Für die Literaturwissenschaft problematisch ist die reflexhafte Verbindung
zwischen kontrafaktischem Denken und der Frage „Was wäre, wenn ...?“ auch
deshalb, weil sich diese Frage letztlich auf jedweden fiktiven Sachverhalt in der
Literatur – auch etwa in der realistischen oder der fantastischen Literatur – an-
wenden ließe.52 Man könnte schließlich auch fragen: „Was wäre, wenn Hans
Castorp sieben Jahre auf dem Zauberberg verbrächte?“, oder „Was wäre, wenn
Rotkäppchen im Wald einem bösen Wolf begegnete?“ (oder auch „Was wäre,
wenn Rotkäppchen im Wald keinem bösen Wolf begegnete?“). Diese Fragen
und die potenziellen Antworten darauf mögen etwas über den Simulationscha-
rakter literarischer Fiktionen aussagen, aber kaum etwas über das kontrafakti-
sche Erzählen in einem engeren Sinne.
    Grundsätzlich unterschieden werden sollte zwischen Formen eher resultati-
ven kontrafaktischen Denkens, welche mehr am Ergebnis einer gedanklichen Hy-
postasierung interessiert sind, und Formen eher komparativen kontrafaktischen
Denkens, die ein bestimmtes Faktum in der realen Welt mit einer veränderten Va-
riante desselben Faktums vergleichen. Während resultative Formen kontrafakti-
schen Denkens vor allem in faktualen Kontexten zum Einsatz kommen, ist für
die Literaturwissenschaft vor allem das komparative kontrafaktische Denken

Snowman (Hg.): If I Had Been ... Ten Historical Fantasies. London 1979; Isabel Kranz (Hg.): Was
wäre wenn? Alternative Gegenwarten und Zukunftsprojektionen um 1914. Paderborn 2014;
Hans-Peter von Peschke: Was wäre wenn. Darmstadt 2014; Neal J. Roese / James M. Olson (Hg.):
What Might Have Been. The Social Psychology of Counterfactual Thinking. Mahwah, New Jersey
1995.
51 Randall Munroe: what if? War wäre wenn? Wirklich wissenschaftliche Antworten auf ab-
surde hypothetische Fragen. München 2014, S. 62, 131.
52 Vgl. David Lewis: Truth in Fiction. In: American Philosophical Quarterly 15/1 (1979), S. 37–46,
hier S. 42.
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relevant: Anders als resultatives kontrafaktisches Denken ermöglicht kompara-
tives kontrafaktisches Denken, wie es im Falle der Kontrafaktik vorliegt, eine
interpretatorische Vermittlung von Fakt und Faktenvariation. Genau auf der
Möglichkeit einer solchen Vermittlung gründet die hermeneutische Produktivität
kontrafaktischen Denkens in der Kunst.
     Eine gewisse Strukturanalogie mit der Kontrafaktik, wie sie in der vorliegenden
Studie verstanden wird, weist das Verfahren der Kontrafaktur auf. Der Begriff, der
heute vor allem in der Musikwissenschaft gebräuchlich ist53, bezeichnet ein künst-
lerisches Produktionsverfahren (beziehungsweise dessen Ergebnis), bei dem durch
die formale Variation eines Kunstwerks ein neues Werk entsteht, ohne dass dabei
der Bezug zum ursprünglichen Werk verlorenginge. Übertragen auf die Literatur
bedeutet dies, dass mit ‚Kontrafaktur‘ meist ein intertextuelles Verfahren gemeint
ist.54 Bei der Kontrafaktur liegt also nicht notwendigerweise eine Korrelierung
eines faktualen und eines fiktionalen Diskurses vor; stattdessen wird hier für ge-
wöhnlich in einem fiktionalen Medium Bezug auf eine ebenfalls fiktionale Vor-
lage genommen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Kontrafaktur deutlich
von der Kontrafaktik, welche ihrerseits ja notwendigerweise auf ‚Fakten‘ und
nicht auf andere literarische Texte Bezug nimmt. Trotz der etymologischen Ver-
wandtschaft hat die Kontrafaktur mit den Fakten des Kontrafaktischen wenig ge-
mein: Die Faktur verweist auf das (anders) Gemachte, die Fakten verweisen auf
das (variierte) Wahre. Etymologisch könnte man hier zur Verdeutlichung das la-
teinische contra facere vom contra factum abgrenzen, also das ‚Andersmachen‘
von der ‚Gegentatsache‘.
     Die beiden neutralsten Begriffsbildungen, die das hier eigentlich zur Diskus-
sion stehende Phänomen bezeichnen und die sich in der Forschung auch vielfach
belegt finden, sind das ‚kontrafaktische Denken‘ sowie das ‚kontrafaktische Erzäh-
len‘. Ein Vorteil dieser Begriffe besteht darin, dass sie – anders etwa als der Genre-
begriff ‚Alternativgeschichte‘ – zunächst keine Festlegung darüber implizieren, ob
man es hier mit kompletten Texten oder mit einzelnen Textstellen zu tun hat; auch
geben sie kein spezielles Themenfeld, also etwa die Zeitgeschichte, als Einsatzbe-
reich kontrafaktischen Denkens vor. Für eine Betrachtung der Kontrafaktik als

53 Das einfachste musikalische Beispiel hierfür stellt das Strophen-Lied dar, bei dem lediglich
der Text, nicht aber die Melodie oder Harmonik verändert wird. Vgl. Ralf Noltensmeier / Gün-
ther Massenkeil (Begr.): Das neue Lexikon der Musik in vier Bänden (Metzler Musik), Bd. 2.
Stuttgart / Weimar 1996, S. 760.
54 Vgl. Theodor Verweyen / Gunther Witting: Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in
Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat. Konstanz 1987.
2.1 Terminologie           29

genreunabhängige Referenzstruktur und als künstlerisches Verfahren, wie sie in
dieser Studie vorgeschlagen wird, erweisen sich die genannten Begriffe insofern
als besonders nützlich. Der wichtigste Unterschied zwischen ‚Kontrafaktik‘ und
‚kontrafaktischem Erzählen‘ besteht darin, dass der zweite Begriff gegenüber der
Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Äußerungskontexten indiffe-
rent ist, während die Kontrafaktik sich per definitionem auf fiktionale Medien
bezieht.
     Nur selten ist der Begriff ‚kontrafaktisch‘ an und für sich bereits für wissen-
schaftliche Argumentationszusammenhänge reserviert worden.55 Die Mehrzahl der
Studien, die sich überhaupt mit dem fiktionalen kontrafaktischen Erzählen be-
schäftigen, verwenden den Begriff ‚kontrafaktisch‘ – unter Umständen ergänzt um
weitere Spezifikationen – gleichermaßen für argumentativ-faktuale wie auch für
ästhetisch-fiktionale Zusammenhänge. Gängige Nominalbildungen zum Adjektiv
‚kontrafaktisch‘ sind ‚das Kontrafaktische‘ oder ‚die Kontrafaktizität‘, wobei der
letztgenannte Begriff nahezu ausschließlich in faktualen Anwendungskontexten
zum Einsatz kommt, etwa in der Wissenschaftstheorie, der Rechtstheorie oder der
Theologie.56 Im Englischen ist darüber hinaus die Rede von den ‚counterfactuals‘
gebräuchlich, ein Begriff, der sich nur ein wenig hölzern als ‚Kontrafakt‘ oder
‚Kontrafaktum‘57 ins Deutsche übertragen lässt. Der Begriff ‚Kontrafaktik‘, den die
vorliegende Arbeit konturiert, wird in bisherigen literaturwissenschaftlichen For-
schungsbeiträgen kaum verwendet.58 In den einschlägigen Forschungsmonogra-
fien zum kontrafaktischen Erzählen taucht er gar nicht auf.

55 Kathleen Singles etwa unterscheidet zwischen „Alternate History“ in Literatur und fiktionalem
Film auf der einen und „Counterfactual History“ in der Geschichtswissenschaft auf der anderen
Seite. Vgl. Singles: Alternate History, S. 85–96.
56 Siehe beispielsweise Ulrich Gähde: Zur Funktion ethischer Gedankenexperimente. In: Wulf
Gaertner (Hg.): Wirtschaftsethische Perspektiven V. Methodische Ansätze, Probleme der Steuer-
und Verteilungsgerechtigkeit, Ordnungsfragen. Berlin 2000, S. 183–206, bes. S. 192–201; Johann
Anselm Steiger: Kontrafaktizität und Kontrarationalität des Glaubens in der Theologie Martin Lu-
thers. In: Lutz Danneberg / Carlos Spoerhase / Dirk Werle (Hg.): Begriffe, Metaphern und Imagi-
nationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 2009, S. 223–237.
57 Siehe beispielsweise Rodiek: Erfundene Vergangenheit, S. 169.
58 Frank Zimmers Arbeit zum dokumentarischen Erzählen ist meines Wissens der einzige litera-
turwissenschaftliche Beitrag, der den Begriff ‚Kontrafaktik‘ definiert, und zwar als „eine erkenn-
bare Abweichung vom historischen Wissen“ – im Grund also synonym mit dem, was für
gewöhnlich als ‚kontrafaktisches Denken‘ oder ‚kontrafaktisches Erzählen‘ in der Geschichte be-
zeichnet wird (Frank Zimmer: Engagierte Geschichte/n. Dokumentarisches Erzählen im schwedi-
schen und norwegischen Roman 1965–2000. Frankfurt a. M. 2008, S. 156). Auf eine etwaige
Spezifik literarischen kontrafaktischen Erzählens geht Zimmer allerdings nicht ein. In der Einlei-
tung des von Patrick Ramponi und Saskia Wiedner herausgegebenen Sammelbandes Dichter
und Lenker ist – eher im Vorübergehen – vom „fiktionalen Medium historischer Kontrafaktik“
30          2 Vorbereitendes

    Besonders vielgestaltig ist die Begriffsbildung rund um das kontrafakti-
sche Denken im Zusammenhang mit der Darstellung der Zeitgeschichte. Der
früheste terminus technicus für das historische kontrafaktische Erzählen geht
dabei auf Charles Renouvier zurück. Dieser betitelte seine im Nebentitel als
L’utopie dans l’histoire charakterisierte Aufsatzsammlung aus dem Jahre 1876
mit dem Ausdruck Uchronie (von griechisch οὐ χρόνος für ‚zu keiner Zeit‘). Der
Begriff ‚Uchronie‘ ist im Deutschen und Französischen weiterhin gebräuchlich.59
In die deutschsprachige Diskussion wurde er vor allem von Christoph Rodiek ein-
gebracht, dessen Studie Erfundene Vergangenheit von 1997 den Untertitel Kontra-
faktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur trägt.60 Der von Jörg
Helbig im Anschluss an Wilhelm Füger vorgeschlagene Terminus ‚Allotopie‘ (der
strenggenommen nicht deckungsgleich mit dem kontrafaktischen historischen
Erzählen ist, sondern „sowohl Utopie wie auch alle sonstigen Spielarten alterna-
tiver Weltentwürfe“ umfasst61) hat sich nicht durchsetzen können.62 Allerdings
findet sich in der englischsprachigen Forschung gelegentlich der Terminus ‚Allo-
history‘.63 Gebräuchlich sind des Weiteren eher deskriptive Begriffe wie ‚Alterna-
tivgeschichte‘, ‚kontrafaktische Geschichtsdarstellung‘, ‚Konjekturalgeschichte‘
oder ‚Parallelweltgeschichte‘. Im englischen Sprachraum sind ferner die Begriffe
‚Imaginary History‘64, ‚Virtual History‘65, ‚Paralleltime Novel‘, ‚What if-Story‘,

die Rede (Patrick Ramponi / Saskia Wiedner: Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. Eine
kulturkritische und methodologische Hinführung. In: Dies. (Hg.): Dichter und Lenker. Die Litera-
tur der Staatsmänner, Päpste und Despoten von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Tübin-
gen 2014, S. 9–31, hier S. 11). Ein eher philosophisch-assoziativer Begriffsgebraucht liegt vor bei
Drehli Robnik: Scalping Colonel Landa so that none shall escape. Kontrafaktik, jüdische Agency
und ihr politisches Potenzial im Postfaschismus bei Spielberg und Tarantino. In: Johannes
Rhein / Julia Schumacher / Lea Wohl von Haselberg (Hg.): Schlechtes Gedächtnis? Kontrafakti-
sche Darstellungen des Nationalsozialismus in alten und neuen Medien. Berlin 2019, S. 83–104.
59 Siehe beispielsweise Emmanuel Carrère: Le Détroit de Behring. Introduction à l’uchronie.
Paris 1986; Eric B. Henriet: L’histoire révisité. Panorama de l’uchronie sous toutes ses formes.
Paris 1999.
60 Rodiek: Erfundene Vergangenheit.
61 Vgl. Füger: Streifzüge durch Allotopia, S. 351.
62 Vgl. Helbig: Der parahistorische Roman, S. 26–34.
63 Vgl. Gordon B. Chamberlain: Afterword: Allohistory in Science Fiction. In: Charles G. Waugh /
Martin H. Greenberg (Hg.): Alternative Histories. Eleven stories of the world as it might have
been. New York 1986, S. 281–300; Rosenfeld: The World Hitler Never Made, S. 398 f., Anm. 5.
64 J. C. Squire (Hg.): If It Had Happened Otherwise. Lapses into Imaginary History. [1931]
Nachdruck London 1972.
65 Niall Ferguson (Hg.): Virtual History. Alternatives and Counterfactuals. London 1997.
2.1 Terminologie          31

‚Quasi-historical Novel‘, ‚Political Fantasy‘, ‚Historical Might-Have-Been‘, ‚As if-
Narrative‘ und ‚Counterfeit World‘ belegt.66 Der Begriff ‚Alternate History‘, den eine
Reihe englischsprachiger Studien neueren Datums im Titel tragen, dürfte derzeit
die wohl gebräuchlichste Bezeichnung für das kontrafaktische historische Erzäh-
len sein.67 Auch in der vorliegenden Studie wird der Begriff ‚Alternate History‘ als
Genre-Begriff für das fiktionale, alternativgeschichtliche Erzählen verwendet.
     Unabhängig von der jeweiligen genauen Bezeichnung ist mit den angeführ-
ten Begriffen in der Regel die erzählerische Darstellung einer Welt – meist in der
Gattung des Romans, manchmal auch im fiktionalen Film oder Comic – gemeint,
deren historische Entwicklung ab einem gewissen historischen Zeitpunkt, dem
sogenannten ‚point of divergence‘ oder auch ‚point of departure‘, von der Entwick-
lung der Realhistorie abweicht. Dabei lassen sich drei miteinander verbundene
Eigenschaften der unter den genannten Begriffen verhandelten Texte respektive
der in diesen Texten entworfenen Welten herausstellen: Erstens entwerfen diese
Texte in der Regel Welten, deren Abweichung von der Realhistorie ab einem ge-
wissen geschichtlichen Zeitpunkt dauerhaft ist und die gesamte erzählte Welt
umfasst (hieraus erklärt sich die hohe Affinität der einschlägigen Forschungsbei-
träge zu Possible Worlds-Theorien). Diese relativ kohärente kontrafaktische Struk-
tur der Diegese ermöglicht es zweitens, Texte in ihrer Ganzheit einem gewissen
kontrafaktischen Genre, eben der Alternate History, zuzuschlagen – ein Genre, das
seinerseits meist als Untergruppe des historischen Romans konzeptualisiert wird.
Tatsächlich stehen in der Mehrzahl der Studien zur Alternate History Fragen der
Gattungstypologie und Gattungsgeschichte im Zentrum. Diese Privilegierung von
Gattungs- und Genrefragen jedoch lässt drittens die konkrete Referenzstruktur kon-
trafaktischer Textstellen eher aus dem Blick geraten: Analysiert werden Texte in
ihrer Gesamtheit und in ihrem Verhältnis zueinander – weniger hingegen einzelne
Textelemente oder konkrete literarische Verfahren. Unter dem Begriff ‚Alternate
History‘ und verwandten Labels werden also, knapp zusammengefasst, vor allem
solche Texte verhandelt, deren gesamte fiktionale Welt auf einer Abweichung vom
realen Verlauf der Geschichte basiert, und zwar mit besonderem Nachdruck auf
Genrefragen, während die Referenzstruktur einzelner kontrafaktischer Textstellen
eher vernachlässigt wird. Hinsichtlich aller drei Punkte, dies sei bereits vorausge-
schickt, schlägt die vorliegende Studie eine Neuperspektivierung vor.

66 Vgl. Helbig: Der parahistorische Roman, S. 13–15.
67 William Joseph Collins: Paths Not Taken. The Development, Structure and Aesthetics of Al-
ternate History. Davis 1990; Aleksandar B. Nedelkovich: British and American Science Fiction
Novel 1950–1980 with the Theme of Alternate History. Diss. Univ. of Belgrade 1994; Hellekson:
The Alternate History; Singles: Alternate History.
32          2 Vorbereitendes

     Gelegentlich findet sich in der Forschungsdiskussion auch der Begriff ‚Al-
ternative History‘.68 Im Zusammenhang mit dem kontrafaktischen Erzählen ist
von der Verwendung dieses Terminus allerdings abzuraten, da er in der Ge-
schichtswissenschaft bereits anderweitig besetzt ist: Unter ‚Alternative History‘
versteht man gemeinhin eine Form der Historiografie, in der die Geschichte aus
einer bis dato wenig beachteten Perspektive – meist aus der Sicht einer macht-
politisch subalternen oder diskriminierten Partei – erzählt wird, beispielsweise
die Geschichte der Frontier-Bewegung aus der Sicht der amerikanischen Urein-
wohner oder die Geschichte der Industrialisierung aus der Sicht proletarischer
Frauen. Dabei lässt sich bei der ‚alternativen Geschichtsschreibung‘ –ähnlich
wie bei der kontrafaktischen Geschichtsschreibung – häufig ein politisches In-
teresse erkennen. Anders als die kontrafaktische Geschichtsschreibung jedoch
erfindet die alternative Geschichtsschreibung nicht etwas gänzlich Neues, son-
dern bleibt – nicht anders als die traditionelle Geschichtsschreibung – an die
positiven Daten der historischen Quellen gebunden; nur legt die alternative Ge-
schichtsschreibung ihren Fokus eben auf andere Quellen, als es die traditionelle
Geschichtsschreibung tut. Hinsichtlich ihrer Referenzverfahren sind kontrafakti-
sche und alternative Geschichtsschreibung somit klar voneinander unterscheid-
bar: Während die Alternate History bekannte historische Daten kontrafaktisch
variiert, versucht die Alternative History historiografisch wenig beachtete Daten al-
lererst bekannt zu machen. Sie leistet damit einer Neuperspektivierung – nicht
aber einer Neuerfindung – der Geschichte Vorschub.
     Ein bekanntes lyrisches Beispiel einer solchen revisionistischen Geschichts-
darstellung ist Brechts Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters. Dort finden sich
die Verse:

     Der junge Alexander eroberte Indien.
     Er allein?
     Cäsar schlug die Gallier.
     Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
     Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
     Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
     Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
     Siegte außer ihm?69

68 Edgar Vernon McKnight Jr.: Alternative History. The Development of a Literary Genre.
Chapel Hill 1994.
69 Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Ber-
liner und Frankfurter Ausgabe (= GBA). Hg. v. Werner Hecht u. a. Frankfurt a. M. 1988 ff.,
Bd. 12: Gedichte 2, S. 29.
2.2 Zum Begriff der Kontrafaktik          33

Das Augenmerk wird hier auf die unbeachteten Akteure der Geschichte gelenkt.
Keineswegs geht damit jedoch eine Abwandlung des bekannten und quellen-
mäßig dokumentierten Geschichtsverlaufs einher, wie es bei der historischen
Kontrafaktik der Fall wäre. Mit Blick auf das im gegebenen Beispiel verhandelte
Thema könnte diese Unterscheidung folgendermaßen illustriert werden: In der
revisionistischen Alternativgeschichte (Alternative History) kann die Geschichte
des Koches erzählt werden, den Cäsar bei sich hatte, als er die Gallier schlug; in
der kontrafaktischen Alternativgeschichte (Alternate History) hingegen kann
die Geschichte der Gallier erzählt werden, die Cäsar schlugen.70 Das bekann-
teste Beispiel für die zuletzt skizzierte kontrafaktische Geschichtsimagination
sind natürlich die Comics und Filme rund um Asterix und Obelix.71

2.2 Zum Begriff der Kontrafaktik

Die vorliegende Studie schlägt eine Neuperspektivierung des literarischen kontra-
faktischen Erzählens und, damit verbunden, auch eine eigene Terminologie vor,
deren Kernstück der Begriff ‚Kontrafaktik‘ bildet. Im Rahmen der Studie soll plau-
sibel gemacht werden, dass der Aufwand der Einführung einer zunächst unver-
trauten Terminologie durch ihren systematischen und analytischen Mehrwert
hinreichend aufgewogen wird, was nicht zuletzt anhand der konkreten Werkdeu-
tungen zu ermessen sein soll. Mit Niklas Luhmann könnte man hier von einer
„unübliche[n] Theorieperspektive“ sprechen, an die man sich zunächst „zu ge-
wöhnen“ habe, um dann „am Ertrag“ zu sehen, „[o]b es sich lohnt“.72 Eine der
zentralen Thesen der Arbeit ist, dass kontrafaktisches Erzählen in fiktionalen Me-
dien ein eigenständiges Phänomen darstellt. Durch die Einführung des Terminus
‚Kontrafaktik‘, wie er im Folgenden verwendet wird, soll entsprechend nicht ei-
genwillig eine Spezialterminologie für die Literaturwissenschaft reklamiert wer-
den; stattdessen wird ein der Sache nach eigenständiger Gegenstandsbereich
umrissen, der sich vom Bereich des wissenschaftlichen sowie des alltagspragma-
tischen kontrafaktischen Denkens unterscheidet und der entsprechend auch
einen eigenen Begriff erfordert – getreu der von Klaus Weimar formulierten

70 In der vorliegenden Studie werden die Begriffe ‚alternativgeschichtlich‘ und ‚Alternativge-
schichte‘ stets mit der ersten dieser Bedeutungen, also im Sinne der kontrafaktischen Alterna-
tivgeschichte gebraucht.
71 Besonders einschlägig ist hier der Zeichentrickfilm Asterix erobert Rom: René Goscinny / Al-
bert Uderzo / Pierre Watrin (Regie): Les Douze Travaux d’Astérix. Frankreich 1976.
72 So in Bezug auf den eigenen, systemtheoretischen Ansatz Niklas Luhmann: Die Gesell-
schaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, S. 846 f.
34          2 Vorbereitendes

Maxime, „daß, was theoretisch unterschieden werden kann, eben darum unter-
schieden werden muß und auch terminologisch fixiert werden sollte“.73
     Der Bereich kontrafaktischen Denkens und Erzählens lässt sich, wie weiter
oben bereits erwähnt wurde, in zwei pragmatische Anwendungsbereiche unter-
teilen: den fiktionalen und den faktualen. Für das kontrafaktische Denken in
fiktionalen, insbesondere künstlerischen Kontexten wird in dieser Studie der
Begriff ‚Kontrafaktik‘, für das kontrafaktische Denken in faktualen, insbesondere
wissenschaftlichen Kontexten der Begriff ‚Kontrafaktizität‘ verwendet. Trennt man
solchermaßen die Kontrafaktik als literarisch-fiktionales Erzählverfahren von der
Kontrafaktizität in argumentativen Kontexten, so wird das Adjektiv ‚kontrafak-
tisch‘ strenggenommen ambig, kann es sich doch sowohl auf die Kontrafaktik als
auch auf die Kontrafaktizität beziehen.74 Im weiteren Verlauf der Argumentation
soll allerdings darauf verzichtet werden, einen zusätzlichen Begriff zur adjektivi-
schen Unterscheidung von Kontrafaktizität und Kontrafaktik einzuführen. Einer-
seits wird hier auf die Fähigkeit des Lesers zur kontextuellen Desambiguierung
vertraut. Andererseits erscheint eine strikte terminologische Trennung von Kon-
trafaktizität und Kontrafaktik ohnehin nur eingeschränkt sinnvoll, da es sich bei
beiden Phänomenen zweifellos um verwandte Phänome – eben um Varianten
des kontrafaktischen Denkens – handelt.
     Der Begriff ‚Kontrafaktik‘ wird im Rahmen der Arbeit in unterschiedlichen,
wiewohl eng miteinander zusammenhängenden Bedeutungsschattierungen ge-
braucht. Als Referenzstruktur verstanden bezeichnet Kontrafaktik eine spezifische
Beziehung von Elementen der fiktionalen Welt zum Weltwissen des Lesers, wobei
dieses Weltwissen als relevanter Kontextfaktor für die Interpretation kontrafak-
tischer Texte fungiert. Als eine spezifische Form des real-fiktionalen Weltver-
gleichsverhältnisses kann Kontrafaktik mit anderen Weltvergleichsverhältnissen –
der Realistik, Faktik und Fantastik – kontrastiert werden.75 Als künstlerisches
Phänomen oder Erzählphänomen bezeichnet Kontrafaktik einen bestimmen

73 Klaus Weimar: Text, Interpretation, Methode. Hermeneutische Klärungen. In: Lutz Danne-
berg / Friedrich Vollhardt (Hg.): Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden-
und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und inter-
kultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950–1990). Stuttgart 1996,
S. 110–122, hier S. 111.
74 Es ergibt sich hier also ein ähnliches Problem wie bei dem Begriff ‚Fiktion‘, welcher sich je
nach Kontext auf eine bestimmte Pragmatik der Äußerung (Fiktionalität) oder die Erfundenheit
der Erzählgegenstände (Fiktivität) oder auch auf beides beziehen kann. Vgl. Zipfel: Fiktion, Fikti-
vität, Fiktionalität.
75 Siehe Kapitel 5.1. Realistik, Fantastik, Kontrafaktik, Faktik.
2.2 Zum Begriff der Kontrafaktik           35

Effekt, der sich bei der Lektüre kontrafaktischer Werke einstellt und im Rahmen
einer kontextsensitiven Textverfahrensanalyse und Textinterpretation erläutert
werden kann.76 Kontrafaktik bedeutet dabei mehr als das Vorliegen isolierter kon-
trafaktischer Elemente; als Erzählphänomen verstanden steht die Kontrafaktik im
Kontext dynamischer hermeneutischer Prozesse, anhand derer die Bedeutung
des jeweiligen künstlerischen Werkganzen erschlossen werden soll. Die Formu-
lierungen ‚Texte der Kontrafaktik‘ oder ‚kontrafaktische Texte‘ schließlich bilden
keine Genrebezeichnungen, sondern metonymische Gesamtcharakterisierungen
für solche Texte, in denen kontrafaktische Referenzstrukturen gehäuft vorkom-
men und für deren Interpretation kontrafaktische Referenzstrukturen von be-
sonderer Bedeutung sind.77 Etwas vereinfacht ließe sich mithin formulieren:
Kontrafaktik bezeichnet ein Erzählverfahren, welches sich einer bestimmten Re-
ferenzstruktur bedient; die sich aus dieser Referenzstruktur ergebenden künst-
lerischen Phänomene; sowie diejenigen Texte, für deren Interpretation diese
Phänomene eine herausgehobene Rolle spielen.
     Der Begriff ‚Kontrafaktik‘ versteht sich, wie in der Einleitung bereits bemerkt
wurde, als eine Analogiebildung zum Begriff ‚Fantastik‘, und zwar sowohl in
morphologischer als auch in konzeptioneller Hinsicht: So wie die Fantastik in
ihren unterschiedlichen Definitionen einerseits eine Gruppe von Texten und Gen-
res (Märchen, Fantasy, Science-Fiction etc.) und andererseits eine spezifische
narrative Struktur bezeichnen kann (das Unheimliche, epistemisch Uneindeutige
oder Unmögliche etc.), so soll auch mit dem Begriff der Kontrafaktik sowohl eine
Gruppe künstlerischer Werke als auch eine Verfahrens- und Struktureigenschaft
ebendieser Werke bezeichnet werden. Der primäre Fokus der vorliegenden Arbeit
liegt dabei – in Abgrenzung zu weiten Teilen der bisherigen Forschung – auf dem
letztgenannten Aspekt, also auf der Kontrafaktik als künstlerischem Verfahren und

76 Die Textverfahrensanalyse hat sich im Anschluss an die semiotisch-strukturalistische
Schule – prominent vertreten durch Jurij M. Lotman – entwickelt. Zu ihrer Definition schreibt
Robert Mathias Erdbeer: „Die Textverfahrensanalyse baut auf materiale Evidenzen, auf Effekte
und Strukturen, die erkennbar und – im Sinne eines Rezeptionskonsenses – nachvollziehbar
sind. Als Interpretation wird sie zum Kommentar des analytischen Modells. In diesem Sinne
sichert sie die Dimensionen eines Textes: seine materiale, strukturale, semiotische, poetologi-
sche und diskursive Dimension.“ (Robert Matthias Erdbeer: Der Text als Verfahren. Zur Funk-
tion des textuellen Paradigmas im kulturgeschichtlichen Diskurs. In: Zeitschrift für Ästhetik
und allgemeine Kunstwissenschaft 46/1 (2001), S. 77–105, hier S. 104 f.) Extratextuelle Kontext-
faktoren – etwa die Fakten der Kontrafaktik – können dabei als Diskurse verstanden werden,
mit denen die Texte Verbindungen unterhalten: „Texte stehen in Diskursen, die Diskurse tref-
fen sich im Text“ (ebd., S. 102).
77 Siehe hierzu Kapitel 4.3.6. Skopus: Kontrafaktische Welten, kontrafaktische Elemente,
point of divergence.
36         2 Vorbereitendes

als Referenzstruktur. Allerdings werden in der Arbeit an verschiedenen Stellen
durchaus auch Fragen nach den Konstitutionsbedingungen und, in eingeschränk-
tem Maße, der Geschichte kontrafaktischer Genres verhandelt.
     Ein pragmatischer Grund für die Einführung des neuen Begriffs ‚Kontrafaktik‘
liegt in seiner guten Handhabbarkeit: Gegenüber der beinahe ganz bedeutungs-
gleichen Nominalphrase ‚kontrafaktisches Erzählen in künstlerisch-fiktionalen
Medien‘ bietet der Terminus ‚Kontrafaktik‘ den offensichtlichen Vorteil der Kürze.
Eine Rückübersetzung in die bekannte, wenn auch etwas sperrige Terminologie
bleibt der Sache nach jedoch jederzeit möglich. Ziel der Arbeit ist nicht die for-
cierte begriffliche Innovation. Vielmehr soll ein Vorschlag zur terminologisch grif-
figen und konzeptionell erhellenden Neuperspektivierung des Bekannten geboten
werden, eine Neuperspektivierung, die dann wiederum neue Forschungsfragen er-
öffnen kann (etwa diejenige nach dem möglichen Einsatz kontrafaktischer Refe-
renzstrukturen in Genres jenseits der Alternate History). Das eigentliche Argument
der Arbeit ist allerdings nicht abhängig vom Gebrauch dieser speziellen Termino-
logie – nur lässt es sich unter Verwendung derselben, wie im Folgenden plausibi-
lisiert werden soll, eben besonders klar und, so steht zu hoffen, einigermaßen
elegant vortragen.
     Die Einführung einer eigenen Terminologie, die kein neues Phänomen, son-
dern dem Anspruch nach ein altes Phänomen neu – und präziser – bezeichnet,
wirft die Frage auf, wie mit älteren Forschungsbeiträgen umgegangen werden soll,
die eine abweichende Begrifflichkeit verwenden. Die Option, die Terminologie der
jeweiligen Studie zu übernehmen und kurz zu erläutern, ist zwar naheliegend,
würde allerdings permanenten argumentativen Aufwand verursachen und den oh-
nehin recht umfänglichen Theorieteil noch weiter anschwellen lassen, ohne dabei
als Kompensation einen entsprechenden analytischen Mehrwert in Aussicht stel-
len zu können. Um diesen argumentativen Aufwand zu vermeiden, und auch, um
die Begrifflichkeiten der vorliegenden Arbeit möglichst konsequent durchhalten
zu können, wurde die Entscheidung getroffen, terminologische Rückprojektionen
zuzulassen: So wird im Folgenden der Begriff ‚Kontrafaktik‘ bei der Diskussion all
jener Werke oder Forschungsbeiträge verwendet, in denen kontrafaktisches Erzäh-
len oder Denken innerhalb künstlerisch-fiktionaler Medien zum Einsatz kommt
oder mit Blick auf solche Medien diskutiert wird – und zwar auch dann, wenn die
entsprechenden Forschungsbeiträgen selbst eine andere Terminologie verwen-
den.78 An jenen Stellen der Studie, wo auf nicht genauer spezifizierte Weise von

78 Dieses Vorgehen ähnelt dabei demjenigen, das Wünsch für die Analyse der historisch nicht
als solche bezeichneten fantastischen Literatur vorschlägt: „Die Zusammenfassung einer Text-
menge zur Klasse der ‚fantastischen Literatur‘ scheint mir jedenfalls ebenso historisch wie
2.3 Vier Referenzbeispiele: Harris, Ransmayr, Tarantino, Houellebecq     37

‚kontrafaktischem Erzählen‘ gesprochen wird, ist damit stets das kontrafaktische
Erzählen und Denken unabhängig vom jeweiligen pragmatischen Kontext und
Geltungsanspruch gemeint.

2.3 Vier Referenzbeispiele: Harris, Ransmayr,
    Tarantino, Houellebecq

Wie bei jeder auf Literatur bezogenen Theorie erscheint es auch bei der Formu-
lierung einer Theorie der Kontrafaktik sinnvoll, immer wieder den Abgleich mit
der realen künstlerischen Produktion zu suchen. Um einen solchen Abgleich
bereits innerhalb des Theorieteils – also im Vorfeld der eigentlichen Werkinter-
pretationen – zu ermöglichen, sollen im Folgenden vier jüngere, besonders pro-
minente Beispiele der Kontrafaktik in aller Kürze charakterisiert werden. Auf
diese Beispiele kann dann im weiteren Verlauf des Theoriekapitels zum Zweck
der Illustration und exemplarischen Erläuterung immer wieder zurückgegriffen
werden. Die Beispiele sind Robert Harris’ Roman Fatherland (1992), Christoph
Ransmayrs Roman Morbus Kitahara (1995), Quentin Tarantinos Spielfilm Inglou-
rious Basterds (2009) sowie Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung (2015).
Neben ihrer großen Bekanntheit bieten die erwähnten Werke den Vorteil, durch
unterschiedliche Genre- und Gattungszugehörigkeiten sowie durch ihre sehr ver-
schiedenartige variierende Integration realweltlichen Faktenmaterials ein breites
Spektrum an Ausprägungsmöglichkeiten des fiktionalen kontrafaktischen Erzäh-
lens abzudecken. Gleichwohl handelt es sich hier alles in allem um eher repräsen-
tative oder ‚klassische‘ Beispiele fiktionalen kontrafaktischen Erzählens, welche in
der Forschung auch bereits ausführlich kommentiert wurden. Für eine Formulie-
rung der Leitlinien und Basiskategorien einer Theorie der Kontrafaktik kann dieser
hohe Grad an Bekanntheit und Repräsentativität nur von Vorteil sein, umso mehr,
als es sich bei denjenigen literarischen Texten, welche im zweiten Teil der Arbeit
diskutiert werden, jeweils um vergleichsweise unkonventionelle – und bewusst als
unkonventionell gewählte – Beispiele der Kontrafaktik handelt. Die im weiteren
Verlauf der Studie noch detailliert zu behandelnden literarischen Texte von Chris-
tian Kracht, Kathrin Röggla, Juli Zeh und Leif Randt ermöglichen zwar eine Prü-
fung und Detailmodifikation der allgemeinen Theorie der Kontrafaktik, würden im
Rahmen der zunächst zu leistenden Ausformulierung ebendieser Theorie aller-
dings vorzeitig Spezialprobleme aufwerfen, die dem Anliegen einer möglichst

theoretisch sinnvoll, auch wenn der Terminus selbst früheren Epochen nicht bekannt war.“
(Wünsch: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930), S. 12).
38         2 Vorbereitendes

luziden Entwicklung und Darstellung einer allgemeinen Theorie der Kontra-
faktik eher abträglich wären. An jenen Punkten der Argumentation, wo sich eine
Bezugnahme auf das eigentliche literarische Textkorpus im dritten Teil der Arbeit
anbietet, sollen solche Vorverweise freilich nicht künstlich vermieden werden.
     Bei dreien der vier erwähnten Referenzbeispiele handelt es sich um Werke
der Alternativgeschichte, bei einem um eine Dystopie. Es besteht also eine be-
stimmte Asymmetrie hinsichtlich der diskutierten Genres, wie sie in ähnlicher
Weise auch die weiteren theoretischen Überlegungen durchziehen wird. Die-
ses Ungleichgewicht liegt darin begründet, dass die bisherige Forschung sich
fast ausschließlich auf kontrafaktische Geschichtsdarstellungen beschränkt
hat. Um die Verbindungslinie mit der bestehenden Forschung nicht abreißen
zu lassen sowie um die neue Theorieperspektive zunächst an vertrauten Bei-
spielen zu erproben, erscheint es sinnvoll, vorderhand die historische Kontrafak-
tik ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. In einem Folgeschritt sollen dann
aber auch solche Textkorpora dem Label ‚Kontrafaktik‘ subsummiert werden, die
bisher nicht oder nicht konsequent mit dem kontrafaktischen Erzählen in Verbin-
dung gebracht worden sind. An konkreten, ergänzenden Genres werden dabei im
Interpretationsteil der Arbeit namentlich der kreative Dokumentarismus sowie
das utopische respektive dystopische Erzählen diskutiert.
     Im Folgenden wird jeweils eine kurze Handlungssynopse der vier genann-
ten Referenzbeispiele geboten. Anschließend werden die zentralen kontrafak-
tischen Elemente innerhalb dieser Werke identifiziert und die möglichen
politischen Implikationen der Texte respektive des Films angedeutet. Dieser
Fokus auf den politischen Gehalt bildet dabei einen Vorgriff auf die Verbin-
dung von Kontrafaktik und politischem Schreiben, wie sie im zweiten Teil der
Arbeit ausführlich thematisiert werden soll.

Robert Harris: Fatherland (1992)

In Robert Harris’ Romandebüt und internationalem Bestseller Fatherland nimmt
der Zweite Weltkrieg ab dem Jahr 1942 einen von der Realgeschichte abweichen-
den Verlauf: Nachdem die Nazis den Krieg gewonnen haben, beherrschen sie im
Jahre 1964, dem Jahr der Romanhandlung, ganz Europa, inklusive Englands und
weiter Teile Russlands.79 Protagonist des Romans ist der Kripo-Sturmbannführer
Xavier March, der bei seinen Ermittlungen zu einer Mordserie an ehemaligen
Mitgliedern der obersten Riege der NSDAP eine staatliche Vertuschungsaktion

79 Robert Harris: Fatherland. London 1992.
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