43 SpurenKostenlos zum Mitnehmen - Jäger, Forscher, Naturschützer

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43 SpurenKostenlos zum Mitnehmen - Jäger, Forscher, Naturschützer
Spuren
                                                     Kostenlos zum Mitnehmen

                                                                      Nr.   43
                                                                      Februar 2022
                         Dürener Geschichtswerkstatt e.V.   und   Stadtmuseum Düren

Jäger, Forscher,
Naturschützengrs
                       Schilli
Auf den Spuren C. G.

Beim Blättern
in Opas Albloniualm
                  zeit
Erinnerungen an die Ko
43 SpurenKostenlos zum Mitnehmen - Jäger, Forscher, Naturschützer
2                        Nummer 43 · Februar 2022                                                             Spuren

    Von BERND HAHNE
                            Neues aus der »Szene«
                         n Arisierung eines Indener Unternehmens            hat sich zum Ziel gesetzt, nicht nur alle rd.
                             Der Geschichtsverein der Gemeinde Inden        15.000 in NRW von Gunter Demnig verleg-
                         gehört zu den produktivsten in unserer Re-         ten Stolpersteine zu erfassen, sondern hat da-
                         gion. Nicht zuletzt durch seine Publikationen      rüber hinaus eine Vielzahl an zusätzlichen In-
                         greift er immer wieder wichtige Themen auf.        formationen zusammengetragen und teilweise
                             Als aktuelle Jahresgabe für seine Mitglieder   mit aufwändigen „Graphic Stories“ illustriert.
                         legt er jetzt eine von Britta Enneper verfasste    Zustandegekommen ist diese beeindruckende
                         Studie über die „Arisierung“ des Familienun-       Arbeit durch die Hilfe vieler Initiativen vor
                         ternehmens W. Heymann und das Schicksal            Ort, die sich um die Stolpersteine kümmern,
                         seines letzten Inhabers Walther Lichtenstein       u.a. auch die Dürener Geschichtswerkstatt.
                         vor. Anhand umfangreicher Dokumente                Die App ist in den üblichen Stores down-
                         aus dem Firmennachlass konnte die Autorin          loadbar und auch in einer Desktop-Version
                         minutiös rekonstruieren, wie der Prozess der       vorhanden.
                         Enteignung von Unternehmen und Privatbe-
                         sitz vonstatten ging und wer davon profitierte.    n Die ersten Weimarer Jahre
                         Walther Lichtenstein und seine Frau konnten            Als Fortsetzung der Publikationen zur
                         in der Schweiz die NS-Herrschaft überleben         Dürener Stadtgeschichte (bisher erschienen:
                         und mussten nach dem Krieg erfahren, wie           Dürens Goldene Jahre 1871-1914; In Großer
                         mühsam es in der neuen Bundesrepublik              Zeit. Heimatfront Düren 1914-1918) hat sich
                         war, für das erlittene Unrecht entschädigt         jetzt ein Redaktionsteam zusammengefunden,
                         und in seine alten Rechte wieder eingesetzt zu     um unter dem Titel „Auf schwankendem Bo-
                         werden.                                            den“ die ersten Jahre der Weimarer Republik
                                                                            in Düren aufzuarbeiten. Themen wie Besat-
                         n Lob aus berufenem Munde                          zung, Inflation, Separatismus, aber auch neue
                             Eine ausführliche Rezension erfuhr jetzt       Lebensformen versprechen eine spannende
                         unsere jüngste Publikation „In Großer Zeit.        Arbeit. Um dabei ein möglichst authentisches
                         Heimatfront Düren 1914-1918“ in der                Bild zu vermitteln, suchen wir noch Unter-
                         „Historischen Zeitschrift“, einem führenden        lagen aus jener Zeit wie Tagebücher, Briefe,
                         Organ der deutschen Geschichtswissenschaft:        Poesiealben, Dokumente wie etwa Lehr- oder
                         „Hervorzuheben ist, dass alle Beiträge sehr        Arbeitsverträge, aber natürlich auch Fotos,
                         quellennah geschrieben sind, häufig werden         kurz: alles, was mit dem damaligen Leben in
                         lange Quellenexzerpte in die Darstellung           Düren zu tun hat. Das Stadtmuseum nimmt
                         eingefügt. Darüber hinaus werden zahlreiche        diese Dinge gerne als (Dauer-)Leihgaben oder
                         ausführliche Quellentexte an den passenden         auch nur temporär zur digitalen Erfassung
                         Stellen der Darstellung separat und besonders      entgegen; ggfs. kommen wir auch vorbei, um
                         gekennzeichnet abgedruckt: Zeitungsarti-           etwas abzuholen. Besuchen Sie uns wäh-
                         kel, Tagebuchauszüge, Aufrufe, behördliche         rend der Sonntagsöffnung von 11-17 Uhr
Inhalt
                         Bekanntmachungen etc. Und schließlich ist          oder nehmen Sie Kontakt mit uns auf: Tel.
2  Neues aus der         das Werk mit hunderten von Abbildungen             02421.1215925 oder per Mail unter info@
   »Szene«               in hoher Druckqualität illustriert. Überhaupt      stadtmuseumdueren.de. Wir freuen uns auf
3 Jäger, Forscher,       gebührt dem Redaktionsteam und dem Ver-            Ihre Einlieferungen!
   Naturschützer         lag das Kompliment, das Buch sehr sorgfältig
   Auf den Spuren Carl   lektoriert, ansprechend gestaltet und druck-       Impressum
   Georg Schillings‘     technisch in vorbildlicher Weise produziert zu
14 Ehrenbürger           haben. […] Fazit: Das dreiteilige Buch ist ein
                                                                            n Herausgeber: Trägerverein Stadtmuseum
   gerettet!             Standardwerk zur Dürener Stadtgeschichte
                                                                              Düren e.V. und Dürener Geschichtswerk-
15 Beim Blättern in      und ein wichtiger Beitrag zur Erforschung
                                                                              statt e.V., Cyriakusstr. 33, 52355 Düren
   Opas Album            der „Heimatfront“ 1914–1918.“ Die ganze
                                                                            n Redaktion: Bernd Hahne M.A. (verantw.),
   Erinnerungen an       Rezension ist auf der Seite des Stadtmuseums
                                                                              Dr. Anne Krings M.A.
   Deutschlands          unter Downloads zu finden.
                                                                            n Herstellung: Schloemer & Partner GmbH,
   Kolonialzeit
                                                                              Düren
21 Vielfalt, wohin man   n Stolperstein-App
   schaut                   Vor wenigen Tagen hat eine sehr gelunge-        Alle Ausgaben der „Spuren“ sind digital im
   Bericht aus dem       ne Aktion des WDR einen guten Start in die         Internet unter www.geschichtswerkstatt-
   Stadtmuseum           Öffentlichkeit gehabt: Die „Stolperstein-App“      dueren.de abrufbar.
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Spuren                                                Februar 2022 · Nummer 43                                           3

Jäger, Forscher, Naturschützer
Auf den Spuren Carl Georg Schillings‘
    Im Januar 1921 verstarb in Berlin der               Doch beginnen wir mit einer vermeint-        Von HEINER HILGER
Gürzenicher Afrika-Forscher Carl Georg              lich einfachen Frage: Wer war eigentlich Carl    und SARAH HÖNER
Schillings. Das Stadtmuseum Düren plante            Georg Schillings?
2021 anlässlich des 100. Todestags dieses
                                                       Ein geborener Dürener
berühmten Sohns der Stadt Düren ver-
schiedene Veranstaltungen sowie eine                    Als dem Gutsbesitzer, Bürgermeister von
Ausstellung, die aufgrund der Corona-Pan-           Birgel und Lokalschulinspektor Carl Schillings
demie verschoben werden mussten. Nun                und dessen Frau Antonia geb. Brentano 1865
ist es aber soweit: Seit dem 23.01.2022             ein Sohn geschenkt wird, ahnt niemand, dass
ist die neue Ausstellung „Jäger, Forscher,          dieser Junge einmal ein berühmter Pionier der
Naturschützer – Auf den Spuren von Carl             Afrika-Forschung und Tierfotografie werden
Georg Schillings“ für die Öffentlichkeit            soll. Die Mutter aus dem bekannten Hause
zugänglich. Sie beleuchtet in zahlreichen           Brentano zu Frankfurt hat Vater Carl in Bonn
Original-Objekten und historischen Doku-            geheiratet. Carls Eltern sind der aus Aachen
menten sowie faszinierenden Fotografien             stammende Königliche Preußische Ober-
das kurze, aber facettenreiche Leben eines          förster Timotheus Schillings und dessen Frau
vielschichtigen und äußerst umtriebigen             Caroline Englerth, eine Tochter der Gründerin
Mannes, der zu Lebzeiten internationale             des Eschweiler Bergwerksvereins Christina
Bekanntheit erlangte.                               Wültgens. Der kleine Carl Georg Schillings
    Am Abend des 29. Januars 1921 bekamen           kann also auf prominente und sicher auch
die achtjährige Anna und ihre Mutter in deren       vermögende Verwandte blicken.
Berliner Wohnung wieder einmal Besuch von
einem ihnen bekannten Mann: Es war schon
                                                                                                     Carl Georg und
dunkel und wir genossen die Schlummerstunde
                                                                                                     Max von Schillings
und schauten auf die Lichter der vorbeifahrenden                                                     im Jahr 1875
Züge. Plötzlich klingelte es. Der bewusste Mann
stand vor der Tür. Er legte im Flur seinen Mantel
ab und ging ins Wohnzimmer. Meine Mutter
ging in die Küche, um Streichhölzer für die Gas-
beleuchtung zu holen. Plötzlich polterte es im
Wohnzimmer. Ich lief in die Küche und sagte
meiner Mutter, dass der Mann umgefallen sei.
    So erinnert sich Anna fast acht Jahrzehnte
später an jene Vorkommnisse: Erst nach dem
Tod meiner Mutter erfuhr ich, dass dieser Mann
mein Vater war: Der Afrikaforscher Carl Georg
Schillings.
    Zu seiner Zeit ein bekannter und sehr geach-
teter Mann, entschwanden diese Persönlichkeit
und ihr vielseitiges Wirken mit den Jahren aus
dem öffentlichen Bewusstsein, so auch innerhalb
der Dürener Bevölkerung. Das Stadtmuseum
Düren möchte dies mit seiner neuen Ausstel-
lung ändern. Warum? Weil das Leben von Carl
Georg Schillings so reich an Wendungen war
und seine Anliegen auch 101 Jahre nach seinem
Tod weiterhin aktuell sind. Weil seine Befürch-
tungen zum Aussterben der ostafrikanischen              In der Oberstraße 26 in Düren erblickt er
Tier-Vielfalt aktueller sind denn je. Weil das      am 11. Dezember 1965 als erstes Kind seiner
Thema Kolonialismus und die Aufarbeitung der        Eltern das Licht der Welt. Zwei Geschwister
kolonialen Vergangenheit Deutschlands auch an       folgen, darunter der spätere bekannte Kom-
Düren nicht vorübergehen.                           ponist und Dirigent Max Schillings. Mit dem
43 SpurenKostenlos zum Mitnehmen - Jäger, Forscher, Naturschützer
4                               Nummer 43 · Februar 2022                                                              Spuren

Frühe undatierte Aufnahme des
                                Tod des Großvaters Timotheus Schillings im         Carl Georg Schillings 1888 nach bereits zwei
                    Weyerhofs
                                Mai 1871 tritt die Familie dessen Erbe an und      Jahren aus dem Dienst entlassen.
                                siedelt auf den Weyerhof in Gürzenich über.
                                                                                      Passionierter Jäger und Reiter
                                Dieser Gutshof verfügt über einen ausgedehn-
                                ten Waldbestand und einen rund 30 Hektar               Während sein Bruder Max früh die Musik
                                großen Park mit mehreren großen Weihern,           für sich entdeckt, gelten Carl Georgs Inter-
                                der im Stile eines romantischen Landschafts-       essen der Natur und insbesondere der Jagd.
                                gartens mit verschiedenen pittoresken Park-        Diese Leidenschaft teilt er bereits als Jugend-
                                gebäuden gestaltet worden ist. In diesem           licher mit seinem Vater, die beide dazu das
                                naturnahen und privilegierten Umfeld wächst        weite Gelände des Weyerhofes nutzen. Sämt-
                                Carl Georg Schillings auf. Auf dem Weyerhof        liche gefangenen oder geschossenen Tiere
                                ist dem kleinen Carl Gelegenheit gegeben, mit      werden von dem passionierten Jäger akribisch
                                der Natur vertraut zu werden. Der bereits von      in einem eigenen Schussbuch aufgeführt, das
                                den Großeltern bestens gepflegte Park und          er 1882 von seinem Vater geschenkt bekom-
                                der angrenzende Wald geben dem Jungen die          men hat. Sind es im ersten Jahr insgesamt 71
                                Möglichkeit, seine jugendliche Abenteuerlust       Tiere, wie zum Beispiel Hasen und Hühner,
                                voll auszuleben. Ab dem sechsten Lebens-           werden zwei Jahre später bereits 596 erlegte
                                jahr erhält er zuhause gemeinsam mit seinem        Tiere festgehalten. Der Verbesserung seiner
                                Bruder Privatunterricht von einem Lehrer.          Schießkunst dient das Tontauben-Schießen.
                                    Zwischen 1882 und 1886 wird Bonn zum           Das Training zahlt sich aus: Schillings schnei-
                                  temporären Wohnsitz, hier besucht Carl           det erfolgreich bei einem Schieß-Wettbewerb
                                     Georg das Königliche Gymnasium (heute         ab und stellt dort einen neuen Rekord auf.
                                              Beethoven-Gymnasium) und             Darüber hinaus widmet er sich der Zucht und
                                                  besteht das Abitur. Weniger      dem Abrichten von Jagdhunden, von denen
  Februar 1895 an der Rur:
Der Hund bringt gleich zwei
                                                     erfolgreich verläuft das      auch einige namentlich im Schussbuch er-
        geschossene Enten                               anschließende Studium      wähnt werden. Nach vierzehn Jahren beendet
                                                           der Landwirtschafts-    Carl Georg Schillings seine Eintragungen in
                                                            ökonomie an der        das Schussbuch. In diesem Zeitraum hat er
                                                             Friedrich-Wilhelms-   insgesamt 6.055 Tiere selbst gefangen oder
                                                             Universität in        geschossen.
                                                             Bonn, das er nach         Neben der Jagd ist dem Gutsbesitzersohn
                                                            drei Jahren ohne       auch das Reiten sehr vertraut: Er beherrscht
                                                            Abschluss abbricht.    es bereits seit frühster Kindheit. Seine Heimat
                                                            Die anschließende      Gürzenich ist in der zweiten Hälfte des 19.
                                                             Militärzeit bei der   Jahrhunderts noch ein abgelegenes Dörf-
                                                             „Garde du Corps“,     chen. Die Umgebung, Düren – und damit die
                                                              5. Kompanie in       Eisenbahn – sind nur mit Pferd oder Pferde-
                                                              Berlin, ist un-      wagen zu erreichen. Zudem erfolgt auch die
                                                              erwartet kurz.       regelmäßige Kontrolle der zum Weyerhof
                                                              Wegen einer          gehörenden landwirtschaftlichen Flächen
                                                             diagnostizierten      reitend. Für Schillings ist das Reiten jedoch
                                                             Lungenkrankheit       nicht nur Mittel zum Zweck. Er liebt die
                                                             und einer geschä-     Arbeit mit Pferden und trainiert leidenschaft-
                                                             digten Leber wird     lich gerne seine Fähigkeiten. Bereits in den
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Spuren                                               Februar 2022 · Nummer 43                                                         5

1880er Jahren veranstaltet er erste Rennen in      wusstes Denken von der zeitgenössischen
Gürzenich und der näheren Umgebung. Das            Geisteshaltung geprägt ist, akzeptiert er auch
finanzielle „Polster“ seines Vaters versetzt ihn   das bestehende koloniale Herrschaftssystem
in die Lage, gute Pferde zu erwerben und mit       in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika,
ihnen an den Veranstaltungen teilzunehmen,         als er diese 1896/97 erstmalig im Rahmen
die meist von Erfolg für ihn gekrönt sind. Er      einer Expedition von Schoeller besucht.
professionalisiert sein Können und besucht         Dabei knüpft er wichtige Kontakte zu ver-
ab 1887 auch größere Rennbahnen, z. B. in          schiedenen kolonialen Einrichtungen,
Aachen, Jülich, Krefeld oder Düsseldorf. Sogar     so z. B. zur Deutsch-Ost-Afrika-Ge-
in Mannheim und Berlin ist Schillings anzu-        sellschaft (D.O.A.G.). Diese nutzt er
treffen. Oft findet man seinen Namen auf den       später für seine insgesamt drei län-
von der Presse veröffentlichten Siegerlisten.      geren eigenständigen Expeditionen,
Die Preisgelder nutzt er, um sein kostspieliges    auf denen er die vielfältigen Land-
Hobby weiter zu finanzieren. Die größten Er-       schaften und Tierarten der Region
folge verzeichnet er zwischen 1887 und 1897.       erforscht.
In dieser Zeit erhält er auch Angebote anderer         Auf der ersten
Pferdebesitzer, ihre Tiere zu trainieren oder      dieser Reisen wird der
gar selbst mit ihnen an Rennen teilzunehmen.       jagderfahrene Schillings
Die Siegesnachrichten sammelt er akribisch in      von Schoeller mit der Aufgabe
einem Ordner.                                      betraut, eine Sammlung der regionalen
    Auf dem Weyerhof legt Schillings auf einer     Fauna zusammenzustellen. Konkret
Fläche von 350 Morgen Koppeln zur Aufzucht         gesagt handelt es sich dabei um die
von jungen Pferden an. Ein „Springgarten“ ge-      Sammlung, Katalogisierung und
nannter Hindernisparcours im Park des Gutes        Betreuung von Trophäen – von ge-
soll die Tiere auf ihren zukünftigen Einsatz bei   schossenen Wildtieren.
Rennen vorbereiten.                                    Bei allen Reisen besteht die Ex-
    1895 gewinnt er mit seinem Wallach Ru-         peditionskarawane neben einigen
fus das große Distanzrennen von Düsseldorf,        Lastentieren aus mehreren hundert
bei dem es gilt, innerhalb von 24 Stunden          Personen. Dazu gehören u. a. angeheu-
einen Fußmarsch von 100 km zu absolvieren,         erte Träger, die zum Teil Sklaven sind, die
bevor das eigentliche Reitrennen über weitere      „Askari“ als persönliche Schutztruppe, ein
100 km folgt. Dies bleibt Schillings größter       Koch sowie weitere Bedienstete. Sie be-
Erfolg als Reiter. Zwei Jahre später bricht        gleiten Schillings auf seinen langen und
Rufus während eines Hindernisrennens tot           herausfordernden Märschen durch die
                                                                                                    Durchaus standesbewusst:
zusammen.                                          abwechslungsreiche Naturlandschaft.              Carl Georg Schillings als Reiter
                                                   Schillings ist stets umgeben von Arbeits-
   Naturfreund und Forscher
                                                   kräften, die ihm zu Diensten stehen und ihn
    Nachdem sein Bruder Max den Weyerhof           tatkräftig unterstützen.
verlassen hat, bewirtschaftet Carl Georg das
                                                     Die Kolonie Deutsch-Ostafrika – das Ex-
Familiengut alleine. Mit großem Interesse
                                                   peditionsgebiet von Carl Georg Schillings
widmet er sich der Gestaltung und Pflege
des Parkgeländes. Um das Jahr 1890 fragt er           Das Gebiet des heutigen Tansania (mit
beim Zoologischen Garten in Berlin u. a. um        Teilen Ruandas und Burundis) wird 1885
Wildenten für seine Weiher an. Nach einer          vom Deutschen Reich „erworben“. Auf der
positiven Antwort reist Schillings persönlich      Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 haben
in die Hauptstadt und lernt im Zoologischen        die einflussreichsten Kolonialmächte ihre
Garten zufällig dessen Direktor, Ludwig Heck,      Interessen abgesteckt und den Kontinent
kennen. Diese Begegnung soll sich für Carl         unter sich aufgeteilt. Auf dem Land der nun
Georg Schillings‘ zukünftige Vorhaben als sehr     „Deutsch-Ostafrika“ genannten Kolonie leben
hilfreich herausstellen.                           zu diesem Zeitpunkt etwa acht Millionen
    Dank seiner privilegierten Familienverhält-    Menschen. 90 % von ihnen gehören den
nisse verfügt Schillings über beste Verbindun-     Bantu an. Auch Angehörige der Massai und
gen zu den bedeutenden Familien in Düren.          arabische Einwanderer aus dem Oman, die
So lernt er auch den Fabrikantensohn Max           intensive Handelsverbindungen ins Landes-
Schoeller kennen, der seine Leidenschaft für       innere, nach Europa und in den Nahen Osten
die Jagd und die Faszination für den großen        unterhalten, leben dort.
und damals noch unbekannten afrikanischen             Flächenmäßig etwa doppelt so groß
Kontinent teilt. Da Carl Georgs standesbe-         wie das Deutsche Reich, herrscht dort ein
43 SpurenKostenlos zum Mitnehmen - Jäger, Forscher, Naturschützer
6                                 Nummer 43 · Februar 2022                                                             Spuren

  Reiseroute von Max Schoeller
durch Deutsch-Ostafrika. Grün
   eingezeichnet die Route Carl
 Georg Schillings‘, nachdem er
 sich von Schoellers Expedition
                getrennt hatte.

                                  tropisches Klima und es gibt eine üppige          vor allem der Erforschung der artenreichen
                                  Vegetation. Der Kilimandscharo, der höchs-        und in Teilen noch unbekannten Tierwelt
                                  te Berg Afrikas, wird mit Beginn der deut-        jener Region. Und so entdeckt Schillings meh-
                                  schen „Schutzherrschaft“ als „höchster Berg       rere neue Wildarten, u. a. eine neue Hyänen-
                                  Deutschlands“ oder „Kaiser-Wilhelm-Spitz“         und eine Giraffenart, die zukünftig seinen
                                  bezeichnet. Er wird zum Wahrzeichen der           Namen tragen werden.
                                  deutschen Kolonialpolitik, symbolisiert er             Neuentdeckte und nach Schillings benann-
                                  doch die angestrebte „Weltgeltung“. Die           te Wildarten in Ost-und Äquatorial-Afrika:
                                  Kolonialverwaltung bezieht ihren Sitz in der      n die gestreifte Hyäne (Hyäne Schillingsi
                                  Küstenstadt Dar Es Salaam.                           Mtsch)
                                     Bis 1913 ziehen rund 5.000 Deutsche            n die Bergantilope (Orestragus Schillingsi
                                  nach Deutsch-Ostafrika. Für sie steht die            Neum)
                                  wirtschaftliche Ausbeutung des Landes im          n der Pangani-Büffel (Buffulus Schillingsi
                                  Vordergrund. Sie errichten Plantagen für             Mtsch)
                                  Kautschuk, Hanf, Baumwolle und Kaffee, die        n die Kuhantilope (Bubalis Schillingsi Mtsch)
                                  von Einheimischen unter sklavischen Umstän-       n die Zwerggazellen (Eudorcas Schillingsi, Eu-
                                  den bewirtschaftet werden. Zur Verbesserung          dorcas Ndjiriensis, Eudorcas Sabakiensis)
                                  der Infrastruktur, u. a. für den Abtransport      n die Geier (Pseudogyps Sabakiensis, Schil-
                                  der Plantagen-Erzeugnisse, wird 1894 die             lingsi Erl.)
                                  erste Eisenbahnstrecke eröffnet. Bis zum          n der Schillingsvogel (Gyps Schillingsi)
                                  Beginn des Ersten Weltkriegs folgen weitere       n die Giraffe (Giraffa Schillingsi Mtsch).
                                  Strecken sowie Telegraphenstationen. Die               Abhängig von der Art und Größe der Tiere,
                                  deutsche Infrastruktur vor Ort erleichtert Carl   werden diese entweder zunächst lebendig im
                                  Georg Schillings den Zugang in diese Region       Fangeisen gefangen und getötet oder auf der
                                  mit ihren Naturschätzen erheblich. Auch er        Pirsch geschossen. Direkt vor Ort werden die
                                  kann bei seinen Expeditionen auf Sklaven als      Tierkörper von einem Präparator und dessen
                                  Arbeitskraft zurückgreifen.                       Helfern fachmännisch bearbeitet. Die Häute
                                                                                    und Hörner des Großwilds sowie Insekten
                                     Tierfänger und Fotograf
                                                                                    und Vögel werden konserviert und für den
                                     Auf die erste eigenständige Expedition, die    Weitertransport ins Deutsche Reich vor-
                                  dank seiner Tagebucheinträge sehr gut doku-       bereitet. Von diesen Trophäen erhoffen sich
                                  mentiert ist, begibt sich Carl Georg Schillings   deutsche Zoos und Naturkundemuseen einen
                                  in den Jahren 1899 bis 1900. Finanziert wird      wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Schil-
                                  diese Reise u. a. durch Landverkäufe oder         lings erhält von den verschiedenen Institutio-
                                  Beleihungen. Ihre Kosten belaufen sich auf ca.    nen regelrechte Auftragslisten.
                                  25.000 Goldmark (heute ungefähr 125.000                Insbesondere auf dem Gebiet der Tier-
                                  Euro). Die Jagd auf die heimischen Wildtiere      Fotografie erweist sich Schillings als Pionier,
                                  Ostafrikas – das Hauptziel dieser Reise – dient   denn ihm gelingt es als einem der Ersten, mit
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Spuren                                             Februar 2022 · Nummer 43                                                       7

                                                                                                   Kameraausrüstung für die
                                                                                                   berühmten Tierfotografien

seinen speziellen Apparaturen und selbstge-      gen, die mit nach Deutschland gebracht
bauten Fotofallen, sensationelle Aufnahmen       werden, soll Schillings nicht nur lebende Tiere
von unterschiedlichen Tieren in ihrer natür-     fangen, sondern insbesondere versuchen, die-
lichen Umgebung anzufertigen. Die benötigte      se in ihrem natürlichen Lebensraum zu foto-
Ausrüstung versucht er, bei allen folgenden      grafieren. Die Anfertigung solcher „Naturdo-
Reisen bestmöglich an die örtlichen Gegeben-     kumente“ ist damals noch völlig unbekannt.
heiten anzupassen.                               Zwar gibt es bereits Tier-Aufnahmen, dabei
    „Photographische Apparate“ sind bereits      handelt es sich jedoch meist um Standfotos
bei Schillings erster Expedition nach Deutsch-   von zahmen Haus- oder erlegten Wildtieren.
Ostafrika Bestandteil des Gepäcks. Im Gegen-     Schillings soll der Wissenschaft nun erstmals
satz zu seinen späteren Reisen entstehen aber    die Gelegenheit bieten, ostafrikanische Wild-
nur wenige Aufnahmen für private Zwecke.         tiere in ihrer natürlichen Umgebung zu be-
Bei den folgenden Expeditionen verlegt Schil-    trachten und darüber ihr Verhalten und ihre
lings den Fokus immer deutlicher vom Jagen       Lebensumstände zu erforschen.
auf das Erforschen und Sammeln. Der Direk-           Aufwand und Leistung, die Schillings und
tor des Zoologischen Gartens in Berlin hat in    seine Helfer für das Gelingen der Aufgabe er-
ihm eine revolutionäre Idee geweckt: Anstelle    bringen müssen, sind aus heutiger Sicht kaum
der üblichen Häute, Skelette und Zeichnun-       vorstellbar. Nicht nur müssen eine spezielle

                                                                                                   Schillingssaal in der Geweih-
                                                                                                   Ausstellung 1898 im Berliner
                                                                                                   Borsighaus
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8                           Nummer 43 · Februar 2022                                                           Spuren

     Flussüberquerung mit
    umfangreichem Gepäck

                            Kamera sowie eine bis dahin nicht existieren-      Naturschützer und Schriftsteller
                            de transportable Blitzlichtanlage entwickelt
                                                                                Seine umfangreiche Trophäensammlung
                            werden, die den Anforderungen der Expedi-
                                                                            zeigt er 1898 innerhalb einer Ausstellung in
                            tionen gewachsen sind, auch müssen bei der
                                                                            Berlin und verschenkt deren größten Teil an
                            Reise über Monate kistenweise Fotochemika-
                                                                            Kaiser Wilhelm II., wodurch das Königliche
                            lien sowie tausende empfindliche Glasplatten
                                                                            Museum für Naturkunde in der Hauptstadt
                            transportiert werden.
                                                                            des Deutschen Reichs neuer Besitzer wird. Zu-
                                Das Vorhaben gelingt: Schillings bringt
                                                                            dem hält Schillings öffentliche Vorträge, veröf-
                            sensationelle Aufnahmen von Antilopen,
                                                                            fentlicht einzelne Schriften und steht mit den
                            Hyänen, Löwen, Giraffen und zahlreichen
                                                                            führenden deutschen Zoologen in Kontakt.
                            anderen Wildtieren mit zurück, die in ganz
                                                                            Aus diesem Austausch entwickeln sich neue
                            Deutschland für Aufsehen sorgen und spä-
                                                                            Forschungsansätze: Die Wildtiere sollen nicht
                            testens durch seine Veröffentlichungen in
                                                                            nur geschossen und gefangen, sondern auch
                            der ganzen Welt bekannt werden. Für viele
                                                                            in ihrem natürlichen Lebensraum erkundet
                            Menschen bedeuten sie die erste Gelegenheit,
                                                                            werden. Mit seinem umfangreichen Wissen
                            die afrikanische Tierwelt mit eigenen Augen
                                                                            über die Fauna Ostafrikas gelangt Carl Georg
                            zu betrachten. Bis heute haben sich mehrere
                                                                            Schillings zu der Erkenntnis, dass der Mensch
                            hundert dieser Aufnahmen erhalten – ein
                                                                            diese reichhaltige Tierwelt zerstört und deren
                            fotografischer Schatz!
                                                                            Artenreichtum dadurch massiv bedroht
43 SpurenKostenlos zum Mitnehmen - Jäger, Forscher, Naturschützer
Spuren                                               Februar 2022 · Nummer 43                                                         9

ist. Fortan wird der Schutz dieser Tiere sein
Hauptanliegen. Er nimmt 1901 als einziger
Nichtfachmann an der Zoodirektoren-Konfe-
renz in Berlin teil und folgt als Experte einer
Einladung nach London zur ersten internatio-
nalen Wildschutzkonferenz.
    Im gleichen Jahr erkennt auch die Stadt
Düren den besonderen Wert der Trophä-
ensammlung ihres inzwischen berühmten
Sohnes und erwirbt sie. Ausgestellt wird sie
wenige Jahre später im neu erbauten Leo-
pold-Hoesch-Museum. Aus den gesammelten
Erfahrungen verfasst Schillings sogar einen
Entwurf für ein Jagdschutzgesetz. 1903 fließt
dieser Entwurf in neue Jagdschutzgesetze für
diese Kolonie ein.
    Im Frühjahr 1902 folgt die zweite Expe-
dition in den bereits vertrauten Teil Afrikas.
Jedoch zwingen lebensbedrohliche Erkrankun-
gen Schillings nach wenigen Monaten zum
Abbruch und zur Rückkehr nach Deutsch-
land. Bereits Anfang 1903 erfolgt Carl Georg
Schillings‘ dritte und letzte Expedition nach
Deutsch-Ostafrika. Dieser einjährige Aufent-
halt dient neben der fotografischen Arbeit
auch dem Fang lebendiger Tiere für den
Zoologischen Garten in Berlin. So finden u. a.
ein junges Nashorn, ein Stachelschwein und
mehrere Löwen dort ein neues Zuhause.
    Auf dem Weyerhof besuchen zahlreiche
Verwandte und Bekannte den Reiserück-
kehrer, die neben den vielfältigen Trophäen,
besonders von seinen abenteuerlichen Erzäh-
lungen begeistert sind. Immer häufiger wird       er bedrängt, seine Erlebnisse festzuhalten und       „Abschussgenehmigung“ zu
                                                                                                       „wissenschaftlichen Zwecken“
                                                  ein Buch zu veröffentlichen. Die Schriftstelle-
                                                                                                       für Carl Georg Schillings auf
                                                  rei ist Schillings nicht fremd, bereits 1887 hat     seiner dritten Expedition
                                                  er erste Texte in einer Jagdzeitschrift veröffent-
                                                  licht. Sein Artikel „Jagd auf Raubvögel mit
                                                  Hilfe des abgerichteten Uhus“ hat sogar so
                                                  viel Beachtung gefunden, dass er 1889 unter
                                                  dem Pseudonym „Hermit“ in einer französi-
                                                                                                       Karikatur 1909 in einer Berliner
                                                  schen Übersetzung erschienen ist. Die ersten
                                                                                                       Zeitschrift mit der Unterschrift:
                                                  Sätze über seine Expeditionen nach Deutsch-          „Heiliger Schillings!“
                                                  Ostafrika bringt Schillings aber erst 1904 zu        Gewiss, Vogelschutz ist schön.
                                                                                                       Aber Straussfedern sind n o c h
                                                  Papier. Ausschlaggebende „Motivation“ ist
                                                                                                       schöner!
                                                  seine inzwischen prekäre finanzielle Situa-
                                                  tion: Die Afrika-Reisen haben einen Großteil
                                                  seines Vermögens verschlungen. Einnahmen
                                                  hat er nur durch Vorträge und Verkäufe von
                                                  Trophäen an Museen sowie lebenden Tieren
                                                  an Zoos. Das reicht auf die Dauer nicht aus,
                                                  denn die Expeditionen haben insgesamt ca.
                                                  100.000 Goldmark (heute ca. 500.000 Euro)
                                                  gekostet.
                                                      Im Herbst 1904 beginnt Schillings mit der
                                                  Arbeit an einem ersten Buch „Mit Blitzlicht
                                                  und Büchse“, das 1905 im Verlag R. Voigt-
                                                  länder erscheint. Das Werk soll vor allem der
43 SpurenKostenlos zum Mitnehmen - Jäger, Forscher, Naturschützer
10                               Nummer 43 · Februar 2022                                                          Spuren

                                 Verbreitung der einmaligen Tierfotografien       ist am 1. Februar 1899 von Lina Hähnle in
                                 dienen. Es wird ein durchschlagender Erfolg:     der Stuttgarter Liederhalle gegründet worden
                                 Die erste Auflage ist bereits wenige Monate      und kämpft für den Schutz einheimischer
                                 nach der Veröffentlichung vergriffen. Die        Vögel. Carl Georg Schillings hat Lina Hähnle
                                 Einnahmen retten Schillings aus seiner ange-     und ihren Mann nach seiner ersten Afrika-
                                 spannten finanziellen Situation. Noch vor der    Expedition kennengelernt und drückt seine
                                 Drucklegung einer neuen Auflage des Erst-        Unterstützung für den Vogelschutz vor allem
                                 werks folgt das zweite Buch „Der Zauber des      in diversen Veröffentlichungen aus, die der
                                 Elelescho“. 1910 werden beide Bände zusam-       Veranschaulichung der zahlenmäßigen Aus-
                                 men in einer Volksausgabe veröffentlicht. Der    beutungen, dem Aufruf zum Artenschutz und
                                 Erfolg der Bücher bleibt über die Jahrzehnte     der Nennung bedrohter Tierarten dienen.
                                 bestehen: Bis in die 1950er Jahre werden sie
                                                                                     Das Ende eines bewegten Lebens und
                                 immer wieder neu aufgelegt und verkaufen
                                                                                  der lange Weg der Schillings-Sammlung
                                 sich weit über 100.000 mal. Die englische
                                 Übersetzung „Flashlights in the Jungle“, er-         Mit nur 55 Jahren stirbt Carl Georg Schil-
                                 reicht sogar den amerikanischen Präsidenten      lings, dieser vielschichtige und umtriebige
                                 Theodore Roosevelt, der Schillings einen an-     Mann, plötzlich und unerwartet, im Beisein
                                 erkennenden Brief schreibt.                      seiner Tochter, an jenem Januarabend 1921
                                     In den Jahren 1907 bis 1908 tritt Carl Ge-   in Berlin. Die Beisetzung seiner Urne erfolgt
                                 org Schillings in den Dienst des Auswärtigen     im Familiengrab in Gürzenich. Seine Samm-
                                 Amtes in Berlin und entwirft ein Jagdschutz-     lung an Trophäen und Fotografien ist zum
                                 gesetz für Deutsch-Ostafrika. Dieses Vorhaben    größten Teil noch erhalten und bis heute ein
                                 scheitert jedoch am großen internen Wider-       wichtiges Zeugnis seiner Zeit und somit ein
                                 stand und so beendet Schillings enttäuscht       großer Schatz für die Forschung. Doch nicht
                                 seine dortige Tätigkeit.                         nur in Wissenschaftskreisen ist man an diesem
                                     Eine fünfte Reise auf den afrikanischen      Schatz interessiert – auch die Öffentlichkeit
                                 Kontinent geht 1911/12 nicht über die            strömt über die Jahre immer wieder herbei,
                                 Planungsphase hinaus. Weiterhin versucht         um sich die Präsentationen der Schillings-
                                 Schillings, durch die Veröffentlichungen         Sammlung, deren Weg bis heute so manche
                                 „Die Tragödie des Paradiesvogels und des         Station vorweisen kann, anzuschauen.
                                 Edelreihers“ (1912) oder „Die Arche Noah“            1905 wird die Sammlung erstmals im ge-
                                 (1914) auf den Vogelschutz bzw. Artenschutz      rade neu erbauten Leopold-Hoesch-Museum
                                 aufmerksam zu machen. Er ist inzwischen          ausgestellt. Mangels vorhandener Lagerfläche
                                 engagiertes Mitglied im Deutschen Vogel-         wird sie nach den Wirren des Zweiten Welt-
                                 schutzbund, heute als Naturschutzbund            kriegs und der damit verbundenen Zerstörung
                                 Deutschland (kurz NABU) bekannt. Dieser          Dürens am 16.11.1944, der sie glücklicher-

Der Schillingsraum im Leopold-
               Hoesch-Museum
Spuren                                              Februar 2022 · Nummer 43                                                   11

weise entgangen ist, auf dem Speicher der         Mal zu sehen: Bereits 2009 bis 2011 wird sie
Ostschule deponiert. Dieser entpuppt sich         in den Räumlichkeiten an der Arnoldsweiler-
als völlig unzureichender Lagerort, denn die      straße präsentiert, muss aber schließlich aus
empfindlichen Objekte und Dokumente sind          Platzgründen wieder abgebaut werden.
dort Wind, Wetter und Dieben schutzlos aus-           In der aktuellen Ausstellung, die seit dem
geliefert. So „verschwinden“ wichtige Teile der   23. Januar 2022 zu sehen ist, werden einige
Sammlung auf Nimmerwiedersehen.                   Exponate erstmalig der Öffentlichkeit gezeigt,
    Erst der damalige Rektor der Ostschule        darunter auch verschiedene persönliche Be-
Rinkens beschäftigt sich eingehender mit dem      sitztümer von einem bis dato nie gewürdig-
„Dachboden-Schatz“ und dekoriert verschie-        ten Mann: Schillings Reisebegleiter Wilhelm
dene Bereiche der Schule mit ihm entnom-          Orgeich.
menen Exponaten. Unter Rektor Jüdermann
                                                    Präparator, Begleiter, Freund – der
wird die zu diesem Zeitpunkt stark in Mit-
                                                  Gürzenicher Wilhelm Orgeich
leidenschaft gezogene Sammlung in einem
Kooperationsprojekt mit Schülerinnen und              Wilhelm Orgeich wird am 23. April 1863
Schülern gesäubert, gesichert und im Schulge-     als Sohn des Schreiners Johann Orgeich und
bäude ausgestellt. 1979 übergibt Jüdermanns       seiner Ehefrau Margarethe geboren. Ur-
Nachfolger die Sammlung offiziell wieder dem      sprünglich als Gärtner auf dem Anwesen
Leopold-Hoesch-Museum. 1985 nimmt sich            der Familie Schillings, dem Weyerhof in
schließlich der damalige Rektor der Haupt-        Gürzenich, beschäftigt, begleitet Orgeich als
schule Gürzenich, Rolf Terkatz, ihrer an.         Mitglied der Expeditionen 1899 bis 1900 und
Unter tatkräftiger Unterstützung der damali-      1903 bis 1904 Carl Georg Schillings nach
gen Leiterin des Leopold-Hoesch-Museums,          Deutsch-Ostafrika (heute Tansania). Vom
Dr. Dorothea Eimert, richtet er in einem          Reisegefährten entwickelt er sich dabei u. a.
Kellerraum der Schule ein kleines „Schillings-    zu Schillings Krankenpfleger, der sich um ihn
Museum“ ein, das noch vielen Schülerinnen         kümmert, wenn er wegen seiner Malaria-In-
und Schülern in Erinnerung sein dürfte.           fektion gepflegt werden muss. Er dient ihm als
    Die erste größere Schillings-Ausstellung      Assistent beim Kontrollieren und Einholen der
außerhalb von Düren findet 1968 in den            in der Nacht von Wildtieren selbst belichteten
Räumen der Stadtsparkasse Aachen statt.           Fotoplatten, ist als Tierfänger und -pfleger tä-
Im Folgenden werden zahlreiche namhafte           tig und verantwortlich für die Präparation der
Museen und Einrichtungen in ganz Deutsch-         geschossenen Tiere und deren Häute.
land auf die faszinierenden Exponate aufmerk-         Bereits auf dem Weyerhof hat sich Orgeich
sam. So wandern Teile der Sammlung als            an den Vorbereitungen zum Gelingen der
Leihgaben in immer neue Ausstellungen, die        Nachtaufnahmen beteiligt. Wo er das schwie-
vor allem in Naturkunde- und Kunstmuseen          rige Handwerk des Präparators gelernt hat, ist     Wilhelm Orgeich (li.) und Carl
gezeigt werden. Das renommierte Zoologi-          unbekannt. Wahrscheinlich hat er sich die ers-     Georg Schillings
sche Forschungsmuseum Alexander Koenig
in Bonn ist 1969 ebenfalls eine der ersten
Institutionen, die große Teile der Schillings-
Sammlung präsentiert. Auch das Naturkunde-
museum in Karlsruhe, das Essener Folkwang-
Museum und das Wallraf-Richartz-Museum
in Köln reihen sich ein in die Riege der
Schauorte. Seit 1997 werden einige Exponate
in der Ausstellung der Stiftung Naturschutz
auf der Drachenburg auf dem Drachenfels bei
Königswinter gezeigt. Sie heben vor allem Carl
Georg Schillings‘ Rolle bei der Entwicklung
des Naturschutzes in Deutschland hervor.
    Auch in Düren selbst zeigt man immer
wieder großes Interesse an der Schillings-
Sammlung. 1986 wird sie im Rahmen einer
Ausstellung in den Räumen der Stadtsparkas-
se Düren gezeigt. 2001, im „Jahr des Sam-
melns“, stellt das Leopold-Hoesch-Museum
zahlreiche Exponate aus. Auch im Stadtmu-
seum Düren ist sie aktuell nicht zum ersten
12                                 Nummer 43 · Februar 2022                                                             Spuren

                                                                                      sischen ist die offizielle deutsche Kolonial-
                                                                                      geschichte verhältnismäßig kurz. Obwohl der
Schon von Krankheit gezeichnet:                                                       Ruf nach eigenen Kolonien spätestens seit den
        Schillings im Jahre 1918                                                      1840er Jahren immer lauter erschallte, wurde
                                                                                      erst 1884 mit „Deutsch-Südwestafrika“ (heute
                                                                                      Namibia) der Grundstein für das (flächenmä-
                                                                                      ßig) drittgrößte Kolonialreich gelegt. Noch im
                                                                                      gleichen Jahr folgten weitere Gebiete in West-
                                                                                      und Ostafrika.
                                                                                          Obwohl Reichskanzler Otto von Bismarck
                                                                                      kolonialen „Erwerbungen“ skeptisch gegen-
                                                                                      überstand, wurden unter seiner Kanzlerschaft
                                                                                      die meisten getätigt. In Afrika waren das u. a.
                                                                                      die Gebiete der heutigen Staaten Togo, Kame-
                                                                                      run, Tansania und Namibia. Die Kolonien be-
                                                                                      zeichnete er als „Schutzgebiete“, wobei damit
                                                                                      der Schutz des deutschen Handels gemeint
                                                                                      war und nicht etwa der Schutz der lokalen
                                   ten Kenntnisse in seiner Zeit als Jäger angeeig-
                                                                                      Bevölkerung. Während Bismarck die Kolonien
                                   net. Für seine Arbeit erhält er häufig höchstes
                                                                                      als Handelsstützpunkte betrachtete, sah der
                                   Lob. So heißt es in einem Schreiben des Vor-
                                                                                      Deutsche Kolonialverein sie als Erweiterung
                                   standes des Königlichen Naturalien-Cabinets
                                                                                      des deutschen Herrschaftsbereichs. Eine Orts-
                                   in Stuttgart aus dem Mai 1900: „Ich habe die
                                                                                      gruppe dieser Organisation wurde übrigens
                                   Ehre Ihnen mitzuteilen, dass S. M. der König
                                                                                      schon 1884 auch in Düren gegründet.
                                   von Württemberg allergnädigst geruht haben,
                                                                                          Der wirtschaftliche Nutzen rückte gegen-
                                   Ihnen die silberne Civil-Verdienst-Medaille
                                                                                      über den politischen Zielen in den Hinter-
                                   zu verleihen in Anerkennung der Mühe und
                                                                                      grund. Ein „Wettrennen nach Kolonialbesitz“
                                   Sorgfalt, mit welcher Sie die Präparation und
                                                                                      begann.
                                   Conservierung der von Herrn Schillings in
                                                                                          Als Siedlungsgebiete blieben die deutschen
                                   Afrika erlegten Tiere durchgeführt haben.“
                                                                                      Kolonien unbedeutend. Bis 1914 ließen sich
                                       Über die Jahre wird Orgeich zum treuen
                                                                                      gerade einmal 23.000 Menschen dort nieder.
                                   Freund für Schillings. Dieser bedenkt ihn so-
                                                                                      Der Besitz der Kolonien sollte Vormacht-
                                   gar großzügig in seinem Testament, hinterlässt
                                                                                      stellung und „Weltgeltung“ des Deutschen
                                   ihm neben einer großen Summe Bargeld und
                                                                                      Reichs vergrößern. Auf seinem Höhepunkt
                                   diversen persönlichen Besitztümern u. a. seine
                                                                                      war die deutsche Kolonialmacht nach Groß-
                                   goldene Uhr, in die er die Inschrift „Für aus-
                                                                                      britannien, Frankreich und den Niederlanden
                                   gezeichnete Dienste in Dankbarkeit“ gravieren
                                                                                      die viertgrößte der Welt. Deutsche Interessen
                                   lässt. Nach Schillings‘ Tod ist Orgeich wieder
                                   als Gärtner auf dem Weyerhof tätig.
                                       Wilhelm Orgeich stirbt am 22. Februar
                                   1954 im Alter von nahezu 91 Jahren. Die
                                   Ausstellung „Jäger, Forscher, Naturschützer
                                   – Auf den Spuren von Carl Georg Schillings“
                                   beleuchtet erstmalig auch sein Leben und
                                   Wirken in verschiedenen Fotografien und
                                   persönlichen Besitztümern, die dem Stadtmu-
                                   seum als Leihgaben seiner Nachkommen zur
           Sogenannte „Askari“
         (arabisch: „Soldaten“)    Verfügung gestellt wurden.
   beschützten die Expeditionen
                                      Deutsche Kolonialgeschichte ab dem
                                   19. Jahrhundert – ein Überblick

                                      Man kann nicht die Geschichte Carl Georg
                                   Schillings erzählen, ohne sich mit der deut-
                                   schen Kolonialgeschichte auseinanderzuset-
                                   zen, die es dem Gürzenicher überhaupt erst
                                   ermöglichte, die damalige Kolonie Deutsch-
                                   Ostafrika zu bereisen und deren Unrechtssys-
                                   tem ihm so manche Tür geöffnet hat:
                                      Im Gegensatz zur britischen oder franzö-
Spuren                                             Februar 2022 · Nummer 43                                                  13

                                                                                                   Parade deutscher „Schutztrup-
                                                                                                   pen“ in Afrika

wurden in allen Kolonien mit brutalsten Mit-         Immer wieder kam es zu Auf- und Wider-
teln, sogar bis zum Völkermord, verteidigt.      ständen der lokalen Bevölkerung gegen die
    Vor der Kolonisierung Deutsch-Ostafrikas     koloniale Fremdherrschaft, nicht nur auf dem
bestimmten die arabischstämmigen Einwoh-         Gebiet des heutigen Tansania. 1904 erhoben
ner an der Küste den Handel. Gewinne warf        sich in Deutsch-Südwestafrika (heute Nami-
dabei vor allem ein ausgedehnter Sklavenhan-     bia) die Herero, denen sich wenig später die
del ab. Als diese Gruppe ab 1885 zunehmend       Nama anschlossen. Sie griffen Plantagen und
an Einfluss verlor, kam es immer häufiger zu     Ortschaften an und ermordeten dabei über
gewaltsamen Widerständen, die durch die          120 Menschen. Die deutschen „Schutztrup-
deutschen Kolonialisten blutig niedergeschla-    pen“ nahmen grausame Rache und agierten
gen wurden. Auch Angehörige der Bantu            mit einer bis dahin unbekannten Brutalität.
widersetzten sich der Unterdrückung durch        Bis Ende 1907 töteten sie – einem Vernich-
die Kolonialherrschaft und kämpften gegen        tungsbefehl folgend – nahezu zwei Drittel der
die deutschen „Schutztruppen“, die aus Söld-     Herero-Bevölkerung und etwa 10.000 Nama,
nern aus dem Sudan und Portugiesisch-Afrika      was rund die Hälfte dieser Volksgruppe aus-
(heute Mozambique) und deutschen Offizie-        machte. Der Aufstand gilt heute als erster Völ-
ren bestanden. Diese „Askari“ (arabisch „Sol-    kermord des 20. Jahrhunderts, doch erst im
daten“) galten als tapfer und treu. Sie wurden   Jahr 2021 hat der Deutsche Bundestag dieses
von der deutschen Kolonialverwaltung dafür       Verbrechen offiziell als Völkermord anerkannt
bezahlt, die lokale Bevölkerung unter Kont-      – ein Zeichen für die späte Auseinanderset-
rolle zu bringen. Spätestens ab 1890 gab es      zung Deutschlands mit dem unbequemen
Unterwerfungsfeldzüge bis ins Hinterland der     Thema kolonialer Schuld.
Kolonie.                                             1905 begann in Deutsch-Ostafrika der
                                                 sogenannte „Maji-Maji-Krieg“, bei dem sich
                                                 mehr als zwanzig verschiedene Volksgruppen
                                                 vereinten, um gegen die Fremdherrschaft zu
                                                 kämpfen. Die deutschen Truppen, die waffen-
                                                 technisch deutlich überlegen waren, reagier-
                                                 ten mit der „Strategie der verbrannten Erde“:
                                                 Sie vernichteten Dörfer und Felder, um die
                                                 Moral der Bevölkerung zu brechen und ihr die
                                                 Lebensgrundlage zu entziehen. Den Kampf
                                                 führten auch hier „Askari“. Schätzungen zu-
                                                 folge starben etwa 300.000 Menschen durch
                                                 Gewalt und Hunger. Zahlreiche Widerständler
                                                 wurden hingerichtet. Ihre Schädel und Ge-
                                                 beine schickte man „zu Forschungszwecken“
                                                 nach Deutschland. Bis heute lagern mehr als
                                                 1.000 Schädel von Widerstandskämpfern aus
                                                 Deutsch-Ostafrika allein im Zentraldepot der
                                                 Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
                                                     Zwar wurde die Sklaverei in den deutschen
                                                 „Schutzgebieten“ seit 1905 per Gesetz des
                                                 Reichstags aufgehoben, doch das heißt nicht,
14   Nummer 43 · Februar 2022                                                                        Spuren

     dass die lokale Bevölkerung auf den Planta-       sein der Deutschen nimmt die koloniale
     gen keine Sklavenarbeit verrichten musste.        Vergangenheit und die daraus resultierende
     Die eingesetzten Arbeiter*innen verdienten        Verantwortung bisher nicht den Raum ein,
     durchaus Geld, das sie aber mitnichten behal-     der ihr zukommen muss. Die gründliche his-
     ten durften, sondern umgehend als Steuern         torische Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels
     wieder abzuführen hatten – an die deutsche        deutscher Geschichte steht noch aus.
     Kolonialverwaltung. Körperliche Misshand-
                                                       Quellen:
     lungen und das Anketten waren durchaus üb-
                                                       Becker, Manfred: Bwana Simba – Der Herr der Löwen. Carl
     lich. Der Besitz von persönlichen Haussklaven         Georg Schillings. Forscher und Naturschützer in Deutsch-
     sollte erst ab 1920 untersagt sein, doch die          Ostafrika, Düren 2008.
                                                       Eimert, Dr. Dorothea: Frühe Sammlungen. In: 100 Jahre
     30-jährige Gewaltherrschaft der Deutschen             Leopold-Hoesch-Museum. 100 Jahre Museumsverein
     endete ein Jahr zuvor.                                Düren. Herausgegeben von Dorothea Eimert und Irmgard
                                                           Gerhards, Düren 2005, S. 70f.
         Als nach dem Ersten Weltkrieg der Ver-        Terkatz, Rolf: Geschichte der Schillingssammlung. In: 100 Jah-
     sailler Vertrag geschlossen wurde, musste             re Leopold-Hoesch-Museum. 100 Jahre Museumsverein
                                                           Düren. Herausgegeben von Dorothea Eimert und Irmgard
     Deutschland seine Kolonien in Afrika, Ozea-           Gerhards, Düren 2005, S. 72f.
     nien und Asien wieder abgeben. Doch die           https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/bild_
                                                           und_raum/detail/resist.html
     Spuren – und Narben – des deutschen Kolo-
                                                       http://rjm-resist.de/
     nialreiches sind in den betreffenden Ländern
     bis heute zu finden. Im allgemeinen Bewusst-

     Ehrenbürger gerettet!
         Am 5. September veröffentlichten wir in       veranlasst hatte. In einem „Der Dichter Josef
     der „Zeitung am Sonntag“ in unserer Reihe         Schregel kennzeichnet das Naziblatt“ über-
     „Geschichten aus dem Stadtmuseum“ ei-             schriebenen Artikel ging die „Neue Zeit“ auf
     nen Artikel „Erinnerungen an jüdisches Le-        die gängige Praxis des NS-Blattes ein, sich
     ben in Düren“, der mit einem Gedicht von          ohne Rücksicht auf Urheberrechte an frem-
     Josef Schregel abschloss. Dieses Gedicht          den Texten zu bedienen. Es wäre total verlorene
     mit dem Titel „Am Meer“ behandelte in             Mühe, die Spitzbuben geistigen Eigentums des
     durchaus gehässigem Ton die angeblichen           Naziorgans zu journalistischem Anstand zu be-
     Reichtümer der deutschen Juden, gepaart           wegen, kommentierte die Redaktion. Aller-
     mit der Aufführung gängiger Klischees,            dings richtete sie an Schregel den Vorwurf,
     und endete mit der Wunschvorstellung,             sich nicht umgehend gewehrt zu haben. Er hat
     das Meer möge sie alle hinwegspülen.              es versäumt, das Naziblatt sofort zur Ordnung
         Zitiert hatten wir das Gedicht nach einer     zu rufen. Wir haben eine volle Woche gewartet,
     Ausgabe der „Neuen Zeit“, einer sozialde-         ehe unser Artikel als Echo auf das Gedicht zum
     mokratischen Zeitung, vom 3. November             Abdruck kam.
     1931. Unter der Überschrift „Der Dürener              In dem an die Redaktion gerichteten
     »Ehrenbürger« als Antisemiterich“ hatte das       Schreiben Schregels heißt es: Zu den Versen
     Blatt Bezug genommen auf die Veröffent-           „Am Meer“, welches Ihr Organ in der letzten
     lichung des Gedichts im NS-Organ „West-           Nummer aus dem „Westdeutschen Grenzblatt“
     deutsches Grenzblatt“ und kommentierte:           abdruckte, bemerke ich, daß die Veröffentlichung
     Ehrung und Anerkennung scheinen Schregel den      in dem nationalsozialistischen Blatt ohne mein
     Kopf verdreht zu haben. Von seiner bisherigen     Wissen und Willen geschah! […]
     vornehmen Warte steigt er tief hinunter in die        „Am Meer“ entstand vor mehr denn 40
     Niederung tendenziöser antisemitischer Hetzpro-   Jahren unter ganz andern Verhältnissen in
     paganda. […] Denn ausgerechnet die Aachener       Blankenberghe. Es war eine Jugendentgleisung
     »Westdeutsche Grenzpest« der NSDAP. benutzt       aus der Sturm- und Drangperiode … Ich erkläre
     der »Ehrenbürger« Schregel zu dem nachfolgen-     ausdrücklich, daß ich weder Antisemit noch
     den üblen Hetzgereime an Israel.                  Nationalsozialist bin …
         Vier Tage später folgte an gleicher Stel-         Auch wenn das Gedicht natürlich trotzdem
     le die Aufklärung der Angelegenheit. Josef        unerträglich ist – die aufgrund der Veröffent-
     Schregel hatte sich in einem Schreiben an         lichung anzunehmende Nähe zu den Natio-
     die Redaktion gewandt, in dem er klarstellte,     nalsozialisten kann man nach Vorstehendem
     dass er keineswegs die Veröffentlichung des       wohl ausschließen. Josef Schregel kann Ehren-
     Gedichts im „Westdeutschen Grenzblatt“            bürger der Stadt Düren bleiben.
Spuren                                             Februar 2022 · Nummer 43                                               15

Beim Blättern in Opas Album
Erinnerungen an Deutschlands Kolonialzeit
   Es ist manchmal schon erstaunlich, wie           Die Initialzündung dazu brachte der Berli- Von BEATE FÄHNRICH
eigentlich sehr unrobuste Dinge Jahr-           ner Kolonialkongress 1884, der den Versuch und BERND HAHNE
zehnte einschließlich zweier Weltkriege         unternommen hatte, die Interessensphären
unbeschadet überstehen können. Ein              der europäischen Mächte auf den anderen
Fotoalbum aus den ersten Jahren des 20.         Kontinenten abzustecken. Im gleichen Jahr
Jahrhunderts liegt vor uns, voll mit exoti-     erfolgte die Erklärung Togos, Kameruns
schen Fotografien und Postkarten aus einer      und Deutsch-Südwestafrikas zu deutschen
damals fast noch unbekannten Welt.                 „Schutzgebieten“, 1891 wird Deutsch-Ost-
                                                           afrika in Besitz genommen. In die-
    Eigentlich hatte Josef Theel                                 sen Gebieten waren schon län-
das Schuhmacherhandwerk                                             ger deutsche Unternehmen
gelernt, aber 1912, mit 19                                             tätig, meist im Handel
                                                                                                  Josef Theel
Jahren, reist er nach in-                                                oder in der Ausbeutung
fanteristischer Grund-                                                     von Bodenschätzen.
ausbildung als Schuh-                                                           Besondere
machersgast, so sein                                                         Faszination übten
offizieller Dienst-                                                           aber die Gebiete
grad, auf dem                                                                  in der Südsee aus:
Ablösetransporter                                                              Bismarckarchi-
Patricia (Hapag)                                                               pel, Marianen,
von Wilhelmshaven                                                              Mar­schallinseln,
über Gibraltar durch                                                           Karolinen, Palau-
das Mittelmeer, den                                                           inseln, Teile von
Suezkanal, das Rote                                                          Neuguinea, Salomo-
Meer, den Golf von                                                         nen – vor allem aber
Aden in den Indischen                                                     Samoa.1 Nicht nur in
Ozean über Colombo auf                                                  der schon 1884 gegrün-
Ceylon und Singapur nach                                             deten Ortsgruppe Düren
Hongkong, Shanghai und                                             des Deutschen Kolonialver-
Tsingtau. Dort, in der Werft des                              eins,2 sondern wahrscheinlich
deutschen Stützpunkthafens, wechselt                   in großen Teilen der Bevölkerung           Besatzung der „Cormoran“ mit
die Besatzung auf die S.M.S. Cormoran, mit      herrschten Vorstellungen vom Leben dort, die      Offizieren
der sie zwei Reisen unternimmt:
    1. Reise: 8.7.1912 – 3.3.1913. Tsingtau –
Japan – Carolinen Inseln – „Kaiser-Wilhelms-
Land” auf Neu-Guinea – Salomon-Inseln –
Sydney – Tasmanien – Adelaide – Melbourne
– Neuseeland – Samoa – Fiji Inseln – Sydney
    2. Reise: 21.4.1913 – 29.11.1913. Sydney
– Fiji Inseln – Samoa – Sydney – Neu-Guinea
– Carolinen Inseln - Jap
    Die Reisen gehen also auch an verschiede-
ne Orte des damaligen deutschen Kolonial-
reiches, das neben Gebieten in Afrika (Togo,
Kamerun, Deutsch-Ostafrika und Deutsch-
Südwestafrika) auch einige Inselgruppen in
der Südsee umfasste. Mit seinen 2,6 Millio-
nen Quadratkilometern und 14 Millionen
„Untertanen“ nahm sich das im Vergleich zu
anderen Kolonialmächten wie Großbritannien
oder Frankreich relativ bescheiden aus, aber
immerhin hatte man sich auch einen „Platz
an der Sonne“ gesichert.
16                               Nummer 43 · Februar 2022                                                         Spuren

Erhaltene Karte mit Reiseroute   hart kontrastierten mit der eigenen Erfahrung   besonders für die einfachen Mannschaften.
(blaue Linien) 1913
                                 von 14stündigem Arbeitstag in lauten und        Schließlich war man nicht auf Erholungsreise,
                                 dreckigen Fabriken, von Hunger und engen        sondern als Teil der stetig wachsenden Kaiser-
                                 Wohnungen und nicht zuletzt von kalten und      lichen Marine unterwegs.
                                 dunklen Wintern.                                    Beate Fähnrich aus Langerwehe hat als
                                    Und nun hatte man als 19jähriger Bursche     Kind immer wieder mit roten Ohren den
                                 die Gelegenheit, all diese traumhaften Orte     Erzählungen ihres Großvaters, eben jenes Josef
                                 der Welt kennenzulernen. Sicher, das Leben      Theel, gelauscht, hat fasziniert die Tätowie-
                                 an Bord eines Kriegsschiffes mag durchaus       rung auf seinem Unterarm, eine „Geisha aus
                                 hart und entbehrungsreich gewesen sein,         Kobe“, bewundert und die mitgebrachten
Spuren                                             Februar 2022 · Nummer 43                                               17

Fotos und Postkarten bestaunt. Und irgend-
wann hat sie die Erinnerungen an diese Ge-
spräche aufgezeichnet:
    Das Deutsche Kaiserreich besaß seit Ende
des 19. Jhdts. Kolonien in Afrika, Ostchi-
na und im Pazifik, die alle nach dem Ersten
Weltkrieg verloren gingen. Das Ostasien-
geschwader spielte bei der Sicherung des
Kolonialanspruchs eine große Rolle. Es sollte
die Interessen des Deutschen Kaiserreiches
durchsetzen und die Handelsniederlassungen
und Plantagen sichern, die sich dort im Laufe
des Jahrhunderts etabliert hatten. Begehrtes
Produkt war vor allem Kopra, das Frucht-
fleisch der Kokospalme zur Ölgewinnung.
Daneben wurden Kakao, Kautschuk, Kaffee
und Tabak angebaut, auch unter Ausbeutung
von Melanesiern, Indern und Chinesen. Die
langen Expeditionen der S.M.S. Cormoran in
der Südsee dienten allerdings vor allem Ver-     Kopf zu rasieren und sie anschließend in einen   Waschtag auf der „Cormoran“

messungsaufgaben an den Küsten. Wir Kinder       Wasserbottich zu tauchen.
waren naturgemäß weniger an den historischen        Unser Großvater erzählte auch lebhaft und
Zusammenhängen interessiert, sondern eher        bisweilen dramatisch von schwerem Seegang
an dem Abenteuer, das unser Opa in so jungen     mit hohen Wellen, die das Schiff ins Wanken
Jahren erlebt hatte.                             brachten. Um Kohle einzusparen, fuhr die
    Deshalb lauschten wir besonders, wenn er     Cormoran bei günstigem Wind unter Segel.
von der Äquatortaufe erzählte. Jeder Matrose,    Er bedauerte immer noch die „armen Jungen,
der zum ersten Mal den nullten Breitengrad       die Kleinsten, die Toppgasten“, die hoch in
kreuzte, musste sich diesem Ritual unter-        das Krähennest klettern mussten. Von die-
ziehen. Die Mannschaft versammelte sich an       sem Mastkorb aus hielten sie Ausschau nach
Bord, um auf die Ankunft des Meeresgottes        anderen Schiffen und Land oder inspizierten
Neptun nebst (männlicher) Gemahlin und           die Segel.
Gefolge zu warten. Sie erschienen alle persön-      Das Bordleben war alles andere als ro-
lich mit lautem Getöse, Neptun mit langem        mantisch. So mussten die Seeleute sehr hart
Bart, wallendem Gewand und seinem Drei-          arbeiten und zum Beispiel ihre Wäsche selber
zack. Dann ließ er befehlen, den Seeleuten den   waschen. Unser Opa war als Schuhmachersgast

                                                                                                  Äquatortaufe
18                       Nummer 43 · Februar 2022                                                          Spuren

      Bucht auf Samoa    unter anderem für die Schuhe der Matrosen       die auf die deutschen Matrosen sehr exotisch
                         zuständig. Wir waren erstaunt, dass man sich    gewirkt haben müssen. Wesentliche Lebens-
                         als Spielgefährtin eine Katze hielt.            grundlagen waren neben dem Anbau vor allem
                             In seinen lebendigen Erzählungen            die Jagd und der Fischfang.
                         schmückte er auch gerne aus, dass es auf            Besonders auf der 2. Reise kreuzt die
                         den entlegenen Südseeinseln die Order des       S.M.S. Cormoran immer wieder vor Neu–
                         Kapitäns gab, beim Landgang nur zu zweit        Guinea und den zahlreichen kleinen und
                         und bewaffnet zu sein, wegen der gefährlichen   größeren Südseeinseln. Dabei gerät das Schiff
                         „Ureinwohner“, unter denen es Kannibalismus     in einen Taifun und läuft nahe Samoa auf ein
                         geben sollte. War das nur Seemannsgarn?         Riff. Es wird nur notdürftig flott gemacht und
                             Auf der langen Reise durch die Südsee er-   liegt später einen Monat lang mit verbogenem
      Landgang auf der   gaben sich bei Landgängen immer wieder inte-    Ruder in Sydney im Trockendock zur Repa-
     Kokusnussplantage   ressante Begegnungen mit den Einheimischen,     ratur. Im Januar 1913 ist es wieder in Apia
                                                                         auf Samoa. Ob Josef Theel hier von „seinem“
                                                                         Samoa-Mädchen Abschied genommen hat,
                                                                         bevor er auf dem Schwesterschiff S.M.S.
                                                                         Condor nach Hause fuhr? Jedenfalls landet die
                                                                         veraltete Cormoran später in Tsingtau, wo der
                                                                         abgetakelte Rumpf am 28.9.1914 während des
                                                                         Krieges von der eigenen Besatzung versenkt
                                                                         wird.
                                                                             In der Zwischenzeit ist der Erste Weltkrieg
                                                                         ausgebrochen und Opa Josef Theel wieder
                                                                         zurück in seiner Heimat. Er war am 19.3.1914
                                                                         auf der S.M.S. Condor unter seinem Kapitän
                                                                         Konrad Mommsen nach mehrmonatiger Fahrt
                                                                         aus der Südsee nach Wilhelmshaven gereist.
                                                                         Von dort ging es durch den Kaiser-Wilhelm-
                                                                         Kanal über Kiel nach Danzig, wo das veraltete
                                                                         Schiff wegen starker Abnutzung des Rumpfes
                                                                         am 30. März 1914 abgetakelt und außer Dienst
                                                                         gestellt wurde.
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