ADHS wirkt sich auch auf die Lebenserwartung aus

 
WEITER LESEN
ADHS wirkt sich auch auf die Lebenserwartung aus
Gastbeitrag

                         Foto: privat
                                                               Russel A. Barkley

ADHS wirkt sich auch auf die
Lebenserwartung aus
In über 40 Jahren Forschung über ADHS und die damit ver-       Im Verbund mit den gut bekannten Risiken wie Beeinträchti-
wandten Störungen habe ich beobachtet, wie sich ein die        gungen, ein Auto zu führen, antisozialen Aktivitäten, reaktiven
Kindheit einschränkendes und relativ gutartiges Problem des    Aggressionen und Gewalt in ihren Beziehungen reduzieren alle
erhöhten Bewegungsdrangs (Hyperaktivität) hin zu einer Stö-    diese Risiken ihre Lebenserwartung im Vergleich zur Normalbe-
rung des Zuschauens und Zuhörens (Aufmerksamkeitsstörung)      völkerung. Im Durchschnitt sind es neun bis 13 Jahre weniger.
entwickelt hat. Dies hat nachteilige Konsequenzen für den      Bei mindestens einem Drittel kann sogar von einer Reduktion
Lernerfolg von Kindern und entwickelte sich weiter zu einem    der Lebenserwartung von 20 Jahren ausgegangen werden.
Problem der Exekutivfunktionen und Selbstregulierung. Es
betrifft mit hoher Beständigkeit während der gesamten Ent-     Solche Zahlen sind atemberaubend, da sie fast jeden anderen
wicklung nicht nur das Lernen, sondern viele weitere Funkti-   Einzelrisikofaktor (Adipositas, Fehlernährung, Rauchen, Alkohol,
onsbereiche.                                                   Schlafstörungen), der den Gesundheitsbehörden zufolge die
                                                               Lebenserwartung beeinflusst, übertrifft. Warum? Weil ADHS die
Es wird inzwischen als eine ernsthafte und beeinträchtigende   Prädisposition für alle diese sowie weitere schlechten Lebens-
Störung angesehen und als eine der höchsteinschränkenden       gewohnheiten ist.
psychischen Störungen eingestuft, die ambulant behandelt
werden. Trotzdem wurde ADHS in der vergangenen Dekade,         Dieses Heft befasst sich mit dem Stand der Forschung von
und insbesondere in den vergangenen Jahren, nicht als eine     ADHS, seiner Diagnose, und Behandlung, und warum es zuneh-
primäre psychische Störung angesehen, sondern als eine Stö-    mend offensichtlich ist, dass es offenkundig als Störung der
rung der öffentlichen Gesundheit (public health disorder).     Volksgesundheit (chronic public health disorder) betrachtet
                                                               werden muss und nicht nur als Geistesstörung (mental health
Warum ist das so?                                              disorder), wofür es lange angesehen wurde.
Weil eine zunehmende Evidenz zeigt, wie negativ die Auswir-
kungen bei unbehandeltem ADHS in Belangen der Gesundheit, Mein Kompliment geht an die Herausgeber und die Autoren,
dem Lebensstil und Wohlbefinden und Gesundheitspflege die diese wichtigen Informationen zusammengetragen haben,
(medical hygiene) sind.                                         die Fachleute zum Verständnis benötigen, wenn sie Behandlun-
                                                                gen für Patienten mit ADHS anbieten.
Patienten, die mit ADHS aufwachsen, sind im Vergleich zu
Gleichaltrigen fast doppelt so häufig gefährdet, in ihrer Kind-
heit bei Unfällen und mehr als viermal so häufig gefährdet im
mittlerem Lebensalter aufgrund von Unfällen, Missgeschicken
und sogar Selbstmord zu sterben.
                                                                Russel A. Barkley, Ph. D.
Patienten mit ADHS sind auch doppelt so häufig gefährdet, als Professor für Psychiatrie am Behandlungszentrum für Kinder
junge Erwachsene eine Adipositas zu entwickeln. Sie neigen zu im Klinikum der Virginia Commonwealth Universität
ungesunder Ernährung, leiden an Schlafstörungen, treiben in Richmond, Virginia.
weniger Sport und haben ein erhöhtes Risiko zum Tabak Rau-
chen und zum exzessivem Konsumieren von Alkohol und ande- Russel A. Barkley gilt als weltweiter Experte im Bereich der
ren Rauschmitteln.                                              Kinder- und Jugendpsychiatrie beim Thema ADHS.

 10   Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019
ADHS wirkt sich auch auf die Lebenserwartung aus
Schwerpunkt

 Foto: Peters

ADHS ist keine M ode -K rank heit, sonder n war bereits im 18. Jahr hunder t bek annt. Wie beispielsweise beschr ieben in:
M.A. Weik ard, D er Philosophische Ar zt, erste Auflage 1775, Linz, gedruckt bei Johann Thomas Edlen von Trattner r, k .k .
Hofbuchdruck e r, u n d Ho fb u c h h ä n d ler n .

ADHS: Medizinhistorische Entwicklung
Helmut Peters

                Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (AD[H]S) mit einer weltweiten Prävalenz von 5,3 Prozent ist eine häufige chroni­-
                sche Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen; die Persistenz bis in das Erwachsenenalter beträgt bis zu 80 Prozent.
                Deshalb sollte es jedem Kinderarzt, Hausarzt, Kinder- und Jugendpsychiater, Neuropädiater, Psychiater und Neurologen
                gut bekannt sein.
                Das Thema der mangelnden Aufmerksamkeit, Unkonzentriertheit und Vergesslichkeit beschäftigt unsere Gesellschaft
                seit vielen Jahrhunderten. Es steht in engem Zusammenhang mit unserer Sozialisation.

1717, am 28. September, führte der Preußenkönig Friedrich der Aufmerksamkeit“ (Attentio volubilis). Seine empfohlene
Wilhelm I. für seine Bürgerinnen und Bürger die allgemeine „Heilart“ wie: kalte Bäder, Milch, Sauerwasser, bloße Fieberrinde,
Schulpflicht ein. Schnell wurde deutlich, dass es Kinder gab, die Vermeidung von Kaffee, Gewürzen, hitzigen Getränken und
trotz des sehr strengen preußischen Erziehungsstils Probleme erhitzenden Leidenschaften, stattdessen Stille, Einsamkeit, Ge­­
hatten, still zu sitzen und sich zu konzentrieren.                mütsruhe, Reiten und Gymnastik sind aus heutiger Sicht nicht
                                                                  geeignet zur Therapie. Heute wissen wir, dass beispielsweise
1768 verfasste deshalb der Schweizer Pädagoge und Philosoph Coffein als stimulierende Substanz – wenn auch unzulänglich –
Johann Georg Sulzer sein vierteiliges Werk „Vorübungen zur geeignet ist, den ADHS-Symptomen entgegenzu­wirken.
Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens“. Sulzer
war von König Friedrich II. nach Berlin geholt worden und 1798 führte der schottische Arzt Alexander Crichton die Stö-
wurde dort Direktor der Akademie der Wissenschaften.              rung in seinem Werk „An inquiry into the nature and origin of
                                                                  mental derangement“ eingehender aus.
1773 veröffentlichte der Badearzt Melchior Adam Weikard in
seinem dreibändigen Werk „Der philosophische Arzt“, die Erst- 1842 beschrieb der amerikanische Psychologe William James in
beschreibung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms bei Er­­ seinem Werk „The Principles of Psychology“ die beim ADHS
wachsenen. Er bezeichnete diese Störung bereits als „Mangel auftretenden Impulskontrollstörungen.

                                                                                             Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019   11
ADHS wirkt sich auch auf die Lebenserwartung aus
Schwerpunkt

1845 zeigte der Frankfurter Arzt Heinrich Hofmann in seinem        1981 wird Ritalin wegen missbräuchlicher Anwendung in der
Buch „Der Struwwelpeter“ phänomenologische Aspekte sowie           Drogenszene betäubungsmittelpflichtig gestellt. Ritalin in
Komorbiditäten der ADHS auf. Zappelphillipp, Hanns Guck-in-        Ampullenform zur parenteralen Anwendung, für die es eigent-
die-Luft, der böse Friederich, Paulinchen und der Suppenkas-       lich nie eine Indikation gegeben hat, wird 1988 vom Markt
per als allseits bekannte Figuren.                                 genommen. Die für Patienten mit ADHS so wichtige Stimulan-
                                                                   tienbehandlung unterliegt bis heute leider einer kontroversen
1887 synthetisiert der rumänische Chemiker Lazar Edeleanu          Diskussion. Wegen heftiger Anfeindungen beispielsweise
Phenylisopropylamin, später Amphetamin genannt, an der             durch die Scientologen wurde das Präparat von der Pharmain-
Humbold-Universität in Berlin; aber erst                           dustrie ungeachtet seiner großen klinischen Bedeutung nicht
                                                                   weiterentwickelt und auch nicht beworben. Über 20 Jahre war
1920 wird die antriebs- und konzentrationssteigernde sowie         Methylphenidat ausschließlich in unverzögerter Form als Rita-
stimmungsaufhellende Wirkung der Substanz von dem ameri-           lin auf dem Markt. Die Wirkdauer ist hier halbwertszeitbedingt
kanischen Chemiker Gordon A. Alles beschrieben.                    auf drei bis vier Stunden begrenzt und somit für den Schulein-
                                                                   satz zu kurz.
1937 publiziert der amerikanische Kinderarzt und Neurologe
Charles Bradley über die „überaus positiven Ergebnisse einer       Wegen ihrer unübersehbaren Wirksamkeit zum Wohl der Pati-
dreiwöchigen Behandlung von 30 Schulkindern mit 20 mg              enten ist die Stimulantienbehandlung mittlerweile in vielen
Amphetamin täglich. Unmittelbar nach Einnahme geraten sie          Ländern durch Leitlinien abgesichert, etabliert und zum soge-
in einen Zustand der Ruhe und Entspannung, jegliche Hyper-         nannten Goldstandart erhoben. Dieser Durchbruch erfolgte
aktivität und Nervosität glitt von ihnen ab ... Die Wirkung ver-
schwindet unmittelbar nach dem Absetzen.” In diesem Jahr         2002 als Concerta als erstes Retardpräparat zugelassen werden
haben die Temmlerwerke das seit 1893 bekannte Methamphe-         konnte. Es folgten nun zahlreiche neue retardierte Stimulan-
tamin patentiert und dann als Pervitin vertrieben. Wegen der     tien-Präparate: 2003 Medikinet; 2006 Equasym, Medikinet
damit gesteigerten Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit,       adult; 2008 Medikinet retard; 2007 Ritalin LA; 2010 Ritalin Adult;
euphorisierenden Wirkung wurde es im zweiten Weltkrieg mil-      2013 Elvanse und 2015 Attentin. Darüber hinaus wurden mit
lionenfach bei den Soldaten eingesetzt und war bis in die 80er   Strattera im Jahre 2004 und Intuniv im Jahre 2015 auch Medi-
Jahre in militätischer Verwendung. Als Crystal Meth wird es bis  kamente mit anderen Wirkstoffen zugelassen.
heute – illegal produziert – von Millionen von Menschen ein­     Die Pharmakotherapie des ADHS ist ein wichtiger Bestandteil
genommen. Auch Amphetamine werden militärisch noch ein-          des multimodalen Behandlungskonzeptes. Die Kenntnis hier-
gesetzt.                                                         über ist auch aus volkswirtschaftlicher Sicht relevant. Der durch
                                                                 diese Erkrankung und ihre Auswirkungen entstandene Scha-
1944 synthetisiert Leandro Panizzon in der Schweiz Methylphe- den bei Nicht-Behandlung wurde 2005 in den USA auf 77 Milli-
nidat. Er benennt das Präparat nach seiner Frau Marguerite arden USD beziffert.
(„Rita“) Ritalin®, welches 1953 auf den Markt kommt. Ritalin
wird in Folge auch als Appetitzügler, gegen chronische Müdig-
keit und leichte Depressionen eingesetzt.                        Auto r:
                                                                 Dr. Helmut Peters
1963 berichten die amerikanischen Kinder- und Jugendpsych- langjähriger, ehemaliger Leiter
iater C. K. Conners und Leon Eisenberg in kontrollierten Studien des Zentrums für Kinderneurologie
                                                                                                                  Foto: privat

über die Wirkung von Methylphenidat bei Kindern mit „mini- und Sozialpädiatrie
mal brain disorder“ / „minimal brain dysfunction“.               der Rheinhessen-Fachklinik Mainz

 12    Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019
ADHS wirkt sich auch auf die Lebenserwartung aus
Schwerpunkt

Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom
AD(H)S bei Kindern und Jugendlichen
Helmut Peters

Eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist      keiten (Dissozialität, Straffälligkeit, Suchtentwicklung), Gemüts-
eine ernst zu nehmende Erkrankung. Bei den betroffenen Kin-        störungen (Depressivität, Angststörungen). Auch die Bewe-
dern ist die Störung oft so ausgeprägt, dass es zu deutlichen      gungssteuerung ist oft auffällig: muskuläre Hypotonie, motori-
Schwierigkeiten in wichtigen Lebenssituationen führt und           sche Ungeschicklichkeit (Clumsiness). Komplexe motorische
häufig Konflikte in zwischenmenschlichen Beziehungen nach          Funktionen wie Schreiben und Sprechen können erheblich
sich zieht. Legt man die Häufigkeit im Kindesalter von 5,3 Pro-    gestört sein. Wegen dieser motorischen Auffälligkeiten hieß
zent zugrunde, sind in Deutschland circa eine halbe Million        das ADHS früher MCD (Minimale cerebrale Dysfunktion). Wei-
Schulkinder, in Rheinland-Pfalz 25.000 Kinder, im Alter von        tere Symptome sind Einnässen (Enuresis) und Einkoten (Enko-
sechs bis 18 Jahren betroffen.                                     presis), insbesondere, wenn dies tagsüber auftritt. Die Kinder
                                                                   reifen langsamer.
Die Patienten zeigen Symptome in drei Kategorien (Kern-
Symptome):                                              Die Patienten zeigen sehr viel positive „Auffälligkeiten“. Sie sind
- Störung der Impulskontrolle (Exekutivfunktionen),     sehr phantasievoll, kreativ, herzlich, humorvoll, nicht nachtra-
- Störung von Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit,         gend und haben einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit.
- motorische Unruhe – Hyperaktivität                    Dies prädestiniert sie für Berufe, in denen Kreativität gefragt ist.

Die Symptome können von Kind zu Kind sehr unterschiedlich D iag no sestellung
ausgeprägt sein. Je nach Ausprägung der Symptome, klassifi-
ziert man die Aufmerksamkeitsstörung in einen               Es gibt keinen spezifischen ADHS-Test. Die Diagnose erfolgt
                                                            ausschließlich aufgrund der Bewertung der klinischen Auffäl-
- vorwiegend überaktiv-impulsiven Typ – ADHS,               ligkeiten. Diese angeborene Störung des Neurotransmitter-
- vorwiegend unaufmerksamen Typ – ADS,                      stoffwechsels kann ab dem dritten Lebensjahr diagnostiziert
- wenn alle Kernsymptome vorliegen – ADS vom Mischtyp.      werden.

                                                                   Definitionsgemäß müssen von den sogenannten DSM-V-Krite-
                ADHS-Patienten zeigen                              rien (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)
                sehr viel positive Auffällig-                      beziehungsweise ICD-10 altersabhängig genügend Kriterien
                                                                   der Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität und Impulsivi-
                keiten. Sie sind sehr
                                                                   tät vorliegen. Dabei ist die ärztliche Kenntnis über die Aufmerk-
                phantasievoll, kreativ,
                                                                   samkeitsstörung und ihre Differentialdiagnosen von zentraler
                herzlich, humorvoll, nicht                         Bedeutung.
                nachtragend und haben
                einen ausgeprägten Sinn
                für Gerechtigkeit.
                Dr. Helmut Peters

Die Auffälligkeiten können sehr variabel sein. Oft sind die Kin-
der leicht ablenkbar, vergesslich, haben große Probleme mit
der Daueraufmerksamkeit; sie können nicht sitzen bleiben, sind
ständig in Bewegung, wechseln oft ihre Betätigung und ande-
res mehr.

Mit zunehmenden Alter zeigen sie weitere Symptome: Störun-
gen des Lesens und Rechnens (Teilleistungsstörung), wieder-
kehrende Muskelzuckungen (Tic-Störung), Verhaltensauffällig-

                                                                                       Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019    13
ADHS wirkt sich auch auf die Lebenserwartung aus
Schwerpunkt

Bei Schulproblemen ist eine Intelligenztestung zum Ausschluss        gen, seine Leistungen zeigen und weitere Einnahme in der
einer Über- oder Unterforderung auszuschließen. Je nach Pro-         Schule vermieden werden. Wichtig ist es, die optimal wirksame
blemlage werden ergänzend weitere diagnostische Verfahren            Dosis sorgfältig titrierend zu ermitteln.
wie, laborchemische Parameter und EEG-Ableitungen veran-
lasst.                                                               Wenn die passende Medikation ermittelt ist, wird für die Dauer
                                                                     eines Jahres behandelt. Anschließend wird eine Pause einge-
B e ha ndl u n g                                                     legt. Es wird Bilanz gezogen und so geklärt, ob die Medikation
                                                                     beendet werden kann, oder ob es notwendig ist, weiter zu
Der Komplexität der Symptomatik des ADHS ist in der Behand-          behandeln. Ferner sind halbjährliche klinische Kontrollen vor-
lung zu entsprechen. Die Therapie ist multimodal angelegt,           geschrieben. Wenn die Behandlung nicht wirkt oder nicht ver-
allen wichtigen Bezugspersonen, Familie, Lehrerinnen und             tragen wird, können andere Medikamente eingesetzt werden:
Lehrer sollten Kenntnisse über das Störungsbild und den dazu-        Amphetamin, Atomoxetin, Guanfacin.
gehörigen Symptomen und dem angemessenen Umgang
damit (Psychoedukation) vermittelt werden. Das Ziel: auf jeden       Sollten bei wirksamer und korrekter medikamentöser Behand-
Fall vermeiden, dass Kinder wegen ihrer Vergesslichkeit, Merk-       lung Auffälligkeiten fortbestehen, sind hierauf abgestimmte
störung, Unordentlichkeit und schlechter Schrift ständig             weitere Maßnahmen für die Patienten und ihr Umfeld erfor­
gegängelt werden. Dies steht einer gedeihlichen Entwicklung          derlich. Hierfür stehen mit Verhaltenstherapie zur Bewältigung
der kindlichen Persönlichkeit und seinem Selbstwertgefühl            des Alltags bis hin zur systemischen Familientherapie, die das
entgegen. Diese Auffälligkeiten sind Symptome einer Erkran-          ganze System betrachtet, viele Methoden zur Verfügung. Indi-
kung und keine kindlichen Böswillig- oder Bequemlichkeiten.          viduelle Besonderheiten wie Störungen des Selbstwertgefühls,
                                                                     Prüfungsängste oder Depressionen können in einer individuel-
                                                                     len Psychotherapie bearbeitet werden. Nicht wirksam sind –
                                                                     insbesondere nicht auf die Konzentration – die so oft einge-
                   Die ADHS-Therapie ist
                                                                     setzte Ergotherapie (ausgenommen schulvorbereitende Be­­hand­
                   multimodal angelegt.
                                                                     lung der Feinmotorik) und homöopathische Medikationen
                   Dr. Helmut Peters                                 (Zappelin®, Bachblüten).

                                                                     Pro g no se (Ausblick )
Bei vielen Patienten wird darüber hinaus eine Pharmakothera-
pie erforderlich sein. Umso dringlicher, je kritischer die gegen-    In der Annahme einer genetischen Störung der Botenstoffsteu-
wärtige Lage des Patienten ist. Drohende Klassenwiederholung,        erung, ist folgerichtig diese Erkrankung ursächlich nicht heilbar,
Schulverweis, zunehmende Frustration bis hin zu Äußerungen,          wohl aber sehr gut behandelbar. Dies erklärt, warum die Wei-
so nicht mehr leben zu wollen, sind eindeutige Indikationen für      terbehandlung über das 18. Lebensjahr hinaus oft erforderlich
eine medikamentöse Behandlung. Da dem Störungsbild ein zu            ist, damit die Patienten nicht unter ihren Symptomen leiden
schneller synaptischer Dopaminrücktransport zu Grunde liegt,         oder in Selbstbehandlungsversuchen zu anderen, zum Teil
ist es nicht überraschend, wenn die Behandlung mit Medika-           süchtig machenden Substanzen wie Cocain greifen.
menten, die diesen zu raschen Dopamintransport in das nor-
male Maß abbremsen, von zentraler Bedeutung und hoher
Wirkung ist. Es kann unter einer sorgfältigen Pharmakotherapie                       Weiterbehandlung nach
so die völlige Beseitigung der Auffälligkeiten erreicht werden.                      dem 18. Lebensjahr ist
Zitat einer Mutter: „Ich merke nichts, wenn er sein Medikament                       oft erforderlich.
einnimmt, ich merke es sehr, wenn er es nicht einnimmt.“
                                                                                     Dr. Helmut Peters

O f t i st e i n e Ph ar makot h erap i e er ford erlich

Die Medikation der Wahl sind Stimulantien (Methylphenidat,           Erfreulicherweise ist nach langem, langem Kampf im Juni 2011
Amphetamin). Sie verringern nachgewiesenermaßen die Kern-            jetzt endlich auch in Deutschland Methylphenidat zur Behand-
symptome, verbessern die Fähigkeit, Regeln einzuhalten und           lung Erwachsener zugelassen worden. Eine notwendige
reduzieren emotionale Übererregbarkeit. Begonnen wird die            Behandlung der Patienten, die von schicksalhafter Bedeutung
Einnahme mit nicht retardiertem Methylphenidat. Bei passen-          ist; es ist keine, wie häufig zynischerweise zitiert, Lifestyle­
der Dosis zeigt sich bereits 30 Minuten nach Einnahme die            behandlung. Es besteht die berechtigte Hoffnung, dass durch
Wirkung, die für die Dauer von circa drei bis vier Stunden           eine konsequente und gute Behandlung Komorbiditäten ver-
anhält. Im zweiten Schritt wird jetzt auf eine Verzögerungsform      mindert werden können.
passend zum kindlichen Alltag umgestellt. Ziel ist es für die Zeit
in der Schule eine gleichmäßige Wirkung der Medikation zu            Ohne Behandlung ist der Weg dieser Patienten gekennzeichnet
erzielen. So kann das behandelte Kind dem Unterricht gut fol-        von Beziehungskonflikten, Depressionen, Selbstwertgefühls-

 14    Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019
ADHS wirkt sich auch auf die Lebenserwartung aus
Schwerpunkt

störungen, Abbrüchen von Ausbildungsgängen, häufigen
Arbeitsplatzwechseln, Suchtproblemen und vielem mehr. Die           D ie interdisziplinäre ADHS -Leitlinie S3
Zukunftsentwicklung der Patienten ist schlechter bei niedriger
Intelligenz, niedrigem sozioökonomischen Status, stark oppo-        Die interdisziplinäre evidenz- und konsensbasierte (S3)
sitionellem und aggressivem Verhalten, gering ausgeprägten          Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung
Freundschaftsbeziehungen, emotionaler Labilität und ausge-          (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ soll
prägter elterlicher Psychopathologie im Sinne einer erhöhten        in allen Bereichen der Prävention, Diagnostik und Be­­hand­
genetischen Belastung.                                              lung der ADHS im Kinder-, Jugendlichen- und Erwach­s­e­
                                                                    nenalter eingesetzt werden und richtet sich an alle
Wegen des Fortbestehens der ADHS-Thematik in das Erwach-            ambulanten, teilstationären und stationären Versorgungs­
senenalter ist rechtzeitig die Transition zu erwägen und für        einrichtungen und Berufsgruppen, die Kinder, Jugend­
jeden einzelnen Patienten zu realisieren.                           liche und Erwachsene mit psychischen Störungen oder
                                                                    speziellem Förderbedarf diagnostizieren oder eine
                                                                    Therapie für Personen mit ADHS anbieten oder Pati-
                                                                    enten mit ADHS und ihre Familien. In der Leitlinie, die
Au to r:                                                            die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizi-
Dr. Helmut Peters                                                   nischen Fachgesellschaften veröffentlicht, wird das Stö-
langjähriger, ehemaliger Leiter                                     rungsbild diagnostisch wie therapeutisch detailliert auf
des Zentrums für Kinderneurologie                                   198 Seiten abgehandelt: https://www.awmf.org/uploads/
                                                 Foto: privat

und Sozialpädiatrie                                                 tx_szleitlinien/028-045k_S3_ADHS_2018-06.pdf           (eb)
der Rheinhessen-Fachklinik Mainz

   ADHS -Leitlinien im Üb erblick

   Wegen der großen klinischen und gesellschaftlichen Be­­
   deutung des ADHS gibt es zahlreiche nationale Leitlinien.
   Hier seien drei davon erwähnt. Wer sich eingehender mit
   dem Störungsbild befassen möchte, kann sich diese Leit-
   linien mittels der unten angegebenen Internet-Zitate
   herunterladen:
   Die deutsche AWMF-Leitlinie aus dem Jahre 2017:
   [https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-045.html]
   Kurzfassung von 81 Seiten; Langfassung 198 Seiten
   Die englische NICE-Leitlinie (National Institute of Clini-
   cal Excellence), Attention deficit hyperactivity disorder:
   diagnosis and management NICE guideline aus dem
   Jahre 2018 vom National Collaborating Centre for Mental
   Health im Auftrag des National Institute for Health & Cli-
   nical Excellence.
   [https://www.nice.org.uk/guidance/ng87/resources/
   attention-deficit-hyperactivity-disorder-diagnosis-and-
   management-pdf-1837699732933]
   Kurzfassung 62 Seiten, Langfassung (full guideline) 662 Seiten
   Die amerikanische Leitlinie aus dem Jahre 2011 von der
   American Academy of Child and Adolescent Psychiatry
   und der American Academy of Pediatrics
   https://pediatrics.aappublications.org/content/
   pediatrics/128/5/1007.full.pdf
   [Subcommittee on Attention-Deficit/Hyperactivity, D., et
   al., ADHD: clinical practice guideline for the diagnosis,
   evaluation, and treatment of attention-deficit/hyperacti-
   vity disorder in children and adolescents. Pediatrics, 2011.
   128(5): p. 1007-22] 16 Seiten 		                          (eb)

                                                                                    Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019    15
Schwerpunkt

Für ADHSler kommt die rechtliche
Volljährigkeit mit 18 Jahren oft zu früh
Günther Endrass

Obwohl in Fachkreisen schon seit der Jahrtausendwende             den, Rahmenbedingungen in der Familie und am Arbeitsplatz,
bekannt, wird immer noch die ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-       störungsspezifische Entwicklungsgeschichte, Ressourcen, Wün-
Hyperaktivitäts-Störung) beziehungsweise ADS (Aufmerksam-         sche und Bedürfnisse des Patienten, Familienanamnese, psy-
keits-Defizit-Störung) überwiegend als eine typische Krankheit    chopathologische Beurteilung des Patienten und körperliche
von Kindern und Jugendlichen angesehen. Dabei dauern nach
zahlreichen Studien die Symptome in unterschiedlicher Aus-
prägung bei 50 bis 70 Prozent der Betroffenen bis ins Erwach-                    ADHS-Symptome reichen
senenalter an, gelegentlich sogar bis ins Seniorenalter und                      weit ins Erwachsenen-
werden noch zu wenig diagnostiziert und therapiert.                              alter hinein.
                                                                                Dr. Günther Endrass
Deshalb sind erwachsene Patienten mit Aufmerksamkeitsdefi-
zit-/Hyperaktivitätsstörung viel häufiger in der Bevölkerung
(geschätzt drei bis fünf Prozent), als Patienten vieler anderer
psychischer Erkrankungen, wie zum Beispiel Psychose oder sowie neurologische Untersuchung. Die Basis der Beurteilung
Schizophrenie.                                                  ist wie bei allen psychischen Störungen, das diagnostische
                                                                Interview; zum Beispiel als strukturiertes Interview ADHS-DC
Wesentlich verändern wird sich die Situation durch die 2018 (Bestandteil HASE, Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene).
veröffentlichte erstmalige S3-Leitlinie zur Diagnostik und The- Selbstbeurteilungsverfahren verbreitern die Informationsbasis,
rapie von ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. sind für die Diagnose aber alleine nicht ausreichend.

D i a gn o se ste l l u n g                                       B ehand lung

Auch für das Erwachsenenalter sind für die Feststellung einer  Erfüllt ein Erwachsener mit AD(H)S die diagnostischen Kriterien,
ADHS die diagnostischen Kriterien der ICD-10 und des DSM       sollte geprüft werden, welche Behandlungsoptionen möglich
5 maßgeblich. Ein diagnostischer Entscheidungsbaum bietet      sind und welche von den Patienten gewünscht werden (parti-
eine Übersicht zu den verschiedenen diagnostischen Lösungs-    zipative Entscheidungsfindung). Hilfreich ist hierzu der diffe-
möglichkeiten. Bei allen Patienten mit Entwicklungs-, Lern- undrentialdiagnostische Entscheidungsbaum zur psychosozialen
Leistungs- sowie Verhaltensproblemen oder anderen psychi-      (einschließlich psychotherapeutischen)/pharmakotherapeuti-
schen Störungen mit Hinweisen auf Beeinträchtigung der         schen Behandlung von Erwachsenen mit ADHS (Abbildung).
Aufmerksamkeit und Konzentration oder auf Unruhe und           Bei der Therapieauswahl sollten persönliche Faktoren, Umge-
Impulsivität, sollte die Möglichkeit einer ADHS in Erwägung    bungsbedingungen beruflich und privat, der Schweregrad der
bezogen werden. Dies insbesondere (Red Flag) bei Vorliegen     Störung sowie komorbide Störungen berücksichtigt werden.
von einem oder mehreren psychiatrischen Störungsbildern, die   Die Behandlung soll als multimodales Behandlungskonzept
trotz einer leitliniengerechten Diagnostik oder Behandlung     ausgelegt werden mit psychosozialen (einschließlich psycho-
sich bezüglich der Symptomatik nicht oder nicht stabil verbes- therapeutischen) und pharmakologischen sowie ergänzenden
sern.                                                          Interventionen. Eine umfassende Psychoedukation ist jedoch
                                                               stets der erste Schritt der Behandlung. Hilfreich sind hierbei
Die diagnostische Abklärung soll nach Leitlinie durch einen neben schriftlichem Informationsmaterial auch qualifizierte
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Neu- Internetseiten wie zum Beispiel www.zentrales-adhs-netz.de.
rologie, Facharzt für psychosomatische Medizin, oder durch
ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten mit entspre- Pharmakologische Interventionen der ADHS adult
chender Weiterbildung, vorgenommen werden. Dafür ist eine
umfassende strukturierte Exploration des Patienten und (wenn Im Gegensatz zur Situation bei Kindern und Jugendlichen wird
möglich) einer Bezugsperson zu folgenden Themen erforder- im Erwachsenenalter eine Pharmakotherapie als primäre Be­­
lich: Aktuelle ADHS-Symptomatik, Einschränkung der Alltags- handlungsoption – neben der initialen Psychoedukation bei
funktionalität, koexistierende somatische und psychische Lei- leichter, moderater und schwerer Symptomausprägung und

 16     Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019
Schwerpunkt

entsprechend den funktionellen Einschränkungen durchge- aber relevant für die weitere Diagnostik und Therapie der ADHS
führt werden.                                                 adult. Sie haben additive Effekte und führen, außer zu einer
                                                              wechselseitig größeren Krankheitsschwere und schlechteren
Die Medikation soll nach Leitlinie und Zulassung der Medika- Prognose, oft auch zu einer erforderlichen Anpassung der
mente nur von einem entsprechenden qualifizierten Facharzt eventuellen Medikation. So werden die häufig – bei fehlender
für Nervenheilkunde, Psychiatrie und Psychotherapie, für Neu- ADHS-Diagnosestellung – wegen der Agitiertheit der Betroffe-
rologie und von ärztlichen Psychotherapeuten angewendet nen, eingesetzten dämpfenden Medikamente (sedierende
werden.                                                       Antidepressiva oder Neuroleptika) oft schlecht vertragen. Zu
                                                              beachten ist des Weiteren, dass bei einer akuten schweren psy-
Nach erfolgter medikamentöser Einstellung durch einen Spe­ chischen Störung ohne Vordiagnose ADHS, wegen der hohen
zialisten für Verhaltensstörung (subsumierender Begriff für Beschwerdeüberlappung zunächst keine Neudiagnose ADHS
obige qualifizierte Fachärzte nach der Fachinformation der in gestellt werden kann. Diese komorbiden Störungen sollen
Deutschland zugelassenen Medikamente) können auch Haus- leitliniengerecht und in der Reihenfolge des Schweregrads und
ärzte für ein halbes Jahr Folgeverordnungen und die damit der Präferenz des Patienten behandelt werden. Aus kassen-
verbundenen Kontrolluntersuchungen vornehmen. Es sollen rechtlichen Gründen ist bei Verordnung entsprechender Präpa-
aber weiterhin regelmäßige Vorstellungen beim Spezialisten rate zur Behandlung der komorbiden Störung unbedingt auf
erfolgen, um die Wirksamkeit der Behandlung und deren fort- die entsprechende zusätzliche, zulassungskonforme ICD-Ko­­die­
bestehende Notwendigkeit zu überprüfen.                       rung zu achten.

                                                                    O nline - Q ualitätszirkel für b essere Vernetzun g
                Im Gegensatz zur
                Situation bei Kindern und­                          Ein weiteres Problemfeld ist die bessere Vernetzung von Fach-
                ­Jugend­lichen wird im                              ärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,
                                                                    Fachärzten für Allgemeinmedizin, mit Fachärzten für Psychiat-
                 Erwachsenen­alter eine
                                                                    rie und Psychotherapie. Dies wurde aber aktuell organisato-
                 Pharmako­therapie als
                                                                    risch erleichtert durch seit Mai 2019 in Rheinland-Pfalz mögli-
                 primäre Behandlungs­                               che, KV-anerkannte Online-Qualitätszirkel zum Beispiel per
                 option durchgeführt.                               Skype.
                Dr. Günther Endrass
                                                                    In einem ersten dieser Art, erfolgte die Vernetzung unter ande-
                                                                    rem auf Berufsverbandsvorstandsebene. Als erstes Ergebnis
Häufig entwickeln Betroffene ein sehr gutes Verständnis für die     wurde von den Berufsverbandsvorsitzenden der Kinder- und
Wirkung der Stimulanzien und setzen diese in Abhängigkeit           Jugendpsychiater, sowie Erwachsenenpsychiatern ihren Mit-
von ihrer persönlichen Alltagssituation sehr differenziert ein      gliedern der Einsatz der Transitionsbögen des ADHS-Experten-
(„intelligente Non-Compliance aber hohe Therapieadhärenz “).        rates zur strukturierten Informationsweitergabe für den Über-
(siehe auch Artikel Pharmakotherapie)                               gang vom Jugendlichen ins Erwachsenenalter empfohlen.

Akt u e l l e Pro bl em feh l er d er D i ag n os t i k u n d       Transitio n braucht Zeit
B eha ndl u n g
                                                                    Sinnvoll sind aber auch längere Übergangszeiten mit einem
Wesentlich für das Verständnis von ADHS adult sind die häufi-       Jahr Parallel-Behandlung. Zumindest sollte zur Vermeidung von
gen Komorbiditäten, mit einer Häufigkeit über die Lebenszeit        Wartezeiten/Engpass bei Rezeptausstellung, spätestens mit
von 88 Prozent, aktuell (12 M.) 66 Prozent. So finden sich häufig   17,5 Jahren durch den Vorbehandelnden, die Aufforderung zur
Depressionen (70 Prozent kurze Episoden, in 35 Prozent              Terminvereinbarung bei Erwachsenenpsychiater/Nervenarzt
schwere Episoden), Angststörungen (chronisches Versagen             erfolgen. Dabei haben wir als Erwachsenenpsychiater in der
durch ADHS – Symptome, bis 53 Prozent), Zwangsstörungen,            Regel keine Ahnung vom Jugendhilfesystem, das bisher häufig
Posttraumatische Belastungsstörung (Risiko erhöht bei ADHS,         die Behandlung im Kindes- und Jugendlichenalter unterstützt
12 Prozent zu 3 Prozent), Borderline-Persönlichkeitsstörung (bis    hat und jetzt meist wegfällt. Für ADHSler kommt die rechtliche
60 Prozent haben ADHS), Substanzmissbrauch (bis 8 Prozent),         Volljährigkeit mit 18 oft „zu früh“ (psychosozial oft erst im
bipolare Störungen (bis zu 10 Prozent), Tourette-Syndrom, Teil-     21. Lebensjahr) und stellt für die jungen Erwachsenen einen
leistungsstörungen.                                                 regelrechten „Kulturschock“ bezüglich des Behandlungsrah-
                                                                    mens dar. Deshalb müssen wir als Psychiater unsere Kommuni-
Diese Komorbiditäten sind häufig bei Erstkontakt von Erwach-        kation in dieser Situation, auch mit der für uns ungewohnter
senen im Vordergrund oder dominieren sogar das Beschwerde-          Einbeziehung der Eltern, erst daran anpassen.
bild, sodass die ADHS-Diagnose oft erst im Verlauf gestellt         Weiterhin wird aber auch noch immer im ambulanten und
werden kann (siehe Red flag). Gleichzeitig ist deren Erfassung      stationären psychiatrisch-psychosomatischen Versorgungsbe-

                                                                                       Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019   17
Schwerpunkt

reich die Diagnose ADHS angezweifelt, oder ist die möglich        schon mit „klassischen Diagnosen“ oder mit Richtlinienpsycho-
strukturierte Diagnostik nicht etabliert. Hier wird sicherlich,   therapie ausgelastet. Obwohl bereits häufig in Praxen etabliert,
neben der Existenz einer S3- Leitlinie, die bessere Verankerung   ist die BTM-Rezeptierung manchmal auch noch ein bürokrati-
in der neuen (Muster)-Weiterbildungsordnung mit Aufnahme          sches Hindernis.
des Punktes „Behandlung mittels bio-psycho-sozialen Behand-
lungsansatz unter Berücksichtigung der Transitionsphasen“         Des Weiteren fehlt es auch an weitergebildeten Psychothera-
eine Verbesserung der Versorgungsrealität erreichen. Mit ihrer    peuten und der mangelnden Akzeptanz der meist erforderli-
Umsetzung ist in Rheinland-Pfalz für 2020/2021 zu rechnen.        chen, begleitenden medikamentösen Behandlung, trotz Präfe-
                                                                  renzierung nach Studien und aktueller S3-Leitlinie. Deshalb
                                                                  sind hierzu gemeinsame Weiterbildungen in Rheinland-Pfalz
               Die Behandlung von                                 angedacht.
               motivierten ADHS-Patien-
               ten ist eine ärztlich sehr                         Im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie gilt die Behandlung
               befriedigende Arbeit mit                           von ADHS oft noch als schwierig (hohe Komorbiditätsrate,
               oft mehr Erfolgen als bei                          Abgrenzungsprobleme besonders bei Borderline-Störung und
                                                                  bipolarer Erkrankung, Suchtthema). Dabei ist nach Erfahrung
               anderen psychiatrisch-
                                                                  vieler Kolleginnen und Kollegen die Behandlung von motivier-
               psychosomatischen
                                                                  ten ADHS-Patienten eine ärztlich sehr befriedigende Arbeit mit
               Störungsbildern.                                   oft mehr Erfolgen als bei anderen psychiatrisch-psychosomati-
               Dr. Günther Endrass                                schen Störungsbildern.

Im ambulanten Bereich bedingt die im Eingang dargestellte         L iteratur b eim Ver fasser.
hohe Prävalenz von ADHS bei Erwachsenen, dass deren Ver­
sorgung Teil des kassenärztlichen Versorgungsauftrages der
Erwachsenenpsychiater und Nervenärzte darstellt. Bei noch
fehlendem Wissen zu ADHS gibt es zwischenzeitlich zahlreiche,     Auto r:
firmenneutrale Fortbildungsveranstaltungen der Fachgesell-        Dr. Günther Endrass

                                                                                                                 Foto: privat
schaft DGPPN und der Fortbildungsakademie der Berufsver-          Landesvorsitzender BVDN Rheinland-Pfalz
bände. Anderseits sind im Erwachsenenbereich viele Praxen         E-Mail: g.endrass@gmx.de

Differenzialtherapeutischer Entscheidungsbaum zur psychosozialen (einschließlich psychotherapeutischen)/phar ma-
k o t he ra pe ut isch en B eh a n d lu n g vo n Er wa c h sene n mi t A D H S

 18   Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019
Schwerpunkt

Systemische Auswirkungen in
Schule und Ausbildung
Sabine Müller-Löw

ADS hat Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit und Perfor- Leistungserbringung bei Ängsten, wird ausgeschöpft – viel-
mance der Betroffen und auf die Interaktion mit anderen. Die leicht auch eine Integrationskraft engagiert.
Diagnose ADS löst kontroverse Diskussionen im Helfersystem
aus (Glaubenskriege).                                        In diesem Fall dürfen sich Alle freuen, ein gelingendes Modell
                                                             getragen von Fachkenntnis, einem gemeinsamen Ziel und
Zum erfolgreichen Umgang gehört die medikamentöse Be­­hand­ wertschätzender Haltung.
lung der Betroffenen und ein gutes, von Wertschätzung und Die Realität in unserem Praxisalltag zeigt leider in der Regel ein
Fachkenntnis geprägtes Case Management aller Beteiligten.    anderes Bild.

 Eigentlich könnte man sich ja glücklich schätzen: Nach jahre-    Die Akzeptanz dieser schon im 18. Jahrhundert von Weikard
 langen vergeblichen Bemühungen herauszufinden, was mit           beschriebenen Erkrankung ist immer noch nicht selbstver-
 diesem Kind los sei, gegenseitigen Vorwürfen in der Erziehung    ständlich. Häufig beginnt eine Diskussion, die unsachlich, pola-
 versagt zu haben, nicht konsequent genug gewesen zu sein,        risierend und geringschätzend ist.
 unzähligen Gesprächen in Beratungsstellen mit Hinweisen wie:
„Das gibt sich ,seien Sie locker‘.“ bis hin zu: „Das können Sie   •   Sie wollen Ihr Kind doch wohl nicht mit Drogen ruhigstellen.
 aber auf keinen Fall durchgehen lassen.“ Ergo- und Logothera-    •   Nicht jeder braucht ein Abitur.
 piesitzungen, osteopathischen und homöopathischen Behand-        •   Das ist doch eine Modeerscheinung.
 lungen, sowie einer Fülle gut gemeinter Ratschläge von selbst-   •   Er ist doch so kreativ.
 ernannten Experten, gibt es jetzt eine Diagnose: Das Kind hat    •   Das wächst sich aus.
 eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung und erfreulicherweise ist
 dies gut behandelbar. Es braucht eine gut eingestellte Medi­    Dies sind nur einige Beispiele häufig verwendeter Einwände.
 kation und strukturierte Rahmenbedingungen, Humor und           Neben diesen Diskussionen kommt hinzu, dass wir aus ärztli-
 Geduld. So weit, so gut. Die Eltern atmen auf.                  cher Sicht leider vergessen, wie das System Schule heutzutage
                                                                 aussieht. Lehrerinnen und Lehrer sind häufig großen Belastun-
Der Arzt oder die Ärztin besprechen die medikamentöse Ein- gen ausgesetzt. Zu große Klassen, hohe Ansprüche von Eltern
stellung und bitten die Eltern, in der Schule den Lehrern die und Gesellschaft, wenige finanzielle Ressourcen, zu viel Büro-
Diagnose mitzuteilen und dass diese bitte beobachten, ob und kratie, sodass schon das Ausfüllen von Fragebögen und regel-
wie das Verhalten sich unter der Medikation verändert. So kann mäßige Rückmeldungen an Ärzte oder Eltern eine Überlastung
die optimale Dosierung ermittelt werden; nicht zu viel und darstellen können. Diese Tatsache findet dann gerne Nieder-
nicht zu wenig. In der Schule ist es außerdem wichtig, dem schlag in der Aussage: „Wissen Sie, ich habe hier nicht nur
Kind viel Struktur zu geben, nachzuprüfen, ob Arbeitsaufträge den Einen, der auffällig ist, wenn ich hier bei Jedem…“
richtig notiert und verstanden worden sind, wohlwollend mit
Schusseligkeit umzugehen, es nicht als Faul- oder Dummheit Wunschvo rstellung und No t wend ig keit
zu werten, sondern als ein Symptom des vorliegenden Krank- versus R ealität
heitsbildes.
                                                                 Aus systemischer Sicht erfordert eine gelingende ADS-Therapie
De r Ide a l fa l l                                              ein enges Zusammenspiel verschiedener Gewerke. Es sollte klar
                                                                 sein, wer welche „Hoheitsrechte“, welche Rolle hat. Schule die
Manchmal hat man Glück. Die Diagnose wird anerkannt, es gibt Pädagogik, Ärzte und Ärztinnen Diagnose und Therapie. Dane-
ein Basiswissen darüber, was eine Aufmerksamkeitsstörung ben gibt es Schnittstellen, wo Kooperation und Aushandlungs-
und was hilfreich ist. Die Medikation wird als Behandlung geschick erforderlich sind.
akzeptiert und für sinnvoll befunden. Eltern, Kind und Lehrerin-
nen besprechen gemeinsam, was zu tun ist, es gibt einen regen Es bräuchte die Möglichkeit eines regelmäßigen Austauschs
Austausch. Erfolge werden in den Blick gerückt, was gelingt, aller an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen, um festzu-
wird mehr gemacht; was nicht gelingt, wird unterlassen. Der stellen, wo die Schülerinnen und Schüler stehen. Wie wird die
gesetzliche Rahmen, wie Nachteilsausgleich oder alternative Wirksamkeit der Medikation gesehen? Gibt es Lücken, treten

                                                                                      Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019   19
Schwerpunkt

Rebounds ein, auf die es einzugehen gilt? Wie ist die Kontinui-        Ein weiterer relevanter Aspekt bei ADS ist der Umgang mit der
tät des Arbeitsverhaltens? Wie ist der Umgang mit Arbeits­             Wahrheit. Menschen mit dieser Störung haben häufig eine
materialien?                                                           vollkommen andere Wahrnehmung der Realität, was dann
Wie ist die soziale Integration der Betroffenen? Gibt es weniger       nachvollziehbarer Weise zu großen Konflikten führt. Oder sie
Reibungspunkte, weniger Streits? Wie sieht es aus mit anderen          lügen aus Scham, um nicht zugeben zu müssen, wieder etwas
assoziierten Auffälligkeiten, wie Ängsten bis hin zur Prüfungs-        vergessen zu haben. Endlose Diskussionen darüber sind in der
vermeidung? Die Beantwortung all dieser Fragen ist ein wich-           Regel nicht zielführend. In Kenntnis der Tatsache, dass dies sehr
tiger Baustein bei der Einschätzung der Wirksamkeit der phar-          häufig ein komorbides Verhalten ist, kann es ein Ziel sein
makokinetischen Therapie.                                              gemeinsam zu überlegen, was ein vernünftiger Umgang mit
                                                                       diesem Symptom ist. Schon der Perspektivenwechsel vom hin-
Wu n sc h na c h g emei n s am en For t b i l d u n g en               terhältigen Fehlverhalten zum auf jeden Fall zu vermeidenden
                                                                       Symptom kann hierbei hilfreich sein.
Es wäre wünschenswert und dringend erforderlich, gemein-
same Fortbildungen zu organisieren. Ein Ziel hierbei ist, Auf-         G eg enseitig e Wer tschätzung ist wichtig
merksamkeitsstörungen als eine der häufigsten Erkrankung im
Kinder- und Jugendalter, die genetisch vermittelt wird, anzuer-        Neben Akzeptanz der Erkrankung und Sachkenntnis über Symp­
kennen und nicht als Modeerscheinung, oder gar als Erzie-              tome und deren Auswirkungen ist aus systemischer Sicht die
hungsfehler zu sehen. Das Ausmaß der gesamten, besonders               Haltung ein wichtiger Faktor, um diesen Kindern und Jugend­
für die Schule relevanten Symptomatik einer ADS sollte vermit-         lichen zum Erfolg zu verhelfen. Sie sollte geprägt sein von
telt werden. Dass neben den mittlerweile bei den meisten               gegenseitiger Wertschätzung, auch für die Schwierigkeiten und
bekannten Symptomen wie Unaufmerksamkeit, Unkonzent-                   manchmal fehlenden Ressourcen der jeweiligen Menschen.
riertheit, Verträumtheit und motorische Unruhe viele andere
Verhaltensweisen gerade im schulischen Kontext von enormer             Eine Verständigung auf ein gemeinsames Ziel und wer kann
Bedeutung sind.                                                        welchen Beitrag hierzu leisten. Die Erkenntnis, dass es häufig
                                                                       auf die Dauer der Zeit gesehen lohnenswert ist, sich am Anfang
Menschen mit einer ADS-Problematik haben große Merk-                   mehr Zeit zu nehmen, ein gutes gemeinsames Konzept zu ent-
schwierigkeiten. Sie können das Gelernte nicht abrufen. Für            wickeln. Vielleicht auch die Erkenntnis zu haben nicht ADS ist
Schule bedeutet dies, dass der zu Hause noch präsente Stoff in         das Problem, sondern, wie wir darauf schauen. Diese Kinder
Klassenarbeiten wie weggeblasen scheint. Es kommt zu einer             und Jugendlichen könnten nicht, wenn sie nur wollten, häufig
Blockade, nichts geht mehr. Die resultierende Note zeigt so nur        wollen sie sehr und können es aber nicht. ADS und deren Aus-
eine Momentaufnahme des Versagens, sie zeigt nicht, was                wirkungen auf Schule sind vielschichtig, sie zu kennen und
eigentlich möglich ist. Die schlechte Note ist Ausdruck der            danach gemeinsam zu handeln und Erfolg zu haben – ein
mangelnden Performance. Dies wird als höchst frustrierend              gutes Gefühl, für die Behandler und Behandlerinnen, die Leh-
empfunden und löst bei den Kindern und Jugendlichen häufig             rerinnen und Lehrer, die Eltern und vor allem für die Betroffe-
eine fatalistische Haltung aus: „Ist doch egal wie viel ich lerne,     nen.
kann ich es ja gleich lassen.“ Es resultiert nicht selten die Total-
verweigerung in Form von Schulabsentismus. Was wie opposi-             „Come together“, heißt es bei den Beatles, „right now, it's a long
tionelles Verhalten imponiert, ist so betrachtet eine nachvoll-         and winding road“.
ziehbare Strategie, um sich nicht weiter einem dauernden Frust
auszusetzen. Aus systemischer Sicht mehr als nachvollziehbar.
Desorganisiertheit und fehlende Struktur gepaart mit großer        Auto rin:
Ablenkbarkeit.                                                     Dr. Sabine Müller-Löw
                                                                   Zielkunft
                                                                                                                        Foto: privat

Dieser Symptomkomplex ist gerade für Schule ein großes Institut für systemische Beratung
Thema. Es ist wichtig zu wissen, dass es selbst für schon ältere info@zielkunft.de
Schülerinnen und Schüler mit einer ADS sehr schwierig ist, sich
zu organisieren. Es ist keinesfalls Faulheit oder gar böser Wille.
Arbeitsaufträge werden nicht richtig verstanden, oder nur
unvollständig notiert. Arbeitsmaterialien werden zu Hause
einfach vergessen oder sie verschwinden im Nichts. Eine Ver-
einbarung über mehr Kontrolle ist hier von großer Bedeutung
und häufig eine erfolgreiche Strategie, etwas zu ändern. Es ist
daher obsolet, dies als Erziehung zur Unselbstständigkeit zu
werten, sondern darauf zu vertrauen, dass sich so in der
Zukunft Misserfolge verringern und dies zu einem Lernerfolg
führt.

 20    Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019
Schwerpunkt

Zappel-Philipps Erben sollten ausschließlich
von Experten behandelt werden
Jörn Simon

In Anlehnung an die Erzählung „Struwwelpeter“ des Frankfurter      ten, wie etwa von Kindern- und Jugendpsychotherapeuten
Arztes Heinrich Hoffmann werden Menschen, die an der Auf-          oder von Kinder- und Jugendmedizinern mit „Erfahrung und
merksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung – kurz ADHS – lei-      Fachwissen in der Diagnostik von AD(H)S durchgeführt wird”.
den, im Volksmund gelegentlich auch als „Zappelphilipp" be­­       Bei Erwachsenen, so legt die aktuelle Leitlinie dar, sollte die
zeichnet. Aus fachlicher Sicht muss dieses häufig verwendete       diagnostische Abklärung beispielsweise durch einen Facharzt
Bild allerdings ergänzt werden.                                    für Psychiatrie und Psychotherapie oder einen Psychologischen
                                                                   Psychotherapeuten erfolgen. Es wäre zwar wünschenswert,
Denn das Syndrom kann sich auch ohne das Merkmal der               wenn alle Haus- und Kinderärzte mit dem Störungsbild gut
Hyperaktivität äußern. Während die häufiger betroffenen männ­      vertraut wären, allerdings ist dieses von rund 20 psychischen
lichen Patienten meist eine gesteigerte Aktivität aufweisen,       und somatischen Erkrankungen differentialdiagnostisch abzu-
beobachtet man bei Mädchen häufig Symptome wie Vergess-            grenzen, sodass bei einer AD(H)S-Verdachtsdiagnose im urei-
lichkeit und einen verstärkten Hang zur Tagträumerei. In diesen    genen Patienteninteresse an einen Experten überwiesen wer-
Fällen spricht man vom Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (kurz         den sollte. Ansonsten besteht ein Fehlversorgungsrisiko.
ADS). Nach einer Studie, die in der medizinischen Fachzeit-
schrift „The Lancet” publiziert wurde, sind weltweit rund fünf     Zwei D rittel d er M ethy lphenid at-Vero rd nunge n
Prozent der Kinder im Schulalter und 2,5 Prozent der Erwachse-     werd en für Kind er und Jug end liche ausg estellt
nen von ADHS betroffen. Das Syndrom zählt infolgedessen zu
den häufigsten psychisch-neurologischen Auffälligkeiten in der     Dieses Fehlversorgungsrisiko ist schon allein im Hinblick auf die
Altersgruppe bis 18 Jahre.                                         eventuell anschließende pharmakologische Behandlung nicht
Für den Zeitraum von 2015 bis 2018 zeigen die Verordnungsda-       zu vernachlässigen. Methylphenidat (der bekannteste Marken-
ten der Techniker Krankenkasse (TK) bundesweit einen mode-         Vertreter ist das Ritalin) gehört zu den gängigsten Wirkstoffen,
raten Anstieg von 2,5 Pro­­zent. Die TK in Rheinland-Pfalz ver-    die zur Therapie von AD(H)S eingesetzt werden.
zeichnet sogar einen Verordnungsrückgang um 1,7 Prozent.
Auffällig ist allerdings, dass bei männlichen TK-Versicherten in   Gemäß der TK-Daten werden zwei Drittel der Methylphenidat-
einem Alter von 19 Jahren und älter im gleichen Zeitraum die       Verordnungen für Kinder und Jugendliche ausgestellt. Eine
Verordnungen um 31 Prozent gestiegen sind. Bei weiblichen          Pharmakotherapie sollte allerdings erst bei moderater bezie-
TK-Versicherten der gleichen Alterskohorte beziffert sich die      hungsweiser schwerer AD(H)S – bei letzterer Ausprägung –
Zunahme auf 19 Prozent. Mögliche Erklärungen für den gene-         nach intensiver Psychoedukation angewendet werden. Methyl-
rellen Anstieg der Verordnungszahlen sind beispielsweise die       phenidat fällt im Übrigen unter das Betäubungsmittelgesetz.
Indikationserweiterung von Methylphenidat für Erwachsene           Der Gesetzgeber möchte mit dieser Regelung den Zugang zu
des Gemeinsamen Bundesausschusses im Jahr 2011, eine               Substanzen, die über ein gewisses Suchtpotential verfügen
erhöhte Vigilanz für das Krankheitsbild und eine konsequen-        und missbräuchlich angewendet werden können, erschweren.
tere Diagnostik.                                                   Auch wenn Experten berechtigterweise oft ins Feld führen, dass
                                                                   unbehandelte Patienten ein stark erhöhtes Risiko für Miss-
D i a g n o se ste l l u n g i s t an s p ru c h s vol l           brauch anderer Substanzen aufweisen, welches unter Methyl-
                                                                   phenidat-Behandlung auf den Prozentsatz der Normalbevölke-
Die Einschätzung, ob ein Patient an AD(H)S leidet oder nicht,      rung absinkt, zeichnet der Arzneimittelreport des Springer
trifft immer der behandelnde Arzt. Umso wichtiger ist es, dass     Verlags 2018 doch ein kritischeres Bild. Demnach hat die Nach­
dieser über eine umfassende Erfahrung im Umgang mit dem            beobachtung über einen Zeitraum von drei Jahren gezeigt,
Krankheitsbild verfügt. Denn die Diagnosestellung ist an­­         dass trotz Behandlung mit Methylphenidat erheblich mehr
spruchsvoll und zieht oft die Prüfung und Anwendung weiterer       Kinder straffällig wurden (27,1 Prozent gegenüber 7,4 bei
Behandlungsoptionen nach sich. Daher empfiehlt die S3-Leit­        Nichterkrankten) und der Drogenkonsum häufiger war (17,4
linie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizini-     versus 7,8 Prozent). Zudem kommt eine neuere Metaanalyse zu
schen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) von 2017 zur Diagnostik      dem Ergebnis, dass Methylphenidat zwar für die Therapie bei
und Therapie von AD(H)S bei Kindern, Jugendlichen und Er­­         Kindern und Jugendlichen Mittel der Wahl ist, bei Erwachsenen
wachsenen, dass die Diagnose von entsprechenden Fachärz­-          hingegen Amphetamine überzeugender sind.

                                                                                      Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019    21
Schwerpunkt

Vo r e i ne r M e t hy l p h en i d at -Verord n u n g         wenn man berücksichtigt, dass Betroffene bereits vor der
so l l te e i ne a b g es i c h er te D i ag n os e d u rc h   Diagnosestellung überdurchschnittlich häufig Ressourcen der
S p e zi a l i ste n vorl i eg en                              Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen und im Laufe
                                                               ihres Lebens meist Komorbiditäten wie Depressionen und
Diese Daten zeigen deutlich, dass vor einer Methylphenidat- Ängste auftreten.
Verordnung eine abgesicherte Diagnose durch Spezialisten
vorliegen und eine konsequente Verlaufskontrolle mit durch
einen Arzt eng begleitetem Auslassversuch erfolgen sollte.
Weiterhin sollte die Pharmakotherapie in ein multimodales Auto r:
Therapiekonzept integriert sein, um den Behandlungserfolg Jörn Simon
zu sichern. Folgt die Therapie diesen Vorgaben, ist ADHS übri- Leiter der TK-Landesvertretung

                                                                                                          Foto: TK
gens eine durchaus kostenintensive Erkrankung, insbesondere, Rheinland-Pfalz

 22     Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 11/2019
Sie können auch lesen