Afghanistan - das zweite Gesicht - Dossier - Bundeszentrale für politische Bildung
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Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 2 Einleitung Kriege und Konflikte überschatten die Geschichte Afghanistans, vor allem in jüngerer Zeit. Sie dominieren auch die Berichterstattung über das Land, das aus deutscher Perspektive noch Anfang des 20. Jahrhunderts ein nahezu weißer Fleck auf der Landkarte war (http://www.bpb.de/ internationales/asien/afghanistan/48614/deutschlands-engagement). Afghanistan hat aber weit mehr zu bieten als den anhaltenden Terror der Taliban. Im bunten kulturellen Leben dominierte früher ein gelebter Islam, der seine Stärke vor allem aus einer "Kultur der Ambiguität" zog: Viele Gelehrte sahen den unterschiedlichen Islamauffassungen und -praxen gelassen entgegen und richteten sich dabei nach der bekannten Tradition des Propheten Mohammed, dass der Dissens muslimischer Gemeinschaft ein Zeichen der Gottesgnade sei. Im traditionellen Handwerk und der Musik zeigten sich der Reichtum und Vielfalt der afghanischen Kultur besonders deutlich. Es ist ein anderes, zweites Gesicht Afghanistans, das afghanische Autoren hier von ihrem Land zeichnen. bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 3 Inhaltsverzeichnis 1. Der Islam in Afghanistan 4 2. Die afghanische Jugend zwischen Tradition und Moderne 9 3. Zeitgenössische afghanische Kunst 18 4. Die Rolle der Stämme 23 5. Das traditionelle Handwerk Afghanistans 33 6. Afghanische Diaspora und Brain Drain 40 7. Die Stimme vom Hindukusch 49 8. Landschaftsarchitektur und Siedlungsbau 54 9. Redaktion 59 bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 4 Der Islam in Afghanistan Das öffentliche Bild Afghanistans Von Abbas Poya 22.11.2012 Dr. Abbas Poya war Mitarbeiter am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), School of History. Seit Januar 2013 leitet er die Forschungsgruppe "Norms, Normativity and Norm Changes” an der Universität Erlangen. Islamischer Fundamentalismus, eine rückwärtsgewandte Religiosität und mittelalterliche Denk- und Lebensweisen bestimmen häufig das Bild von Afghanistan. Dabei hat das Land mittlerweile eine Verfassung, einen direkt gewählten Präsidenten und ein demokratisch gewähltes Parlament. Trotzdem können sich bestimmte religiöse Kräfte über das Gesetz stellen. Wie groß ist ihr Einfluss? Wie wird der Islam in Afghanistan verstanden? Am 12. August 2012 musste ein beliebter afghanischer Sänger, Shafiq Monir, sein seit langem geplantes Konzert in der Stadt Herat absagen. Grund war der Aufruf einiger Gelehrter der Stadt, allen voran der des populären Predigers Sheikh Mojib ar-Rahman Ansari. Ansari wollte das Konzert verhindern, weil er es für unmoralisch hielt. Dem Druck Ansaris und seiner Befürworter folgend, strichen die Behörden das Konzert schließlich. Das ist nicht das erste und wird wohl auch nicht das letzte Mal sein, dass bestimmte religiöse Kräfte in Afghanistan eine eigenwillige Interpretation des Islam vornehmen und sie den anderen aufzwingen. Auch vielen Afghanen diente der Vorfall als Beleg dafür, warum Afghanistan in der allgemeinen Wahrnehmung als ein rückschrittliches und vormodernes Land gilt. Mit Afghanistan werden seit mittlerweile über dreißig Jahren islamischer Fundamentalismus, rückwärtsgewandte Religiosität und mittelalterliche Denk- und Lebensweisen assoziiert. Es gilt als ein Land, in dem es keine Spur von Zivilität und Zivilisation gibt. Viele können vielleicht den politischen Anarchismus und die damit einhergehende religiös legitimierte bzw. motivierte Gewalt in der Zeit des Bürgerkrieges bis Ende 2001 noch nachvollziehen; es herrschte letztlich überall im Land Krieg und es gab keine souveräne Zentralregierung, die für Gesetz und Ordnung sorgen konnte. Inzwischen hat Afghanistan eine mit viel Aufwand verabschiedete Verfassung, einen vom Volk direkt gewählten Präsidenten und ein demokratisch gewähltes Parlament. Trotzdem können bestimmte religiöse Kräfte sich über das Gesetz stellen, ihre Meinung der Politik aufzwingen und letzten Endes die Souveränität des Staates sabotieren. Wie groß ist der Einfluss religiöser Akteure? Wie wird der Islam in Afghanistan verstanden? bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 5 Religiöse Akteure Religiöse Akteure und insbesondere die offiziellen Träger des Islam, die ‘olama’, haben in der politischen Geschichte Afghanistans immer wieder eine weitreichende Rolle gespielt. Diese Tatsache geht nicht zuletzt darauf zurück, dass sie im Prozess der Meinungsbildung und der politischen Orientierung vieler Menschen ein wichtiger Faktor sind. Die politische Klasse ist stets darum bemüht gewesen, für ihre Regierungsbeschlüsse und -praktiken die Zustimmung der ‘olama’ zu gewinnen. Die ‘olama’ wurden aber andererseits oft für bestimmte Politiken, die im Grunde mit eindeutigen Anforderungen des Islam nicht konform waren, benutzt. Amir Abdorrahman Khan (reg. 1881-1901), der sogenannte Eiserne Emir, konnte seine nationalistische Unterdrückungspolitik beispielsweise im Namen des Islam durchführen. Legitimiert durch Fatwas der ‘olama’ ging er erbarmungslos gegen religiöse und ethnische Minderheiten vor. Unterstützt durch einige ‘olama’ ließ er sogar religiöse Stiftungen in Beschlag nehmen. Dem als Reformkönig geltenden Amanullah (1919-1929) dagegen verweigerten die ‘olama’ ihre Unterstützung. So gelang es ihm nicht, liberale Reformen durchzusetzen. Nach einer Europareise in Begleitung seiner freizügig gekleideten Frau teilte Amanullah der "Großen Ratsversammlung" (Loya Jirga) seine Pläne zur Modernisierung des Landes mit. Dazu gehörten das Verbot der Sklaverei, die Religions- und Meinungsfreiheit und die Schulpflicht für Mädchen. Die religiösen Akteure, allen voran der einflussreiche Fazl Omar Mojaddadi, bekannt als Hazrat-e Shur Bazar, lehnten die Reformmaßnahmen ab und bezeichneten sie als nicht islamisch. Der anschließende Volksaufstand gegen Amanullahs Modernisierungsvorhaben führte letztlich zu seinem Sturz. Trotz derartiger Einflussnahmen wurden ‘olama’ nicht als eine politische Größe, sondern als eine religiöse Instanz angesehen. Die politisch zentrale Bedeutung, die den ‘olama’ in der Zeit des Widerstandes gegen die sowjetische Usurpation und des damit einhergehenden Bürgerkrieges zukam, war allerdings eine ganz neue Erscheinung, die das Selbstverständnis der ‘olama’ und ihr Bild in der Gesellschaft völlig veränderte. Diese neue gesellschaftspolitische Position religiöser Akteure ist u.a. auf die großzügigen finanziellen und militärischen Zuwendungen der Länder zurückzuführen, die die Widerstands- bzw. Bürgerkriegsparteien unterstützten. Die Führung dieser Parteien war zumeist in den Händen religiöser Akteure. Bald beanspruchten die ‘olama’, welche gewohnt religiöse Orientierung der Menschen bestimmten, auch die politische Führung. Während sie vor Kriegsbeginn allgemein auf die Gnade der politischen Klasse angewiesen waren, stellten sie während des Kriegs selbst die politische Führung dar. Diese Rolle wollen sie auch unter der neuen politischen Ordnung weiter ausüben, solange sie sich nicht als zivile sondern als religiös legitimierte politische Akteure verstehen. Der gelebte Islam Wie überall in der islamischen Welt zeichnet sich der Islam in Afghanistan durch eine Vielzahl von heterogenen Prägungen und Eigenheiten aus. Noch vor Kriegsbeginn wurde diese "Kultur der Ambiguität" im Alltag gelebt. Trotz aller Diskriminierung lebten auch nichtmuslimische Gemeinschaften wie Sikhs, Hindus, Juden neben schiitischen und sunnitischen Muslimen. Viele Gelehrte sahen den unterschiedlichen Islamauffassungen und -praxen gelassen entgegen und richteten sich dabei nach der bekannten Tradition des Propheten, dass der Dissens muslimischer Gemeinschaft ein Zeichen der Gottesgnade sei (ekhtelaf-o ommati rahma) – eine Tradition, die in der islamischen Geschichte vielerorts jahrhundertelang praktiziert wurde. Dieser Usus kennzeichnete die sogenannte Blütezeit der muslimischen Kultur (750-1250) mit ihren Zentren wie Bagdad, in denen sich Kunst, Wissenschaft und Forschung glanzvoll entfalten konnten. Schon in der frühislamischen Zeit gab es ganz legitim nebeneinander existierende divergente Lesarten des Korans und damit der Scharia. Diese Tatsache hat bis zum Aufkommen des ideologisierten Islam im 19. Jahrhundert kaum jemanden in der islamischen Welt gestört. Mehrdeutigkeit sprach nicht gegen eine göttliche Herkunft des Korans oder der Scharia. Wer kann schon behaupten, die Scharia gänzlich zu erfassen? Als Gelehrte hatte man lediglich den bescheidenen Anspruch, eine eigene Interpretation der Scharia zu präsentieren und nicht die Scharia. Daher hat man die Meinung eines Gelehrten als Ergebnis seiner individuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Scharia, als seinen ijtihad verstanden und nicht als "den einen wahren Islam". Dementsprechend haben auch die meisten Gelehrten in Afghanistan andere bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 6 Meinungen und Praktiken respektiert. Darüber hinaus weist der Islam in Afghanistan mystische Züge auf. Bis zum Aufbruch des Widerstandskampfes gegen die sowjetische Usurpation und des damit einhergehenden Bürgerkrieges hielt der mystische Islam Distanz zur Politik und forderte gemäß seines Selbstverständnisses Toleranz von den Menschen. Erst in der Kriegszeit mischte er sich zunehmend in die Politik ein und kämpfte wie die anderen Strömungen um mehr politischen Einfluss. Eine der wichtigsten Bruderschaften in Afghanistan stellt die Naqshbandeyya dar. Der Orden geht auf Muhammad Bahaoddin an-Naqshbandi (gestorben 1389) zurück und hat sich zunächst in Zentralasien verbreitet. In Afghanistan hat die Nashbandeyya vor allem unter den Tadschiken der Großstädte, aber auch unter einigen paschtunischen Stämmen im Süden und Südosten ihre Anhänger. Ein weiterer mystischer Orden in Afghanistan ist die Qadereyya. Der Begründer der ebenfalls einflussreichen Bewegung, Abd al-Qader Gilani (gestorben 1166), stammte aus Bagdad. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam die Bruderschaft nach Afghanistan. Im Gegensatz zu diesen beiden Orden, die vor allem in der Hauptstadt präsent waren, hatte der Chishteyya-Orden seine Anhängerschaft insbesondere in und um Herat, im Westen des Landes. Die Chisteyya wurde von Moinoddin Muhammad Chishti (gestorben 1236) gegründet und hat sich über die Grenzen des heutigen Afghanistans hinaus vor allem auf dem indischen Subkontinent verbreitet. Viele Menschen haben zwar die ‘olama’ als offizielle Träger des Islam betrachtet, sie hatten aber gleichzeitig ihre Beziehungen zu mystischen Bruderschaften und pflegten in ihrem Alltagsleben deren in der Regel offene Haltung, z.B. zur Musik oder zum Verkehr mit anderen religiösen Gruppen. Man legte ebenfalls viel Wert auf große zumeist mystisch orientierte Dichter. Ihre Gedichte wurden als Interpretation der koranischen Botschaft angesehen, ihre Einstellungen zum Leben und zur Welt wurden besonders geschätzt. Man nahm die Aufforderungen von Hafez (1320-1389) "In diesen beiden Ausdrücken liegt der Schlüssel zum Frieden im Diesseits und Jenseits" und "Übe den Freunden gegenüber Großmut und den Feinden gegenüber Toleranz" genauso ernst wie die Botschaft von Saadi (1190-1283): "Die Kinder Adams sind aus einem Stoff gemacht als Glieder eines Leibs von Gott, dem Herrn, erdacht Sobald ein Leid geschieht nur einem dieser Glieder dann klingt sein Schmerz sogleich in allen wider." Auch die Gedichte von Maulana Jalaloddin Balkhi (1207-1273) haben einen großen Platz im Alltagsleben der Menschen gehabt. Maulana sah die Liebe als Hauptkraft des Universums und das Universum als ein harmonisches Ganzes. Sein kultureller Kontext prägte selbstverständlich seine Vorstellungen von Gott, sein Gott kannte aber keine religiösen oder sonstigen Grenzen: "Was soll ich tun, o ihr Muslime? Denn ich kenn' mich selber nicht Weder Christ noch bin ich Jude, und auch Pars und Muslim nicht Nicht von Osten, nicht von Westen, nicht vom Festland, nicht vom Meer Nicht stamm' ich vom Schoß der Erde und nicht aus des Himmels Licht." Noch mehr als Hafez und Maulana wird in Afghanistan der große mystische Dichter Abdolqader Bidel Dehlavi (1645-1721) verehrt und gelesen. Er lebte und wirkte im Mogulreich und gehörte dem Qadereyya-Orden an. Seine Gedichte wurden von vielen Afghanen wie Koranverse rezitiert. Man beschäftigte sich mit ihm und seiner Philosophie in Lesungen und Diskussionsrunden. Eine Abendreihe über ihn unter dem Shab-e Aschoqan Bidel ("Abend der Bewunderer von Bidel") ist vielen Afghanen immer noch in Erinnerung geblieben. Der Meister der afghanischen klassischen Musik, Ostad Muhammad Hosain Sarahang (1923-1982), war der bekannteste Interpret der Dichtung von Bidel und sorgte mit seiner faszinierenden Stimme für die Omnipräsenz von Bidels Gedanken im Alltag vieler afghanischer Familien. Bidel wird als Anhänger einer gewissen pantheistischen Philosophie Vahdat al-vojud ("Einheit der Existenz") bezeichnet, der in dem als sehr komplex angesehenen Indischen bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 7 Dichtungsstil dichtete. Indem er diese komplexe Ausdrucksweise pflegte, machte er doch die Ambiguität des Seins deutlich. "Solange die Einzelnen nicht zueinanderfinden, kann keine Gemeinschaft existieren." "Eine Ähre ist keine, wenn die Körner nicht zusammenwachsen." Die Kriegszeit Krieg wurde in vielen Fällen der Religion halber geführt. So spricht man in der Geschichtswissenschaft vom "Religionskrieg" oder "Glaubenskrieg" oder auch vom "Konfessionskrieg". Krieg verändert gleichzeitig den Zugang zur Religion und deren Textgrundlagen. In der Kriegssituation duldet man keine Dissidenten und keinen Zweifel an eigenen, eindeutig formulierten und für absolut richtig gehaltenen Zielen. Auch die Religion soll im Dienste des Krieges und der mit ihm einhergehenden Gewalterscheinungen stehen und sie legitimieren. Auf diese Weise entsteht religiöser Fundamentalismus. So entstand er in der Geschichte des Christentums und so erschien er in der islamischen Geschichte. Der über dreißig Jahre andauernde Kriegszustand in Afghanistan hat kaum Platz fürs Weiterbestehen einer Kultur der Pluralität und Toleranz übrig gelassen. Vielmehr setzte sich ein einseitiges, für eindeutig gehaltenes und damit fundamentalistisches Verständnis des Islam durch. Bereits im "Jahrzehnt der Verfassung" (daha-ye qanun-e asasi) 1963-1973 haben sich vor allem in Kabul kleine islamistische Kreise gebildet. Ihr vordergründiges Anliegen war die Bekämpfung von marxistisch orientierten Gruppen, die über eine beachtliche Anhängerschaft unter den Studenten verfügten. Sie bezeichneten sich teils als "Jungmuslime" (javanan-e mosalman) und teils als "Islamische Gemeinschaft" (jameyyat-e islami) und wurden hauptsächlich von Persönlichkeiten geführt, die an der Al-Azhar-Universität in Kairo ausgebildet worden waren und mit dem Gedankengut der "Muslimbrüder" (ekhvan al-moslemin) vertraut waren. Zu den Führungskadern dieser Gruppen gehörten die Dozenten Gholam Muhammd Neyazi (gest. 1978) und Borhanoddin Rabbani (1940-2011) und die Studenten Golboddin Hekmatyar (geb. 1947) und Ahmad Shah Massud (1951-2001). Die drei Letzteren führten später nicht nur die wichtigsten Widerstandsparteien gegen die sowjetischen Truppen, sie lieferten sich auch gegenseitig blutige Kämpfe, die nach dem Rückzug der sowjetischen Armee noch erbitterter weitergeführt wurden. Die Logik des Krieges hat sich mit der Zeit fast aller religiösen Akteure und der mystischen Bruderschaften bemächtigt. Die herausragende Figur des Naqshbandeyya-Ordens Sebghatollah Mojaddadi (geb. 1925) mit seiner Partei Nationale Rettungsfront und der geistliche Führer des Qadereyya-Ordens Pir Sayyed Ahmad Gailani (geb. 1932) mit seiner Organisation Nationale Islamische Front und die Chishteyya-Bewegung in der Herat-Region waren nicht nur an dem Widerstandskampf beteiligt, sondern auch an den schmutzigen Brüderkriegen der Mujahidin. Die intellektuelle Nahrung der Gruppen waren nicht mehr und konnten auch nicht mehr die Gedichte von Maulana oder Bidel sein, sondern die Gedanken von den fundamentalistischen Vordenkern Sayyid Qutb (1906-1966) und Abu Ala Maududi (1903-1979). Die großzügigen finanziellen und militärischen Mittel, die die Kriegsparteien über Jahrzehnte erhielten, begünstigten und verfestigten die fundamentalistische Auffassung des Islam umso mehr. Fundamentalismus war schließlich der Marktrenner. Trotz einer einigermaßen demokratisch gewählten und halbwegs funktionierenden Zentralregierung herrscht weiterhin der Kriegszustand in Afghanistan und in den Köpfen einiger religiöser Akteure. Viele Menschen, insbesondere viele junge Männer und Frauen in den Großstädten, wollen dennoch zu einem normalen Leben zurückfinden. Geschäfte, wissenschaftliche Tätigkeiten, künstlerische Aktivitäten und literarisches Schaffen kehren in den Lebensalltag zurück und damit auch eine Kultur der Vielfalt. Wenn man einen Augenblick die kriegerischen Momente, die ebenfalls zum Alltag der Menschen gehören, ausblendet, spürt man in Kabul, in Herat, in Kandahar und in Mazar einen Hauch, einen sehr dünnen Hauch vom Bagdad des 10. Jahrhunderts voller Tüchtigkeit und Pluralität. bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 8 Ausgewählte Literatur Anderson, Ewan W. (ed.): The cultural basis of Afghan nationalism, London 1990 Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011 Farhang, Mir Mohammad Sadiq: Afghanestan dar panj qarn-e akhir (Afghanistan in den letzten fünf Jahrhunderten), Qom 1992 Ghobar, Mir Gholam Mohammad: Afghanestan dar masir-e tarikh (Afghanistan im Laufe der Geschichte), Qom 1980 Grevemeyer, Jan-Heeren: Afghanistan: sozialer Wandel und Staat im 20. Jahrhundert, Berlin 1990 Kateb-e Hazara, Faiz Mohammad: Seraj al-tavarikh, 4 Volume, Teheran 1991 / Kabul 2011 Poya, Abbas: Afghanistan, in: Werner Ende & Udo Steinbach (Hrsg.), Islam in the World Today. A Handbook of Politics, Religion, Culture, and Society, Cornell University Press 2010, S. 256-269. Poya, Abbas: Perspektiven zivilgesellschaftlicher Strukturen in Afghanistan. Ethische Neutralität, ethnische Parität und Frauenrechte in der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan, in: Orient 44/2003, S. 367-384. Rasanayagam, Angelo: Afghanistan: a modern history; monarchy, despotism or democracy? The problems of governance in the Muslim tradition, London 2003 Saikal, Amin: Modern Afghanistan. A history of struggle and survival, London 2006 Schetter, Conrad: Kleine Geschichte Afghanistans, München 2004 Schetter, Conrad: Ethnizität und ethnische Konflikte in Afghanistan, Berlin 2003 bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 9 Die afghanische Jugend zwischen Tradition und Moderne Von Sayed Asef Hossaini 21.1.2013 ist Doktorand an der "Willy Brandt School of Public Policy" in Erfurt. Er studierte an der Kabuler Universität Philosophie und Soziologie und an der "Willy Brandt School of Public Policy" Public Policy. Während seines Studiums in Kabul war er politisch aktiv als Vorsitzender einer Studentenbewegung. In ländlichen afghanischen Gebieten herrscht nach wie vor das Patriarchat, Vater und Großvater entscheiden in allen wichtigen Angelegenheiten. Insbesondere die Mädchen sind bei der Ausbildung, Heirat und der Ausübung eines Berufes vom positiven Votum ihrer Väter abhängig. Afghanische Jugendliche beim 3. "Go Skateboarding Day" am 21. Juni 2011 in Kabul. (© picture-alliance/dpa) Der ehemalige Vorsitzende des "Afghanischen Friedensrates", Burhanuddin Rabbani, warnte am 1. März 2011, nur einige Monate vor seiner Ermordung, in einer öffentlichen Rede vor den Stammesführern und afghanischen Geistlichen davor, dass "die junge Facebook- und Internetgeneration die Führung der Gesellschaft und die künftige Entwicklung" übernimmt.[1] Rabbani war der erste und hochrangigste politisch-religiöse Führer, der klar und deutlich seine Sorge vor der Moderne zum Ausdruck brachte. Er wurde am 20. September 2011 nicht durch die "junge Facebook- Generation", sondern von seinen traditionsorientierten Mitdenkern, den Taliban, getötet. bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 10 Warum fürchten sich die traditions- und religionsorientierten Anführer vor der Moderne? Sind ihre Befürchtungen ernstzunehmen? Wer sind die wichtigsten Akteure und Befürworter der Moderne in Afghanistan? Tradition, Moderne und Modernisierung Modernisierung wird meist mit der Industrialisierung in Verbindung gebracht und wird nach Elwell folgendermaßen definiert: Ein Prozess, der eine allgemeine gesellschaftliche Veränderung mit sich bringt, durch die Umwandlung der landwirtschaftlichen in die industrielle Produktion. Die kulturelle Komponente, die durch diese Entwicklung entstanden ist, wird als Moderne bezeichnet. Die wichtigsten Elemente der Modernisierung sind Aufklärung, Rationalität, Säkularisierung, liberale Demokratie, moderne Wissenschaft, technologische Innovation u.v.m. (Chirot,1986; Harrison, 1988; So, 1990; Giddens et al., 1994; Hall et al., 1996 and Kyong-Dong, 2005). Wir müssen zunächst zwischen den Begriffen "Tradition" und "Gewohnheiten und Sitten" unterscheiden. Tradition ist ein weiter Begriff, der Gegenstände, Anschauungen, Sitten und unterschiedliche Institutionen erfasst. "Gewohnheiten und Sitten" sind nur ein Teil der Tradition.[2] Mit anderen Worten umfasst die Tradition "alles, was von der Vergangenheit in die Gegenwart transferiert und übernommen worden ist".[3] Die Begriffe "Tradition" und "Gewohnheit" lassen sich in der afghanischen Sprache nur schwer unterscheiden. Beides wird unter "an-anah" (Überliefertes) subsumiert, obwohl "an-anah" eigentlich nur Gewohnheiten und Sitten umfasst, die eine Gesellschaft oder Volk von der Vergangenheit geerbt hat. Ähnlich dieser Beschreibung definiert auch Karl Deutsch (1961) den Übergang zur Moderne als einen "Prozess der sozialen Mobilisierung". Er definiert die Modernisierung so: "Es ist ein Prozess, in dem sich eine Reihe von großen alten sozialen, wirtschaftlichen und psychischen Verpflichtungen verändern oder zusammenbrechen und die Menschen sich für neue Sozialisations- und Verhaltensmuster vorbereiten."[4] Um Tradition und Moderne in Afghanistan zu untersuchen, lässt sich die afghanische Zeitgeschichte in drei Epochen einteilen: Die erste Phase beginnt 1919 und endet 1929; Die zweite Phase ist der Zeitraum zwischen 1929 und 1978, und die dritte Phase umfasst die Zeit zwischen 1978 bis 2001.[5] Die erste ernstzunehmende Wende zum Modernisierung und zur Moderne begann in Afghanistan unter der Regierung von König Amanullah Khan. Er begann in den 1920er Jahren mit vielseitigen Reformen wie zum Beispiel einer Steuerreform, einer Landwirtschaftsreform, Bildungsreform und Emanzipation für Frauen, d.h Kopftuchverbot, und dem Verbot der Sklaverei. Seine Politik war von der Modernisierung in Europa beeinflusst. Nach dem ersten Weltkrieg wurde hier die "alte Weltordnung" geändert und das österreichische, ungarische, russische, deutsche und ottomanische Imperium kollabierte. Obwohl die Reformen Amanullahs relativ zeitgleich zu den Reformen im Iran und der Türkei durchgeführt worden sind, blieben sie ohne Erfolg. Verglichen mit der Dauer der Reformen in der Türkei, die von 1924 bis zum Tod Kemal Atatürks 1938 andauerten und Reza Shah´s Herrschaft im Iran (1926-1941), war der Zeitraum von Amanullahs Bestrebunge aber kürzer (1919-1929). Entgegen der herrschenden Meinung wurden die ersten Reformen Amanullahs (1919-1924) nicht von der afghanischen Bevölkerung abgelehnt, sondern rasch von den Menschen akzeptiert. Das Gros der Bevölkerung befürchtete großen Widerstand gegen die neuen Ideen. Daher war die anfängliche Bereitschaft diese anzunehmen, überraschend. Mir Ghulam Mohammad Ghobar 1897-1978), ein afghanischer Historiker und Politologe, schreibt in seinem Buch "Afghanistan im Laufe der Geschichte" (Afghanistan Dar Masire Tarikh): "Die Menschen in Afghanistan, die einen Fortschritt wollten, haben ernsthaft mit dem Staat zusammengearbeitet und haben alle Reformen begrüßt, so wie sie während des anglo-afghanischen Krieges mit ihrem Leben und ihrem Besitz für den Staat einstanden. Sie setzten sich für die Förderung bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 11 des neuen Bildungssystems ein und akzeptierten die Steuererhöhung, die für diese Reform genutzt werden sollte. Sie beteiligten sich freiwillig am Ausbau der Infrastruktur und unterstützten die moderne Industrie und das demokratische System." "Die Afghanen suchten ernsthaft den Fortschritt. Sie unterstützen die Politik der Regierung und befürworteten in der Tat die neuen Reformen. Genauso wie sie im Krieg gegen England ihr Leben und Gut eingesetzt hatten, unterstützen sie auch diese Maßnahmen. Um die moderne Bildung zu fördern, akzeptierten sie eine Zusatzsteuer (einige Peyssehs je Rupie) als "Bildungsbeitrag". Die Bevölkerung unterstützte freiwillig den Ausbau von Straßen, die moderne Industrie und das demokratische System." [6] Amanullah träumte nicht nur von einem modernen Afghanistan, sondern auch von einem modernen Islam. Er wollte mit seinen gesellschaftlichen Reformen eine Führungsrolle in der islamischen Welt übernehmen. Dennoch führten die Reformen in ihrer zweiten Phase ab 1927 in eine Sackgasse. Ghobar betont in seinem Buch, dass die Afghanen zu keiner Zeit einen Aufstand gegen Zivilisation und Kultur unternommen haben. Die Menschen bauten (trotz einer durch den England-Krieg einsetzenden Armut) unter Amanullah Straßen und Schulen; sie spendeten für den Ausbau der Bildung und nahmen höhere Steuern in Kauf.[7] Ghobar führt den Fehlschlag der Reformen auf "Missstände in der öffentlichen Verwaltung und Korruption" zurück. Auch habe der ausländische Feind die Unzufriedenheit der Bevölkerung für seine Interessen genutzt.[8] Es scheint aber, dass die rasante Durchsetzung mancher Reformmaßnahmen Ursache für diesen Fehlschlag war, worunter vor allem die Reform der Frauenrechte zählt. Amanullah wollte die Polygamie abschaffen, die Höhe der "Morgengabe" begrenzen, "Kinderverlobungen" verbieten. Insbesondere wollte er jene Sitte abschaffen, nach der bei Auseinandersetzungen anstatt "Blutgeld" ein Mädchen zur Wiedergutmachung angeboten wurde. Diese Reformen, begleitet von einer Landreform führten zur Konfrontation mit Paschtunen-Stämmen, die sozusagen für "Gold, Frau und Boden" (Zar, Zan, Zamin) Krieg führen. Sie fühlten sich in ihrer Tradition zu sehr beschnitten.[9] Nach den Modernisierungsplänen von Amanullah Khan, der die Tradition durch moderne Werte ersetzen wollte, gab es keine ernsthaften Modernisierungsschritte mehr. Obwohl Thomas Barfield, ein Anthropologe an der Boston Universität, die Meinung vertritt, dass die afghanischen Regierungen im 20. Jahrhundert die Modernisierung des Landes angestrebt haben, ist festzustellen, dass nach dem Sturz Amanullahs 1929 bis 1978 kein westlicher Modernisierungsschritt von Erfolg gekrönt war. Grund dafür war, dass die "Tradition" als wichtigstes Element der "Nation Building" in Afghanistan am meisten berücksichtigt und betont wurde. Zusätzlich unter der Annahme, dass die Reformen Amanullahs wegen ihrer Konfrontation mit der Tradition, insbesondere mit "Pashtunwali" (Verhaltenskodex der Paschtunen) und wegen der ablehnenden Haltung der Paschtunen erfolglos blieben, unterließen die Regierungen nach Amanullah jeden neuen Versuch, sich mit der Tradition anzulegen. Der 2. Modernisierungsversuch wurde in den 1970er Jahren von Mohammad Daud Khan und danach in den 1980er Jahren von der "Volksdemokratischen Partei" (PDPA) unternommen. Die PDPA ging bewusst oder unbewusst jenen Weg, der zum Sturz Amanullahs geführt hatte.[10] Der Punkt an dem Amanullah letzendlich scheiterte war, als die Kleriker seine Reformen als islamfeindlich titulierten. Das führte zu seinem Sturz im Jahr 1929. Die Modernisierung, die ein halbes Jahrhundert nur eine städtische Erscheinung geblieben war, wurde erneut in radikaler Form auf die Tagesordnung gesetzt und erlebte erneut mit dem Sturz des kommunistischen Regimes 1991 eine Niederlage.[11] Nach dem Kollaps des kommunistischen Regimes 1992 haben islamistische Mujahedin Gruppierungen die Macht an sich gerissen und später dann die Taliban. Seit den Neunzigern kamen die Modernisierungsbestrebungen ins Stocken. Seit 2001 gibt es wieder Bemühungen und Schritte in Richtung Fortschritt, obwohl die politische und wirtschaftliche Macht in großen Teilen noch in den Händen der traditionellen Führer liegt. bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 12 Die traditionsorientierten politischen Systeme Afghanistans (insbesondere die königlichen Regime) haben immer die "Tradition" und die traditionellen Führer für den Fortbestand ihrer Macht instrumentalisiert. Die "Loya Jirga" ist immer noch das stärkste "Legitimationsorgan" des modernen afghanischen Staatsapparats, obwohl es auch gesetzgebende Organe wie Parlament und Senat gibt. Die Loya Jirga ist eine nationale große Ratsversammlung, bei der sich traditionelle und lokale Führer sowie Geistliche, die als einflussreich gelten, versammeln und Entscheidungen für das Land treffen. Basierend auf den vorherigen Definitionen von Moderne und Tradition ist festzuhalten, dass der Übergang zur Modernität in einer Gesellschaft mit einem Wandel des "sozialen Verhaltens" bzw. des "Wertesystems" einhergeht. Mit anderen Worten geschieht der Wandel von der "Tradition" zur "Moderne" auf zwei Ebenen: "Wandel der Institutionen" und des "Wertesystems", d.h. der "Verhaltensmuster". Die afghanische Jugend zwischen Tradition und Moderne Die Lage der afghanischen Jugend lässt im Übergangsprozess von der Tradition zur Moderne in zwei "Gerüsten" analysieren. Diese sind: "Institutionen" und "Wertesysteme". Afghanistan ist eine junge Gesellschaft. Nach Angaben des "Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen" (UNDP) sind ca. 68% der Menschen jünger als 25 Jahre. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt aber nur rund 44 Jahre.[12] Das neue soziale und politische Klima in Afghanistan nach dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 gab der Jugend neue Möglichkeiten in die Hand, so dass Sie mit neuen Instrumenten "Tradition" und "Moderne" begegnen konnte. Sie hatte durch Stipendien die Möglichkeit ins Ausland zu reisen, Zugang zu Internet, Büchern, Fernsehen und Telekommunikationsoptionen. Die afghanische Jugend lässt sich generell in zwei Kategorien einteilen: Städtische und ländliche Jugend. Die städtische Jugend lebt hauptsächlich in den fünf großen Städten Kabul, Mazare Sharif, Herat, Kandahar und Jalalabad. Dagegen lebt der größere Teil in ländlichen Dörfern. Die neuen Möglichkeiten haben mehr oder weniger beide Bevölkerungsgruppen beeinflusst. Die Jugend auf dem Land In der ländlichen Gegend sind noch die traditionellen Institutionen und Wertesysteme stark. In den Dörfern bestimmen vor allem zwei Institutionen das soziale Verhalten: Die "Religion" und der "Ältestenrat". Die Vertreter dieser Institutionen üben gleichzeitig ihren Einfluss auf andere sozialen Organisationen und Gruppen aus, und so werden Schulen, Bazar und familiäre Verhältnisse von ihren Entscheidungen geprägt. Die auf dem Land lebende Jugend hat de facto kaum Möglichkeiten dem Zwang des "an-anat" (Wertesystems) zu entkommen. Traditionelle Institutionen prägen ihr soziales Verhalten. Junge Menschen müssen sogar den Zeitpunkt ihrer Heirat mit diesen traditionellen Organen abstimmen. Die Kleriker repräsentieren aber nicht nur ein altes Wertesystem, sondern haben auch die Möglichkeit (je nach Erfordernissen der Zeit) neue Werte zu proklamieren, um in ihrem Einflussbereich neue Verhaltensweisen zu erzeugen. Dabei wird der neue Wert in das System der "an-anat" aufgenommen, um das neue Verhalten zu legitimieren. Mit anderen Worten werden unter den afghanischen Dorfbewohnern ständig Traditionen "reproduziert". Dies ist das, was Eric Hobsbawm[13] (1983) "Erfindung der Tradition" (Invention of tradition) nennt. Hobsbawm zufolge bedeutet die "Erfundene Tradition meint ein Bündel von Praktiken ritueller oder symbolischer Natur, die gewöhnlich von offen oder stillschweigend anerkannten Regeln bestimmt werden. Sie strebt danach, bestimmte Werte und Normen des Verhaltens durch Wiederholung einzuimpfen, was automatisch den Eindruck einer Kontinuität der Vergangenheit erweckt. Tatsächlich aber wird versucht, wo immer das möglich ist, den Anschluss an eine möglichst brauchbare Vergangenheit zu konstruieren.”[14] Man hat in manchen afghanischen Dörfern sogar die Beobachtung gemacht, dass traditionelle Führer bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 13 moderne technische Möglichkeiten wie Fernseher und Satelliten-Anlagen abgelehnt haben. Die Kleriker besitzen also die "Macht etwas zu definieren", so dass sie mit der Definition eines Phänomens Dinge akzeptieren oder verurteilen. Zum Beispiel kann ein Mullah ganz einfach die Satelliten-Anlagen als "religiöses Verbot" einstufen. Dies reicht aus, um den Kauf, Verkauf , Besitz und Nutzung solcher Anlagen als Verstoß gegen das "Wertesystem" zu deklarieren. Genauso können Mullahs bestimmen, dass die Weigerung der Verheiratung von minderjährigen Mädchen gegen die "an-anat" sei. Dadurch werden Familien gezwungen ihre Mädchen bereits im Kindesalter zu verheiraten. Wer sich gegen die Verbote auflehnt, hat mit Sanktionen und gesellschaftlichen Ausschluss zu rechnen. "An-anat" sind also eher ungeschriebene und unklare Verhaltensvorschriften, die von religiösen Führern definiert und redefiniert werden. Wie Gusfieldes [15]ausdrückt, greifen die Akteure zur Legitimierung ihres jetzigen Verhaltens auf Traditionen zurück. Gusfield schreibt: "Menschen greifen auf die Vergangenheit als Tradition zurück, um ihre jetzigen Handlungen auf eine legitime Grundlage zu stellen. Dabei wird die Tradition zu einer Ideologie und einem Programm für die Handlungen und funktioniert als ein Ziel oder Legitimationsmittel."[16] In der ländlichen afghanischen Gesellschaft basiert soziales Verhalten noch auf traditionellen Abmachungen wie dem Patriarchat. Das Patriarchat hat neben anderen anerkannten traditionellen Institutionen der Gesellschaft einen direkten und mächtigen Einfluss auf die Jugend. Das Patriarchat besitzt eine innere hierarchische Rangordnung, so dass mehrere Generationen (Sohn, Vater und Großvater) unter einem Dach zusammenleben, wobei der Großvater der Mächtigste von allen ist. Junge Menschen können nicht alleine entscheiden, sondern können ihre Wünsche nur vorbringen. Die eigentlichen Entscheidungsträger sind dann Vater und Großvater. Insbesondere die Mädchen sind bei der Ausbildung, Heirat und der Ausübung eines Berufes vom positiven Votum der Väter abhängig. Städtische Jugend In afghanischen Städten scheint der Kampf zwischen "Tradition" und "Moderne" viel heftiger ausgetragen zu werden. Traditionelle Organe, die in Dörfern eine konkurrenzlose Macht ausüben, werden in urbanen Zentren ständig von der "Moderne" herausgefordert. In den Städten haben zwei synchrone Erscheinungen stattgefunden: Wandel der Institutionen und des Wertesystems. Die neue afghanische Gesellschaft (Post-Taliban) ist stärker denn je zu einer Basis und Grundlage für das "Modernisierungstraining" geworden. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1974) ist der Ansicht, dass ein politisches System nach dem Modell einer westlichen Demokratie mit der Moderne kompatibel ist.[17] Das neue politische System und die modernen Kommunikationsmöglichkeiten führten dazu, dass die afghanische Jugend sich sehr leicht mit anderen Werten bekannt machen konnte. TV-Sender, Handys, Internet, soziale Netze, virtuelle Dialoge, Bücher und Auslandsreisen sind ein Teil der Möglichkeiten, die die städtische afghanische Jugend im neuen System kennengelernt hat. In der urbanen afghanischen Gesellschaft sind staatliche Einrichtungen und traditionelle Führer nicht die einzigen zivilgesellschaftlichen Institutionen. Daneben entstanden nach dem Sturz der Taliban zum ersten Mal in Afghanistan auch zivilgesellschaftliche Einrichtungen, die allmählich immer stärker wurden und der Tradition Einhalt gebieten konnten. Obwohl diese Einrichtungen nicht die traditionellen Institutionen ersetzen konnten, haben sie wenigstens [18]die "Wahlmöglichkeit" (range of alternatives) erweitert. Der Stiftung für Kultur und Zivilgesellschaft (FCCS- Foundation for Culture and Civil Society) zufolge, waren 2010 rund 2918 zivilgesellschaftliche Organisationen in allen Provinzen des Landes aktiv. Organisationen für den Schutz von Frauenrechten, Jugendorganisationen, Literaturkreise, Intellektuellen-Vereine und Studentenverbände sind einige dieser Einrichtungen, welche die Macht der traditionellen Institutionen etwas zurückdrängen. Die Organisation Young Women for Change (Junge Frauen für Wandel) setzt sich gegen Gewalt gegen Frauen ein und kämpft gegen das Patriarchat bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 14 in der afghanischen Gesellschaft. Mit Demonstrationen und Kampagnen im Internet versucht die Organisation die traditionelle Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft[19] zu verändern. Trotzdem nutzen die Vertreter der Tradition in den Städten Moscheen und gelegentlich staatliche Stellen, um auf die Gesellschaft und Jugend Einfluss zu nehmen. In Justizangelegenheiten sind es nicht mehr nur staatliche Stellen und Mullahs, welche Einfluss nehmen, sondern es treten auch zivilgesellschaftliche Organisationen auf die Bühne. Beispielsweise wurden 2005 zwei Studenten in Herat der "Apostasie" bezichtigt. Dagegen protestierten zivilgesellschaftliche Organisationen insbesondere die "Bewegung Afghanischer Studenten", so dass die beiden Studenten der Todesstrafe entkommen konnten. Neben der Entstehung von modernen Institutionen haben sich auch moderne Wertorientierungen entwickelt. Die afghanische Jugend lernte durch den Zugang zu Informationen aus dem Ausland neue Wertvorstellungen wie Menschenrechte, individuelle Freiheit, Meinungsfreiheit, Frauenrechte, Kinderrechte und Toleranz kennen. Hinzu kommt, dass neue Wertorientierungen auch die " Gesellschaftsverträge" beeinflusst haben. In den Städten gelten nicht mehr "einseitige patriarchale Verträge", vielmehr haben Wirtschaft und Kultur modernere soziale Vertragsformen auf den Weg gebracht. Ein in Kabul lebender berufstätiger junger Mann, der seine Familie versorgen muss, kann auch weitgehend selbst Entscheidungen treffen. Es gibt in den Städten auch junge Menschen, die auf der Suche nach einer neuen und unabhängigen Identität sind. Diese haben bewusst oder unbewusst den "Liberalismus" zu einen modernen Wert erklärt und praktizieren ihn. Beispielsweise haben junge Mitglieder eines Literaturkreises in Mazare Sharif sich Nachnamen zugelegt, obwohl es in Afghanistan nicht üblich ist, einen Nachnamen zu tragen. Stattdessen wird in Urkunden der Name des Vaters eingetragen. Dichter und Publizisten wählen aber unabhängig von ihren Vätern und den traditionellen Institutionen einen Nachnamen, auch wenn dieser in amtlichen Dokumenten nicht auftaucht. Neben wirtschaftlichen Faktoren, die das Patriarchat in Städten geschwächt haben, haben auch private afghanische Medien durch die Verbreitung einer modernen Kultur neue Wertorientierungen in die Familien hineingetragen. Viele Medien bieten Inhalte an, die die Nutzer mit modernen Werten konfrontieren, und tragen dazu bei, dass die Menschen sich weitgehend nicht mehr an "an-anat " orientieren. "An-anat" sind in der afghanischen Gesellschaft "heilig". Da sowohl Religion als auch nicht-religiöse Sitten unter dem Schirm der "an-anat" stehen, werden sogar nicht-religiöse Gewohnheiten für heilig erklärt. Somit wird jedes Antasten dieser Gewohnheiten als Angriff und Beleidigung der Religion verstanden und kann gefährlich werden. Beispielsweise hat eine Studentin in Mazare Sharif als Vegetarierin mit ihren Kommilitonen über die Nachteile des Fleischkonsums diskutiert. Dies rief heftige Widersprüche unter einigen religiösen Kommilitonen hervor. Diese jungen Menschen sagten ihr: "Gott hat den Fleischkonsum und Tieropfer erlaubt". Das ganze eskalierte und führte dazu, dass die Studentin von ihren Kommilitonen der Apostasie bezichtigt wurde. Fälle wie dieser zeigen, dass der Traditionalismus nicht nur eine Eingenart der älteren Generation der Afghanen ist. Auch ein Teil der Jugend scheint traditionsorientiert und neuen Ideen und Interpretationen des Islam gegenüber skeptisch zu sein. bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 15 Fazit Die städtische afghanische Jugend besitzt gute Instrumente und Möglichkeiten, um den Übergang von der Tradition in die Moderne zu bewältigen. In den urbanen Zentren ersetzen allmählich moderne Institutionen und Wertvorstellungen die traditionellen Einrichtungen und Werte. Diese Transformation wird aber gelegentlich von schweren Spannungen begleitet. Massenmedien, Internet, virtuelle soziale Netze, das Erlernen von Fremdsprachen und Buchlektüre sind Faktoren, die der Jugend geholfen haben, die Außenwelt Afghanistans zu kennen und moderne Werte anzunehmen. Der ITU (International Telecommunication Union) zufolge gab es 2012 ca 1,5 Millionen Internet- User in Afghanistan.[20]Die Jugend ist bemüht, sich von der Tradition als einem " Heiligen Tabu" und "absoluter Entscheidungsinstanz" zu entfernen. In ländlichen afghanischen Gebieten herrschen nach wie vor – aufgrund mangelnder Kommunikation und wirtschaftlicher, politischer und sozialer Entwicklungen – die traditionellen Institutionen. Die Vorherrschaft der Tradition macht sich hier auf allen Ebenen des Lebens der Jugend bemerkbar. Der noch gültige "Gesellschaftsvertrag" ist hier das "Patriarchat". Dagegen gelten in den Städten auch andere "Gesellschaftsverträge", die das Patriarchat teilweise zurückgedrängt haben. Bibiliographie Barfield, T. (2010). Afghanistan; A Cultural and Political History. Princeton: Princeton University Press. Eric Hobsbawm, Terence Ranger. (1983). The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge University Press. Gusfield, J. R. (1967). Tradition and Modernity: Misplace Politics in the Study of Social Change. American Journal of Sociology , 72 (4), 351-362. Kyong-Dong, K. (2005). Modernization as a Politico-Cultural Response and Modernity as a Cultural Mixture: An Alternative view of Korean Modernization. DEVELOPMENT AND SOCIETY , 1-24. Moten, A. R. (2011). Modernity, tradition and modernity in tradition in Muslim societies. Intellectual Discourse , 1-13. Rabbani, B. (2011, 03). Youtube. Retrieved 06 03, 2012, from Youtube: http://www.youtube.com/watch? v=XrubUFmKPKI Shils, E. (1981). Tradition. Chicago: University of Chicago Press. Sirat, H. (2012, 04 15). Afghanistan. Retrieved 06 10, 2012, from Deutsche Welle Dari: http://www.dw. de/dw/article/0,,15883599,00.html UNDP. (2010). United Nations Development Programme Annual Report 2010. UN. Winter, Elisabeth. (2010). Civil Society Development in Afghanistan. NGPA, London School of Economics. , . . (1374). (Vol. ). : . bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 16 Zitationen "Amanullah was keen to discourage plural marriages, restrict marriage payments, ban child engagement, and end the custom of setting blood feuds by an exchange of women….Pashtuns famously proclaimed that they fought for only three things, zar, zan, and zamin (gold, women and land). Barfield, 2010, p.185 "Tradition includes material objects, beliefs, images, practices and institutions". (Moten, 2011) Tradition "is anything which is transmitted or handed down from the past to the present". (Shils, 1981) "Modern generally means a national state characterized by a complex of traits including urbanization, extensive mechanization, high rate of social mobility and the like" (Moten, 2011, p.2) "The process in which major clusters of old social, economic and psychological commitments are eroded or broken and people become available for new patterns of socialization and behaviour" (Moten, 2011, p.2 ) "Invented tradition' is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past" (Hobsbawm 1983, p.1) Men refer to aspect of the past as tradition in grounding their present actions in some legitimating principle. In this fashion, tradition becomes and ideology, a program of action in which it functions as a goal or as a justificatory base (Gusfield 1967, p. 358). "a political system based upon a Western model of democracy [is] compatible with modernity" Moten, 2011, p.2 The old is not necessarily replaced by the new. The acceptance of a new product, a new religion, a new mode of decision-making does not necessarily lead to the disappearance of the older form. The new forms only increase the range of alternatives (Gusfield, 1967, p. 354). Fußnoten 1. Rabbani, 2011 2. Moten, 2011, Seite 1 3. Shils, 1981, Seite 12 4. Moten, 2011, Seite 2 5. Barfield, 2010, Seite 169 6. Ghobar, "Afghanistan dar masir-e tarik" (Afghanistan im Laufe der Geschichte), Teheran 2011 (1390), Seite 667 7. Ebda, 1374, Seite 668 8. Ebda, Seite 669 9. Barfield, 2010, Seite 185 10. Ebda, Seite 231 11. Ebda, Seite 339 12. UNDP, 2010 13. Eric Hobsbawm (1917-2012) ist ein britischer Historiker und Verfasser von "The Invention of Tradition" und "The Age of Extremes" 14. Hobsbawm, Ranger, 1983, Seite 1 15. Joseph. R Gusfield ist ein emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Kalifornien. bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 17 16. Gusfield 1967, Seite 358 17. Moten, 2011, Seite 2 18. Gusfield, 1967, Seite 354 19. Sirat, 2012 20. www.internetworldstats.com/asia/af.htm (http://www.internetworldstats.com/asia/af.htm) bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 18 Zeitgenössische afghanische Kunst Von Mohammad Ali Karimi 5.12.2012 war Dozent für Film und Theater an der Kabuler Universität. Er studierte Film und Theater an der Kabuler Universität (BA) und Kommunikationswissenschaften an der Universität von Ottawa (MA). Gleichzeitig war er Produzent und Journalist. Derzeit promoviert er in Kommunikationswissenschaften an der McGill Universität in Montreal. Die moderne Kunst in Afghanistan war immer ein westliches Projekt: In den 1920er Jahren verbreiteten die ersten afghanischen Künstler mit westlichem Wissen den europäischen Stil der Malerei in Afghanistan. 1983 wurde die erste afghanische Nationalgalerie mit 200 von den in Kabul residierenden westlichen Botschaften zur Verfügung gestellten Werken eröffnet. Nach den Taliban und ab 2001 ist es wieder der Westen, der die moderne Kunst in Afghanistan bekannt macht. Der erste Künstler, der den europäischen Malereistil in Afghanistan einführte, war Ghulam Mohammad Meimangi (1873-1935). Er war der berühmteste afghanische Maler des 20. Jahrhunderts und ein glückloser Usbeke aus dem Norden Afghanistans. Als er elf Jahre alt war, wurde sein Vater von Amir Abdul Rahman des Aufruhrs beschuldigt, von Meimaneh nach Kabul deportiert und enthauptet. Der Sohn wurde wegen seines Malereitalents in den Hof aufgenommen. Ghulam Mohammad lernte beim englischen Hofarzt John Alfred Gray und Mir Hesamuddin Rassam, der im königlichen Palast Wandmalereien durchführte. Nach dem Tode von Amir Abdul Rahman 1910 wurde die Situation von Ghulam Mohammad schlimmer. Amir Habibullah Khan (1901-1919), der Sohn und Thronfolger von Amir Abdul Rahman, inhaftierte Ghulam Mohammad Meimangi wegen seiner Beteiligung an einer politischen Bewegung, die abzielte auf die Einführung einer konstitutionellen Monarchie. Aber auch im Gefängnis hatte er keine Ruhe: Täglich brachten ihn die Soldaten mit Handfesseln in den Hof, wo er zum Malen gezwungen wurde. Der Amir befahl dem Gefangenen Maler gar, sein Porträt zu malen. Das von Ghulam Mohammad gemalte Porträt von Amir Habibullah wird bis heute in der Kabuler Nationalgalerie aufbewahrt. Als Amanullah Khan (1919-1929) als nächster afghanischer König 1919 an die Macht kam, ließ er Ghulam Mohammad Meimangi frei und schickte ihn 1921 zur Weiterbildung nach Berlin.[1] Ginge es nach der restriktiven Definition der Kunsthistoriker, dann ist die "Zeitgenössische Kunst" in Afghanistan ein ganz neues Phänomen. Mit "Zeitgenössischer Kunst" meint man die Stils und Genres, die nach dem 2. Weltkrieg in der Kunst entstanden sind. Als "Moderne Kunst" bezeichnet man die am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene Kunstbewegung. Die Moderne Kunst gibt jene "Schulen" wieder, die in Europa entstanden, und in diesem Sinne wird jeder Künstler einer "Schule" zugeordnet. Dagegen umfasst die "Zeitgenössische Kunst" ein weiteres Spektrum, und lässt sich nicht in eine bestimmte "Schule" pressen. Die "Zeitgenössische Kunst" hat heute ein Stadium erreicht, in dem die Grenze zwischen "Kunst" und "Unkunst" nicht mehr erkennbar scheint. In diesem Sinne kann alles ein Kunstmedium und jeder ein Künstler sein. Die größte Begegnung der "Zeitgenössischen Kunst" der Welt ist die Documenta, die 2012 zum 13. Mal stattfand. Neben ihrer Hauptausstellung in Kassel wurde 2012 ein Teil der Ausstellungsstücke nach Kabul gebracht. Vom 20. Juni bis zum 19. Juli 2012 fand die Ausstellung in "Baghe Bobor" (ein bekannter Garten in Kabul) statt. Die meisten der Stücke waren Werke von afghanischen Künstlern. Diese Ausstellung zeigte in hervorragender Weise die Veränderungen der afghanischen Kunstszene ein Jahrhundert nach der Einführung der europäischen Malkunst in Afghanistan. Sehr beachtlich war bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 18.05.2021) 19 in dieser Ausstellung der große Abstand der afghanischen Künstler von realistischen Gemälden von Ghulam Mohammad Meimangi am Anfang des Jahrhunderts. Von Hotel One bis zum Königlichen Palast 1971 reiste der italienische Konzeptkünstler Alighiero Boetti nach Kabul und verliebte sich in diese Stadt. Er kaufte hier ein Gebäude und machte daraus ein Hotel (Hotel One), das ihm neben der Bewirtung von Gästen auch als Kunstprojekt dienen sollte. Dieses Hotel war bis 1979 im Betrieb, also bis zum Beginn des Krieges, und Boetti arbeitete dort. Er schaffte dort moderne Kunstwerke auf der Grundlage des Handwerks von afghanischen Frauen. Er bestellte bei afghanischen Frauen gestickte Landkarten der Welt. Diese wurden später unter dem Begriff "Mappa" bekannt. Diese sind auch Jahre nach seinem Tode die wohl erfolgreichsten Werke des Künstlers. Er war der erste ausländische Künstler, der ernsthaft eine zeitgenössische Kunstrichtung in Kabul produzierte.[2] Einige Wohnblöcke vom "Hotel One" entfernt wohnte ein anderer Künstler hinter den Mauern des Königlichen Palastes: Es war der letzte afghanische König Mohammad Zahir und auch wohl der erste afghanischer Künstler des modernen Stils, der sich mit abstrakter Malerei und Photographie beschäftigte. Zahir Shah besuchte zwischen 1923 und 1929 in Paris die Lycée Johnson de Sailly und wohnte im Haus eines Abgeordneten des französischen Parlaments. Dieser nahm regelmäßig den Kronprinzen mit ins Parlament, um ihn mit der parlamentarische Demokratie bekanntzumachen. Zahir Shah lernte neben der Demokratie und Französisch in Paris auch die moderne Kunst kennen. In den 1920er Jahren war Paris Schauplatz der Avantgarde und der Bewegung der modernen europäischen Kunst. Wahrscheinlich wurde der junge Mann aus Afghanistan gerade deshalb von der modernen Kunst angezogen. 1929 kam der Kronprinz nach Kabul. Vier Jahre später, nach der Ermordung seines Vaters, bestieg er widerwillig den Thron. Mohammad Zahir Shah war der erste afghanische König, der in den 1960er Jahren Parlamentswahlen zuließ. Er war auch der erste Afghane, der abstrakte Bilder nach dem Stil der Pariser Moderne malte. Im Dokumentarfilm von Atiq Rahimi "Eine Monarchie im Exil" (2003) zeigt er seine Bilder.[3] Geschichte der Gegenwartskunst In Afghanistan gibt es nur eine Kunstgalerie, nämlich die Nationale Afghanische Kunstgalerie, die 1983 unter dem Namen "Negarkhaneh" (Haus des Betrachtens) mit 200 Kunstwerken ihre Arbeit begann. Diese Kunstwerke bestanden aus Gaben der westlichen Botschaften in Kabul. Bis 1991 wurden 820 Kunstwerke gesammelt. Als die Taliban an die Macht kamen, vernichteten sie 300 der Werke, die Lebewesen darstellten, und schlossen die Galerie. Die Angestellten der Galerie retteten aber unter den Taliban eine kleine Zahl der Werke und versteckten sie in einem Privathaus. Einige kostbare Stücke gingen in diesem Wirrwarr verloren. Um manche Bilder zu retten, übermalten die Angestellten diese mit Wasserfarbe und Landschaftsmotiven. Nach dem Sturz der Taliban wurde diese Farbe wieder weggewischt. Man kann die Geschichte der modernen Kunst in Afghanistan anhand der in der Nationalgalerie ausgestellten Werke erzählen. Das älteste Gemälde stammt von Ghulam Mohammad Meimangi und geht auf das Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Die Suche in den halbdunklen Gängen dieses dreistöckigen Hauses führt uns zu einer Einteilung der Gegenwartskunst in drei Perioden: In der ersten Phase brachte Ghulam Mohammad Meimangi den europäischen Realismus nach Afghanistan. Diese Phase umfasst die Zeit zwischen den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts und endet mit seinem Tod im Jahre 1935. Damals war die Photographie noch nicht verbreitet, die Menschen ließen sich von den Feinheiten und realistischen Zügen der Bilder von Ghulam Mohammad Meimangi und dessen Schülern in Kabul begeistern. Obwohl Meimangi als Vorreiter dieses Stils einen besonderen Rang genießt, war er im Vergleich zu seinen europäischen Zeitgenossen kein kreativer Maler. Er war bpb.de
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