Akademisches Schikanieren: Wie Lehrkräfte professionalisierung in den Bereichen Beziehungsarbeit und Unterrichts-qualität zu sozioökonomischer ...
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Akademisches Schikanieren 241 Empirische Sonderpädagogik, 2019, Nr. 3, S. 241-256 ISSN 1869-4845 (Print) · ISSN 1869-4934 (Internet) Akademisches Schikanieren: Wie Lehrkräfteprofessionalisierung in den Bereichen Beziehungsarbeit und Unterrichts qualität zu sozioökonomischer Chancengleichheit im Bildungswesen beitragen kann Lars Dietrich Humboldt-Universität zu Berlin Zusammenfassung Akademisches Schikanieren, definiert als das Schikanieren von Schüler*innen durch ihre Mit- schüler*innen aufgrund von Fehlern, die erstere im Unterricht gemacht haben, ist eine Form von Mobbing, die mit reduzierter Anstrengung von Schüler*innen im Unterricht in Verbindung steht. Sie kommt disproportional stark in Schulen vor, in denen die Kinder bzw. Jugendlichen ver- mehrt aus sozioökonomisch benachteiligten Familienverhältnissen stammen. Die vorliegende Studie überprüft die Hypothese, dass der statistische Zusammenhang zwischen dem sozioöko- nomischen Klassendurchschnitt und akademischem Schikanieren, und zwischen Unterrichts- qualität und akademischem Schikanieren durch die Beziehungsqualität in Klassen erklärt wer- den kann. Zu diesem Zweck wird ein amerikanischer Datensatz aus den Schuljahren 2012-2015 herangezogen (N = 146.044 Schüler*innen), basierend auf Schüler*innen-Fragebögen. Eine Multi-Ebenen-Strukturregressionsmodellanalyse bestätigt die Hypothese. Aus den Ergebnissen ableitend wird empfohlen, die Professionalisierung von Lehrkräften in Deutschland im Bereich der Beziehungsarbeit vorantreiben. Auf diesem Weg ist es möglich, akademisches Schikanieren zu reduzieren, was die im internationalen Vergleich geringe Bildungsmobilität in Deutschland erhöhen würde. Schlüsselwörter: Mobbing, Schikanieren, Beziehungsarbeit, Unterrichtsqualität, Lehrkräftepro- fessionalisierung Academic teasing: How teacher professional development in relationship- building skills and instructional quality can contribute to educational equality between lower- and higher-SES students Abstract Academic teasing, defined as teasing by peers for making mistakes in the classroom, is a form of bullying that predicts less academic engagement by students. It is particularly prevalent in schools with large numbers of students from socioeconomically disadvantaged family back- grounds. This study tests the hypothesis that the relationship between the average socioeconom-
242 Lars Dietrich ic status of the class and academic teasing, and the relationship between the teaching quality in the classroom and academic teasing, are mediated by the quality of relationships in class. For this purpose, the study uses an American dataset based on student surveys from the academic years 2012-2015 (N = 146.044 students). A multilevel structural regression modelling analysis confirms the hypothesis. Based on the results, it is recommended that teacher professional train- ing in Germany focuses more strongly on teachers’ relationship building skills. With this focus, it is possible to reduce academic teasing, thus improving equal opportunities in the German educational system, which is characterized by a comparatively strong relationship between socioeconomic status and educational outcomes. Keywords: bullying, teasing, relationship building, teaching quality, teacher professional devel- opment Akademisches Schikanieren: Wie rufskarrieren im Erwachsenenalter zusam- Lehrkräfteprofessionalisierung in menhängen (deLara, 2016). Letzteres kann unter anderem dadurch erklärt werden, den Bereichen Beziehungsarbeit dass Mobbingdynamiken zu schlechteren und Unterrichtsqualität zu sozio- Schulleistungen führen (Crosnoe, 2011; van ökonomischer Chancengleichheit der Werf, 2014), unter anderem aufgrund im Bildungswesen beitragen vermehrt auftretenden Schulschwänzens (Gastic, 2008) und die Konzentrationsfähig- kann keit verringernden chronischen Stresses Zahlreiche qualitative und quantitative Stu- (Chi-hung, 2009; Totura, 2014). Auch für dien kommen zu dem Ergebnis, dass Mob- Lehrkräfte lassen sich negative Effekte im bing in Schulen negative psychische, sozia- Zusammenhang mit Mobbing, das gegen le und leistungsbezogene Auswirkungen sie selbst oder Schüler*innen gerichtet ist, auf Schüler*innen hat. Diese umfassen z. B. feststellen, die zumeist als Burnout-Sympto- chronische Angstzustände (Sanchez et al., me zusammengefasst werden (Ozkilic & 2001), emotionales Leid (Hyman, 2006) Kartal, 2012; Aloe et al., 2014). und erhöhtes delinquentes Verhalten (Theri- ot, 2004), wobei nicht nur die Opfer von Negative Folgen akademischen Mobbing betroffen sind, sondern auch des- Schikanierens sen Täter*innen und Zuschauer*innen (Twemlow & Sacco, 2011). Das Verständnis Eine besondere Form des Mobbings stellt von Mobbing in dieser Studie richtet sich sogenanntes akademisches Schikanieren nach Wachs et al. (2016), die sich primär dar, definiert als das Schikanieren von Schü- aus der Definition von Olweus (1978) ab- ler*innen durch ihre Mitschüler*innen auf- leitet. Demnach unterscheidet sich Mob- grund von Fehlern, die erstere im Unterricht bing von anderen Formen der Gewalt da- gemacht haben (Dietrich & Hofman, 2019). durch, dass ein Machtungleichgewicht zwi- Ein solches Verhalten widerspricht dem Ver- schen Opfern und Täter*innen vorherrscht, ständnis einer positiven Unterrichtsatmo- eine Verletzungsabsicht besteht, und die sphäre, in der das Fehlermachen nicht ver- Aggression wiederholt auftreten muss. urteilt, sondern ganz im Gegenteil als Negative Folgen von Mobbing in der Chance interpretiert wird, Lerneffekte zu Schule beschränken sich auch nicht nur auf erzielen (Althof, 1999; Weingardt, 2004). die Schulzeit. So wurde festgestellt, dass Eine solche Atmosphäre führt dazu, dass schulische Mobbingerfahrungen mit prob- sich Schüler*innen eher zutrauen, mitzuar- lematischeren Liebesbeziehungen und Be- beiten und ihre vorhandenen Wissens- und
Akademisches Schikanieren 243 Fertigkeitslücken offenzulegen. Das wieder- here Ebenen, wurde auch in dem in dieser um gibt Lehrkräften die Möglichkeit, auf die Studie verwendeten Datensatz anhand der tatsächlichen Bedürfnisse ihrer Schüler*in- Berechnung eines Intraklassen-Korrelati- nen einzugehen, so wie es für einen moder- onskoeffizienten der entsprechenden ab- nen Schüler*innen-zentrierten Unterricht hängigen Variable bestätigt. Theoretisch gefordert wird (Weber, 2014). wird dieses Phänomen anhand der ökologi- Müssen Schüler*innen hingegen fürch- schen Systemtheorie von Bronfenbrenner ten, dass ihre Fehler von Mitschüler*innen (1979) erklärt. Aus diesen Überlegungen dazu verwendet werden, sie vor der Klasse folgt, dass Klassenfaktoren nach der indivi- bloßzustellen, verstecken oder reduzieren duellen Ebene den stärksten Einfluss auf sie ihre Anstrengungen im Unterricht, der Mobbingdynamiken in Schulen aufweisen. dadurch eines Großteils seiner Lernmög- Einen dieser Klassen-Effekte stellt die so- lichkeiten beraubt wird. Empirische Befun- zioökonomische Zusammensetzung der de unterstützen diese Theorie. So wurde ein Schülerschaft dar. Schüler*innen aus ärme- statistisch hoch signifikanter Zusammen- ren Familien sind im Durchschnitt stärker in hang zwischen akademischem Schikanie- Mobbingdynamiken verwickelt als Schü- ren einerseits und vorgetäuschter (Standar- ler*innen aus wohlhabenderen Familien, disierter Koeffizient = 0.33 Standardabwei- was sowohl für Täter*innen, als auch Opfer chung, p < .001) bzw. tatsächlicher (Stan- von Mobbing gilt (Tippett & Wolke, 2014; dardisierter Koeffizient = 0.41 Standardab- Dietrich & Ferguson, 2019). Dass Gruppen, weichung, p < .001) Zurückhaltung akade- in denen besonders viele Mobbing-Tä- mischer Anstrengung in der Schule festge- ter*innen zu finden sind, auch die meisten stellt (Dietrich & Hofman, 2019). Daraus Opfer von Mobbing aufweisen, liegt daran, lässt sich ableiten, dass akademisches Schi- dass Mobbing und soziale Ausgrenzung in kanieren in Schulen ein ernstzunehmendes erster Linie innerhalb von Peer-Gruppen Hindernis für die Etablierung einer produk- auftreten, vergleichsweise weniger zwi- tiven Unterrichtsatmosphäre darstellt. schen ihnen, und sich diese Peer-Gruppen in der Regel anhand äußerlich oder durch Die Rolle des sozioökonomischen spezifisches, habituelles Verhalten wahr- Status (SÖS) nehmbarer Merkmale wie Geschlecht, Eth- nizität und sozioökonomischem Status for- Mobbingdynamiken sind nicht überall ein mieren (Crosnoe, 2011). Das bedeutet z. B., gleich starkes Problem. Statistische Verglei- dass Mädchen in erster Linie andere Mäd- che zeigen, dass zwischen Klassen (Willi- chen mobben, die aus ihren eigenen (pri- ford & Zinn, 2018), Schulen (Payne & Gott- mär weiblichen) Peer-Gruppen stammen, fredson, 2004) und Ländern (Organisation Weiße andere Weiße aus ihren weißen for Economic Co-operation and Develop- Peer-Gruppen und sozioökonomisch ment, 2017) deutliche Unterschiede hin- Schwache andere sozioökonomisch Schwa- sichtlich der Quantität des Mobbingverhal- che mobben usw. Das bedeutet nicht, dass tens von Schüler*innen existieren, wobei Mobbing zwischen Peer-Gruppen, also z.B. typischerweise die größte Varianz des Mob- zwischen Mädchen und Jungs, nicht exis- bings auf der Schüler*innen-Ebene, (d. h. tiert, sondern lediglich, dass es weniger zwischen Schüler*innen), die zweitmeiste häufig auftritt. Varianz auf der Klassen-Ebene (bzw. zwi- Ursachenerklärungen für Gruppenun- schen Klassen) und die drittmeiste Varianz terschiede im Mobbingverhalten entstam- auf der Schulebene (zwischen Schulen) er- men primär quantitativ-empirischen Stu- klärt werden kann. Dass niedrigere (d. h. dien, die darauf hindeuten, dass Mitglieder dem Individuum näherstehende) Ebenen marginalisierter Identitäten mit stärkeren mehr Varianz von Mobbing erklären als hö- Gefühlen sozialer Unsicherheit zu kämpfen
244 Lars Dietrich haben, vermutlich aufgrund von Diskrimi- fen und weist daher starke Überschneidun- nierungserfahrungen, die u. a. im aggressi- gen mit dem Begriff fachdidaktische. Es vem Verhalten gegenüber Peers ausgedrückt existieren verschiedene Ansätze, die den werden (Dietrich & Ferguson, 2019; Oko- statistischen Zusammenhang zwischen Un- nofua, Paunesku & Walton, 2016). Darüber terrichts- und Beziehungsqualität zu erklä- hinaus weisen sozioökonomisch schwäche- ren versuchen. Einerseits haben Lehrkräfte re Schüler*innen im Durchschnitt ein stär- mit hohen Fertigkeiten im Bereich Class- keres Ausmaß an sogenannten aggressions- room Management einen positiven Einfluss bezogenen Mindsets (zu Deutsch Überzeu- auf das Verhalten von Schüler*innen, was gungen bzw. Einstellungen) und Emotionen zu einer Reduktion von negativem und stö- auf, d. h. Mindsets und Emotionen die signi- rendem Verhalten wie z. B. Mobbing führt fikante Prädiktoren von mehr Mobbingver- (Allen, 2010). Andererseits können durch halten sind, wie beispielsweise geringere positive Lehransätze auch positivere Werte Selbstwirksamkeit, geringeres Selbstbe- an Schüler*innen vermittelt werden: Roth et wusstsein und mehr schulbezogene Wut al. (2011) liefert empirische Evidenz für die (Dietrich & Zimmermann, 2019). Theorie, dass Autonomie-unterstützende Die Beziehung zwischen sozioökono- Lehrstile dazu führen, dass Schüler*innen mischem Status (SÖS) und akademischem positivere soziale Werte internalisieren, was Schikanieren ist vergleichbar der zwischen zu einer statistisch signifikanten Verringe- sozioökonomischem Status und Mobbing, rung von Mobbing führt. da akademisches Schikanieren einen Teil- Eine weitere Erklärungsmöglichkeit für bereich von Mobbing darstellt. Quantita- den Zusammenhang zwischen der Unter- tiv-empirische Befunde deuten an, dass richtsqualität und dem Mobbingverhalten Schüler*innen aus Klassen, in denen be- unter Schüler*innen besteht darin, dass die nachteiligte Minderheitengruppen einen Unterrichtsqualität in einem engen Zusam- größeren Anteil der Schülerschaft ausma- menhang mit dem Beziehungsklima unter chen, von im Schnitt stärkerem akademi- Lehrkräften und Schüler*innen steht, wes- schem Schikanieren berichten als Schü- halb das Mobbingverhalten unter Schü- ler*innen aus Klassen, in denen benachtei- ler*innen durch die Lehrkräfte-Schüler*in- ligte Minderheitengruppen einen kleineren nen-Beziehung indirekt beeinflusst werden Anteil der Schülerschaft ausmachen (Diet- kann. In quantitativ-empirischen Studien rich & Hofman, 2019). Als Ursachenerklä- konnte sowohl ein Zusammenhang zwi- rung käme auch hier eine stärkere soziale schen dem Beziehungsklima in Schulen Unsicherheit innerhalb von Peer-Gruppen und der Unterrichtsqualität (Dietrich, 2019; benachteiligter Schüler*innen in Betracht. Summers, Davis & Hoy, 2017) als auch zwi- schen dem Beziehungsklima in Schulen Die Rollen von Unterrichts- und und dem Mobbingverhalten von Schü- Beziehungsqualität in Schulen ler*innen (Maunder & Crafter, 2018) festge- stellt werden. Aktuelle Studien weisen dar- Neben dem sozioökonomischen Status von auf hin, dass beim Auftreten von Mobbing Schüler*innen hat sich auch die Unter- unterstützend-kooperierende Interventio- richtsqualität vermehrt als signifikanter Prä- nen seitens der Lehrkräfte, die ein positives diktor von Mobbing erwiesen (Roth et al., Beziehungsverhältnis zwischen und Lehr- 2019; Mujis 2017). Der Begriff Unterrichts- kräften und Schüler*innen voraussetzen, qualität leitet sich dem Verständnis von erfolgversprechender sind als autoritär-stra- Helmke und Schrader (2008) ab. Demnach fende Maßnahmen (Bilz et al., 2017). Sol- ist Unterrichtsfaktor als zentraler Einfluss- che Ergebnisse legen die Vermutung nahe, faktor auf eine mess- und evaluierbare dass der Zusammenhang zwischen Unter- Kompetenz unter Schüler*innen zu begrei- richtsqualität und Mobbing auch zum Teil
Akademisches Schikanieren 245 dadurch erklärt werden kann, dass sich gute Ziel der Studie Unterrichtsqualität positiv auf das Bezie- hungsklima in der Klasse auswirkt, welches Ziel der vorliegenden Studie ist die Über- wiederum das Mobbingverhalten reduziert. prüfung folgender Forschungsfrage: Können Diese Logikkette setzt allerdings die Annah- Unterschiede im Beziehungsklima – d. h. me voraus, dass Schüler*innen nicht nur der Beziehungsqualität unter Schüler*innen guten Unterricht zu schätzen wissen, son- und der Beziehungsqualität zwischen Lehr- dern auf diesen auch mit der Annahme po- kräften und Schüler*innen – die Zusam- sitiver Beziehungsangebote seitens der menhänge zwischen Unterrichtsqualität Lehrkraft reagieren (Hattie, 2009). und akademischem Schikanieren und zwi- schen sozioökonomischer Zusammenset- zung der Schülerschaft in der Klasse und akademischem Schikanieren erklären (siehe Pfadmodell der Abbildung 1)? Akadem. Schikanieren M N LSB L SSB A X Y D B C Lehr- Z SÖS qualität Abbildung 1: Hypothetisiertes Pfadmodell des Zusammenhanges zw. Unterrichtsqualität/SÖS und akademischem Schikanieren. LSB = Lehrkräfte-Schüler*innen-Beziehungen; SSB = Schüler*innen- Schüler*innen-Beziehungen
246 Lars Dietrich Zu diesem Zweck wird eine quantita- Methoden tiv-empirische Mediationsanalyse durchge- führt. Es wird die Hypothese aufgestellt, dass In den folgenden Unterabschnitten werden sowohl Unterrichtsqualität als auch sozio- die Stichprobe, das Erhebungsverfahren, die ökonomischer Klassendurchschnitt direkte Instrumente, das Analyseverfahren und der (Pfade X, Y) und indirekte Prädiktoren (über Umgang mit Fehldaten vorgestellt. die Pfade A, B, C, D, L, M, N) von akademi- schem Schikanieren sind. In anderen Wor- Stichprobe ten, der durchschnittliche SÖS der Schüler* innen und die Unterrichtsqualität in der Der Datensatz der vorliegenden Studie Klasse sind direkte Prädiktoren sowohl der stammt von Tripod Education Partners, Inc., Qualität der Lehrkräfte-Schüler* innen-Be einer bildungswissenschaftlichen Beraterfir- ziehungen (LSB), als auch der Schü ler* in ma aus den USA, die primär Unterrichts- nen-Schüler*innen-Beziehungen (SSB), und qualität anhand von Schüler*innen-Frage- beide Formen der Beziehungsqualität sind bögen ermittelt. Neben den Messinstru- wiederum direkte Prädiktoren akademischen menten zur Unterrichtsqualität, den soge- Schikanierens. Die hier verwendete und bei nannten Tripod 7Cs, werden Schüler*innen Strukturregressionsmodellen übliche Begriff- in dem Tripod-Fragebogen u. a. auch zu ih- lichkeit (Prädiktoren, Pfade, etc.) bedeutet rem Verhalten, ihrem sozioökonomischen im Ührigen nicht, dass Kausaleffekte über- Familienhintergrund und zu diversen Bezie- prüft werden können. Solche sind mit Quer- hungsaspekten im Schulkontext befragt. Aus schnittsdaten schwer bis gar nicht nachzu- diesem Grund eignet sich eine Sekundär- weisen. Aus diesem Grund sind die Pfade analyse der Tripod-Daten für die Fragestel- der Strukturregressionsmodelle wie Korrela- lung der vorliegenden Studie ganz beson- tionszusammenhänge zu interpretieren. ders. Des Weiteren wird vermutet, dass eine Die Daten sind komplett anonymisiert höhere Qualität der LSB eine höhere Quali- und basieren auf der Befragung von 146.044 tät der SSB voraussagen (Pfad Z). Banduras Schüler*innen aus 7.247 Klassen und 131 (1977) soziale Lerntheorie legt nahe, dass Schulen, die in 29 verschiedenen US-Schul- sich Schüler*innen die Art und Weise, wie distrikten beheimatet sind. Die Datenerhe- Lehrkräfte Schüler*innen behandeln, als Vor- bung erfolgte in verschiedenen Regionen bild nehmen, wie sie selbst andere Schü- der USA in den Jahren 2012-2015, wobei ler*innen behandeln. Die Ergebnisse mehre- sie nur für eine gebündelte Querschnitts- rer empirischer Studien unterstützen diese analyse verwendet werden können, da Theorie (siehe z. B. Chory & Offstein, 2018; Identifikationsvariablen auf Schüler*in- Hughes et al., 1999). nen-Ebene, die ein Längsschnittdesign er- Schlussendlich wird angenommen, dass möglichen würden, nicht vorhanden sind. der durchschnittliche SÖS der Klasse ein Das Sample inkludiert alle amerikanischen direkter Prädiktor der Unterrichtsqualität ist, Sekundarstufen, d. h. alle Middle Schools da Klassen mit einer höheren Anzahl sozial und High Schools, die in den meisten Re- benachteiligter Schüler*innen schwieriger gionen der USA die Schulstufen 6 bis 12 zu unterrichten sind (Okonofua, Paunesku & umfassen, in manchen Regionen aber auch Walton, 2016). Das ist auch der Grund, mit den Schulstufen 5 oder 7 beginnen. Die warum die aussagekräftigsten statistischen Verteilung der Schulstufen im Datensatz er- Unterrichtsqualitäts-Evaluierungsverfahren gibt sich daher folgendermaßen: 5. Schul- in den USA, die sogenannten Value Added stufe 1%, 6.-10. Schulstufe jeweils 14-16%, Measurements (VAMs), sozioökonomische 11. Schulstufe 12% und 12. Schulstufe 10% Kontrollvariablen berücksichtigen (Ligon, der Gesamtstichprobe. Die Geschlechter- 2008). verteilung ist mit 50% männlichen und
Akademisches Schikanieren 247 50% weiblichen Schüler*innen sehr ausge- if they don’t know me“ = Respekt_L, „I glichen. would quiet down if someone said I was tal- king too loudly in the hallway“ = Leiser; Erhebungsverfahren SSB: „I do things I don’t want to do because of pressure from other students” = Druck, Die meisten Schüler*innen des Datensatzes „At this school, I must be ready to fight to haben den Fragebogen zur selben Zeit, d. h. defend myself“ = Kämpfen, „Trying to be an dem von der Schule bestimmten Erhe- popular sometimes distracts me from my bungstag, durchgeführt. Nur in wenigen work in this class“ = Beliebt). Beide Konst- Ausnahmefällen wurden ausgefüllte Frage- rukte werden hinsichtlich ihrer Konstruktva- bögen von an diesem Tag abwesenden lidität mittels konfirmatorischer Faktoren- Schüler*innen nachgereicht. Die Durchfüh- analyse bestätigt (Dietrich, 2019). rung der Erhebung erfolgte durch das Schul- personal und entweder online mit persona- Unterrichtsqualität in Klassenzimmern. lisierten Log-In Codes oder per Papier und Die Messung der Unterrichtsqualität in Stift. Alle schriftlich ausgefüllten Fragebö- Klassenzimmern erfolgt im Tripod-Fragebo- gen wurden in versiegelte Kuverts verpackt, gen mithilfe des sogenannten Tripod 7Cs um die Anonymität der Ergebnisse zu ga- Frameworks (Tripod Education Partners, rantieren. Inc., 2016). Dieses unterscheidet sieben Di- mensionen der Unterrichtsqualität (Care, Instrumente Confer, Captivate, Clarify, Consolidate, Challenge und Classroom Management), In den folgenden vier Absätzen werden die die anhand einer Vielzahl von Fragebo- in der Studie verwendeten Instrumente im gen-Items (3 Items für Care, Confer und Detail erläutert. Consolidate, 4 Items für Captivate, 5 Items für Challenge, 7 Items für Classroom Ma- Akademisches Schikanieren. Die abhängi- nagement und 9 Items für Clarify) ermittelt ge Variable dieser quantitativ-empirischen werden, welche auf einer 5-Punkte Likert Studie ist akademisches Schikanieren, defi- Skala gemessen werden. Für die vorliegen- niert als Schikanieren, das auftritt, wenn de Untersuchung wird das sogenannte 7Cs Schüler*innen im Klassenkontext Fehler Composite angewendet, bei dem es sich machen. Die entsprechende Tripod-Varia- um einen auf den 7Cs basierenden und ble fragt Schüler*innen, inwiefern sie der standardisierten Durchschnittsindex han- folgenden Aussage anhand einer 5-Punkte delt, der mittels alpha-generate-Befehl aus Likert-Skala zustimmen: „In this class, stu- Stata 14 in zwei Schritten erstellt wurde: zu- dents get teased for making mistakes“. nächst wurden die 7Cs als individuelle In- dexe erstellt, danach das 7Cs Composite Beziehungsqualität in Schulen. Die Bezie- auf den individuellen 7Cs-Indexen basie- hungsqualität in Schulen wird anhand der rend. Validität und Reliabilität des 7Cs Qualität der Lehrkräfte-Schüler*innen- (LSB) Composite wurden in einer Vielzahl von und Schüler*innen-Schüler*innen-Bezie- Studien bestätigt (siehe z.B. Cantrell & hungen (SSB) ermittelt. In beiden Fällen Kane, 2013; Polikoff, 2016). In dem in die- handelt es sich um latente Faktoren, die an- ser Studie verwendeten Datensatz hat das hand von jeweils drei Items ermittelt wer- 7Cs Composite einen Cronbach-Alpha-Wert den, welche allesamt auf einer 5-Punkte von .92. Likert-Skala gemessen werden (LSB: „I treat the adults at this school with respect, even if Sozioökonomischer Status. Der latente Fak- I don’t know them” = L_Respekt, „Teachers tor SÖS wird mittels dreier Items gemessen: in the hallways treat me with respect, even die Anzahl der Bücher zuhause (5-Punkte
248 Lars Dietrich Likert Skala), die Anzahl der Computer zu- lichkeit für Typ-2-Fehler in der hier vorlie- hause (4-Punkte Likert Skala) und der genden Studie keine praktische Gefahr dar, höchste Bildungsabschluss der Eltern da die Stichprobe mit N = 7,247 Klassen (5-Punkte Likert Skala). Alle drei Items ba- vergleichsweise groß ausfällt und somit die sieren auf Selbstangaben der Schüler*in- Wahrscheinlichkeit für Typ-2-Fehler auf ein nen. Die Konstruktvalidität des SÖS-Inde- Minimum reduziert. xes des Tripod-Datensatzes wurde in einer Für die Analyse in dieser Studie wurden früheren Studie mittels konfirmatorischer alle Variablen auf den Klassendurchschnitt Faktorenanalyse bestätigt (Dietrich & Zim- aggregiert. Das bedeutet, dass die Analyse- mermann, 2019). ebene der Studie das Klassenzimmer ist, und durch den Multi-Ebenen-Ansatz die Va- Analyseverfahren rianz auf Schulebene herausgerechnet wird. Die Distriktebene muss hingegen ignoriert Zur Prüfung der Forschungsfrage werden werden, da 3-Ebenen-Strukturregressions- mittels Mplus 8 Multi-Ebenen-Struktur modelle auf Mplus 8 zwar theoretisch mög- regressionsmodelle (M-SRM) ermittelt. lich sind, aber in den meisten Fällen nicht M-SRM eignen sich insbesondere für die konvergieren. Das stellt in diesem Fall aber Überprüfung komplexer Korrelationszu- kein größeres Problem dar, da die Varianz sammenhänge bei der Anwendung geneste- von akademischem Schikanieren in dem ter Daten, wie sie im Falle des Tripod-Da- vorliegenden Datensatz auf der Distriktebe- tensatzes vorliegen (Schüler*innen sind in ne gen Null tendiert. Klassen genestet, Klassen in Schulen und Schulen in Distrikten). Darüber hinaus er- Umgang mit Fehldaten lauben sie die Verwendung observierter und latenter Faktoren und den direkten Ver- Tabelle 1 zeigt den Anteil von Fehldaten, gleich von Modellen mithilfe von Modell- aufgeschlüsselt nach Variablen. Um verzerr- anpassungsstatistiken, die ermitteln, wie gut ten Ergebnissen aufgrund von Fehldaten das jeweilige Modell die vorhandenen Da- entgegenzuwirken, verwendet die vorlie- ten erklärt (Kline, 2011). In dieser Studie gende Analyse den Mplus 8 Full Informati- werden die Modellanpassungsstatistiken on Maximum Likelihood (FIML)-Estimator, χM2, SRMR, CFI und RMSEA präsentiert, und welcher gegenüber anderen, zum Teil auf- es wird den Cut-Off-Empfehlungen von Hu wändigeren Ansätzen zur Behandlung von und Bentler (1999) hinsichtlich der akzep- Fehldaten, allen voran der multiplen Impu- tablen Passung der Modelle gefolgt (d. h. tation, überlegen ist (Allison, 2012). RMSEA und SRMR < .08, CFI > .90). Alle endogenen Faktoren des Modells werden hinsichtlich ihrer akzeptablen Kur- tosis (< 7) und Schiefe (< 2) der Verteilung Ergebnisse und Diskussion überprüft, was eine Voraussetzung für statis- tische Anwendungen darstellt, die auf Ma- Anhand des finalen M-SR-Modells (siehe ximum-Likelihood-Berechnungen basieren Abbildung 2), welches die im Vergleich bes- wie im Falle der Strukturregressionsmodel- ten Modellanpassungsstatistiken aufweist lierung. Indirekte Effekte können bei Mul- (χM2 = 1058.423, SRMR = 0.064, CFI = 0.961 ti-Ebenen-Modellen auf Mplus 8 nur mit und RMSEA = 0.061), wird die Forschungs- dem Normalitätsansatz berechnet werden, frage dieser Studie positiv beantwortet. Die welcher konservativer ausfällt als die von Unterrichtsqualität in der Klasse weist einen Preacher und Hayes (2004) empfohlene mittelgroßen Gesamteffekt (Standardisierter Bootstrapping-Methode. Allerdings stellt Koeffizient = -0.431 Standardabweichung, die daraus folgende erhöhte Wahrschein- p < .001) auf akademisches Schikanieren
Akademisches Schikanieren 249 Tabelle 1: Fehldaten Fehlwerte in Prozent Akademisches Schikanieren 8.374 6% Unterrichtsqualität 7.832 5% SÖS-Index: Anzahl d. Bücher zuhause 9.858 7% Anzahl d. Computer zuhause 15.782 11% Höchste Elterliche Ausbildung 65.062 45% LSB index: m_c20_ad 17.621 12% m_c20_af 16.427 11% m_c20_w 15.354 11% SSB index: im_c20_aj 17.832 12% im_c20_t 17.361 12% im_a24 4.690 3% Anmerkungen: N = 146.044 Schüler*innen .40 Akadem. Schikanieren .61 -.75 .47 .43 .45 L_Respekt -.24 Druck .89 .74 .22 .76 .67 .44 Respekt_L LSB .52 SSB Kämpfen .55 .67 .75 .56 Leiser .19 Beliebt .50 .32 .35 .24 Bücher .87 Unterrichts- .79 .37 .14 SÖS Computer qualität .74 .45 .98 Ausb. Elt. 1.00 Abbildung 2: Pfaddiagramm des finalen Multilevel-Strukturregressionsmodells auf Klassen-ebene. Alle Pfade des Modells sind hoch signifikant (p < .001), direkte Pfade zu akademischem Schikanieren wurden zur besseren Orientierung dick eingezeichnet. Latente Faktoren werden als Ovale dargestellt, direkt gemessene Variablen als Rechtecke. Die Variablen links und rechts von den latenten Faktoren ausgehend (gestrichelte Pfade) sind Items, mit deren Hilfe die latenten Faktoren ermittelt werden. Kleine Pfeile ohne Ausgangspunkt stellen Fehlwerte dar.
250 Lars Dietrich auf, wobei 45% dieses Effekts (Standardi- Schikanieren nimmt, während Lehrkräfte sierter Koeffizient = -0.194 Standardabwei- akademisches Schikanieren nur indirekt, chung, p < .001) durch die Qualität des Be- durch einen positiven Beziehungsaufbau ziehungsklimas (LSB und SSB) mediiert mit ihren Schüler*innen (0.52 Standardab- wird. Nur halb so stark erweist sich der Ge- weichung), beeinflussen können. Aufgrund samteffekt des durchschnittlichen SÖS der der Tatsache, dass die Befragung mehrheit- Klasse auf akademisches Schikanieren lich mit Jugendlichen ab 12 Jahren durch- (Standardisierter Koeffizient = -0.260 Stan- geführt wurde, unterstützt dieses Ergebnis dardabweichung, p < .001), wovon aller- außerdem die Theorie, dass das Verhalten dings 171% (Standardisierter Koeffizient = von Jugendlichen – im Gegensatz zu dem -0.444 Standardabweichung, p < .001) Verhalten von Kindern – von Erwachsenen durch Unterschiede im Beziehungsklima kaum noch direkt beeinflusst werden kann, der Schule erklärt werden. Das bedeutet, sondern nur noch indirekt durch ihre Vor- dass Unterschiede in der Beziehungsquali- bildfunktion (Crosnoe, 2011; Yeager et al., tät den Zusammenhang zwischen dem 2015). durchschnittlichen SÖS der Klasse und aka- Auch die Ergebnisse der Pfade vom so- demischem Schikanieren nicht nur kom- zioökonomischen Klassendurchschnitt und plett erklären, das Vorzeichen des Zusam- der Unterrichtsqualität zu den beiden Be- menhanges dreht sich sogar um. In anderen ziehungsklimafaktoren erweisen sich im Worten, Schüler*innen aus sozioökono- Großen und Ganzen wie erwartet. Der misch schwächeren Klassen berichten von durchschnittliche SÖS der Klasse weist klei- weniger akademischem Schikanieren als ne Effekte sowohl auf LSB (Standardisierter Schüler*innen aus sozioökonomisch stärke- Koeffizient = .39 Standardabweichung, p < ren Klassen, solange das Beziehungsklima .001, inklusive dem sehr kleinen indirekten in beiden Klassen vergleichbar ist, was Effekt über Unterrichtsqualität von Standar- durch eine besonders effektive Beziehungs- disierter Koeffizient = 0.07 Standardabwei- arbeit von Seiten der Lehrkraft erreicht wer- chung, p < .001), als auch auf SSB (Standar- den könnte. Eine Erklärung für die Umkeh- disierter Koeffizient = 0.35 Standardabwei- rung des Vorzeichens wäre, dass Kinder aus chung, p < .001) auf. Im Vergleich dazu sozioökonomisch stärkeren Familien unter zeigt sich für die Unterrichtsqualität nur ei- größerem akademischem Druck stehen als nen direkten Pfad mittlerer Effektstärke zu Kinder aus sozioökonomisch schwächeren LSB (Standardisierter Koeffizient = 0.50 Familien, welcher in Form von akademi- Standardabweichung, p < .001), während schem Schikanieren ein Ventil findet. die Verbindung zwischen Unterrichtsquali- Die Ergebnisse für die Pfade von der tät und SSB nur indirekt, via LSB (Standardi- Qualität der LSB und SSB zu akademischem sierter Koeffizient = 0.26 Standardabwei- Schikanieren sind weniger überraschend. chung, p < .001), existiert. Diese Ergebnisse Während SSB einen direkten Pfad mit gro- unterstützen die Annahme, dass der sozio- ßer Effektstärke zu akademischem Schika- ökonomische Hintergrund der Schüler*in- nieren aufweist (Standardisierter Koeffizient nen alle Beziehungen, sowohl mit Lehrkräf- = -0.75 Standardabweichung, p < .001), ist ten als auch mit anderen Schüler*innen, die Verbindung zwischen LSB und akade- direkt beeinflusst, während die Unterrichts- mischem Schikanieren nur indirekt, über qualität nur mit den Beziehungsdynamiken SSB, und von kleiner bis mittelstarker Effekt- zwischen Lehrkräften und Schüler*innen in stärke (Standardisierter Koeffizient = -0.39 einem direkten Zusammenhang steht. Standardabweichung, p < .001). Dieses Er- Wie zu erwarten, fällt die gesamte Ef- gebnis unterstützt die These, dass es letzt- fektstärke von Unterrichtsqualität auf die endlich die Qualität der SSB ist, die den Qualität der SSB (Standardisierter Koeffizi- entscheidenden Einfluss auf akademisches ent = 0.260 Standardabweichung, p < .001)
Akademisches Schikanieren 251 deutlich kleiner aus als die gesamte Effekt- gute Beziehungsarbeit auch zu einer besse- stärke des durchschnittlichen SÖS der Klas- ren Lehre führt. In anderen Worten, Lehr- se auf die Qualität der SSB (Standardisierter kräfte, die in der Lage sind, eine gute Be- Koeffizient = 0.551 Standardabweichung, p ziehung zu ihren Schüler*innen aufzubau- < .001). Dieses Ergebnis unterstützt die Ver- en, haben es leichter, ihre didaktischen mutung, dass die sozioökonomische Zu- Fertigkeiten in guten Unterricht umzuset- sammensetzung der Klasse einen stärkeren zen. In diesem Beispiel ist es sogar höchst- Einfluss auf das Beziehungsklima unter wahrscheinlich, dass die Korrelation zwi- Schüler*innen hat als die Qualität der Leh- schen Unterrichtsqualität und Beziehungs- re. Allerdings ist der direkte Effekt von Un- qualität eine Wechselwirkung zwischen terrichtsqualität auf akademisches Schika- beiden Faktoren widerspiegelt. Ähnlich ge- nieren größer (Standardisierter Koeffizient = staltet sich die Korrelation zwischen LSB -0.24 Standardabweichung, p < .001) als und SSB, da eine Verschlechterung der SSB der direkte Effekt des durchschnittlichen im Klassenzimmer auch dazu führen wird, SÖS der Klasse auf akademisches Schika- dass sich die Qualität der LSB verringert. nieren (Standardisierter Koeffizient = 0.19 Zukünftige Studien sollten das hier vorge- Standardabweichung, p < .001), was da- stellte Pfadmodell mithilfe von Längs- durch erklärt werden kann, dass gute Lehre schnittdaten hinsichtlich eindeutiger kausa- auch Fertigkeiten umfasst, die negatives ler Zusammenhänge evaluieren. Verhalten anders als durch eine Verände- Des Weiteren handelt es sich bei den rung der Beziehungsdynamiken reduzieren. Tripod-Daten ausschließlich um subjektive Damit sind vor allem Fertigkeiten gemeint, Wahrnehmungen von Schüler*innen und die in den didaktischen Bereich der Lehre nicht um „objektive“ Messungen. Diese Li- fallen. mitierung wird jedoch dadurch in ihrer Be- Abschließend sei noch erwähnt, dass deutsamkeit abgeschwächt, dass sich der kleine (Standardisierter Koeffizient = menschliches Verhalten und Wohlbefinden 0.14 Standardabweichung, p < .001), aber in erster Linie anhand subjektiver Wahrneh- hoch signifikante Pfad vom durchschnittli- mungen erklären lassen und weniger stark chen SÖS der Klasse zu Unterrichtsqualität mit vergleichbaren, objektiv messbaren die Annahme unterstützt, dass der sozio- Faktoren in Verbindung stehen (siehe z. B. ökonomische Hintergrund von Schüler*in- Glei, Goldman & Weinstein, 2018). nen die Unterrichtsqualität in Klassenzim- Abschließend ist zu betonen, dass der mern beeinflusst (Koedel, Mihaly & Rockoff, Tripod-Datensatz aus den USA stammt, was 2015). die Möglichkeit aufwirft, dass kulturelle Unterschiede in Deutschland zu abwei- Limitierungen der Studie chenden Ergebnissen führen könnten, auch wenn dies aus Sicht des Autors dieser Studie Da in der Analyse der vorliegenden Studie nicht zu erwarten ist. Zukünftige Studien Querschnittsdaten verwendet wurden, um sollten das hier vorgebrachte Pfadmodell die Forschungsfrage zu prüfen, verbieten mit in Deutschland erhobenen Daten über- sich abschließende kausale Interpretationen prüfen. des Pfadmodells. Beispielsweise kann der Zusammenhang zwischen hoher Unter- richtsqualität und positiverer LSB einerseits dadurch erklärt werden, dass besserer Un- terricht zu besseren Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen führt, wie in dieser Studie vorgeschlagen. Andererseits ist es sehr wahrscheinlich, dass umgekehrt
252 Lars Dietrich Zusammenfassung sonders große Probleme haben, genügend und Empfehlungen qualifizierte Lehrer*innen anzuwerben (Vieth-Entus, 2019). Politische Entschei- Trotz der Limitierungen dieser Studie und dungsträger*innen müssen sich bewusst des sich daraus ableitenden Bedarfs an Fol- machen, dass die aktuell mangelnde Profes- gestudien mit Längsschnittdaten müssen die sionalität im Bereich Beziehungsarbeit un- Ergebnisse schon heute ernst genommen ter Lehrkräften an Schulen mit überpropor- werden. Unterrichtsqualität und SÖS im tional vielen, sozioökonomisch benachtei- Klassenzimmer sind beides signifikante Prä- ligten Schüler*innen dazu beiträgt, dass in diktoren von akademischem Schikanieren, Deutschland der Bildungserfolg zwischen wobei sowohl eine höhere Unterrichtsqua- Kindern aus sozioökonomisch stärkeren lität als auch ein höherer Klassendurch- und schwächeren Familien im internationa- schnitt hinsichtlich des sozioökonomischen len Vergleich ganz besonders stark ausein- Status‘ der Schüler*innen weniger akademi- anderklafft (John-Ohnesorg, 2016). Die Er- sches Schikanieren in der Klasse prognosti- gebnisse sind außerdem dahingehend zu zieren. In beiden Fällen kann ein bedeutsa- interpretieren, dass sowohl originäre Bezie- mer Teil dieser Zusammenhänge durch Un- hungsarbeit, z. B. aus der psychoanalyti- terschiede in der Qualität des Beziehungs- schen Pädagogik stammend (Muck & Tre- klimas, inklusive LSB und SSB, erklärt wer- scher, 1994), als auch didaktische Aspekte, den. etwa das Classroom Management (Kiper & Daraus folgend lassen sich zwei wichti- Mischke, 2004), Teil der Professionalisie- ge Schlussfolgerungen für Lehrkräfte ablei- rung im Bereich Beziehungsgestaltung sein ten. Erstens brauchen Klassen, deren Schü- müssen. ler*innen aus niedrigeren sozioökonomi- Zweitens sollten Institutionen geschaf- schen Schichten kommen – und daher auch fen werden, die es Lehrkräften ermöglichen, nachweisbar schwieriger zu unterrichten ihre Fertigkeiten in den Bereichen Unter- sind – eine höhere Professionalität im Be- richtsqualität und Beziehungsaufbau konti- reich Beziehungsarbeit von Seiten der Lehr- nuierlich zu reflektieren und im Zuge von kräfte. Z. B. kommen sogenannte schwer Fortbildungskursen zu verbessern. Mit Be- erziehbare Kinder und Jugendliche, d. h. zug auf akademisches Schikanieren sind es Kinder und Jugendliche mit schwerwiegen- z. B. die Fertigkeiten des Classroom Ma- den psychosozialen Beeinträchtigungen, nagements und des guten Erklärens von oftmals mit dem Ballast traumatischer Be- Unterrichtsstoff, die mit geringerem akade- ziehungserfahrungen in die Schule (Zim- mischem Schikanieren in der Klasse in Ver- mermann, 2016). Ein positiver Beziehungs- bindung stehen (Dietrich & Hofman, 2019; aufbau kann in solchen Fällen nur gelingen, Ferguson et al., 2015). Quantitative Evaluie- wenn die Lehrkraft ein Verständnis für sze- rungsmethoden zum Zweck der Reflektion nisches Verstehen entwickelt hat (Ahrbeck und Verbesserung von Unterrichtsqualität, & Rauh, 2006). Nur so können negative Be- wie sie zum Beispiel durch das Tripod 7Cs ziehungsdynamiken wie akademisches Framework in den USA verwendet werden, Schikanieren in der Klasse reduziert und ein sollten auch in Deutschland breitflächig Arbeitsklima etabliert werden, das dem in eingeführt werden. Schulen aus sozial besser gestellten Gegen- Zu guter Letzt ist es ganz besonders den gleichkommt. Das ist insbesondere wichtig zu betonen, dass sowohl die USA deshalb ein bedeutsames Ergebnis, weil es als auch Deutschland im internationalen gerade Schulen mit sozioökonomisch Vergleich eine besonders starke Korrelation schwachen Schüler*innen sind, die durch zwischen dem Bildungserfolg und dem so- ein besonders schlechtes Beziehungsklima zioökonomischem Familienhintergrund von auffallen (Lasic & Saleh, 2018) und die be- Schüler*innen aufweisen (Brockmeier &
Akademisches Schikanieren 253 Reint, 2017; Godin & Hindricks, 2018). Im behavior and teacher burnout. Educational Vergleich dazu findet man in Ländern, die Research Review, 12, 30-44. doi:10.1016/ einen stärkeren Fokus auf qualitativ hoch- j.edurev.2014.05.003 wertige Beziehungsarbeit im Klassenzim- Althof, W. (1999). Fehlerwelten. Vom Fehler- mer legen, allen voran die skandinavischen machen und Lernen aus Fehlern. Opladen: Länder und Kanada (Campbell et al., 2017; Leske+Budrich. Kennedy, 2017), eine deutlich höhere Bil- Bandura, A. (1977). Social learning theory. dungsmobilität vor (Brockmeier & Reint, New York, NY: General Learning Press. 2017; Godin & Hindricks, 2018). Die Er- Bildungsportal-NRW. (2019). Talentschulen. gebnisse der hier vorliegenden Studie be- Zugriff am 29.03.2010 https://www. stätigen jedoch, dass sowohl Deutschland schulministerium.nrw.de/docs/ als auch die USA in den Bereichen sozio- Schulentwicklung/Talentschulen/ ökonomischer Bildungsmobilität und Be- index.html ziehungsarbeit in Schulen viel aufzuholen Bilz, L., Schubarth, W., Dudziak, I., Fischer, S., haben und dabei einiges von ihren nördli- Niproschke, S., & Ulbricht, J. (2017). Ge- chen Nachbarn lernen können. Dies gilt walt und Mobbing an Schulen: Wie sich insbesondere mit Blick auf Initiativen, die Gewalt und Mobbing entwickelt haben, das anspruchsvolle Ziel haben, die Chan- wie Lehrer intervenieren und welche Kom- cen von sozioökonomisch benachteiligten petenzen sie brauchen. Kempten: Julius Schüler*innen auf einen Bildungsaufstieg Klinkhardt. merkbar zu verbessern, wie es z. B. bei der Brockmeier, T. & Gropp, R. E. (2017). Niedrige Talentschule-Initiative in Nordrhein-West- Soziale Mobilität in Deutschland: Wo lie- falen der Fall ist (Bildungsportal-NRW, gen die Ursachen?. Wirtschaft im Wandel, 2019). Die Ergebnisse der vorliegenden Stu- 23, 67. die deuten darauf hin, dass diese Initiativen Bronfenbrenner, U. (1979). The ecology of hu- deutlich erfolgreicher sein werden, wenn man development: Experiments by nature sie einen starken Fokus auf die Lehrkräfte- and design. Cambridge, MA: Harvard Uni- professionalisierung im Bereich Bezie- versity Press. hungs- und Unterrichtsqualität legen. Campbell, C., Zeichner, K., Lieberman, A. & Osmond-Johnson, P. (2017). Empowered educators in Canada: How high-perfor- ming systems shape teaching quality. San Literatur Francisco, CA: Jossey-Bass. Cantrell, S. & Kane, T. J. (2013). Ensuring fair Ahrbeck, B., & Rauh, B. (2006). Der Fall des and reliable measures of effective tea- schwierigen Kindes. Therapie, Diagnostik ching: Culminating findings from the und schulische Förderung verhaltensauf- MET project’s three-year study. Zugriff fälliger Kinder und Jugendlicher. Wein- 20.02.2019 https://www.edweek.org/ heim: Beltz. media/17teach-met1.pdf Allen, K. (2010). Classroom management, bul- Chi-hung, L. (2009). The relationship between lying, and teacher practices. The Professio- stress and bullying among secondary nal Educator, 34, 1-15. school students. Jiao Yu Shu Guang, 57, Allison, P. (2012). Why maximum likelihood is 33-42. better than multiple imputation. Zugriff am Chory, R. M. & Offstein, E. H. (2018). Too clo- 20.02.2019 https://statisticalhorizons. se for comfort? Faculty–student multiple com/ml-better-than-mi relationships and their impact on student Aloe, A. M., Shisler, S. M., Norris, B. D., Ni- classroom conduct. Ethics & Behavior, 28, ckerson, A. B. & Rinker, T. W. (2014). A 23-44. doi:10.1080/10508422.2016. multivariate meta-analysis of student mis- 1206475
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