ANGEKOMMEN? ABSTRACT BOOK - LIFBI

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ANGEKOMMEN? ABSTRACT BOOK - LIFBI
Angekommen?

                                                             -Konferenz

                          Angekommen?
Zur Situation von geflüchteten Kindern und Jugendlichen im deutschen
                            Bildungssystem

                Leibniz-Institut für Bildungsverläufe

              Virtuelle Konferenz | 20.05.–21.05.2021
                         ABSTRACT BOOK
Session 1: Frühkindliche familiäre und institutionelle Erziehung und Bildung
1. Konferenztag | Donnerstag, 20.05.2021, 09:30–11:00 Uhr

Der Einfluss sozialer und kultureller Aspekte auf den Kindertagesstättenbesuch von geflüchteten Kindern
Dr. Elisabeth Liebau (DIW Berlin), Dr. Christoph Homuth & Dr. Gisela Will (Leibniz-Institut für Bildungsverläufe)
Elementare und vorschulische Bildung sind die ersten und wichtige Schritte in der Bildungskarriere von Kindern.
Sie erlernen soziale Kompetenzen und Vorläuferfähigkeiten für spätere schulische Kompetenzen (Heckman &
Lochner, 2000). In der bisherigen Forschung hat sich gezeigt, dass bereits vor der Einschulung ethnische Bildungs-
ungleichheiten existieren (z. B. Becker & Schmidt 2013; Relikowski et al., 2015). Insbesondere für Migranten konn-
te gezeigt werden, dass sich eine frühzeitige Bildungsbeteiligung positiv auf nachgelagerte Bildungsergebnisse aus-
wirkt, wobei der Erwerb der Sprache des Aufnahmelandes einer der Hauptmechanismen ist (Becker, 2010, 2019).
Mit der Ankunft von über einer Million Geflüchteten in Deutschland in den letzten Jahren ist die Integration von
Kindern mit Migrationshintergrund, und insbesondere von Kindern mit Fluchterfahrung, in das Bildungssystem
bildungspolitisch wichtiger denn je. Es gibt jedoch nur wenige Studien zur Bildungssituation von Geflüchteten.
Ursache dafür sind vor allem Datenbeschränkungen. Zudem gibt es eine offene Diskussion, ob Fluchterfahrung als
eine weitere Ungleichheitsdimension neben Geschlecht, sozialer Herkunft und Migrationserfahrung betrachtet
werden sollte (z. B. El-Mafaalani & Massumi, 2019).
Zum Thema der vorschulischen Bildungsbeteiligung und -erfahrungen von Flüchtlingen in Deutschland liegen erste
empirische Befunde vor. Die meisten Flüchtlingskinder im Alter von drei bis sechs Jahren besuchen eine Kinderta-
gesstätte; die Besuchsquoten liegen jedoch noch unter denen von einheimischen Kindern oder denen von ande-
ren Kindern mit Migrationshintergrund in dieser Altersgruppe – bei jüngeren Kindern mit Fluchtbiografie ist der
Abstand sogar noch größer (Gambaro et al., 2017). Des Weiteren gibt es signifikante regionale Unterschiede (ebd.;
Will et al. 2018a).
Dieser Beitrag verfolgt zwei Ziele: Erstens möchten wir die aktuelle Bildungssituation von Kindern mit Fluchthin-
tergrund vor der Einschulung näher beschreiben. Zweitens prüfen wir, inwieweit Mechanismen, die wir aus der
bisherigen Bildungsforschung zu sozialen und ethnischen Ungleichheiten kennen, auch zur Erklärung der gerin-
geren Besuchsquote von Geflüchteten in vorschulischen Bildungseinrichtungen beitragen. Darüber hinaus wird
untersucht, ob flüchtlingsspezifische Mechanismen (z. B. das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung zu
entwickeln oder der Aufenthaltsstatus) die Besuchswahrscheinlichkeit beeinflussen. Der Kindergartenbesuch wird
hierbei als Bildungsentscheidung verstanden, als gezielte Investition in die Komptenzentwicklung des Kinders und
die Bereitstellung einer geeigneten Lernumwelt (z.B. Becker & Biedinger, 2016). Zur Erklärung dieser Bildungs-
entscheidung greifen wir auf ein allgemeines theoretisches Modell zurück, dass Bildungsinvestments als Ergebnis
einer rationalen Entscheidung abhängig von individuellen Motivationen und Resspourcen innerhalb einer vor-
handenenen Gelegenheitsstruktur modelliert (Breen & Goldthorpe, 1997) und geeignet ist, verschiedene Argu-
mente zu integrieren.
Wir verwenden Daten aus zwei verschiedenen Datensätzen, IAB-BAMF-SOEP (kurz: SOEP) (Kühne et al., 2019)
und ReGES (Will et al., 2018b). Für die Analyse der Bildungsbeteiligung im Alter bis drei Jahren verwenden wir die
Daten des SOEP und für die Altersgruppe der Vier- bis Fünfjährigen sowohl die SOEP- als auch die ReGES-Daten.
Als Repräsentativbefragung ermöglichen die SOEP-Daten den Vergleich von Geflüchteten mit der Mehrheitsbe-
völkerung und anderen Migrantengruppen. Die ReGES-Daten enthalten zusätzliche Informationen zu einer Reihe
flüchtlingsspezifischer Mechanismen, von denen wir vermuten, dass sie die Bildung von Geflüchteten beeinflus-
sen. Damit ist es möglich, Unterschiede zwischen Flüchtlingsgruppen zu untersuchen.
Die Ergebnisse von multiplen linearen Wahrscheinlichkeitsmodellen zeigen, dass die Mechanismen sozialer und
ethnischer Ungleichheiten die Unterschiede in der Beteiligungsquote der Geflüchteten weitgehend erklären. Das
betrifft vor allem die Altersgruppe von 0 bis 3 Jahren. Hier lassen sich die Unterschiede zwischen Einheimischen,
Kindern mit Migrationshintergrund und Kindern mit Fluchtbiograhie vollständig durch diese Mechanismen erklä-
ren. Auch in der Altersgruppe der vier- bis fünfjährigen Kinder lassen sich Unterschiede in der Beteiligungsquote
an vorschulischer Bildung weitgehend auf soziale und migrationsspezifische Faktoren zurückführen. Darüber
hinaus zeigt sich, dass Kinder aus Familien mit Fluchtbiografie umso wahrscheinlicher eine Kindertagesstätte be-
suchen, je länger sich die Familien bereits in Deutschland aufhalten. Die Kontrolle weiterer flüchtlingsspezifischer
Mechanismen trägt nicht zur Erklärung von Unterschieden in der Beteiligung zwischen den unterschiedlichen
Gruppen der Geflüchteten bei. Regionale Unterschiede bleiben auch in multivariater Betrachtung bestehen.

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Abstract Book zur virtuellen Konferenz
Literatur:
Becker, Birgit (2010). Wer profitiert mehr vom Kindergarten? Die Wirkung der Kindergartenbesuchsdauer und Aus-
stattungsqualität auf die Entwicklung des deutschen Wortschatzes bei deutschen und türkischen Kindern. Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 62, 139–163.
Becker, Birgit (2019). Early educational inequality: Growing up in different learning environments. In R. Becker
(Hrsg.), Research Handbook on the Sociology of Education (pp. 233–252). https://doi.org/10.4337/978178811042
6.00023.
Becker, B., & Biedinger, N. (2016). Ethnische Ungleichheiten in der vorschulischen Bildung. In C. Diehl, C. Hunkler,
& C. Kristen (Eds.), Ethnische Ungleichheiten im Bildungsverlauf: Mechanismen, Befunde, Debatten (pp. 433-474).
Wiesbaden: Springer VS.
Becker, Birgit/Schmidt, Franziska (2013): Ungleiche Startvoraussetzungen zu Beginn der Schullaufbahn? Unter-
schiede in den mathematischen und sprachlichen Fähigkeiten von sechsjährigen Kindern nach Geschlecht und
Migrationshintergrund, in: Hadjar, Andreas/Hupka-Brunner, Sandra (Hrsg.): Geschlecht, Migrationshintergrund
und Bildungserfolg, Weinheim, 52–76.
Breen, R., & Goldthorpe, J. H. (1997). Explaining educational differentials. Towards a formal rational action theory.
Rationality and Society 9(3), 275–305.
El-Mafaalani, Aladin/Massumi, Mona (2019): Flucht und Bildung: frühkindliche, schulische, berufliche und non-
formale Bildung. State-of-Research Papier 08a, Verbundprojekt ‚Flucht: Forschung und Transfer’, Osnabrück: Insti-
tut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück / Bonn: Internationales
Konversionszentrum Bonn (BICC), Juni 2019.
Gambaro, Ludovica, Elisabeth Liebau, Frauke Peter und Felix Weinhardt (2017): Viele Kinder von Geflüchteten
besuchen eine Kita oder Grundschule – Nachholbedarf bei den unter Dreijährigen und der Sprachförderung von
Schulkindern, DIW Wochenbericht 19/2017, S. 379-386.
Heckmann, James J.; Lochner, Lance (2000): Rethinking Education and Training Policy. Understanding the Sources
of Skill Formation in a Modern Economy. In: Danzinger, Sheldon; Waldfogel, Jane (Hg.): Securing the Future. Inves-
ting in Children from Birth to College. New York, 47-83.
Relikowski, Ilona, Schneider, Thorsten, & Linberg, Tobias (2015). Rezeptive Wortschatz- und Grammatikkompeten-
zen von Fünfjährigen mit und ohne Migrationshintergrund: Eine empirische Untersuchung aus bildungssoziologi-
scher Perspektive. Frühe Bildung, 4(3), 135–143. doi:10.1026/2191-9186/a000218
Simon Kühne, Jannes Jacobsen, and Martin Kroh. 2019. Sampling in Times of High Immigration: The Survey Pro-
cess of the IAB-BAMF-SOEP Survey of Refugees. Survey Methods: Insights from the Field. Retrieved from https://
surveyinsights.org/?p=11416. DOI:10.13094/SMIF-2019-00005
Will, Gisela, Balaban, Ebru, Dröscher, Annike, Homuth, Christoph, & Welker, Jörg (2018a). Integration von Flücht-
lingen: Erste Ergebnisse der ReGES-Studie. LIfBi Working Paper, 76.
Will, Gisela, Gentile, Raffaela, Henritz, Florian, & von Maurice, Jutta (2018b). ReGES – Refugees in the German
Educational System: Forschungsdesign, Stichprobenziehung und Ausschöpfung der ersten Welle. LIfBi Working
Paper, 75.

Bedingungen und Prozesse der Vertrauensbildung von geflüchteten Eltern gegenüber frühpädagogischen
Angeboten: Erste Ergebnisse einer explorativen Mixed-Methods-Studie
Laura Wenzel & Hila Kakar (Leuphana Universität Lüneburg)
Frühpädagogische Angebote leisten einen entscheidenden Beitrag zur Förderung der sozialen Teilhabe von ge-
flüchteten Familien in Deutschland. Der Zugang zu frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung ermöglicht
Kindern den Kontakt zu Gleichaltrigen und das Erlernen der Sprache. Zugleich erleichtern die Angebote Eltern
den Kontaktaufbau im lokalen Umfeld und schaffen Zeit für Aktivitäten, Bildung und Arbeit (Blossfeld et al.2016;
Gambaro et al. 2017). Der Zugang zu frühpädagogischen Angeboten kann für geflüchtete Familien herausfordernd
sein – etwa aufgrund fehlender Informationen über das deutsche System oder in Anbetracht von Sprachbarrieren
(Krus 2019; SVR-Forschungsbereich 2013). In verschiedenen Studien ist dabei bereits auf die Relevanz von Vertrau-
en hinsichtlich der Inanspruchnahme von frühpädagogischen Angeboten und auf die Rolle von zugangsrelevanten
‚Vertrauenspersonen‘ für geflüchtete Eltern in diesem Kontext hingewiesen worden (z.B. Omar et al. 2009; Baisch
et al. 2017). Das Phänomen Vertrauensaufbau geflüchteter Eltern in frühpädagogische Angebote selbst, ist jedoch
bisher nicht erforscht worden.

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         Abstract Book zur virtuellen Konferenz
Im Rahmen unseres Forschungsprojekts interessieren wir uns deshalb insbesondere dafür, wie und unter welchen
Bedingungen geflüchtete Eltern Vertrauen gegenüber frühpädagogischen Angeboten aufbauen und welcher Zu-
sammenhang sich zwischen den verschieden Vertrauensebenen (Systemvertrauen und interpersonellem Vertrau-
en nach Luhmann 2000) hinsichtlich des Vertrauensaufbaus zu frühpädagogischen Angeboten beobachten lässt.
Auf der Grundlage einer quantitativen Online-Befragung geflüchteter Eltern in Niedersachsen sowie auf vertie-
fenden qualitativen, teilnehmenden Interviews mit geflüchteten Eltern können wir im Rahmen einer Ergebnistri-
angulation zeigen, dass das Vertrauen in das System der Kindertagesbetreuung in Deutschland über alle Eltern
hinweg sehr hoch ist. Allerdings zeigen sich auf Basis der Befragung in Bezug auf das Vertrauen in die Kindertages-
betreuung signifikante Gruppenunterschiede zwischen Männern und Frauen sowie hinsichtlich des Aufenthalts-
status innerhalb der sehr heterogenen Gruppe der geflüchteten Eltern. Mithilfe der qualitativen Daten können wir
diese ersten Ergebnisse unterfüttern bzw. kontrastieren sowie die Rolle der zugangsrelevanten Personen genauer
beleuchten und zeigen, dass nicht nur unidirektional personenbezogenes Vertrauen in die Fachkräfte der Kinder-
tagesbetreuung einen Einfluss auf das Vertrauen in die Institution hat, sondern sich auch umgekehrt ein hohes
Vertrauen in die Institution bzw. das System auf das personenbezogene Vertrauen in die frühpädagogischen Fach-
kräfte überträgt.
Literatur:
Baisch, Benjamin/ Lüders, Kilian/ Meiner-Teubner, Christiane/ Riedel, Birgit/ Scholz, Antonia (2017): Flüchtlingskin-
der in Kindertagesbetreuung. Ergebnisse der DJI-Kita-Befragung „Flüchtlingskinder“ zu Rahmenbedingungen und
Praxis im Frühjahr 2016. Ergebnisse einer Befragung. München: Deutsches Jugendinstitut.
Blossfeld, Hans-Peter/ Bos, Wilfried/ Daniel, Hans-Dieter/ Hannover, Bettina/ Köller, Olaf/ Lenzen, Dieter/ Roß-
bach, Hans-Günther/ Seidel, Tina/ Tippelt, Rudolf/ Wößmann, Ludgar (2016): Integration durch Bildung. Migranten
und Flüchtlinge in Deutschland: Gutachten. Münster: vbw - Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft [Hrsg.] Integ-
ration durch Bildung. Migranten und Flüchtlinge in Deutschland. Gutachten.
Gambaro, Ludovica/ Liebau, Elisabeth/ Peter, Frauke/ Weinhardt, Felix (2017): Study shows high enrollment in
daycare and school among refugee children, but the possible need for more daycare for children under three and
more language support for school-aged-children. In: SOEP Wave Report 2017.
Krus, Astrid (2019): Bildungs- und Betreuungsangebote für Flüchtlingskinder - Chancen und Herausforderungen.
In: Geflüchtete Menschen: Ankommen in der Kommune. Theoretische Beiträge und Berichte aus der Praxis., bpb
Schriftenreihe, Bonn: bpb.
Luhmann, Niklas (2000): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 4. Auflage. Stuttgart:
Lucius & Lucius.
Omar, Nor Asiah/ Azrin, Muhamad Nazri/ Abu, Nor Khalidah/ Omar, Zoharah (2009): Parents’ Perceived Service
Quality, Satisfaction and Trust of a Childcare Centre: Implication on Loyalty. International Review of Business Re-
search Papers 5(5), 299-314.
SVR-Forschungsbereich (2013): Hürdenlauf zur Kita: Warum Eltern mit Migrationshintergrund ihr Kind seltener
in die frühkindliche Tagesbetreuung schicken. Policy Brief. Berlin: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für
Integration und Migration.

Elterliche Erziehungsstile in Flüchtlings- und Arbeitsmigrantenfamilien – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Prof. Dr. Bernhard Nauck (Universität Hamburg)
Erklärungsansätze zum Parenting in Migrantenfamilien verweisen hauptsächlich auf die jeweilige Herkunftskul-
tur und deren impliziten Erziehungszielen, “naiven Erziehungstheorien” und tradierten Alltagsroutinen, sowie
auf die jeweiligen elterlichen Ressourcen, wie verfügbares Einkommen, das in die Bildung der Kinder investiert
wird, soziale Netzwerke zur Unterstützung des Parenting, sowie das elterliche Bildungsniveau. Wenig in den Blick
genommen werden dagegen situative Faktoren, die mit dem Aufenthaltsstatus von Migrantenfamilienzusammen-
hängen. Flüchtlingsfamilien unterscheiden sich jedoch von Familien “alter” Arbeitsmigrantengruppen und (noch
mehr) von Aussiedlern darin, dass ihr Aufenthaltsstatusweitaus weniger gesichert, die ökonomischen Perspektiven
unklar und ihr soziales Kapital in der Aufnahmegesellschaft eher gering ist, da sie sich erst kurz in der Aufnahme-
gesellschaft aufhalten. Der Beitrag geht der Frage nach, inwiefern sich (auch) diese Unterschiede in den situativen
Bedingungen auf die Erziehungsstile von Vätern und Müttern in Flüchtlings- und Arbeitsmigrantenfamilien aus-
wirken. Zu diesem Zweck werden die selbstperzipierten Erziehungsstile von Vätern und Müttern aus folgenden
Herkunftsgruppen miteinanderverglichen: (1) Flüchtlingseltern aus dem Nahen und Mittleren Osten (keine Aufent

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haltsberechtigung), (2) Eltern türkischer Herkunft (Arbeitsmigranten ohne EU-Status), (3) Elternitalienischer und
griechischer Herkunft (Arbeitsmigranten mit EU-Status), (4) Aussiedler aus Russland (rechtlich den Nichtgewander-
ten gleichgestellt), sowie eine Referenzgruppe von deutschen, nichtgewanderten Eltern (5).
Für die empirische Analyse wurden folgende Datensätze gepoolt und harmonisiert: PAIRFAM(2008-2019), AID:A1
(2009), HEBE (2012), AID:A2 (2014), REGES (2017). Insgesamt gingen Angaben über selbstperzipierte Erziehungs-
stile von 1,067 Flüchtlingseltern aus dem Nahen und Mittleren Osten, 1,324 Eltern türkischer Herkunft, 182 Eltern
italienischer und griechischer Herkunft, 1,883 Eltern russischer Herkunft sowie 34,007 deutschen, nichtgewan-
derten Eltern(als Vergleichsgruppe) in die Analyse ein. Die selbstperzipierten Erziehungsstile wurden über drei
Dimensionen erfasst: 1. “Emotionale Involviertheit/Wärme”, 2. “Striktheit/Supervision/Kontrolle”, 3. “Aggressive
Spannungen”.
Neben deskriptiven Analysen zu Unterschieden zwischen den Eltern nach Geschlecht und Zugehörigkeit zu einer
Herkunftsgruppe wurden OLS-Regressionen durchgeführt, in die zusätzlich als Prädiktoren Geschlecht und Alter
der Kinder, Migrationshintergrund, Bildungsstand und Erwerbstätigkeit, Anzahl der Kinder und Familienstand ein-
bezogen wurden.
Die deskriptiven Befunde zeigen, dass die Eltern aus den Flüchtlingsfamilien des Nahen und Mittleren Ostens von
allen analysierten Herkunftsgruppen die geringsten Unterschiede nach dem Geschlecht von Eltern und Kindern
aufweisen und sich nicht von den anderen Herkunftsgruppe im Hinblick auf die Rangfolge der Dimensionen des
Erziehungsstils unterscheiden: An erster Stelle steht “Emotionale Involviertheit/Wärme” (Skalenmittelwert 90 in
einem standardisierten Range von 0 bis 100), dicht gefolgt von “Striktheit/ Supervision/Kontrolle” (80), wohinge-
gen „Aggressive Spannungen” nur einen Skalenmittelwert von 33 erreichen. Im Sinne der Baumrind/Maccoby-Ty-
pologie ist damit für die Flüchtlingseltern ein “autoritativer” Erziehungsstil mit 53 % häufiger als in allen anderen
Herkunftsgruppen (Wärme einhergehend mit Striktheit), gefolgt von einem “autoritären” Erziehungsstil (17 %;
Striktheit gepaart mitemotionaler Kälte), einem “vernachlässigenden” Erziehungsstil (16 %; emotionale Kälte ge-
paart mit fehlender Supervision), während ein “verwöhnender” Erziehungsstil (Wärme einhergehend mit fehlen-
der Supervision) in dieser Herkunftsgruppe von allen mit 14 % am seltensten anzutreffen ist.
Multivariate Analysen ergeben, dass sozialstrukturelle Faktoren wie z.B. das Bildungs- und Beschäftigungsniveau
geringe Auswirkungen auf den Erziehungsstil haben und insbesondere die Unterschiede zwischen den untersuch-
ten Herkunftsgruppen nicht auflösen können. Vielmehrzeigt sich, dass diese Unterschiede auch nach Kontrolle
von sozialstrukturellen und migrationsbezogenen Faktoren die stärksten Effekte auf die drei Dimensionen des Er-
ziehungsstils haben. Dabei weisen die Eltern aus den Flüchtlingsfamilien die größten Unterschiede zur deutschen
Referenzgruppe auf: Sie zeigen ein höheres Ausmaß an emotionaler Involviertheit als die deutschen Eltern und
die Eltern mit russischer, griechischer/italienischer und türkischer Herkunft, die ihrerseits weniger emotionale
Involviertheit angeben als die deutschennichtgewanderten Eltern. Sie berichten ebenfalls ein höheres Ausmaß an
Striktheit und Kontrolle als die deutschen Eltern und die Eltern mit russischer, griechischer/italienischer und tür-
kischer Herkunft, die ihrerseits weniger kontrollierendes Verhalten angeben als die nichtgewanderten deutschen
Eltern. Sie zeigen schließlich auch ein weitaus höheres Ausmaß an aggressiven Spannungen in der Beziehung zu
ihren Kindern als die deutschen Eltern und die Eltern mitrussischer, griechischer/italienischer und türkischer Her-
kunft.
Diese Besonderheiten im Erziehungsstil der Flüchtlingsfamilien lassen sich schwerlich allein auf ihre kulturelle und
regionale Herkunft zurückführen. Es liegt vielmehr nahe, diese Besonderheiten auf ihre Flüchtlingssituation zu-
rückzuführen, für die ein unsicherer Aufenthaltsstatus, beengte Wohnverhältnisse, unklare Zukunftsperspektiven
und geringe sozialer Integration in die Aufnahmegesellschaft charakteristisch ist.

Spracherwerb von geflüchteten Kindern – Welche Rolle spielen Kindertagesstätten und Sprachkurse?
Julian Seuring (Otto-Friedrich-Universität Bamberg), Anike Schild, Dr. Gisela Will & Jörg Welker (Leibniz-Institut für
Bildungsverläufe)
Der Erwerb der Sprache des Aufnahmelandes ist ausschlaggebend für den Bildungserfolg von Kindern und Jugend-
lichen mit Migrationshintergrund. Dieser zentrale Befund aus der bisherigen Forschung zu ethnischen Bildungs-
ungleichheiten (vgl. Diehl et al. 2016) konnte in aktuellen Studien ebenfalls für die Bildungsintegration schutz-
suchender Kinder und Jugendlicher festgestellt werden (Maué et al. 2021, Schipolowski et al. 2021). Vor diesem
Hintergrund werden die Bestimmungsfaktoren für einen möglichst schnellen und reibungslosen Spracherwerb
allgemein, sowie auch Überlegungen zu spezifischen Besonderheiten bei Geflüchteten, diskutiert. Ersten Untersu-
chungen zufolge unterscheiden sich die grundlegenden Faktoren des Spracherwerbs bei Erwachsenen nicht

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         Abstract Book zur virtuellen Konferenz
zwischen Geflüchteten und anderen Zuwanderungsgruppen, wobei sich der Zugang zur Sprache, vor allem in Form
von strukturierten Gelegenheiten wie bspw. Sprachkursen, als besonders bedeutsam hervorgehoben hat (Kristen
& Seuring 2021).
In dem vorliegenden Beitrag gehen wir der Frage nach, ob sich die bisherigen Erkenntnisse in vergleichbarer Weise
auch auf die Situation von geflüchteten Kindern im Vorschulalter übertragenlassen. Dabei werden zwei Zielsetzun-
gen verfolgt: Zunächst sollen die entscheidenden Randbedingungen des Spracherwerbs von schutzsuchenden Kin-
dern allgemein bestimmt werden. Weiterhin soll speziell aber auch die (relative) Bedeutung einer institutionellen
Förderung in Kindertagesstätten und zusätzlichen Sprachkursen untersucht werden. Den Ausgangspunkt bildet ein
allgemeines theoretisches Modell (Chiswick & Miller 1995; 2001; Esser 2006), wonach der Spracherwerb von den
drei übergeordneten Faktoren Motivation, Zugang und Effizienz bestimmt wird. Der Besuch einer Kindertagesstät-
te wie auch die Teilnahme an einem Sprachkurs sollte den Umfang sowie die Qualität des Zugangs zur deutschen
Sprache steigern und damit den Spracherwerb insgesamt begünstigen.
Für die empirische Analyse wurden Daten der frühkindlichen Kohorte aus dem ReGES-Projekt(„Refugees in the
German Educational System“; Will et al. 2018) verwendet. Die Deutschkompetenzen der Kinder wurden über
einen Wortschatztest, die deutsche Version des Peabody Picture Vocabulary Test (PPVT-4; Lenhard et al. 2015),
gemessen. Diese Testdaten liegen für knapp zwei Drittel der Kinder aus der Stichprobe vor, so dass den Analysen
Informationen zuN=1481 Kindern und deren Eltern zugrunde liegen. Die Zusammenhänge der Testergebnisse mit
den interessierenden unabhängigen Variablen wurden über lineare Regressionsmodelle geschätzt.
Die Ergebnisse zeigen, dass bei geflüchteten Kindern weitgehend die gleichen Randbedingungen den Sprach-
erwerb beeinflussen wie dies aus der bisherigen Forschung für andere Populationen festgestellt wurde. Dies weist
darauf hin, dass dem Spracherwerb allgemeine Mechanismen zugrunde liegen, die unabhängig von der jeweils be-
trachteten Zuwandererpopulation in ähnlicher Weise bedeutsam werden. Hinsichtlich geflüchteter Kinder erwies
sich der Kindertagesstättenbesuch als stärkster Einflussfaktor für den Spracherwerb, aber auch die Teilnahme an
Sprachkursen kann darüber hinaus noch leistungsfördernd einwirken.
In einem nächsten Schritt soll nun geprüft werden, inwieweit sich der Besuch einer Kindertagesstätte und die
Sprachkursteilnahme unterschiedlich auf verschiedene Teilgruppen der schutzsuchenden Kinder auswirkt. Wir
nehmen an, dass davon besonders Kinder profitieren, die außerhalb dieser Kontexte, etwa innerhalb der Familie
oder im Freundeskreis, nur wenig Kontakt zur deutschen Sprache haben. Die entsprechenden Analysen sollten
Aufschluss darüber geben, ob eine institutionelle Sprachförderung, gerade in der frühen Phase, andere eher nach-
teilige Bedingungen – zumindest ein Stück weit – ausgleichen kann, was auch vorbereitend für den nachfolgenden
Schuleintritt von großem Vorteil sein könnte.
Literatur:
Chiswick, B. R., & Miller, P. W. (1995). The endogeneity between language and earnings: International analyses.
Journal of Labor Economics, 13(2), 246–288.
Chiswick, B. R., & Miller, P. W. (2001). A model of destination-language acquisition: Application to male immigrants
in Canada. Demography, 38(3), 391–409.
Diehl, C., Hunkler, C., & Kristen, C. (2016). Ethnische Ungleichheiten im Bildungsverlauf. Mechanismen, Befunde,
Debatten. Wiesbaden: Springer VS.
Esser, H. (2006). Sprache und Integration: Die sozialen Bedingungen und Folgen des Spracherwerbs von Migranten.
Frankfurt: Campus.
Kristen, C. & Seuring, J. (2021). Destination-language skills of recently arrived immigrants: do refugees differ from
other immigrants?. Journal for Educational Research Online. [Vorabversion]
Lenhard, A., Lenhard, W., Segerer, R., & Suggate, S. (2015). Peabody Picture Vocabulary Test—Revision IV German
Adaption, PPVT-IV. Frankfurt: Pearson.
Maué, E., Schumann, S. & Diehl, C. (2021). Young refugees in vocational preparation courses: who is moving to the
next step?. Journal for Educational Research Online. [Vorabversion]
Schipolowski, S., Edele, A., Mahler, N. & Stanat, P. (2021). Mathematics and science proficiency of young refugees
in secondary schools in Germany. Journal for Educational Research Online. [Vorabversion]
Will, G., Gentile, R., Heinritz, F. & von Maurice, J. (2018): ReGES – Refugees in the German Educational System:
Forschungsdesign, Stichprobenziehung und Ausschöpfung der ersten Welle. LIfBi Working Paper No. 75. Bamberg:
Leibniz-Institut für Bildungsverläufe.

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Session 2: Hindernisse und Gelingensbedingungen für schulische Integration I
1. Konferenztag | Donnerstag, 20.05.2021, 11:15–12:45 Uhr

Zwischen Bildungsaspirationen und exkludierendem Bildungssystem: Biografische Erfahrungen mit Schule aus
Sicht geflüchteter bildungserfolgreicher Deutsch-Iraner*innen
Dr. Niels Uhlendorf (Humboldt Universität Berlin) & Dr. Susanne Benzel (Sigmund-Freud-Institut Frankfurt/Main)
Für die Frage nach gesellschaftlicher Teilhabe geflüchteter Kinder und Jugendlicher im Ankunftsland sind die Zu-
gänge zum Bildungssystem und die tatsächlichen Bildungsverläufe ausschlaggebend. Dieser Umstand spiegelt sich
auch in der hohen Bedeutung von Bildung und Aufstiegsaspirationen in vielen geflüchteten Familien wider (vgl.
Conrads et al. 2020; Hadjar/Scharf 2019). Vielfach lässt sich Flucht – ähnlich wie andere Migrationsformen – als
„intergenerationales Erwartungsprojekt“ (King 2016) beschreiben, in dem die Etablierung der jüngeren Generation
als Beweis fungiert, dass sich die riskante und mühevolle Flucht für die Familie gelohnt hat. Zugleich zeigen Befun-
de, dass Kinder und Jugendliche mit Migrations- bzw. Fluchthintergrund weiterhin benachteiligt sind im deutschen
Schulwesen, insbesondere aufgrund von mangelnden Kenntnissen des Bildungssystems, Sprachbarrieren und
Formen der institutionellen Diskriminierung (siehe u.a.: Gomolla 2015; Fereidooni 2011; El-Mafaalani/Massumi
2019).
Hierbei fällt auf, dass sich die Gruppe von geflüchteten Deutsch-Iraner*innen durch einen formal hohen Bildungs-
erfolg und damit einhergehend sozialen Aufstieg von anderen Gruppen wie auch dem Gesamtdurchschnitt der
deutschen Wohnbevölkerung unterscheidet (vgl. Uhlendorf 2018; Woellert/Klingholz 2014). Insbesondere dieje-
nigen, die infolge des Fluchtalters wesentliche Teile ihrer Schulkarriere in Deutschland verbracht haben, zeichnen
sich durch überdurchschnittliche Erfolge aus. Am Beispiel dieser Gruppe soll der Frage nachgegangen werden,
wie sich elterliche Bildungserwartungen mit Positionierungen in Bildungsinstitutionen verbinden und wie dies
biografisch verarbeitet wird. Mittels einer biografieanalytischen Perspektive werden Erfahrungen sogenannter bil-
dungserfolgreicher geflüchteter Deutsch-Iraner*innen rekonstruiert, welche im Iran geboren und im Kindes- oder
Jugendalter zusammen mit ihren Familien nach Deutschland geflohen sind. Der Fokus liegt dabei darauf, wie das
dynamische Verhältnis zwischen Familie und Bildungsinstitution erfahren und verarbeitet wird.
Die Ergebnisse sind Teil einer Studie, in der elf narrativ-biografische Interviews (Schütze 1983) geführt und in An-
lehnung an die Grounded Theory (Corbin/Strauss 2015) ausgewertet wurden. Für den Vortrag werden zwei unter-
schiedliche Verarbeitungsmuster anhand von zwei Fallbeispielen kontrastiert und im Hinblick auf die Bedeutung
der elterlichen Aufstiegserwartungen vor dem Hintergrund von Exklusionsmechanismen im deutschen Bildungs-
system diskutiert. Fallbeispiel 1 repräsentiert dabei einen expliziten Widerstand gegen Diskriminierungen, wobei
die Mutter der Biografieerzählerin den schulischen Erfolg auch gegen den Willen einzelner Lehrkräfte durchzu-
setzen versucht. Fallbeispiel 2 hingegen repräsentiert die besondere Bedeutung von externen Hilfe- und Sorge-
strukturen im Zusammenhang mit Bildungsverläufen angesichts von überfordernden Fluchterfahrungen. Hierbei
werden unterschiedliche Erfahrungen in den Lebensphasen Kindheit und Jugend gegenübergestellt und Faktoren
für die jeweiligen Verarbeitungsmodi herausgearbeitet.
Literatur:
Conrads, R./Kohn, K.H./Weber, P.C. (2020): Bildungskapital, Bildungsaspiration und Bildungspotenziale von Men-
schen mit Fluchterfahrungen – Entwicklungen und Beratungsansätze. In: Freiling, T./Conrads, R./Müller-Osten, A./
Porath, J. (Hrsg.): Zukünftige Arbeitswelten. Facetten guter Arbeit, beruflicher Qualifizierung und sozialer Siche-
rung. Wiesbaden: Springer, S. 227-252
Corbin, J. & Strauss, A. (2015). Basics of Qualitative Research. Techniques and Procedures for Developing Groun-
ded Theory. London: Sage.
El-Mafaalani, A./Massumi, M. (2019): Flucht und Bildung: frühkindliche, schulische, berufliche und non-formale
Bildung. State-of-Research Papier 08a, Verbundprojekt ‚Flucht: Forschung und Transfer‘, https://flucht-forschung-
transfer.de/wp-content/uploads/2019/06/SoR-08-El-Mafaalani-WEB.pdf
Fereidooni, K. (2011): Schule – Migration – Diskriminierung. Ursachen der Benachteiligung von Kindern mit Migra-
tionshintergrund im deutschen Schulwesen. Wiesbaden: VS.
Gomolla, M. (2015): „Institutionelle Diskriminierung im Bildungs- und Erziehungssystem.“ In: Leiprecht, R./Stein-
bach, A. (Hrsg.): Schule in der Migrationsgesellschaft. Ein Handbuch. Band 1: Grundlagen – Diversität – Fachdidak

6        „Angekommen? Zur Situation von geflüchteten Kindern und Jugendlichen im deutschen Bildungssystem“
         Abstract Book zur virtuellen Konferenz
tiken. Schwalbach/Ts.: debus Pädagogik, S. 193-219.
Hadjar, A. & Scharf, J. (2019). The value of education among immigrants and non-immigrants and how this transla-
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King, V. (2016): Zur Psychodynamik der Migration. Muster transgenerationaler Weitergabe und ihre Folgen in der
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Uhlendorf, N. (2018): Optimierungsdruck im Kontext von Migration. Eine diskurs- und biografieanalytische Unter-
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Woellert, F. & Klingholz, R. (2014). Neue Potenziale. Zur Lage der Integration in Deutschland. Berlin: Berlin-Institut.

Ambivalente Potenziale digitaler Medien für die Bildungsteilhabe junger Geflüchteter in Schule und Kinder-
und Jugendhilfe
Prof. Dr. Nadia Kutscher & Michi S. Fujii (Universität zu Köln)
Der Alltag junger Geflüchteter in Deutschland ist durch diverse institutionelle Orte und organisationale Rahmun-
gen geprägt (Holthusen 2019). Digitalen Medien wird dabei das Potenzial für die Ermöglichung von Bildungs-
teilhabe zugeschrieben, indem auf einer niedrigschwelligen Ebene Lern- und Bildungsoptionen eröffnet werden
(Kutscher & Kreß 2018). Über diesen normativen Diskurs hinaus ist allerdings empirisch weitgehend ungeklärt, in-
wiefern und unter welchen Bedingungen dies tatsächlich der Fall ist (Livingstone et al. 2017), d.h. welche Faktoren
für die Förderung von Teilhabe auf der Ebene von Nutzer*innen, Fach- und Lehrkräfte sowie Institutionen relevant
sind.
Im Rahmen eines BMBF-geförderten Verbundprojekts „Bildungsteilhabe Geflüchteter im Kontext digitalisierter Bil-
dungsarrangement“ (BIGEDIB, Laufzeit 2019-2022) wird die Frage untersucht, welche Bedeutung digitale Medien
im Alltag junger Geflüchteter für deren Bildungsteilhabe haben und welche (strukturellen, subjektiven) Bedingun-
gen sich dabei in einer transorganisationalen Perspektive als relevant zeigen. Um Schnittstellen und Wechselwir-
kungen von Praktiken im Kontext verschiedener Bildungsarrangements (formal, non-formal und informell – Rau-
schenbach 2004) zu berücksichtigen, werden in zwei Teilprojekten ausgehend vom non-formalen Bildungsbereich
der Kinder- und Jugendhilfe bzw. vom formalen Bildungsbereich der Schule Praktiken und strukturelle Bedingun-
gen ethnografisch rekonstruiert, die Teilhabebedingungen mit formen. Als sensibilisierendes Konzept wird Bildung
dabei im Sinne der strukturalen Medienbildung als Veränderung von Welt- und Selbstverhältnissen (Jörissen &
Marotzki 2009) verstanden und damit sowohl geplante, arrangierte als auch ungeplante, zufällige Aneignungs- und
Bewältigungspraktiken (im Kontext digitaler Medien) fokussiert.
Die ethnographische Studie umfasst teilnehmende Beobachtungen, Interviews und Feldgespräche sowie Artefakt-
analysen (Lueger & Froschauer 2018) und Situationsanalysen (Clarke 2018). In den Feldphasen werden bildungs-
bezogene Praktiken im institutionellen und privaten Alltag von jungen Geflüchteten (15-24 J.) über eine multi-sited
ethnography (Marcus 1995; Falzon 2009) dokumentiert, in denen auch digitale Medien beteiligt sind, relevante Ar-
tefakte sowie Verschränkungen von Praktiken und Artefakten mit anderen Bildungskontexten analysiert. Die trans-
organisationale Perspektive wird über das follow-the-actor in der multi-sited ethnography über Containerbegriffe
von Raum oder eine Reduzierung der Forschungsperspektiven auf einzelne Orte ohne deren Kontextualisierungen
und Querbezüge hinaus entgegen einem „methodologischen Lokalismus“ (Nieswand 2008: 78) im Design umge-
setzt. Die Studie folgt in der Anlage sowie in der Datenauswertung der Grounded Theory Methodology (Strauß &
Corbin 1996).
Dieser Beitrag präsentiert erste Ergebnisse der ethnographischen Studie aus dem Teilprojekt am Projektstandort
Köln. Auf der Basis von Feldbeobachtungen und Interviewdaten im Kontext von Schule und Kinder- und Jugend-
hilfe insbesondere aus der Zeit des ersten COVID-19-Lockdowns werden aus dem empirischen Material rekonst-
ruierte Ungleichheitsdimensionen im Zusammenhang digitalisierter Bildungsarrangements von jungen Geflüch-
teten auf subjektiver und struktureller Ebene vorgestellt (Fujii et al. 2020). Dabei sind der Mangel an technischen
Zugangsmöglichkeiten, medienbezogenen Fähigkeiten, sprachliche Einschränkungen und personale Unterstützung
zentral, während soziales Verbindungskapital in Form institutionalisierter Beziehungen (Szreter & Woolcock 2004)
eine in transorganisationaler Perspektive relevante Brückenfunktion darstellt.

„Angekommen? Zur Situation von geflüchteten Kindern und Jugendlichen im deutschen Bildungssystem“                    7
Abstract Book zur virtuellen Konferenz
Literatur:
Clarke, A. E. (2018): Situational analysis. Grounded theory after the interpretive turn. Los Angeles: Sage.
Falzon, M.-A. (2009): Multi-Sited Ethnography. Theory, Praxis and Locality in Contemporary Research. London:
Ashdate Publishing.
Fujii, M. S./Hüttmann, J./Kutscher, N./Friedrichs-Liesenkötter, H. (2020): Participation?! Educational Challenges for
Young Refugees in Times of the COVID-19 Pandemic. In: Media Education, 11(2), 37-47.
Holthusen, B. (2020): Angekommen in Deutschland? Perspektiven junger Geflüchteter auf ihre Lebenslagen. In:
AJS Informationen. 56(2), 15-19.
Jörissen, B./ Marotzki, W. (2009): Medienbildung – Eine Einführung: Theorie – Methoden – Analysen. Bad Heil-
brunn: Klinkhard.
Kutscher, N./Kreß, L.-M. (2018). The Ambivalent Potentials of Social Media Use by Unaccompanied Minor Refu-
gees. In: Social Media & Society, 4(1), 1-10.
Livingstone, S./Lemish, D./Lim, S. S./Bulger, M./Cabello, P./Claro, M. et al. (2017): Global Perspectives on Children's
Digital Opportunities: An Emerging Research and Policy Agenda. In: Pediatrics, 140(2), 137-141.
Lueger, M. & Froschauer, U. (2018): Artefaktanalyse. Grundlagen und Verfahren. Wiesbaden: Springer VS.
Marcus, G. (1995): Ethnography in/of the World System: The Emergence of Multi-Sited Ethnography. In: Annual
Review of Anthropology, 24, 95-117.
Nieswand, B. (2008): Ethnografie im Spannungsfeld von Lokalität und Sozialität. In: EthnoScripts: Zeitschrift für
aktuelle ethnologische Studien, 10(2), 75-103.
Rauschenbach, T./Leu, H.R./Lingenbauer, S./Mack, W./Schilling, M./Schneider, K./Züchner, I. (2004): Konzeptio-
nelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF):
Berlin.
Strauß, A. & Corbin, J. (1996): Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz.
Szreter, S. & Woolcock, M. (2004). Health by association? Social capital, social theory, and the political economy of
public health. In: International Journal of Epidemiology, 33(4), 650-667.

Erstbeschulung von neu zugewanderten Schüler*innen ohne hinreichende deutsche Sprachkenntnisse. Ergebnisse
aus der WiKo-Studie zur Evaluation der Berliner Willkommensklassen
Dr. Marko Neumann, Elena Christin Haas & Prof. Dr. Kai Maaz (DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und
Bildungsinformation)
Die Organisation der schulischen Integration neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher ohne hinreichende deut-
sche Sprachkenntnisse fällt in die Zuständigkeit der Länder. Diese praktizieren zum Teil sehr unterschiedliche An-
sätze und Verfahrensweisen, die sich auf einem Kontinuum von integrativer Beschulung im Regelunterricht bis zu
weitestgehend paralleler Beschulung in gesonderten Lerngruppen verorten lassen (vgl. für einen Überblick Massu-
mi et al., 2015). Das Land Berlin sieht für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche ohne hinreichende Deutsch-
kenntnisse überwiegend den Unterricht in so genannten „Willkommensklassen“ vor, die an Grundschulen, Integ-
rierten Sekundarschulen (ISS), Gymnasien, Oberstufenzentren (OSZ) und in begründeten Ausnahmefällen auch an
Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt eingerichtet werden können. Ziel der Willkommensklassen
ist es, die Schüler*innen möglichst innerhalb eines Schuljahres auf den erfolgreichen Besuch einer Regelklasse
vorzubereiten, wobei der Schwerpunkt auf der Vermittlung von Sprachkenntnissen in Deutsch liegt. Die organisa-
torische, inhaltliche und pädagogisch-didaktische Ausgestaltung der Arbeit in den Berliner Willkommensklassen
liegt dabei in erster Linie in der Zuständigkeit der Schulen.
Über die konkrete Umsetzung und den Erfolg der schulischen Arbeit in den Willkommensklassen und ähnlichen
Vorbereitungsklassen in anderen Bundesländern liegen bislang nur vereinzelt Forschungsbefunde vor (vgl. u.a.
Karakayalı et al., 2017). An dieser Stelle setzt die WiKo-Studie an, in deren Fokus die Evaluation der praktischen
Umsetzung der schulischen Arbeit in den Berliner Willkommensklassen steht. Die WiKo-Studie stützt sich auf Ein-
schätzungen und Bewertungen von Schulleitungen an Schulen mit Willkommensklassen sowie in Willkommens-
klassen unterrichtenden Lehrkräften, die mittels Online-Befragungen erhoben wurden. Darüber hinaus liegen
Angaben aus einer Online-Befragung von Schulleitungen aus Schulen ohne Willkommensklassen vor, die stärker
integrative Ansätze direkt im Regelunterricht praktizieren.

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         Abstract Book zur virtuellen Konferenz
Folgende übergreifende Forschungsfragen werden im Rahmen der WiKo-Studie untersucht:
• Durch welche organisatorischen (z.B. räumliche Verortung, teilweise Beschulung in Regelklassen) und päda-
    gogisch-didaktischen Umsetzungsaspekte (z.B. Häufigkeit und Art der Sprachstandfeststellung) ist die Arbeit
    in Willkommensklassen gekennzeichnet und inwieweit finden sich diesbezüglich Unterschiede zwischen den
    Schulen?
• Inwieweit betrachten Schulleitungen und Lehrkräfte die Arbeit in den Willkommensklassen als geeigne-
    ten Weg für die Förderung und Integration von neu zugewanderten Schüler*innen ohne oder mit geringen
    Deutschkenntnisse(n)?
• Welche Gelingens- und Hinderungsbedingungen sehen sie? Welche der von ihnen erprobten Ansätze und Um-
    setzungsmaßnahmen halten sie für besonders wirksam, welche für weniger effektiv?
• Wie bewerten Lehrkräfte und Schulleitungen den Lernerfolg der Schüler*innen in Willkommensklassen?
• Wie gestaltet sich der Übergang in die Regelklassen und welche Fördermaßnahmen bestehen für ehemalige
    Schüler*innen aus Willkommensklassen?
• In welcher Hinsicht finden sich Unterschiede im Umgang mit neu zugewanderten Schüler*innen ohne oder mit
    geringen Deutschkenntnisse(n) zwischen Schulen mit Willkommensklassen und Schulen ohne Willkommens-
    klassen, die integrativ direkt in Regelklassen beschulen?
Im Beitrag sollen ausgewählte Befunde aus diesen Themenbereichen vorgestellt werden. Ergebnisse können an
dieser Stelle noch nicht aufgeführt werden, da die Befunde zum Zeitpunkt der Abstract-Erstellung noch nicht ver-
öffentlicht wurden.
Literatur:
Massumi, M. & Dewitz, v. N. et al. (2015). Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem.
Bestandsaufnahme und Empfehlung. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache;
Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln.
Karakayalı, J., Nieden, B., Kahveci, C., Groß, S., Tutuku, G. & Heller, M. (2017). Die Beschulung neu zugewanderter
und geflüchteter Kinder in Berlin. Berlin: Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung.

Mechanismen institutioneller Diskriminierung: eine qualitativ empirische Studie zur Gestaltung der Übergänge
für neu zugewanderte SchülerInnen von der Willkommensklasse in die Regelklasse
Gülay Teke (Universität Potsdam)
Kurze Beschreibung der Forschungsfragen
Das Erkenntnisinteresse richtet sich danach, wie in der Primarstufe – und im Besonderen in und durch Übergänge
in Willkommensklassen – soziale Ungleichheit produziert wird. Dafür werden Interviews mit Schulleitungen und
Lehrkräften hinsichtlich der „Konstruktion des Fremden“ (Winker & Degele, 2009) in solchen Klassen untersucht.
Die Forschungsfrage lautet, wie regulieren die einzelnen Akteure die Übergänge von der Willkommensklasse in die
Regelklasse?
Zugrundeliegende Theorien
In dieser Untersuchung geht es um die Verwobenheit der pädagogischen Praxis als auch der sie beschreibenden
Theorie in gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse (vgl. Vogel & Dammer, 2015). Das erscheint vor dem Hinter-
grund von Ungleichheit im Schulsystem und dem Zugang zu Bildungsabschlüssen für SchülerInnen mit Migrations-
hintergrund von Bedeutung. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der PISA-Ergebnisse relevant, die deutlich
machen, dass es einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg gibt (von Felden u.a., 2014;
Gogolin, 2013; Hunger & Thränhardt, 2013). Bildungsinstitutionelle Überlegungen hinsichtlich des Umgangs mit
Kindern mit geringen bis keinen Deutschkenntnissen haben eine lange Tradition: Bereits 1975 wird dem Thema
neu zugewanderter Kinder mit organisatorischen Maßnahmen , wie der Einrichtung von Vorbereitungsklassen,
Förderunterricht und Intensivkursen begegnet (Willke, 1975). Demnach verfehlen die Schulen ihren Auftrag durch
ihre bildungsinstitutionellen Strukturen „Bildung für alle“ (Ottersbach, 2016)“ zu gewährleisten. Grundlagentheo-
retisch knüpft der Beitrag an Giddens´ Strukturationstheorie an. Demnach sind „Strukturen […]immer Medium
und Ergebnis sozialer Praktiken und existieren […] in dem Moment ihrer Konstitution (1988, zitiert nach Mensch-
ing, 2018:201). Die bildungsinstitutionellen Strukturen der 1970er Jahre hinsichtlich des Umgangs mit Kindern mit
Migrationshintergrund scheinen sich in den heutigen sozialen Praktiken fortzusetzen, obwohl das pädagogische wie
gesellschaftliche Paradigma dem inkulsiven Verständnis folgen sollte. Hier scheint es einen organisationalen „kon-
junktiven Erfahrungsraum“ zu geben, in dem die Handlungspraxis als eingewobenes Wissen existiert und handlungs-
praktisch umgesetzt (vgl. Mannheim 1980), und ein Wandel in der Beschulung neu Zugewanderter verhindert wird.

„Angekommen? Zur Situation von geflüchteten Kindern und Jugendlichen im deutschen Bildungssystem“                     9
Abstract Book zur virtuellen Konferenz
Angewandte Methodologie und Kernergebnisse
Im Zeitraum 2016 – 2017 wurden an 8 Grundschulen in Berlin Daten erhoben. Erhoben wurde mittels der Metho-
de des Experteninterviews sowohl Interviews mit Lehrkräften der Willkommensklassen, als auch mit den Schul-
leitungen der entsprechenden Schulen (Meuser & Nagel, 2010; Helfferich, 2014). Die Fragen wurden narrativ und
leitfadengestützt gestellt, die Antworten aufgenommen und transkribiert. Die Interviews wurden zunächst mit der
Qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (Kuckartz, 2018) ausgewertet. Anschließend wurden einige zusätzlich
mit der Dokumenatrischen Methode ausgewertet, um Zugang zum handlungsleitenden Wissen der Akteure zu
gewinnen (Bohnsack et al., 2013). Dieses handlungsleitende Wissen eröffnet den Zugang zur Handlungspraxis.
Der Beitrag fokussiert die Praxis einzelner Primarschulen im Hinblick auf die Übergänge von der Willkommens- in
die Regelklasse und ermöglicht die Einsicht in das „handlungsleitende Erfahrungswissen“ (Bohnsack, 2013) der
Schulleitungen und Lehrkräfte. Die Kernergebnisse zeigen, dass der Verbleib in der Willkommensklasse variiert
und die Übergänge in die Regelklasse zunächst in den sogenannten weichen Fächern, wie Kunst, Musik, Sport
erfolgen. Die organisatorische Regulierung zeigt innerhalb der einzelnen Primarschulen Variationen, einige dieser
unterschiedlichen Praxen sollen in dem Vortrag aufgezeigt werden.

Session 3: Hindernisse und Gelingensbedingungen für schulische Integration II
1. Konferenztag | Donnerstag, 20.05.2021, 15:00–16:30 Uhr

Ankommen im deutschen Bildungssystem und dann? Bildungspartizipation geflüchteter Jugendlicher im Zeitverlauf
Cristina de Paiva Lareiro (Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl, Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge)
Geflüchtete Kinder und Jugendliche stellen im Bildungssystem eine vulnerable Gruppe mit speziellen Vorausset-
zungen dar. Zu Beginn war ihr Zugang zu Bildung reglementiert und je nach Bundesland von ihrer Aufenthaltsdau-
er oder der Unterbringungsart abhängig. Zusätzlich zeichnen sich geflüchtete Kinder und Jugendliche durch eine
ungünstige Ressourcenausstattung aus, welche schulischen Erfolg erschwert (Kemper 2016). Neben der häufig
belastenden Wohnsituation (ebd.; Lechner/Huber 2017) fehlten ihnen in der Regel sowohl das Wissen über die
Struktur des hiesigen Bildungssystems als auch die Möglichkeit auf elterliche Hilfe zurückzugreifen. Auch Flucht-
erfahrung (ebd.), Sprachbarrieren (Blossfeld et al. 2016), das heterogene Bildungsniveau und die teils durchbro-
chenen Bildungsbiographien (ebd.) erschweren eine erfolgreiche Integration in das Bildungssystem.
Besonders für die Beleuchtung der Entwicklung der Bildungspartizipation im Zeitverlauf fehlte zunächst die quanti-
tative Datengrundlage. Anhand der Daten des Sozio-oekonomischen Panels, der integrierten IAB-SOEP-Migrations-
stichprobe sowie der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten aus den Jahren 2016 bis 2019, ist es nun nicht
nur möglich, die Bildungsbeteiligung und die Beschulung an weiterführenden Schulen im Vergleich zu gleichalt-
rigen Schüler/innen mit und ohne Migrationshintergrund multivariat zu betrachten (Average Marginal Effects),
sondern auch erste Verläufe nachzuzeichnen (Sequenzmusteranalyse), um folgende Fragen zu beantworten: Wie
gestalten sich die Platzierungen in der Sekundarstufe für geflüchtete Minderjährige? Welche Verlaufsmuster zei-
gen sich im Vergleich zu Gleichaltrigen mit und ohne Migrationshintergrund?
Erste Befunde weisen darauf hin, dass die formale Bildungspartizipation bereits nach relativ kurzer Aufenthalts-
dauer (zwischen 1 bis 3 Jahren) weitestgehend geglückt ist, sich im Sekundarschulbereich jedoch deutliche Dis-
krepanzen zeigen: Je nach Herkunftsland haben Schüler/innen mit Fluchthintergrund eine signifikant geringere
Wahrscheinlichkeit, eine Realschule oder ein Gymnasium zu besuchen als die einheimische Vergleichsgruppe und
liegen auch hinter Gleichaltrigen mit Migrationshintergrund zurück. Als signifikant positive Einflussfaktoren auf
den Besuch einer Schule, welche zu mittleren oder höheren Bildungsabschlüssen führt, erweisen sich ein ent-
sprechend hohes Bildungsniveau der Eltern, die Unterbringung in einer privaten Unterkunft, sowie das weibliche
Geschlecht. Nachteilig wirken sich hingegen häufige Unterkunftswechsel, ein höheres Einreisealter und der Besuch
einer Flüchtlingsklasse aus.
Auch die Analyse von Verlaufsmustern lässt Unterschiede zwischen den Herkunftsgruppen erkennen. Während für
Schüler/innen mit und ohne Migrationshintergrund das Gymnasium mit Abstand die vorherrschende Schulform
darstellt, sind bei gleichaltrigen Geflüchteten Real- und Hauptschule die dominanten Schultypen. Darüber hinaus
zeigt sich für geflüchtete Kinder und Jugendliche eine weitaus stärkere Pluralisierung von Bildungsverläufen: Sie
wechseln im Beobachtungszeitraum deutlich häufiger zwischen verschiedenen Schultypen im Sekundarbereich als
Schüler/innen mit und ohne Migrationshintergrund.

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         Abstract Book zur virtuellen Konferenz
Literatur:
Blossfeld, Hans-Peter/Bos, Willfried/Daniel, Hans-Dieter/Hannover, Bettina/Köller, Olaf/Lenzen, Dieter/Roßbach,
Hans-Günther/Seidel, Tina/Tippelt, Rudolf/Wößmann, Ludger (2016): Integration durch Bildung. Migranten und
Flüchtlinge in Deutschland. Gutachten. 1. Aufl., Münster: Waxmann.
Kemper, Thomas (2016): Zur schulstatistischen Erfassung der Bildungsbeteiligung von Flüchtlingen und Asylbewer-
bern, in: Sonderpädagogische Förderung heute 61 (2), 194-204.
Lechner, Claudia/Huber, Anna (2017): Ankommen nach der Flucht. Die Sicht begleiteter und unbegleiteter junger
Geflüchteter auf ihre Lebenslagen in Deutschland, München: Deutsches Jugendinstitut

Mathematisch-naturwissenschaftliche Kompetenzen von neu zugewanderten Jugendlichen mit Fluchtbiografie
in der Sekundarstufe I
Dr. Stefan Schipolowski (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen), Prof. Dr. Aileen Edele (Berliner
Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung), Dr. Nicole Mahler (Institut für Bildungsanalysen
Baden-Württemberg) & Prof. Dr. Petra Stanat (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen)
Aufgrund der großen Zahl der in den letzten Jahren als Schutzsuchende nach Deutschland gekommenen Kinder
und Jugendlichen stehen viele Schulen und Lehrkräfte vor der Herausforderung, Heranwachsende mit geringen
Kenntnissen der deutschen Sprache und aufgrund von Flucht und Vertreibung unterbrochenen Bildungsbiografien
zu integrieren (Brücker, Rother & Schupp, 2016). Bisher liegen kaum belastbare Informationen dazu vor, über wel-
che schulischen Kompetenzen diese neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen verfügen.
In unserem Beitrag untersuchen wir, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler mit Fluchtbiographie wenige
Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland in den Fächern Mathematik, Biologie, Chemie und Physik aufweisen. Dazu
werten wir Test- und Fragebogendaten aus einer Studie zum nationalen Bildungsmonitoring in Deutschland in der
Sekundarstufe I aus (IQB-Bildungstrend 2018; Stanat, Schipolowski, Mahler, Weirich & Henschel, 2019). Die für
Deutschland repräsentative Stichprobe umfasst insgesamt 44.882 Neuntklässlerinnen und Neuntklässler, darunter
939 Jugendliche, die im Jahr 2014 oder später als Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind. Diese bearbei-
teten neben Testinstrumenten zu den nationalen Bildungsstandards in den genannten Fächern auch einen Test zu
ihren sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen sowie einen Fragebogen.
Den Schwerpunkt des Beitrags bilden Analysen der Kompetenzdaten der geflüchteten Jugendlichen mit Methoden
der Item Response Theory, um zu prüfen, über welche mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen die
Jugendlichen mit Fluchthintergrund im Vergleich zu anderen Schülerinnen und Schülern – einschließlich der ersten
Zuwanderergeneration ohne Fluchtbiografie – verfügen. Zudem untersuchen wir mit Hilfe hierarchischer Regres-
sionsanalysen, inwieweit Leistungsdisparitäten von Geflüchteten gegenüber anderen Jugendlichen mit Faktoren
zusammenhängen, die aus der Literatur als wichtige Determinanten des Bildungserfolgs von Jugendlichen mit
Zuwanderungshintergrund bekannt sind. Dies umfasst inbesondere Deutschkenntnisse und den sozialen Hinter-
grund. Speziell für Jugendliche der ersten Zuwanderergeneration mit und ohne Fluchtbiografie betrachten wir zu-
dem die Bedeutung der Aufenthaltsdauer in Deutschland sowie des Schulbesuchs in Deutschland und im Ausland.
Verglichen mit Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund erzielten geflüchtete Jugendliche im Durchschnitt
um 15 bis 17 Punkte niedrigere Kompetenzwerte (auf einer Skala mit SD = 10 für alle Neuntklässlerinnen und
Neuntklässler in Deutschland). Auch die Differenz zu Jugendlichen der ersten Zuwanderergeneration ohne Flucht-
biografie war mit 7 bis 10 Punkten substanziell. Unter Berücksichtigung der Sprachkenntnisse und des sozialen
Hintergrunds fielen die Disparitäten mit 2 bis 5 Punkten im Vergleich zu Heranwachsenden ohne Zuwanderungs-
hintergrund bzw. 1 bis 5 Punkten im Vergleich zu Jugendlichen der ersten Zuwanderergeneration ohne Fluchtbio-
grafie erheblich geringer aus, wobei die Deutschkenntnisse die größte Varianzaufklärung leisteten. Die verbleiben-
den Unterschiede in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen entsprechen dem Lernzuwachs,
der in deutschen Schulen ungefähr in einem Schuljahr erreicht wird. Die Aufenthaltsdauer in Deutschland sowie
die Dauer des Schulbesuchs in Deutschland und im Ausland konnten darüber hinaus keinen substanziellen Beitrag
zur Varianzaufklärung leisten.
Wir setzen die hier dargestellten Befunde aus dem Bildungsmonitoring mit Ergebnissen aus der IAB-BAMF-SOEP-
Befragung von Geflüchteten in Bezug, in der das deklarative Wissen im Bereich Naturwissenschaften und Technik
untersucht wurde (Schipolowski & Edele, 2020). Zudem diskutieren wir unsere Befunde im Zusammenhang mit an-
deren Indikatoren der schulischen Adaption von Geflüchteten und gehen auf die Implikationen unserer Ergebnisse
für die schulische Integration von Kindern und Jugendlichen mit Fluchtbiografie in das deutsche Schulsystem ein.

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Abstract Book zur virtuellen Konferenz
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