50 Jahre nach 50 Jahre Bauhaus 1968 - Mai - 23. September 2018 READER - Württembergischer Kunstverein
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
2 | 40 Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
3 | 40 50 Jahre nach 50 Jahre Bauhaus 1968 5. Mai – 23. September 2018 Künstler*innen Piotr Andrejew, Daniel G. Andújar, Gerd Arntz, Ambrish Arora, Arte Nucleare, Yochai Avrahami, Galina Balashova, John Barker / László Vancsa, Willi Baumeister, Herbert Bayer, Ella Bergmann-Michel, Akshat Bhat, Marianne Brandt, Lucius Burckhardt, Abin Chaudhury, Constant, Peter Cook, Le Corbusier, Guy-Ernest Debord, Die neue Linie, Yvonne P. Doderer, Atul Dodiya, Ines Doujak, Drakabygget, Egon Eiermann, Francis Gabe, Annapurna Garimella, Erich Glas, Grapus, Eileen Gray, Walter Gropius, Dmitry Gutov / David Riff, John Heartfield, Helmut Heißenbüttel, Ludwig Hilberseimer, Internationale lettriste, Internationale situationniste, Isidore Isou, Jineolojî, Jacqueline de Jong, Asger Jorn, Shimul Javeri Kadri, Jitish Kallat, Revathi Kamat, Mustapha Khayati, Alexander Kluge, Kurt Kranz, Les Groupes Medvedkin / Colette Magny, Les Lèvres Nues, Michail Lifschitz, El Lissitzky, Mona Mahall / Asli Serbest, Vincent Meessen, Rahul Mehrotra, Kaiwan Mehta, Erich Mendelsohn, Ludwig Mies van der Rohe, László Moholy-Nagy, Mouvement international pour un Bauhaus imaginiste, Ernst Neufert, Hans Ferdinand und Hein Neuner, Mateusz Okonski, Gabriel Pomerand, PROVO, Madhav Raman, Lilly Reich, Josep Renau, Józef Robakowski, Joost Schmidt, Margarete Schütte-Lihotzky, Vishwa Shroff, Alison und Peter Smithson, Herman Sörgel, Gruppe SPUR, Superstudio, Jan Tschichold, Raoul Vaneigem, Gil J Wolman … und viele andere Eine Ausstellung von Württembergischer Kunstverein Stuttgart im Rahmen von 100 Jahre Bauhaus Kurator*innen Iris Dressler, Hans D. Christ in Zusammenarbeit mit Ines Doujak, Mona Mahall, Kaiwan Mehta, David Riff, Asli Serbest Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
4 | 40 Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
5 | 40 Einführung Am 4. Mai 1968, einen Tag nachdem Student*innen in Paris die Universität Sorbonne besetzt und den sogenannten Mai 68 ausgerufen hatten, wurde im Württembergischen Kunstverein die Ausstellung 50 Jahre Bauhaus eröffnet: begleitet von Protesten gegen die geplante Schließung der Hochschule für Gestaltung Ulm, die 1953 als Nachfolgerin des Bauhauses angetreten war. Die von Herbert Bayer gestaltete und von Hans Maria Wingler, Ludwig Grote und dem damaligen Kunstvereins-Direktor Dieter Honisch konzipierte Schau wurde bis 1971 in acht weiteren Museen weltweit gezeigt. Sie gilt bis heute als eine der wichtigsten Nachkriegsausstellungen zum Bauhaus und war von höchster kulturpolitischer Bedeutung für die noch junge Bundesrepublik, ging es doch auch darum, die deutsche Kulturnation auf internationaler Ebene zu rehabilitieren. 50 Jahre nach der Eröffnung von 50 Jahre Bauhaus unternimmt der Württembergische Kunstverein eine kritische Relektüre dieser Ausstellung. Sie setzt an den gesellschaftspolitischen Umbrüchen der 1960er-Jahre an und betrachtet das Bauhaus, seine historischen Kontexte und die Geschichte(n) seiner Rezeption aus heutiger Perspektive. Die Vorstellung vom Bauhaus als ein in sich geschlossenes, homogenes System soll dabei ebenso befragt werden wie jene Erzählungen, die Bauhaus und Moderne ungebrochen als Synonyme für Fortschritt, Freiheit und Demokratie verhandeln. Stattdessen geht es um die Ambivalenzen, die beiden zum Beispiel im Hinblick auf Totalitarismus und Kolonialismus eingeschrieben sind. Die Ausstellung 50 Jahre nach 50 Jahre Bauhaus 1968, die sich über den Neu- und Altbau des Stuttgarter Kunstgebäudes erstreckt, folgt vier thematischen Strängen mit zahlreichen Exkursen und Nebenpfaden. Sie kreisen um die Rolle des Bauhauses beim Ausstellungs- und Grafikdesign der 1920er- bis -40er-Jahre; um künstlerische Gegenmodelle zur funktionalen Stadt und zur Konsumgesellschaft; um die Beziehungen von Avantgarde und industriell-militärischem Komplex sowie um Ausblicke auf das Konzept multipler Modernen. Einige Exkurse wurden eigens für die Ausstellung von einer Reihe von Künstler*innen und Kurator*innen entwickelt. Es handelt sich um Unterbrechungen, Zwischenreden und Einmischungen von: Daniel G. Andújar, Yochai Avrahami, John Barker / László Vancsa, Yvonne P. Doderer, Ines Doujak, Dmitry Gutov / David Riff, Alexander Kluge, Mona Mahall / Asli Serbest, Vincent Meessen, Kaiwan Mehta, Mateusz Okoński und María Salgado (temporäre Performance). Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
6 | 40 Die Einführung in die Ausstellung bildet eine Sammlung von Objekten, die – vom Ausstellungsmodell bis zu einer Tonaufzeichnung Walter Gropius’ – auf die Ausstellung von 1968 und ihre Zeit verweisen und zentrale Anhaltspunkte für das aktuelle Projekt waren. Den Prolog liefert Helmut Heißenbüttel am Eingang zum Vierecksaal: Auf Marcel Breuers berühmten B3 Stahlsessel (auch Wassily genannt) Platz nehmend, bringt er mit seinem Gedicht der mann, der lesbisch wurde (1967) die Geschlechterverhältnisse zu Fall: und damit die zentralen Pfeiler unserer modernen, auf binären Denkweisen beruhenden Weltordnung. Dem kontern im gegenüberliegenden Eingang zum Kuppelsaal gewissermaßen John Barker und László Vancsas mit ihrem für die Ausstellung neu produzierten Video Consequences, das unter anderem die männliche Dominanz der Bauhausdiskurse hervorhebt. Die über 500 Exponate von rund 60 Künstler*innen und ca. 40 Leihgebern umfassen sowohl historische als auch zeitgenössische Werke und Dokumente aus den Bereichen bildende Kunst, Literatur, Fotografie, Film, Design, Architektur und Stadtentwicklung. 50 Jahre nach 50 Jahre Bauhaus 1968 ist Teil des großangelegten bundesweiten Jubiläumsprojektes 100 Jahre Bauhaus. Die Ausstellung wird von einem dichten Diskurs- und Vermittlungsprogramm begleitet. Dazu zählt unter anderem eine Performance, die die spanische Künstlerin Maria Salgado in Bezug auf Helmut Heißenbüttels genanntes Gedicht entwickeln und im September im Rahmen einer Konferenz aufführen wird. Zur Ausstellung erscheint eine Broschüre und (im Verlauf der Ausstellung) eine umfassende Publikation. Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
7 | 40 PROLOG Helmut Heißenbüttel, der mann, der lesbisch wurde, 1967 Gedicht, vorgetragen von Helmut Heißenbüttel in Marcel Breuers B3-Stahlsessel (Wassily). Auszug aus Urs Widmers Fernsehdokumentation Zweifel an der Sprache. Helmut Heißenbüttel, ein Portrait. BESTANDSAUFNAHMEN Diverse Objekte: Poster, Kataloge, Tonaufzeichnungen, Fotografien etc. Der Auftakt der Ausstellung umfasst eine Reihe von Objekten aus dem Umfeld der 1968er-Bauhaus-Ausstellung, die auf die Fragestellungen, die dem aktuellen Projekt zugrunde liegen, verweisen. Sie beziehen sich auf folgende Aspekte: Kontinuität Bereits der Titel 50 Jahre Bauhaus suggerierte eine Kontinuität und Homogenität, die in Anbetracht der nur vierzehnjährigen Existenz des Bauhauses konstruiert erscheint. Die aktuelle Ausstellung fragt stattdessen nach den Brüchen, Verzweigungen und parallelen Entwicklungen im Umfeld des Bauhauses, die von der Moskauer Schule WChUTEMAS über das Imaginistische Bauhaus und die Situationistische Internationale bis zu zeitgenössischen Positionen, die sich mit den kolonialen Implikationen der Moderne beschäftigen, reichen. Rehabilitierung Mit der 1968er-Ausstellung sollte das nach dem zweiten Weltkrieg im Ausland stark angeschlagene Image der deutschen Kultur korrigiert werden. Das Bauhaus wurde dementsprechend als eine kulturelle Leistung der Weimarer Republik dargestellt, an die sich nach dem Zweiten Weltkrieg bruchlos anknüpfen ließe: im Sinne eines Re- imports aus den USA, wo das Bauhaus in Ruhe hatte heranreifen können. Das Bauhaus wird so zu einer deutsch-amerikanischen Marke stilisiert. Nach der Schließung des Bauhauses 1933 durch die Nationalsozialisten haben nicht wenige der in Deutschland verbliebenen Ex-Bauhäusler*innen in den Bereichen Ausstellungs- und Grafikdesign, Industrie- und Wohnungsbau mit den Nazis zusammengearbeitet und sich teils zu deren Ideologien bekannt. Diese Aspekte wurden 1968 vollständig ausgeblendet. Stattdessen wurden das Bauhaus und seine Akteur*innen als Garant*innen von Freiheit und Demokratie stilisiert. Der aktuellen Ausstellung geht es nicht darum, über die moralische Haltung einzelner „Bauhäusler*innen“ zu urteilen, sondern zu reflektieren, in welchem Maße Totalitarismus selbst Teil jenes Projektes ist, das wir Moderne nennen. Auslandsangelegenheit Die nationale und internationale Tragweite der Ausstellung zeigte sich neben der Schirmherrschaft durch den Bundespräsidenten Heinrich Lübke insbesondere in der zentralen Rolle, die das dem Auswärtigen Amt unterstellte Institut für Auslandsangelegenheiten (IfA) einnahm. Dieses finanzierte nicht nur die Stuttgarter Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
8 | 40 Ausstellung und übernahm die Kosten für Transport und Versicherung aller weiteren Stationen, sondern organisierte im Nachgang der eigentlichen Ausstellung auch die langjährige Tour einer verkleinerten Fassung derselben. Dabei legte das IfA auch den ursprünglichen Katalog in reduzierter Form wieder auf. Homogenisierung Die Walter Gropius gewidmete 1968er-Ausstellung war seiner Sichtweise auf das Bauhaus verpflichtet. Der Gründungsdirektor hatte bereits dreißig Jahre zuvor an der von Herbert Bayer für das MoMA in New York gestalteten Ausstellung Bauhaus 1919– 1928 mitgewirkt, die, wie schon der Titel sagte, auf die Ära Gropius reduziert war. Zu seinen Sichtweisen zählen eine gewisse Depolitisierung des Bauhauses sowie die Herabsetzung des zweiten Bauhausdirektors, Hannes Meyer, dessen offene marxistische Haltung Gropius missbilligte. Auch Hans Maria Wingler, Gründer des Bauhaus-Archivs, Kokurator der 1968er-Ausstellung und Autor der ersten großen Monografie zum Bauhaus, die von einem Nicht-Beteiligten geschrieben wurde, steht für die Stärkung der Gropiusschen Position. So wurde Meyer in der 1968-er-Ausstellung tendenziell als Irrtum und Verräter verhandelt. Parallele und gegenläufige Entwicklungen zum Bauhaus aber auch kritische Positionen zu Funktionalismus, Rationalismus und kapitalistischer Konsumkultur blieben unbeachtet. 1968 Das Jahr 1968 stellte einen Höhepunkt der internationalen Student*innenproteste dar. Neben der Besetzung der Sorbonne in Paris, an der unter anderem die Internationalen Situationist*innen beteiligt waren, äußerte sich dieser auch in der Okkupation diverser Kunstereignisse wie der 14. Mailänder Triennale für angewandte Kunst Ende Mai 1968. Die deutschen Beiträge für diese Triennale, die niemals ihre Tore öffnen sollte, stammten größtenteils aus der vom Aus bedrohten Hochschule für Gestaltung in Ulm. Gegen deren Schließung war zur Eröffnung der Ausstellung 50 Jahre Bauhaus mit Transparenten protestiert worden, die sich radikal von der visuellen Sprache in Paris unterschieden. Eine Tonaufzeichnung gibt Walter Gropius’ Ansprache an die Protestler*innen wieder, die mit der Depolitisierung des Bauhauses beginnt. Der Aufstand der jungen Generation war in Deutschland auch mit der Forderung nach einer eingehenden Aufarbeitung des Dritten Reichs, dessen Mitläufer*innen und Kontinuitäten verknüpft. Hinsichtlich des Bauhauses geschieht das insbesondere in den 1990er-Jahren. Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
9 | 40 AUSSTELUNGSSEGMENTE 1. ZWISCHEN EXPERIMENT UND PROPAGANDA: AUSSTELLUNGS- UND GRAFIKDESIGN DER 1920ER- BIS 1940ER-JAHRE Ausgehend von dem Designer Herbert Bayer, der im Laufe seiner Karriere für ideologisch höchst gegensätzliche Auftraggeber tätig war, untersucht dieses Ausstellungssegment die Entwicklungen des Ausstellungs- und Grafikdesigns der 1920er- bis 1940er-Jahre, das zwischen künstlerischem Experiment und politischer Propaganda angesiedelt ist. Im Vordergrund stehen dabei Lehr- und Industrieausstellungen, die auf rund zwanzig Bild- und Texttafeln in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die Tafeln umfassen Großprojekte wie Die Wohnung, in dessen Rahmen 1928 auch die Weißenhofsiedlung in Stuttgart entstand, Nazi-Ausstellungen wie Deutsches Volk – Deutsche Arbeit (1934 in Berlin) sowie die Kriegspropagandaschauen der 1940er- Jahre im New Yorker MoMA. An fast allen diesen Projekten haben Gestalter*innen aus dem Bauhaus und dessen Umfeld mitgewirkt. Der Einsatz von Fotografie – und insbesondere der Möglichkeit, gigantische Vergrößerungen davon herzustellen – hat das Ausstellungsdesign dieser Jahre ebenso revolutioniert wie die Fotomontage, die Typografie und ein erweitertes Raumkonzept. El Lissitzky und Herbert Bayer waren an dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt. Sie entdeckten Ausstellungen als Massenmedien, die das Zielpublikum auf visueller Ebene ansprechen. Die damaligen totalitären Kräfte machten sich diese Qualität ebenso zu eigen wie deren Widersacher. Zugleich hatten die Nationalsozialisten ein Interesse daran, in gewissen Kreisen als zeitgemäß und weltoffen zu gelten. Eine Reihe von „Bauhäusler*innen“ und anderen modernen Gestalter*innen war ihnen dabei behilflich, so dass das Ausstellungs- und Grafikdesign in Deutschland auch nach der Machtergreifung Hitlers teils moderne Züge trug. Die Beispiele aus dem Bereich der Typografie und des Grafikdesigns reichen vom spielerischen Umgang mit Buchstaben bis zur „Domestizierung“ (Patrick Rössler) der avantgardistischen Form durch Werbung und Propaganda. Neben grafischen Objekten, die direkt im Kontext von Ausstellungen entstanden sind, stehen vor allem Zeitschriften im Vordergrund. Ein Exkurs ist überdies Positionen der Fotografie und Grafik der 1920er- und 1930er- Jahre gewidmet: zum einen der kritischen Fotomontage und zum anderen den Experimenten mit Raum und Perspektiven. Künstler*innen / Beiträge Gerd Arntz, Willi Baumeister, Herbert Bayer, Marianne Brandt, Marcel Breuer, Le Corbusier, Die neue Linie, Egon Eiermann, Walter Gropius, John Heartfield, Kurt Kranz, El Lissitzky, Ludwig Mies van der Rohe, László Moholy-Nagy, Ernst Neufert, Hans Ferdinand und Hein Neuner, Lilly Reich, Josep Renau, Xanti Schawinsky, Joost Schmidt, Jan Tschichold und andere Exkurse: Künstlerische und kuratorische Neuproduktionen Daniel G. Andújar, Ines Doujak Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
10 | 40 2. UNRUHE DER FORM: GEGENMODELLE ZU FUNKTIONALISMUS UND ZUR KAPITALISTISCHEN KONSUMGESELLSCHAFT Funktionalismus Einer der Ausgangspunkte dieses Ausstellungssegmentes ist der Architekt Ernst Neufert, der zu den ersten Student*innen des Bauhauses zählte und als Mitbegründer der Rationalisierung des Bauens gilt. Seine Bauentwurfslehre (1936) und Bauordnungslehre (BOL, 1943) sind bis heute weltweit gültige Standardwerke der Architektur. Ab 1938 stellte Neufert seine Arbeit in den Dienst der Nationalsozialisten und schaffte es bis in den Stab von Albert Speer. Die Erstausgabe der BOL, für die Speer das Vorwort schrieb, trägt antisemitische, völkische und rassenideologische Züge. Im Zentrum von Neuferts Lehren steht ein anthropomorphes Maßsystem, das auf standardisierten menschlichen Körperproportionen beruht. Mit diesem System trieb er die Rationalisierung und Normierung des Wohnungsbaus auf technischer Ebene entscheidend voran. Das Bauhaus mit Architekten wie Walter Gropius, Hannes Meyer und Ludwig Hilberseimer, die CIAM (Internationale Kongresse für Neues Bauen, 1928 –1959) und die mit ihr assoziierten Architekten wie Le Corbusier stehen ab den 1920er-Jahren für das Konzept des Neuen Bauens und der funktionalen Stadt: das heißt für die Rationalisierung sämtlicher Lebensbereiche – Arbeit, Wohnen, Freizeit, Verkehr – und deren räumliche Trennung. Und nicht zuletzt für das Primat der „autogerechten Stadt“. Ihre zum Teil recht unterschiedlichen Ansätze zur funktionalen Stadt, die idealerweise erschwinglichen und komfortablen Wohnraum sowie beschleunigte Mobilität für alle schaffen sollte, wurden von Beginn an kontrovers diskutiert, wie etwa seitens des Team X. Diese Gruppe von Architekt*innen, zu der u.a. Alison und Peter Smithson und Oskar Hansen gehörten, sollte das Ende der CIAM einläuten. Ein besonderes Augenmerk liegt in dieser Sektion überdies auf der feministischen Kritik zur modernen Architektur und Stadt. Unruhe der Form In den 1950er- und -60er-Jahren beginnen auch die Künstler*innen, sich in die Debatte um die Zukunft der Stadt einzumischen, insbesondere aus dem Umfeld der Situationistischen Internationale. Mit Methoden der Dérive und der Psychogeografie sowie mit urbanen Utopien wie Constants New Babylon erproben sie Gegenmodelle zur funktionalen Stadt, zur entfremdeten Arbeit und zur Konsumgesellschaft. Genau hier setzt dieses Ausstellungssegment an, das den Beziehungen und Divergenzen zwischen dem Umfeld des Bauhauses und den diversen künstlerischen Gruppierungen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten, nachgeht. Allen gemein ist das Bestreben, eine neue Welt für eine neue Gesellschaft zu schaffen. Bei der Frage, wie dies zu bewerkstelligen sei und wie diese neue Gesellschaft aussehen solle, könnten sie indes nicht unterschiedlicher sein. Die Linien, die hier zwischen dem Bauhaus und den Avantgarden nach 1945 – bis hin zum „Mai 68“ – gezogen werden, sind also brüchig. Der Funktionalität, Nüchternheit und Sparsamkeit der Formen steht eine gewisse „Unruhe der Form“, Rauschhaftigkeit und Ökonomie der Verschwendung gegenüber. Für diese „Unruhe der Form“ stehen Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
11 | 40 bereits die Lettristen, die statt typografischer Norm den Buchstaben aus dem Korsett der Sprache befreien wollten und die zugleich Methoden einer kreativ-delirierenden Aneignung des öffentlichen Raums erprobten. Genealogien Eine der Linien zwischen dem Bauhaus und den künstlerischen Bewegungen der 1950er- und 60er-Jahren führt zu der von Asger Jorn gegründeten Internationalen Bewegung für ein imaginistisches Bauhaus. Mit dieser Gründung 1953 reagierte Jorn auf das Scheitern seiner Pläne, am Aufbau der HfG Ulm im Sinne eines zeitgemäßen Bauhauses mitzuwirken. Der belgische Künstler Vincent Meesse hat für die Ausstellung den teils harschen Briefwechsel zwischen Jorn und dem damaligen Direktor der HfG Ulm, Max Bill, bearbeitet. Aus dem Imaginistischen Bauhaus und anderen Gruppierungen ging 1957 schließlich die Situationistische Internationale hervor, deren politische Agenda im „Mai 68“ ihren Zenit erreicht hatte. Die HfG Ulm wurde im November 1968 geschlossen und in gewisser Weise ein Jahr später in Paris in Form des Institut de l’Environnement neu aufgelegt. Das Pariser Institut berief sich nicht nur auf das Bauhaus und das „Ulmer Modell“, sondern wurde von Claude Schnaidt, dem letzten Vizedirektor der HfG, mitkonzipiert. Im Institut de l’Environnement lernten sich einige der während des „Mai 68“ aktiven Grafiker kennen, die 1970 das Kollektiv Grapus gründeten, das grafische Experimente und Aktivismus miteinander verband. Dérive und Detournement Die genannten Gruppierungen, die sich auf mehr oder weniger verschlungenen Pfaden auf das Bauhaus beziehen lassen, weichen von diesem nicht nur in Fragen der Stadt und des Lebens ab. Sie haben die Techniken der Gestaltung und Massenmedien gegen deren Sinn angewendet, um andere und Gegenöffentlichkeiten zu schaffen. Künstlerbücher wie Gabriel Pomerands Saint Ghetto des Prêts (1950) und die beiden gemeinsam von Guy Debord und Asger Jorn produzierten Publikationen Fin de Copenhague (1957) und Mémoires (1959) verbinden dabei sprachliche und gestalterische Experimente der Zweckentfremdung (détournement) auf direkte Weise mit der Idee des urbanen Umherschweifens (dérive). Die Idee des Umherschweifens findet sich nicht zuletzt auch in Oskar Hansens Konzept der „offenen Form“ und Lucius Burkhardts Methode der Spaziergangswissenschaften bzw. Promenadologie wieder. Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
12 | 40 Dynamiken der Großstadt Alexander Kluge hat eigens für dieses Ausstellungssegment ein Videotriptychon geschaffen, dessen Ausgangspunkt László Moholy-Nagys 1921 entstandenes Filmprojekt Dynamiken der Großstadt ist. Moholy-Nagys Projekt wurde nie als Film realisiert, existiert jedoch in Form eines grafischen Filmmanuskripts, das u.a. im achten Bauhausbuch veröffentlicht wurde. Die damalige Euphorie gegenüber den Dynamiken des städtischen Lebens ist heute dem hart kalkulierten Primat der beschleunigten Warenzirkulation gewichen. Künstler*innen / Beiträge Piotr Andrejew, Alice Constance Austin, Daniele Baroni, Ella Bergmann-Michel, Lucius Burckhardt, Constant, Le Corbusier, Guy-Ernest Debord, Silvia Federici, Shulamith Firestone, Francis Gabe, Grapus, Eileen Gray, Walter Gropius, Internationale situationniste, Isidore Isou, Jineolojî, Jacqueline de Jong, Asger Jorn, El Lissitzky, Erich Mendelsohn, Ludwig Mies van der Rohe, Marlene Moeschke Poelzig, László Moholy-Nagy, Mouvement international pour un Bauhaus imaginiste, Ernst Neufert, Gabriel Pomerand, PROVO, Margarete Schütte-Lihotzky, Alison und / and Peter Smithson, Gruppe SPUR, Superstudio, Alice B. Toklas und andere Exkurse: Künstlerische und kuratorische Neuproduktionen Yvonne P. Doderer, Alexander Kluge, Mona Mahall / Asli Serbest, Vincent Meessen Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
13 | 40 3. AVANTGARDE, KRIEG UND EXPANSIONEN: DER MILITÄRISCH-INDUSTRIELLE KOMPLEX Bezugspunkte dieses Ausstellungssegmentes sind erneut Ernst Neufert, die Konzepte des Neuen Bauens – in den USA „international style“ genannt – sowie die politisch motivierten künstlerischen Gruppierungen der 1960er-Jahre. Der Fokus liegt dabei auf den Verschränkungen zwischen der modernen Avantgarde und dem militärisch- industriellen Komplex. Untersucht werden die Beziehungen von Luftbild und Luftkrieg, von Wohnen, Konsum- und Heerestechnologie sowie die Expansionsphantasien des Moderneprojektes. Luftfahrt und Luftwaffe Die postfuturistische Faszination an Luftfahrt und Luftwaffe, wie sie sich in den 1930er- bis 1940er-Jahren insbesondere in der Werbung, in Magazinen und den großen internationalen Industrieschauen niederschlägt, ist geprägt von der Idee technischer Präzision und Machbarkeit sowie von der Überlegenheit des gottgleichen Blicks – und der drohenden Gefahr aus der Luft. Neues Bauen Die in den 1920er-Jahren entwickelten Konzepte des Neuen Bauens und der funktionalen Stadt wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf breiter Ebene realisiert. Begünstigt hatten dies in Europa vor allem die durch den Luftkrieg vielerorts nahezu vollständig zerstörten Städte, die für das rationale Bauen gleichermaßen den Bedarf und die passenden Freiflächen lieferten. Umgekehrt hat das Primat der autogerechten Stadt auch auf zivilem Wege bestehende urbane Strukturen dem Erdboden gleichgemacht. Auf den urbanen Freiflächen wurde dabei nicht nur die räumliche Trennung zwischen verschiedenen Lebensbereichen, sondern auch zwischen unterschiedlichen Klassen und Ethnien implementiert. Der industriell-militärische Komplex wurde zur Grundlage der Produktion des urbanen Raums. Der Krieg selbst lieferte dabei auch die Expertise für die Infrastrukturen und Logistiken einer seriellen Massenproduktion von Wohn- und Lebensräumen. Gegenpositionen Demgegenüber widmet sich dieses Ausstellungssegment auch den Gegenpositionen zur Mechanisierung, Militarisierung und Kontrolle des öffentlichen Raums und Lebens. Künstler*innen / Beiträge Herbert Bayer, Marianne Brandt, Constant, Peter Cook, Le Corbusier, Guy- Ernest Debord, Drakabygget, Erich Glas, Grapus, Ludwig Hilberseimer, Internationale lettriste, Internationale situationniste, Asger Jorn, Mustapha Khayati, Les Groupes Medvedkin / Colette Magny, Ernst Neufert, Józef Robakowski, Joost Schmidt, Herman Sörgel, Raoul Vaneigem, Gil J Wolman und andere Exkurse: Künstlerische und kuratorische Neuproduktionen Yochai Avrahami, John Barker / László Vancsa, Mona Mahall / Asli Serbest Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
14 | 40 4. MULTIPLE MODERNEN Das letzte Segment der Ausstellung versteht sich als Ausblick auf die möglichen Erzählungen einer multiplen Moderne. Diese, so der Ansatz, bedürfen einer beständigen Relektüre und Neubewertung der Beziehungen von Tradition und Fortschritt, Kunstgewerbe und Kunst, populären und elitären Künsten, der Welt der Kolonialisierten und der Kolonisatoren. Dabei werden drei Kontexte fokussiert: Zum einen geht es um die parallel zum Bauhaus wirksame Moskauer Schule Wchutemas, die aus der Perspektive des radikalen Antimodernisten Michail Lifschitz betrachtet wird. Zum anderen wird die indische Design-Geschichte zwischen europäischem Kolonialismus und indischem Nationalismus, zwischen der ersten Weltausstellung 1851 im Londoner Crystal Palace und den Ausstellungen des Festival of India in den 1980er-Jahren beleuchtet. Drittens geht es um die komplexe Geschichte des Pasiak, eines volkstümlichen Stoffs aus Polen. Mit der zwischen 1928 und 1952 von dem Architekten Hermann Sörgel entwickelten Architektur- und Technikutopie Atlantropa, an der unter anderen auch Peter Behrens mitgewirkt hat, wird überdies auf eine europäische Expansionsphantasie verwiesen, in der westliche Großmannssucht, pazifistische Absichten und eine zutiefst kolonialistische Haltung auf unvergleichliche Weise zusammentreffen. Solche Expansionsphantasien hatten im Falle Albert Speers noch in seiner Gefängniszeit Bestand, während der er in der Haftanstalt einen Garten anlegte, den er täglich durchschritt. Dabei zählte er die Kilometer und stellte sich vor, welche Städte auf der ganzen Welt er auf diese Weise hätte erreichen können. In gewisser Weise scheint mit diesem Projekt die situationistische Idee der Dérive implodiert zu sein. Künstler*innen / Beiträge Anagram Architects, Ambrish Arora, Aniket Bhagwat, Akshat Bhat, Abin Chaudhury, Le Corbusier, Atul Dodiya, Annapurna Garimella, Shimul Javeri Kadri, Jitish Kallat, Revathi Kamat, Romi Khosla Design Studio, Michail Lifschitz, Rahul Mehrotra, Madhav Raman, Vishwa Shroff, Hermann Sörgel, Studio Lotus, Tara Books Exkurse: Künstlerische und kuratorische Neuproduktionen Yvonne P. Doderer, Dmitry Gutov / David Riff, Kaiwan Mehta, Mateusz Okonski Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
15 | 40 Künstler*innen und Kurator*innen Statements Einige Exkurse wurden eigens für die Ausstellung von einer Reihe von Künstler*innen und Kurator*innen entwickelt. Es handelt sich um Unterbrechungen, Zwischenreden und Einmischungen von: Daniel G. Andújar, Yochai Avrahami, John Barker / László Vancsa, Yvonne P. Doderer, Ines Doujak, Dmitry Gutov / David Riff, Alexander Kluge, Mona Mahall / Asli Serbest, Vincent Meessen, Kaiwan Mehta, Mateusz Okoński und María Salgado (temporäre Performance). Daniel G. Andújar (*1966 in Almoradí, lebt in Barcelona) Nichteinmischungsabkommen, 2018 Installation Eines der bedeutendsten Projekte, um die republikanische Sache während des spanischen Bürgerkriegs im Ausland bekannt zu machen, war die Errichtung des spanischen Pavillons in der Exposition Internationale des Art et Techniques dans la Vie Moderne (Internationale Ausstellung für Kunst und Technik des Modernen Lebens / Weltfachausstellung) in Paris 1937. Der Pavillon wurde als ein Gesamtkunstwerk konzipiert, das die bildenden und darstellenden Künste mit Kunsthandwerk und rationalistischer Architektur verband. Die zentrale Aufgabe bestand darin, der Tradition und Avantgarde der spanischen Kultur ein Schaufenster zu bieten und insbesondere die von der republikanischen Regierung umgesetzten Maßnahmen bekannt zu machen. Die Regierung war bestrebt, auf die Rechtmäßigkeit ihres Anliegens aufmerksam zu machen und um Unterstützung im Kampf gegen die Ausbreitung des Faschismus in Spanien und ganz Europa zu werben. Die Ausstellung eröffnete am 24. Mai mit einer erstaunlichen Mischung aus Kunst und Propaganda, populärer und Hochkultur, Tradition und Moderne. Das nüchterne und rationalistische Gebäude war ein Werk von Luis Lacasa (1899-1966) und Josep Lluís Sert (1902-1983). Der spanische Pavillon bildete einen scharfen Kontrast zur Monumentalität der Bauten der Sowjetunion und Deutschlands, sowohl im Hinblick auf die Größenordnung als auch in Bezug auf Materialien, Design, Ausstellungsanordnung und -gestaltung sowie Raumverteilung. Neben Lacasa und Sert waren der Philosoph José Gaos (1900-1960), der Schriftsteller José Bergamín (1895-1983), der Plakatmaler Josep Renau (1907-1982), der Schriftsteller Max Aub (1903-1972) und der Architekt José Lino Vaamonde 1900-1986) für das Projekt verantwortlich. Renau verwendete Plakate und Fotomontagen für die Gestaltung seiner berühmten Fotowandbilder, die den Pavillon von der Fassade bis ins Innere durchzogen. Sie waren politisch stark aufgeladen und sollten die Ideen zur sozialen und kulturellen Revolution der Republik vermitteln. Die audiovisuelle Produktion wurde Luis Buñuel (1900-1983) anvertraut. Der Pavillon besaß einen Hof, in dem bis zu 40 Dokumentarfilme liefen, die von Luis Buñuel ausgewählt, gemacht oder produziert Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
16 | 40 worden waren. Die Teilnahme von Joan Miró (1893-1983), Alexander Calder (1898- 1976), Julio González (1876-1942), Pablo Picasso (1881-1973) und zahlreichen weiteren Künstler*innen und Intellektuellen sollte die Aufmerksamkeit des Publikums und der Kritiker*innen sicherstellen. Diese Aufmerksamkeit war für die Regierung von zentraler Bedeutung, da sie in ihrem Kampf gegen den Faschismus um internationale Solidarität bemüht war. Anonym Wild Architect (Wilder Architekt), 2016 Digitale Ein-Kanal Videoinstallation, schwarz-weiß / Single-channel digital video installation, black-and-white, 15’ Französisch mit englischen Untertiteln / French spoken, subtitled in English Zu Beginn seiner Laufbahn war Asger Jorn Assistent des französischen Architekten Le Corbusier. Der Film Wild Architect gewährt Einblicke in ihre später ganz unterschiedlichen Wege. Es handelt sich um einen an den Künstler adressierten Videobrief, vorgetragen von einer anonymen Frauenstimme, die Französisch mit ausländischem Akzent spricht. Es geht in dem Brief um eine Sammlung von 16-mm- Filmen, die Jorn vermutlich in den 1960er-Jahren im Atelier der Frau zurückgelassen hat. Sie glaubt, dass sich auf diesen Filmrollen auch Sequenzen finden, die von Le Corbusier in den späten 1930ern aufgenommene Bilder zeigen. Mit 24 Bildern/Sekunde abgespielt, ist jede einzelne Aufnahme gleichzeitig aufschlussreich und undurchschaubar. Die Erzählerin berichtet, Jorn sei stolz auf diese Filmrollen gewesen, weil sie von einer „synthetischen“ Art zu sehen zeugten, das über den Funktionalismus hinausging. Durch die Fotografien wird die Reinheit von Le Corbusiers Rationalismus, den die Situationisten so verachteten, infrage gestellt. Yochai Avrahami (*1970 in Afula, lebt in Tel Aviv) The redeeming wrecks, 2018 Installation mit Videos, Skulpturen, Stichen, Fotografien, Landkarten und Luftbildaufnahmen Die nach ihrem Erfinder Uzi Gal benannte Maschinenpistole Uzi wurde 1949 bei den Israelischen Verteidigungsstreitkräften eingeführt. Bekannt wurde sie vor allem durch ihren Einsatz in der Suezkrise und im Sechstagekrieg, wo sie von Fallschirmjäger- und Kommandoeinheiten genutzt wurde. Bis in die 1970er-Jahre wurde die Uzi hauptsächlich von der israelischen Armee verwendet, wo sie sich einen Ruf als zuverlässige, kompakte und unkomplizierte Waffe erwarb. Dank dieser Eigenschaften fand sie zunehmend Verbreitung in Militär-, Polizei- und Antiterroreinheiten auf der ganzen Welt, und auch terroristische und kriminelle Organisationen erkannten bald ihre Vorzüge. So wurde die Uzi zum Symbol für die israelische Rüstungsindustrie und taucht in vielen amerikanischen Filmproduktionen auf. Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
17 | 40 Uzi Gal, alias Uziel, alias Gotthard Glas, war der Sohn von Eri Glas, alias Erich Glas, einem Offizier der preußischen Armee und Luftfotografem während des Ersten Weltkriegs, der am Bauhaus studiert und mit seiner ersten Frau Maria in Weimar gelebt hatte. Uzi wuchs bei seiner Mutter in einem Haus auf, das neben dem Bauhausschen Haus am Horn lag, nachdem Erich sie verlassen und nach Palästina gegangen war, nicht ohne dem Sohn die modernistischen Gene zu vererben. Yochai Avrahami konstruiert eine historische Erzählung, die wahr sein könnte oder auch nicht, indem er eine Auswahl von Fakten, Eindrücken und Ansichten zusammenfügt, die auf Menschen zurückgehen, die in verschiedenen Abschnitten von Uzi Gals Leben eine Rolle spielten. Er begibt sich an Orte in Deutschland und Israel, um dort in Archiven zu forschen. Er studiert Stiche von Gals Vater , außerdem alte Familienfotos, Landkarten und Luftbildaufnahmen. Aus den diversen Versatzstücken – Berichten von Orten und Menschen – entsteht so eine fragmentarische Geschichte, die mal auf historischen Fakten zu beruhen scheint, mal subjektiv und konfus wirkt. Ob es um das Leben der Juden in Deutschland vor der Machtergreifung der Nazis, das Kibbuzleben in dieser Zeit, das Verhältnis von in Israel geborenen Juden zu aus Nazi-Europa geflohenen Juden, das Wissen um den Holocaust oder seine Leugnung in Europa geht – all dies wird in Fragmenten aufgegriffen und kurz angeschnitten. Weiterhin spielen Architektur, Design und Kunst der Zeit eine zentrale Rolle und dienen als assoziatives Bindeglied zwischen den Sphären von Kunst und Krieg. Avrahami nähert sich politischen Fragestellungen, indem er Narrationen konstruiert und dekonstruiert und zwischen verschiedenen Zeitebenen wechselt. Er wählt bewusst eine nicht-künstlerische Sprache, um den Eindruck historischer Glaubwürdigkeit zu unterstreichen und Realität und Fantasie verschmelzen zu lassen. Auf diesem Wege untersucht er die zahlreichen, miteinander verflochtenen Ebenen dessen, was im nationalen historischen Narrativ als objektive Wahrheit wahrgenommen wird. (Yochai Avrahami) John Barker / László Vancsa (L.V.:*1981 in Targu Mures, lebt / lives in Wien / Vienna) (J.B.:*1948 in London, lebt / lives in London) Consequences (Folgen), 2018 Video, schwarz-weiß, Ton (nacheinander englisch und deutsch) In dem Film Consequences wird ein nicht namentlich genannter alter Mann interviewt. Es geht um die wichtigsten Akteure des Bauhauses, um das, was ihm von ihnen in Erinnerung geblieben ist. Dabei ist das, was der Zuschauer sieht, identisch mit dem, was er von seinem Fenster aus sieht. Dort ist es abwechselnd hell und dunkel, Krähen fliegen in ein Schneegestöber und wieder heraus – Geschichte in Schwarz- Weiß. Passend dazu hat die Sicht des alten Mannes auf die Männer kaum etwas mit dem Wunschbild zu tun, das die Sozialdemokraten in der Weimarer Republik von ihnen zeichneten, sondern er betrachtet sie als elitäre Befürworter einer gefährlichen Mischung aus Wissenschaftsmanagement, Kriegstechnologie und archaischen Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
18 | 40 Vorstellungen von einer organischen, konfliktfreien Gesellschaft, in der der Architekt Gott spielt und über eine männlich dominierte Welt herrscht. (John Barker) Yvonne P. Doderer (*1959 in Stuttgart, lebt in Stuttgart) Der Garten des Herrn S., 2018 Installation Die Installation verweist auf den Garten bzw. die „Parklandschaft“, die Albert Speer während der Verbüßung seiner 20-jährigen Gefängnisstrafe im Spandauer Gefängnis anlegte. In dieser Gartenanlage drehte er seine Runden: Er zählte Kilometer um Kilometer und stellte sich vor, er würde von Stadt zu Stadt und um die Welt laufen. Jahrzehntelang galt Albert Speer als der „gute Nazi“, da es ihm gelang, sich als Architekt und Technokrat zu inszenieren, der mit den rassistisch-antisemitischen Ideologien und mit den verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. Menschheit (Hannah Arendt) während des Nationalsozialismus kaum etwas zu tun hatte. Erst die jüngsten Forschungen zu Albert Speer zeigen das ganze Ausmaß der Täuschungen, die Speer bewusst und strategisch einsetzte, um sich zu entlasten. Speer steht damit auch stellvertretend für eine Haltung, die sich den politischen, gesellschaftlichen und ethischen Dimensionen gestalterischen Tuns entzieht. (Yvonne P. Doderer) In/Visible, 2018 Zeichnung auf Tafelfolie, Im Auftrag des Schocken-Konzerns der Brüder Simon und Salman Schocken entwarf und baute Erich Mendelsohn, einer der bedeutendsten Architekten seiner Zeit, von 1926 bis 1928 auch in Stuttgart ein „Kaufhaus Schocken“. Das Gebäude überstand die Bombardements des Zweiten Weltkriegs relativ unbeschadet. Dennoch wurde es 1960 nach seiner Instandsetzung ungeachtet aller nationalen und internationalen Proteste abgerissen. An diesem Ort realisierte Egon Eiermann dann für den „Kaufhaus-Milliardär“ Helmut Horten einen bis heute existierenden Neubau. Die Arbeit folgt den Spuren und Verflechtungen, die sich in der Auseinandersetzung mit der Historie dieses Gebäudes nachzeichnen lassen. (Yvonne P. Doderer) Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
19 | 40 Ines Doujak (*1959 in Klagenfurt, lebt und arbeitet in Wien) Bauhütte (Keine Angst vor Höhe; Nimm sie dir), 2018 Skulptur aus Pappkarton, Courtesy: Ines Doujak Der von Stalin in Auftrag gegebene Palast der Sowjets sollte das höchste Gebäude seiner Zeit werden, basierend auf einem Wettbewerb, an dem unter anderem Walter Gropius, Le Corbusier und Erich Mendelsohn teilgenommen hatten. Der von Boris Iofan im neoklassizistischen Stil entworfene Bau wurde 1941 durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion gestoppt und nie fertiggestellt. Sein Sockel im Zentrum Moskaus diente als Freibad. Diese Rekonstruktion verwendet Kartonverpackungen: all die bunten Überreste der modernen Konsumgesellschaft als Folge des für die Moderne so zentralen Designs. Die Figur Lenins als glühender Verfechters des Produktivismus hätte auf dem Gebäude stehen und ewig in die Zukunft blicken sollen. Hier wird sie durch einen Astronauten ersetzt, der auf eine Zukunft jenseits der verbrauchten Erde blickt. Der einstige heroische Traum von einem Gebäudes wird von einem Zug angegriffen, jenem Vehikel, das die modernistischen Bolschewiki so sehr liebten. Er ist beladen mit Containern, in denen Rohstoffe und Waren um die Erde kreisen, und erinnert an die Zeiten, da die Hüter der Menschheit der Technologie verfielen und das Flugzeug der globalisierten Welt zur Kriegsmaschine machten. (Ines Doujak) Alexander Kluge (*1932 in Halberstadt, lebt und arbeitet in München) Elementare Verhältnisse nach Marx In seinem Tiergarten („teargarden“) der 280 Arten des Kapitalismus (13 Arten sind ausgestorben), den der Heimatforscher Fred Tacke, früher Kreissekretär einer sozialistischen Partei, in einer der Höhlen der Spiegelsberge bei Halberstadt eingerichtet hat, ist ein Spezialkabinett den Begriffen fest, flüssig und matschig gewidmet, angewendet auf die Kategorien Ware, Geld, Eigentum und Produktionsverhältnis. Frisches Geld, so Tacke, ist stets flüssig. In einer Sparbüchse verwahrt, wird es nach längerer Zeit zu fester Materie. Gespartes wird am Ende, staatlich angeeignet, zu Eisen, das auf den Feind gefeuert wird, den es doch nach solcher Ware nicht verlangt. Inwiefern bildet Geld, fragt Tacke, einen bebaubaren Boden? Kann man auf Geld Häuser errichten? Nein, heißt die Antwort. Geld braucht den Kontakt zur Materie, wie ein 3-D-Drucker Stoff braucht. Dies in zweierlei Gestalt, nämlich als lebendige Arbeit und als Ding. Mit inadäquater Materie fest verknüpft, wird Geld zu Sumpf. (Es versinkt in Börsentiefe, so Tacke, und kann sich doch aus der Knetmasse der Investition nicht herausziehen, weil Geld keinen Zopf hat.) Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
20 | 40 „Die Spanne eines normalen glücklichen Lebens fällt kürzer aus als die Zeit, die man braucht, Zeitzeuge zu werden“ Von der Sekretärin Lenins, die im November 1917 im Smolny für ihn die Nächte hindurch arbeitete, weiß man, dass sie sich später, als sie ihre Erlebnisse ihrer Tochter, die nachfragte, wiedergeben wollte, sich als eine unzuverlässige Beobachterin erwies. Sie hatte gearbeitet, war ein schlechter Zeitzeuge. Sie war mit den Tasten ihrer Maschine beschäftigt gewesen. Wer war noch im Raum? Weiß sie nicht. Erst in der siebenten Generation nach jener der Revolutionäre, kommentierte der Genosse Tretjakow diese Beobachtung, wird man einen Menschentyp haben, der gleichzeitig Produzent und Beobachter seines Lebens sein wird. Sieben Generationen, das sind zweieindrittel Menschenalter (lifetimes). Vorausgesetzt, dass die Revolution für diesen Zeitraum andauert und die nötigen Ausbildungsschritte auch tatsächlich vorgenommen werden. Mit Schärfung einzelner Sinne des Gedächtnisses oder mit Arbeitsteilung ist die Frage nicht zu lösen. Die Augen der Sekretärin Lenins lagen, wie gesagt, auf den Schriftstücken und auf den Tasten ihrer Schreibmaschine, auch streiften ihre Augen die um zwei Uhr früh müden Gesichtszüge des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare. Sie überlegte, ob sie ihm ein Glas Wasser anbieten solle. Die Ohren geschlossen (obwohl die keine Lider haben), damit sie nicht abgelenkt wird, dass sie sich nicht verschreibt. Mona Mahall / Asli Serbest (leben / live in Berlin) Self-cleaning Futures: A Feminist Spatial Agenda (Selbstreinigende Zukünfte: Ein feministisches Raumprogramm), 2018 Collage: Rendering der Hochhausstadt von Ludwig Hilberseimer (1924), Fotografie des Braut-Hauses von 1956 von House Beautiful, Zeichnungen Aus den USA kehrte das Bauhaus nicht nur als neuer Stil und neue Tradition zurück, die seine Identifikation mit dem freien und demokratischen kapitalistischen Westen gegenüber einem kommunistischen Osten erlaubte. Das Bauhaus symbolisierte auch die räumliche Matrix einer recycelten Militärtechnologie, durch die sich der expandierende Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg global ausdehnen konnte. Es trug zur Formung eines techno-politischen Nachkriegsraums bei, der Fortschritt verkörperte und gleichzeitig von der kompletten Zerstörung durch einen nächsten globalen Krieg bedroht war. Während dieser Zeit des Kalten Krieges entwarfen die britischen Architekten Alison und Peter Smithson das House of the Future (1956) als Plastikvision und Luftschutzbunker zugleich. Archigram entwickelte mit dem Projekt Instant City (1964- 70) einen großen Zeppelin, der abgelegene Orte aufsuchen und bespielen konnte. Die Neo-Avantgarde-Gruppe war zwar von Popkultur und Massenmedien beeinflusst, blieb jedoch in ihrem technokratischen Optimismus unpolitisch. Sie ignorierte nicht nur zeitgenössische Ideen zu Feminismus und Ökologie, sondern kultivierte zudem den Machismo der heroischen Moderne. Diese Haltung forderte letztendlich die amerikanische Künstlerin und Erfinderin Francis Gabe mit ihrer Vision für das Self- Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
21 | 40 Cleaning House (1979-2007) heraus. Angelehnt an den modernistischen Küchenentwurf (1926) der Kommunistin und Aktivistin Margarete Schütte-Lihotzky, zeigt das komplexe Projekt eine feministische Aneignung von Technologie, die der Erfinderin sogar ein Patent einbrachte. Während die Bauhaus-Ausstellung von 1968 die Neo-Avantgarde schlicht ignorierte und ein intaktes Bild der klassischen Moderne zeichnete, klammerte sie Architektur als Modus sozialen und politischen Engagements mit feministischer Agenda aktiv aus. Die Installation will diese Lücken und Ausschlüsse füllen, indem sie eine fragmentarische Sammlung von Plänen, Bildern, Modellen und Programmen feministischer Visionen zusammenbringt. (Mona Mahall / Asli Serbest) Kaiwan Mehta (*1975 in Mumbai, lebt in Mumbai) A view from Ornament: Design Debates on Indianness (Ansichten vom Ornament: Designdebatten über Indian-ness) Präsentation mit Werken von: Jitish Kallat, Madhav Raman, Annapurna Garimella, Rooshad Shroff, Abin Chaudhury, Rahul Mehrotra, Atul Dodiya, Revathi Kamat, Shimul Javeri Kadri, Ambrish Arora, Akshat Bhat Das Bauhaus war als Design-Ideologie und pädagogisches Konzept ausschlaggebend für viele Debatten und Entwicklungen in Europa. Doch die Schule und das Konzept entstanden in einer Zeit, da die europäischen Kolonialmächte weite Teile der Welt unterworfen hatten. Indien als eine der größten britischen Kolonien hat eine enge Verbindung zu Europa: bedingt durch Kolonialwirtschaft, akademische Orientalistik-Studien und ein besonderes Interesse der Europäer*innen an indischer Kultur, Zivilisation und Geschichte. Die materielle Praxis, die dieses wirtschaftliche und kulturelle Interesse bedingt hat, lässt sich anhand der Geschichte des Designs in Indien beschreiben. Diese Geschichte setzt in einem kolonialen Moment ein, in welchem eine reale und eine imaginierte Vergangenheit in die zeitgenössische Erfahrung einstürzen: manifest in den Debatten der Arts-and-Crafts- Bewegung, in den Auseinandersetzungen zwischen den dekorativen und schönen Künsten, dem Handwerk und der industriellen Produktion sowie in den asiatischen und westlichen Vorstellungen von Indian-ness . Da die indische Zivilisation durch eine nationalistisch motivierte Befreiungsbewegung sowie den Nationalismus der jungen, unabhängigen Nation geprägt wurde, wurden einige Auseinandersetzungen mit besonderer Härte geführt und überdeckten eine Reihe neuer Praktiken und Dispute bzw. älterer Dispute in neuem Gewand. In diesem Teil der Ausstellung geht es um die Design-Ausbildung im kolonialen und unabhängigen Indien sowie um einige historische Debatten, die zwischen der Ausstellung im Londoner Crystal Palace 1851 und den Festival-of-India-Design- Ausstellungen in den 1980er-Jahren geführt wurden. Darüber hinaus werden einige Theoretiker*innen und Kreative vorgestellt, die diese Debatten durch ihre Texte, Gebäude, Möbel und Stoffe prägten. (Kaiwan Mehta) Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
22 | 40 Mateusz Okoński (*1985 in Krakau, lebt und arbeitet in Krakau) Pasiak, 2018 Kinetische Skulptur aus Stoff / Kinetic sculpture made of fabric Pasiak ist ein Objekt aus gestreiftem Stoff. Auf Polnisch bezeichnet pasiak einen volkstümlichem Stoff, der typisch für die Regionen Großpolen, Masowien, Podlachien und Schlesien ist. Der Name bezieht sich auf den Stoff und sein Muster: vertikale, farbenfrohe, helle Streifen. Die Skulptur Pasiak besteht aus Stoffen, die in der Nachkriegszeit gefertigt wurden und durch das traditionelle volkstümliche Kunsthandwerk inspiriert sind. Die pasiak-Muster und -Stoffe erhielten die Weber vom Zentralbüro für Volkskunst und Kunsthandwerk „Cepelia“, einer 1949 in der Volksrepublik Polen gegründeten staatlichen Kooperative. Diese zentralisierte Institution für die Produktion von Kunsthandwerk koordinierte nicht nur die lokale Handwerkerschaft, sondern verfügte auch über das Monopol für den Verkauf ihrer Arbeiten in ganz Polen – und damit einem Land, das nach dem Willen von Kulturpolitik und Propaganda der Nachkriegszeit zum „Land der Folklore“ werden sollte. Auf diese Weise wollte man in der Volksrepublik Volkskunst und Folklore würdigen. Erstaunlicherweise aber lässt das Wort pasiak (sofern es nicht wie oben erklärt wird) nicht nur an volkstümliches polnisches Kunstgewerbe denken, sondern auch an textiles Kunsthandwerk der amerikanischen Ureinwohner. In diesem Sinne ist die Arbeit eine Art Ur-amerikanisch-slawisches Totem, das noch vor 50 Jahren ebenso von einer anthropologischen Expedition in den Anden wie von polnischen Ethnografen bei Untersuchungen in Dörfern in der Gegend von Łódź oder Warschau hätte entdeckt werden können. Es war vermutlich Friedrich der Große, der die Polen als Erster als die amerikanischen Ureinwohner von Europa bezeichnete. Polen wurde im 18. Jahrhundert von Preußen annektiert und von Friedrich – aufgrund der vermeintlichen Wildheit und Primitivität der lokalen „Irokesen“ – zum einen als ideales koloniales Terrain, zum anderen für so zurückgeblieben und unterentwickelt befunden, dass man es kaum würde modernisieren können. In diesem Kontext ist pasiak ein Symbol für die Zurückgebliebenheit nicht-europäischer Stammesgesellschaften. Um zivilisiert und modern zu werden, muss man es hinter sich lassen. Gleichzeitig ist pasiak ein oktroyiertes Symbol kolonialer und aufgeklärter Hegemonie sowie subalterner Unterwerfung. Aus diesem Grund bleibt die Skulptur formal so nah am Turm des Feuers (1920) von Johannes Itten, einem Schweizer Künstler und Theoretiker aus der Bauhaus-Gemeinde. Seine architektonische Skulptur reiht sich ein in die vielen Versuche des Bauhauses, Natur und Symbolik der Farben zu begreifen. Diese wissenschaftliche und rationale Annäherung an die Farbe sollte das Bauhaus überdauern und schon bald dem Wahnsinn des aufgeklärten Geistes das Wort geben. In den Konzentrationslagern der Nazis mussten die Häftlinge gestreifte Uniformen mit farbigen Aufnähern tragen, die Auskunft über die unterschiedlichen Häftlingskategorien gaben. Auf Polnisch bezeichnet man die gestreiften Anzüge der Häftlinge ebenfalls als pasiak. (Mateusz Okoński) Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
23 | 40 David Riff / Dmitry Gutov (*1973, lebt und arbeitet in Moskau und Berlin / *1960 in Moskau, lebt und arbeitet in Moskau) Relativism is Dialectics for Idiots (Relativismus ist Dialektik für Idiot*innen), 2018 Installation mit Holzdisplay Gegenstand dieser Installation sind die Debatten und Auseinandersetzungen an der legendären Kunsthochschule Wchutemas aus Sicht des Philosophen Michail Lifschitz (1905–1983), der an der bisweilen als „sowjetisches Bauhaus“ bezeichneten Institution sowohl studierte als auch lehrte. Lifschitz war aus dem provinziellen Süden der Ukraine nach Moskau gekommen, um Kunst zu studieren, und schrieb sich an der 1919 als kombinierte Werkstattschule für Malerei, Architektur, Design und Grafikdesign gegründeten Wchutemas ein. Lifschitz erlebte seinerzeit ganz unmittelbar die Konflikte und Krisen der verschiedenen konkurrierenden modernistischen Bewegungen an der Hochschule und wurde dort 1925 als Lehrer für marxistische Theorie verpflichtet. Nachdem er mit den unterschiedlichen Vorstellungen über die Rolle der Revolution in der Kunst Bekanntschaft gemacht hatte, entwickelte er schon bald einen ganz eigenen Standpunkt. Die Revolution sollte die Kunst weder ins Mittelalter zurückversetzen noch zu deren Auflösung im Zuge einer technologischen und gesellschaftlichen Erneuerung führen, sondern Auslöser einer neuen Renaissance sein. Nach seiner Auffassung war es längst an der Zeit, sich der großen kulturellen Errungenschaften zu bemächtigen. „Relativismus ist Dialektik für Idiot*innen”, konstatierte er seinerzeit. Lifschitz setzte damit eine Diskussion fort, die W. I. Lenin 1921 im Zuge einer Diskussion mit Studierenden der Wchutemas über Futurismus angestoßen hatte. Fundamentaler noch war für seine Reflexionen die Neuinterpretation der Marxschen Theorien zur Ästhetik, die Lifschitz als einer der Ersten ernsthaft würdigte. Die Installation der Künstler Dmitri Gutow und David Riff ist Fortsetzung ihrer Auseinandersetzung mit Lifschitz und seinem geschichtlichen Umfeld. Unvollendete Rekonstruktionen umfänglicher Studien füllen den Raum, dazu gesellen sich Stehpulte mit Skizzenbüchern, die mit ihren Bildern und passenden Zitaten unter anderem auf Lifschitz‘ kritische Auseinandersetzung mit der Wchutemas, dem Bauhaus und der Avantgarde Bezug nehmen. Sie sind angeordnet um die Nachbildung einer Renaissance-Schreibstube nach dem Vorbild des Gemäldes Der heilige Hieronymus im Gehäuse von Antonello da Messina aus dem 15. Jahrhundert, wo die Besucher*innen deutsche Übersetzungen von Lifschitz’ Büchern einsehen können. Weiterhin laufen auf einem Monitor Ausschnitte der in Vergessenheit geratenen Mini-TV-Reihe „Strokes Toward a Portrait of Lenin“ (1967), in der berühmte sowjetische Schauspieler*innen der 1960er- und 1970er-Jahre Kunststudent*innen im Gespräch mit dem Sowjet-Führer darstellen. Auf der Rückwand der Schreibstube und den angrenzenden Wänden wird die Geschichte von Lifschitz‘ dramatischem Ausscheiden aus der Kunsthochschule 1929 dokumentiert. Lifschitz‘ Forderung nach einer Rückbesinnung auf Renaissance- Traditionen passte nicht zur militanten kommunistischen Parteilinie jener Jahre, und er wurde als rechter Abweichler gebrandmarkt. (Dmitri Gutow /David Riff) Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart Fon: +49 (0)711 - 22 33 70 · Fax: +49 (0)711 - 29 36 17 · info@wkv-stuttgart.de · www.wkv-stuttgart.de
Sie können auch lesen