50 Jahre nach 50 Jahre Bauhaus 1968 - Mai - 23. September 2018 READER - Württembergischer Kunstverein

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50 Jahre nach 50 Jahre Bauhaus 1968
5. Mai – 23. September 2018
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50 Jahre nach 50 Jahre Bauhaus 1968
5. Mai – 23. September 2018

Künstler*innen
Piotr Andrejew, Daniel G. Andújar, Gerd Arntz, Ambrish Arora, Arte Nucleare, Yochai
Avrahami, Galina Balashova, John Barker / László Vancsa, Willi Baumeister, Herbert
Bayer, Ella Bergmann-Michel, Akshat Bhat, Marianne Brandt, Lucius Burckhardt, Abin
Chaudhury, Constant, Peter Cook, Le Corbusier, Guy-Ernest Debord, Die neue Linie,
Yvonne P. Doderer, Atul Dodiya, Ines Doujak, Drakabygget, Egon Eiermann, Francis
Gabe, Annapurna Garimella, Erich Glas, Grapus, Eileen Gray, Walter Gropius, Dmitry
Gutov / David Riff, John Heartfield, Helmut Heißenbüttel, Ludwig Hilberseimer,
Internationale lettriste, Internationale situationniste, Isidore Isou, Jineolojî, Jacqueline
de Jong, Asger Jorn, Shimul Javeri Kadri, Jitish Kallat, Revathi Kamat, Mustapha
Khayati, Alexander Kluge, Kurt Kranz, Les Groupes Medvedkin / Colette Magny, Les
Lèvres Nues, Michail Lifschitz, El Lissitzky, Mona Mahall / Asli Serbest, Vincent Meessen,
Rahul Mehrotra, Kaiwan Mehta, Erich Mendelsohn, Ludwig Mies van der Rohe, László
Moholy-Nagy, Mouvement international pour un Bauhaus imaginiste, Ernst Neufert,
Hans Ferdinand und Hein Neuner, Mateusz Okonski, Gabriel Pomerand, PROVO,
Madhav Raman, Lilly Reich, Josep Renau, Józef Robakowski, Joost Schmidt,
Margarete Schütte-Lihotzky, Vishwa Shroff, Alison und Peter Smithson, Herman Sörgel,
Gruppe SPUR, Superstudio, Jan Tschichold, Raoul Vaneigem, Gil J Wolman … und
viele andere

Eine Ausstellung von
Württembergischer Kunstverein Stuttgart
im Rahmen von
100 Jahre Bauhaus

Kurator*innen
Iris Dressler, Hans D. Christ
in Zusammenarbeit mit
Ines Doujak, Mona Mahall, Kaiwan Mehta, David Riff, Asli Serbest

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Einführung

Am 4. Mai 1968, einen Tag nachdem Student*innen in Paris die Universität Sorbonne
besetzt und den sogenannten Mai 68 ausgerufen hatten, wurde im
Württembergischen Kunstverein die Ausstellung 50 Jahre Bauhaus eröffnet: begleitet
von Protesten gegen die geplante Schließung der Hochschule für Gestaltung Ulm,
die 1953 als Nachfolgerin des Bauhauses angetreten war.

Die von Herbert Bayer gestaltete und von Hans Maria Wingler, Ludwig Grote und
dem damaligen Kunstvereins-Direktor Dieter Honisch konzipierte Schau wurde bis
1971 in acht weiteren Museen weltweit gezeigt. Sie gilt bis heute als eine der
wichtigsten Nachkriegsausstellungen zum Bauhaus und war von höchster
kulturpolitischer Bedeutung für die noch junge Bundesrepublik, ging es doch auch
darum, die deutsche Kulturnation auf internationaler Ebene zu rehabilitieren.

50 Jahre nach der Eröffnung von 50 Jahre Bauhaus unternimmt der
Württembergische Kunstverein eine kritische Relektüre dieser Ausstellung. Sie setzt an
den gesellschaftspolitischen Umbrüchen der 1960er-Jahre an und betrachtet das
Bauhaus, seine historischen Kontexte und die Geschichte(n) seiner Rezeption aus
heutiger Perspektive. Die Vorstellung vom Bauhaus als ein in sich geschlossenes,
homogenes System soll dabei ebenso befragt werden wie jene Erzählungen, die
Bauhaus und Moderne ungebrochen als Synonyme für Fortschritt, Freiheit und
Demokratie verhandeln. Stattdessen geht es um die Ambivalenzen, die beiden zum
Beispiel im Hinblick auf Totalitarismus und Kolonialismus eingeschrieben sind.

Die Ausstellung 50 Jahre nach 50 Jahre Bauhaus 1968, die sich über den Neu- und
Altbau des Stuttgarter Kunstgebäudes erstreckt, folgt vier thematischen Strängen mit
zahlreichen Exkursen und Nebenpfaden. Sie kreisen um die Rolle des Bauhauses
beim Ausstellungs- und Grafikdesign der 1920er- bis -40er-Jahre; um künstlerische
Gegenmodelle zur funktionalen Stadt und zur Konsumgesellschaft; um die
Beziehungen von Avantgarde und industriell-militärischem Komplex sowie um
Ausblicke auf das Konzept multipler Modernen.

Einige Exkurse wurden eigens für die Ausstellung von einer Reihe von Künstler*innen
und Kurator*innen entwickelt. Es handelt sich um Unterbrechungen, Zwischenreden
und Einmischungen von:

Daniel G. Andújar, Yochai Avrahami, John Barker / László Vancsa, Yvonne P.
Doderer, Ines Doujak, Dmitry Gutov / David Riff, Alexander Kluge, Mona Mahall / Asli
Serbest, Vincent Meessen, Kaiwan Mehta, Mateusz Okoński und María Salgado
(temporäre Performance).

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Die Einführung in die Ausstellung bildet eine Sammlung von Objekten, die – vom
Ausstellungsmodell bis zu einer Tonaufzeichnung Walter Gropius’ – auf die Ausstellung
von 1968 und ihre Zeit verweisen und zentrale Anhaltspunkte für das aktuelle Projekt
waren.

Den Prolog liefert Helmut Heißenbüttel am Eingang zum Vierecksaal: Auf Marcel
Breuers berühmten B3 Stahlsessel (auch Wassily genannt) Platz nehmend, bringt er
mit seinem Gedicht der mann, der lesbisch wurde (1967) die
Geschlechterverhältnisse zu Fall: und damit die zentralen Pfeiler unserer modernen,
auf binären Denkweisen beruhenden Weltordnung.

Dem kontern im gegenüberliegenden Eingang zum Kuppelsaal gewissermaßen John
Barker und László Vancsas mit ihrem für die Ausstellung neu produzierten Video
Consequences, das unter anderem die männliche Dominanz der Bauhausdiskurse
hervorhebt.

Die über 500 Exponate von rund 60 Künstler*innen und ca. 40 Leihgebern umfassen
sowohl historische als auch zeitgenössische Werke und Dokumente aus den
Bereichen bildende Kunst, Literatur, Fotografie, Film, Design, Architektur und
Stadtentwicklung.

50 Jahre nach 50 Jahre Bauhaus 1968 ist Teil des großangelegten bundesweiten
Jubiläumsprojektes 100 Jahre Bauhaus.

Die Ausstellung wird von einem dichten Diskurs- und Vermittlungsprogramm
begleitet. Dazu zählt unter anderem eine Performance, die die spanische Künstlerin
Maria Salgado in Bezug auf Helmut Heißenbüttels genanntes Gedicht entwickeln
und im September im Rahmen einer Konferenz aufführen wird. Zur Ausstellung
erscheint eine Broschüre und (im Verlauf der Ausstellung) eine umfassende
Publikation.

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PROLOG

Helmut Heißenbüttel, der mann, der lesbisch wurde, 1967
Gedicht, vorgetragen von Helmut Heißenbüttel in Marcel Breuers B3-Stahlsessel
(Wassily). Auszug aus Urs Widmers Fernsehdokumentation Zweifel an der Sprache.
Helmut Heißenbüttel, ein Portrait.

BESTANDSAUFNAHMEN
Diverse Objekte: Poster, Kataloge, Tonaufzeichnungen, Fotografien etc.

Der Auftakt der Ausstellung umfasst eine Reihe von Objekten aus dem Umfeld der
1968er-Bauhaus-Ausstellung, die auf die Fragestellungen, die dem aktuellen Projekt
zugrunde liegen, verweisen. Sie beziehen sich auf folgende Aspekte:

Kontinuität
Bereits der Titel 50 Jahre Bauhaus suggerierte eine Kontinuität und Homogenität, die
in Anbetracht der nur vierzehnjährigen Existenz des Bauhauses konstruiert erscheint.
Die aktuelle Ausstellung fragt stattdessen nach den Brüchen, Verzweigungen und
parallelen Entwicklungen im Umfeld des Bauhauses, die von der Moskauer Schule
WChUTEMAS über das Imaginistische Bauhaus und die Situationistische Internationale
bis zu zeitgenössischen Positionen, die sich mit den kolonialen Implikationen der
Moderne beschäftigen, reichen.

Rehabilitierung
Mit der 1968er-Ausstellung sollte das nach dem zweiten Weltkrieg im Ausland stark
angeschlagene Image der deutschen Kultur korrigiert werden. Das Bauhaus wurde
dementsprechend als eine kulturelle Leistung der Weimarer Republik dargestellt, an
die sich nach dem Zweiten Weltkrieg bruchlos anknüpfen ließe: im Sinne eines Re-
imports aus den USA, wo das Bauhaus in Ruhe hatte heranreifen können.
Das Bauhaus wird so zu einer deutsch-amerikanischen Marke stilisiert.
Nach der Schließung des Bauhauses 1933 durch die Nationalsozialisten haben nicht
wenige der in Deutschland verbliebenen Ex-Bauhäusler*innen in den Bereichen
Ausstellungs- und Grafikdesign, Industrie- und Wohnungsbau mit den Nazis
zusammengearbeitet und sich teils zu deren Ideologien bekannt. Diese Aspekte
wurden 1968 vollständig ausgeblendet. Stattdessen wurden das Bauhaus und seine
Akteur*innen als Garant*innen von Freiheit und Demokratie stilisiert. Der aktuellen
Ausstellung geht es nicht darum, über die moralische Haltung einzelner
„Bauhäusler*innen“ zu urteilen, sondern zu reflektieren, in welchem Maße
Totalitarismus selbst Teil jenes Projektes ist, das wir Moderne nennen.

Auslandsangelegenheit
Die nationale und internationale Tragweite der Ausstellung zeigte sich neben der
Schirmherrschaft durch den Bundespräsidenten Heinrich Lübke insbesondere in der
zentralen Rolle, die das dem Auswärtigen Amt unterstellte Institut für
Auslandsangelegenheiten (IfA) einnahm. Dieses finanzierte nicht nur die Stuttgarter

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Ausstellung und übernahm die Kosten für Transport und Versicherung aller weiteren
Stationen, sondern organisierte im Nachgang der eigentlichen Ausstellung auch die
langjährige Tour einer verkleinerten Fassung derselben. Dabei legte das IfA auch den
ursprünglichen Katalog in reduzierter Form wieder auf.

Homogenisierung
Die Walter Gropius gewidmete 1968er-Ausstellung war seiner Sichtweise auf das
Bauhaus verpflichtet. Der Gründungsdirektor hatte bereits dreißig Jahre zuvor an der
von Herbert Bayer für das MoMA in New York gestalteten Ausstellung Bauhaus 1919–
1928 mitgewirkt, die, wie schon der Titel sagte, auf die Ära Gropius reduziert war. Zu
seinen Sichtweisen zählen eine gewisse Depolitisierung des Bauhauses sowie die
Herabsetzung des zweiten Bauhausdirektors, Hannes Meyer, dessen offene
marxistische Haltung Gropius missbilligte. Auch Hans Maria Wingler, Gründer des
Bauhaus-Archivs, Kokurator der 1968er-Ausstellung und Autor der ersten großen
Monografie zum Bauhaus, die von einem Nicht-Beteiligten geschrieben wurde, steht
für die Stärkung der Gropiusschen Position. So wurde Meyer in der 1968-er-Ausstellung
tendenziell als Irrtum und Verräter verhandelt. Parallele und gegenläufige
Entwicklungen zum Bauhaus aber auch kritische Positionen zu Funktionalismus,
Rationalismus und kapitalistischer Konsumkultur blieben unbeachtet.

1968
Das Jahr 1968 stellte einen Höhepunkt der internationalen Student*innenproteste dar.
Neben der Besetzung der Sorbonne in Paris, an der unter anderem die
Internationalen Situationist*innen beteiligt waren, äußerte sich dieser auch in der
Okkupation diverser Kunstereignisse wie der 14. Mailänder Triennale für angewandte
Kunst Ende Mai 1968. Die deutschen Beiträge für diese Triennale, die niemals ihre Tore
öffnen sollte, stammten größtenteils aus der vom Aus bedrohten Hochschule für
Gestaltung in Ulm. Gegen deren Schließung war zur Eröffnung der Ausstellung 50
Jahre Bauhaus mit Transparenten protestiert worden, die sich radikal von der
visuellen Sprache in Paris unterschieden.
Eine Tonaufzeichnung gibt Walter Gropius’ Ansprache an die Protestler*innen wieder,
die mit der Depolitisierung des Bauhauses beginnt.
Der Aufstand der jungen Generation war in Deutschland auch mit der Forderung
nach einer eingehenden Aufarbeitung des Dritten Reichs, dessen Mitläufer*innen
und Kontinuitäten verknüpft. Hinsichtlich des Bauhauses geschieht das insbesondere
in den 1990er-Jahren.

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AUSSTELUNGSSEGMENTE

1. ZWISCHEN EXPERIMENT UND PROPAGANDA: AUSSTELLUNGS- UND GRAFIKDESIGN
DER 1920ER- BIS 1940ER-JAHRE

Ausgehend von dem Designer Herbert Bayer, der im Laufe seiner Karriere für
ideologisch höchst gegensätzliche Auftraggeber tätig war, untersucht dieses
Ausstellungssegment die Entwicklungen des Ausstellungs- und Grafikdesigns der
1920er- bis 1940er-Jahre, das zwischen künstlerischem Experiment und politischer
Propaganda angesiedelt ist.
Im Vordergrund stehen dabei Lehr- und Industrieausstellungen, die auf rund zwanzig
Bild- und Texttafeln in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die Tafeln umfassen
Großprojekte wie Die Wohnung, in dessen Rahmen 1928 auch die
Weißenhofsiedlung in Stuttgart entstand, Nazi-Ausstellungen wie Deutsches Volk –
Deutsche Arbeit (1934 in Berlin) sowie die Kriegspropagandaschauen der 1940er-
Jahre im New Yorker MoMA. An fast allen diesen Projekten haben Gestalter*innen
aus dem Bauhaus und dessen Umfeld mitgewirkt. Der Einsatz von Fotografie – und
insbesondere der Möglichkeit, gigantische Vergrößerungen davon herzustellen – hat
das Ausstellungsdesign dieser Jahre ebenso revolutioniert wie die Fotomontage, die
Typografie und ein erweitertes Raumkonzept. El Lissitzky und Herbert Bayer waren an
dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt. Sie entdeckten Ausstellungen als
Massenmedien, die das Zielpublikum auf visueller Ebene ansprechen. Die damaligen
totalitären Kräfte machten sich diese Qualität ebenso zu eigen wie deren
Widersacher. Zugleich hatten die Nationalsozialisten ein Interesse daran, in gewissen
Kreisen als zeitgemäß und weltoffen zu gelten. Eine Reihe von „Bauhäusler*innen“
und anderen modernen Gestalter*innen war ihnen dabei behilflich, so dass das
Ausstellungs- und Grafikdesign in Deutschland auch nach der Machtergreifung
Hitlers teils moderne Züge trug.
Die Beispiele aus dem Bereich der Typografie und des Grafikdesigns reichen vom
spielerischen Umgang mit Buchstaben bis zur „Domestizierung“ (Patrick Rössler) der
avantgardistischen Form durch Werbung und Propaganda. Neben grafischen
Objekten, die direkt im Kontext von Ausstellungen entstanden sind, stehen vor allem
Zeitschriften im Vordergrund.
Ein Exkurs ist überdies Positionen der Fotografie und Grafik der 1920er- und 1930er-
Jahre gewidmet: zum einen der kritischen Fotomontage und zum anderen den
Experimenten mit Raum und Perspektiven.

Künstler*innen / Beiträge
Gerd Arntz, Willi Baumeister, Herbert Bayer, Marianne Brandt, Marcel Breuer, Le
Corbusier, Die neue Linie, Egon Eiermann, Walter
Gropius, John Heartfield, Kurt Kranz, El Lissitzky, Ludwig Mies van der Rohe, László
Moholy-Nagy, Ernst Neufert, Hans Ferdinand und Hein Neuner, Lilly Reich, Josep
Renau, Xanti Schawinsky, Joost Schmidt, Jan Tschichold und andere

Exkurse: Künstlerische und kuratorische Neuproduktionen
Daniel G. Andújar, Ines Doujak

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2. UNRUHE DER FORM: GEGENMODELLE ZU FUNKTIONALISMUS UND ZUR
KAPITALISTISCHEN KONSUMGESELLSCHAFT

Funktionalismus
Einer der Ausgangspunkte dieses Ausstellungssegmentes ist der Architekt Ernst
Neufert, der zu den ersten Student*innen des Bauhauses zählte und als Mitbegründer
der Rationalisierung des Bauens gilt. Seine Bauentwurfslehre (1936) und
Bauordnungslehre (BOL, 1943) sind bis heute weltweit gültige Standardwerke der
Architektur. Ab 1938 stellte Neufert seine Arbeit in den Dienst der Nationalsozialisten
und schaffte es bis in den Stab von Albert Speer. Die Erstausgabe der BOL, für die
Speer das Vorwort schrieb, trägt antisemitische, völkische und rassenideologische
Züge. Im Zentrum von Neuferts Lehren steht ein anthropomorphes Maßsystem, das
auf standardisierten menschlichen Körperproportionen beruht. Mit diesem System
trieb er die Rationalisierung und Normierung des Wohnungsbaus auf technischer
Ebene entscheidend voran.
Das Bauhaus mit Architekten wie Walter Gropius, Hannes Meyer und Ludwig
Hilberseimer, die CIAM (Internationale Kongresse für Neues Bauen, 1928 –1959) und
die mit ihr assoziierten Architekten wie Le Corbusier stehen ab den 1920er-Jahren für
das Konzept des Neuen Bauens und der funktionalen Stadt: das heißt für die
Rationalisierung sämtlicher Lebensbereiche – Arbeit, Wohnen, Freizeit, Verkehr – und
deren räumliche Trennung. Und nicht zuletzt für das Primat der „autogerechten
Stadt“. Ihre zum Teil recht unterschiedlichen Ansätze zur funktionalen Stadt, die
idealerweise erschwinglichen und komfortablen Wohnraum sowie beschleunigte
Mobilität für alle schaffen sollte, wurden von Beginn an kontrovers diskutiert, wie etwa
seitens des Team X. Diese Gruppe von Architekt*innen, zu der u.a. Alison und Peter
Smithson und Oskar Hansen gehörten, sollte das Ende der CIAM einläuten.
Ein besonderes Augenmerk liegt in dieser Sektion überdies auf der feministischen
Kritik zur modernen Architektur und Stadt.

Unruhe der Form
In den 1950er- und -60er-Jahren beginnen auch die Künstler*innen, sich in die
Debatte um die Zukunft der Stadt einzumischen, insbesondere aus dem Umfeld der
Situationistischen Internationale. Mit Methoden der Dérive und der Psychogeografie
sowie mit urbanen Utopien wie Constants New Babylon erproben sie Gegenmodelle
zur funktionalen Stadt, zur entfremdeten Arbeit und zur Konsumgesellschaft. Genau
hier setzt dieses Ausstellungssegment an, das den Beziehungen und Divergenzen
zwischen dem Umfeld des Bauhauses und den diversen künstlerischen
Gruppierungen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten, nachgeht. Allen
gemein ist das Bestreben, eine neue Welt für eine neue Gesellschaft zu schaffen. Bei
der Frage, wie dies zu bewerkstelligen sei und wie diese neue Gesellschaft aussehen
solle, könnten sie indes nicht unterschiedlicher sein.
Die Linien, die hier zwischen dem Bauhaus und den Avantgarden nach 1945 – bis hin
zum „Mai 68“ – gezogen werden, sind also brüchig. Der Funktionalität, Nüchternheit
und Sparsamkeit der Formen steht eine gewisse „Unruhe der Form“, Rauschhaftigkeit
und Ökonomie der Verschwendung gegenüber. Für diese „Unruhe der Form“ stehen
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bereits die Lettristen, die statt typografischer Norm den Buchstaben aus dem Korsett
der Sprache befreien wollten und die zugleich Methoden einer kreativ-delirierenden
Aneignung des öffentlichen Raums erprobten.

Genealogien
Eine der Linien zwischen dem Bauhaus und den künstlerischen Bewegungen der
1950er- und 60er-Jahren führt zu der von Asger Jorn gegründeten Internationalen
Bewegung für ein imaginistisches Bauhaus. Mit dieser Gründung 1953 reagierte Jorn
auf das Scheitern seiner Pläne, am Aufbau der HfG Ulm im Sinne eines zeitgemäßen
Bauhauses mitzuwirken. Der belgische Künstler Vincent Meesse hat für die Ausstellung
den teils harschen Briefwechsel zwischen Jorn und dem damaligen Direktor der HfG
Ulm, Max Bill, bearbeitet.
Aus dem Imaginistischen Bauhaus und anderen Gruppierungen ging 1957 schließlich
die Situationistische Internationale hervor, deren politische Agenda im „Mai 68“ ihren
Zenit erreicht hatte. Die HfG Ulm wurde im November 1968 geschlossen und in
gewisser Weise ein Jahr später in Paris in Form des Institut de l’Environnement neu
aufgelegt. Das Pariser Institut berief sich nicht nur auf das Bauhaus und das „Ulmer
Modell“, sondern wurde von Claude Schnaidt, dem letzten Vizedirektor der HfG,
mitkonzipiert. Im Institut de l’Environnement lernten sich einige der während des „Mai
68“ aktiven Grafiker kennen, die 1970 das Kollektiv Grapus gründeten, das grafische
Experimente und Aktivismus miteinander verband.

Dérive und Detournement
Die genannten Gruppierungen, die sich auf mehr oder weniger verschlungenen
Pfaden auf das Bauhaus beziehen lassen, weichen von diesem nicht nur in Fragen
der Stadt und des Lebens ab. Sie haben die Techniken der Gestaltung und
Massenmedien gegen deren Sinn angewendet, um andere und
Gegenöffentlichkeiten zu schaffen. Künstlerbücher wie Gabriel Pomerands Saint
Ghetto des Prêts (1950) und die beiden gemeinsam von Guy Debord und Asger Jorn
produzierten Publikationen Fin de Copenhague (1957) und Mémoires (1959)
verbinden dabei sprachliche und gestalterische Experimente der Zweckentfremdung
(détournement) auf direkte Weise mit der Idee des urbanen Umherschweifens
(dérive).
Die Idee des Umherschweifens findet sich nicht zuletzt auch in Oskar Hansens
Konzept der „offenen Form“ und Lucius Burkhardts Methode der
Spaziergangswissenschaften bzw. Promenadologie wieder.

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Dynamiken der Großstadt
Alexander Kluge hat eigens für dieses Ausstellungssegment ein Videotriptychon
geschaffen, dessen Ausgangspunkt László Moholy-Nagys 1921 entstandenes
Filmprojekt Dynamiken der Großstadt ist. Moholy-Nagys Projekt wurde nie als Film
realisiert, existiert jedoch in Form eines grafischen Filmmanuskripts, das u.a. im achten
Bauhausbuch veröffentlicht wurde. Die damalige Euphorie gegenüber den
Dynamiken des städtischen Lebens ist heute dem hart kalkulierten Primat der
beschleunigten Warenzirkulation gewichen.

      Künstler*innen / Beiträge
      Piotr Andrejew, Alice Constance Austin, Daniele Baroni, Ella Bergmann-Michel,
      Lucius Burckhardt, Constant, Le Corbusier, Guy-Ernest Debord, Silvia Federici,
      Shulamith Firestone, Francis Gabe, Grapus, Eileen Gray, Walter Gropius,
      Internationale situationniste, Isidore Isou, Jineolojî, Jacqueline de Jong, Asger
      Jorn, El Lissitzky, Erich Mendelsohn, Ludwig Mies van der Rohe, Marlene
      Moeschke Poelzig, László Moholy-Nagy, Mouvement international pour un
      Bauhaus imaginiste, Ernst Neufert, Gabriel Pomerand, PROVO, Margarete
      Schütte-Lihotzky, Alison und / and Peter Smithson, Gruppe SPUR, Superstudio,
      Alice B. Toklas und andere

      Exkurse: Künstlerische und kuratorische Neuproduktionen
      Yvonne P. Doderer, Alexander Kluge, Mona Mahall / Asli Serbest, Vincent
      Meessen

                              Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart
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3. AVANTGARDE, KRIEG UND EXPANSIONEN: DER MILITÄRISCH-INDUSTRIELLE KOMPLEX

Bezugspunkte dieses Ausstellungssegmentes sind erneut Ernst Neufert, die Konzepte
des Neuen Bauens – in den USA „international style“ genannt – sowie die politisch
motivierten künstlerischen Gruppierungen der 1960er-Jahre. Der Fokus liegt dabei auf
den Verschränkungen zwischen der modernen Avantgarde und dem militärisch-
industriellen Komplex. Untersucht werden die Beziehungen von Luftbild und Luftkrieg,
von Wohnen, Konsum- und Heerestechnologie sowie die Expansionsphantasien des
Moderneprojektes.

Luftfahrt und Luftwaffe
Die postfuturistische Faszination an Luftfahrt und Luftwaffe, wie sie sich in den 1930er-
bis 1940er-Jahren insbesondere in der Werbung, in Magazinen und den großen
internationalen Industrieschauen niederschlägt, ist geprägt von der Idee technischer
Präzision und Machbarkeit sowie von der Überlegenheit des gottgleichen Blicks – und
der drohenden Gefahr aus der Luft.

Neues Bauen
Die in den 1920er-Jahren entwickelten Konzepte des Neuen Bauens und der
funktionalen Stadt wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf breiter Ebene
realisiert. Begünstigt hatten dies in Europa vor allem die durch den Luftkrieg vielerorts
nahezu vollständig zerstörten Städte, die für das rationale Bauen gleichermaßen den
Bedarf und die passenden Freiflächen lieferten. Umgekehrt hat das Primat der
autogerechten Stadt auch auf zivilem Wege bestehende urbane Strukturen dem
Erdboden gleichgemacht. Auf den urbanen Freiflächen wurde dabei nicht nur die
räumliche Trennung zwischen verschiedenen Lebensbereichen, sondern auch
zwischen unterschiedlichen Klassen und Ethnien implementiert.
Der industriell-militärische Komplex wurde zur Grundlage der Produktion des urbanen
Raums. Der Krieg selbst lieferte dabei auch die Expertise für die Infrastrukturen und
Logistiken einer seriellen Massenproduktion von Wohn- und Lebensräumen.

Gegenpositionen
Demgegenüber widmet sich dieses Ausstellungssegment auch den Gegenpositionen
zur Mechanisierung, Militarisierung und Kontrolle des öffentlichen Raums und Lebens.

      Künstler*innen / Beiträge
      Herbert Bayer, Marianne Brandt, Constant, Peter Cook, Le Corbusier, Guy-
      Ernest Debord, Drakabygget, Erich Glas, Grapus, Ludwig Hilberseimer,
      Internationale lettriste, Internationale situationniste, Asger Jorn, Mustapha
      Khayati, Les Groupes Medvedkin / Colette Magny, Ernst Neufert, Józef
      Robakowski, Joost Schmidt, Herman Sörgel, Raoul Vaneigem, Gil J Wolman
      und andere

      Exkurse: Künstlerische und kuratorische Neuproduktionen
      Yochai Avrahami, John Barker / László Vancsa, Mona Mahall / Asli Serbest

                              Württembergischer Kunstverein · Schlossplatz 2 · 70173 Stuttgart
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4. MULTIPLE MODERNEN
Das letzte Segment der Ausstellung versteht sich als Ausblick auf die möglichen
Erzählungen einer multiplen Moderne. Diese, so der Ansatz, bedürfen einer
beständigen Relektüre und Neubewertung der Beziehungen von Tradition und
Fortschritt, Kunstgewerbe und Kunst, populären und
elitären Künsten, der Welt der Kolonialisierten und der Kolonisatoren.
Dabei werden drei Kontexte fokussiert: Zum einen geht es um die parallel zum
Bauhaus wirksame Moskauer Schule Wchutemas, die aus der Perspektive des
radikalen Antimodernisten Michail Lifschitz betrachtet wird. Zum anderen wird die
indische Design-Geschichte zwischen europäischem Kolonialismus und indischem
Nationalismus, zwischen der ersten Weltausstellung 1851 im Londoner Crystal Palace
und den Ausstellungen des Festival of India in den 1980er-Jahren beleuchtet. Drittens
geht es um die komplexe Geschichte des Pasiak, eines volkstümlichen Stoffs aus
Polen.
Mit der zwischen 1928 und 1952 von dem Architekten Hermann Sörgel entwickelten
Architektur- und Technikutopie Atlantropa, an der unter anderen auch Peter Behrens
mitgewirkt hat, wird überdies auf eine europäische Expansionsphantasie verwiesen,
in der westliche Großmannssucht, pazifistische Absichten und eine zutiefst
kolonialistische Haltung auf unvergleichliche Weise zusammentreffen.
Solche Expansionsphantasien hatten im Falle Albert Speers noch in seiner
Gefängniszeit Bestand, während der er in der Haftanstalt einen Garten anlegte, den
er täglich durchschritt. Dabei zählte er die Kilometer und stellte sich vor, welche
Städte auf der ganzen Welt er auf diese Weise hätte erreichen können. In gewisser
Weise scheint mit diesem Projekt die situationistische Idee der Dérive implodiert zu
sein.

      Künstler*innen / Beiträge
      Anagram Architects, Ambrish Arora, Aniket Bhagwat, Akshat Bhat, Abin
      Chaudhury, Le Corbusier, Atul Dodiya, Annapurna Garimella, Shimul Javeri
      Kadri, Jitish Kallat, Revathi Kamat, Romi Khosla Design Studio, Michail Lifschitz,
      Rahul Mehrotra, Madhav Raman, Vishwa Shroff, Hermann Sörgel, Studio Lotus,
      Tara Books

      Exkurse: Künstlerische und kuratorische Neuproduktionen
      Yvonne P. Doderer, Dmitry Gutov / David Riff, Kaiwan Mehta, Mateusz Okonski

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Künstler*innen und Kurator*innen Statements

Einige Exkurse wurden eigens für die Ausstellung von einer Reihe von Künstler*innen
und Kurator*innen entwickelt. Es handelt sich um Unterbrechungen, Zwischenreden
und Einmischungen von:

Daniel G. Andújar, Yochai Avrahami, John Barker / László Vancsa, Yvonne P.
Doderer, Ines Doujak, Dmitry Gutov / David Riff, Alexander Kluge, Mona Mahall / Asli
Serbest, Vincent Meessen, Kaiwan Mehta, Mateusz Okoński und María Salgado
(temporäre Performance).

Daniel G. Andújar
(*1966 in Almoradí, lebt in Barcelona)

Nichteinmischungsabkommen, 2018
Installation

Eines der bedeutendsten Projekte, um die republikanische Sache während des
spanischen Bürgerkriegs im Ausland bekannt zu machen, war die Errichtung des
spanischen Pavillons in der Exposition Internationale des Art et Techniques dans la Vie
Moderne (Internationale Ausstellung für Kunst und Technik des Modernen Lebens /
Weltfachausstellung) in Paris 1937. Der Pavillon wurde als ein Gesamtkunstwerk
konzipiert, das die bildenden und darstellenden Künste mit Kunsthandwerk und
rationalistischer Architektur verband. Die zentrale Aufgabe bestand darin, der
Tradition und Avantgarde der spanischen Kultur ein Schaufenster zu bieten und
insbesondere die von der republikanischen Regierung umgesetzten Maßnahmen
bekannt zu machen. Die Regierung war bestrebt, auf die Rechtmäßigkeit ihres
Anliegens aufmerksam zu machen und um Unterstützung im Kampf gegen die
Ausbreitung des Faschismus in Spanien und ganz Europa zu werben.
Die Ausstellung eröffnete am 24. Mai mit einer erstaunlichen Mischung aus Kunst und
Propaganda, populärer und Hochkultur, Tradition und Moderne. Das nüchterne und
rationalistische Gebäude war ein Werk von Luis Lacasa (1899-1966) und Josep Lluís
Sert (1902-1983). Der spanische Pavillon bildete einen scharfen Kontrast zur
Monumentalität der Bauten der Sowjetunion und Deutschlands, sowohl im Hinblick
auf die Größenordnung als auch in Bezug auf Materialien, Design,
Ausstellungsanordnung und -gestaltung sowie Raumverteilung. Neben Lacasa und
Sert waren der Philosoph José Gaos (1900-1960), der Schriftsteller José Bergamín
(1895-1983), der Plakatmaler Josep Renau (1907-1982), der Schriftsteller Max Aub
(1903-1972) und der Architekt José Lino Vaamonde 1900-1986) für das Projekt
verantwortlich. Renau verwendete Plakate und Fotomontagen für die Gestaltung
seiner berühmten Fotowandbilder, die den Pavillon von der Fassade bis ins Innere
durchzogen. Sie waren politisch stark aufgeladen und sollten die Ideen zur sozialen
und kulturellen Revolution der Republik vermitteln. Die audiovisuelle Produktion
wurde Luis Buñuel (1900-1983) anvertraut. Der Pavillon besaß einen Hof, in dem bis zu
40 Dokumentarfilme liefen, die von Luis Buñuel ausgewählt, gemacht oder produziert

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worden waren. Die Teilnahme von Joan Miró (1893-1983), Alexander Calder (1898-
1976), Julio González (1876-1942), Pablo Picasso (1881-1973) und zahlreichen
weiteren Künstler*innen und Intellektuellen sollte die Aufmerksamkeit des Publikums
und der Kritiker*innen sicherstellen. Diese Aufmerksamkeit war für die Regierung von
zentraler Bedeutung, da sie in ihrem Kampf gegen den Faschismus um internationale
Solidarität bemüht war.

Anonym
Wild Architect (Wilder Architekt), 2016
Digitale Ein-Kanal Videoinstallation, schwarz-weiß / Single-channel digital video
installation, black-and-white, 15’
Französisch mit englischen Untertiteln / French spoken, subtitled in English

Zu Beginn seiner Laufbahn war Asger Jorn Assistent des französischen Architekten Le
Corbusier. Der Film Wild Architect gewährt Einblicke in ihre später ganz
unterschiedlichen Wege. Es handelt sich um einen an den Künstler adressierten
Videobrief, vorgetragen von einer anonymen Frauenstimme, die Französisch mit
ausländischem Akzent spricht. Es geht in dem Brief um eine Sammlung von 16-mm-
Filmen, die Jorn vermutlich in den 1960er-Jahren im Atelier der Frau zurückgelassen
hat. Sie glaubt, dass sich auf diesen Filmrollen auch Sequenzen finden, die von Le
Corbusier in den späten 1930ern aufgenommene Bilder zeigen. Mit 24
Bildern/Sekunde abgespielt, ist jede einzelne Aufnahme gleichzeitig aufschlussreich
und undurchschaubar. Die Erzählerin berichtet, Jorn sei stolz auf diese Filmrollen
gewesen, weil sie von einer „synthetischen“ Art zu sehen zeugten, das über den
Funktionalismus hinausging. Durch die Fotografien wird die Reinheit von Le Corbusiers
Rationalismus, den die Situationisten so verachteten, infrage gestellt.

Yochai Avrahami
(*1970 in Afula, lebt in Tel Aviv)

The redeeming wrecks, 2018
Installation mit Videos, Skulpturen, Stichen, Fotografien, Landkarten und
Luftbildaufnahmen

Die nach ihrem Erfinder Uzi Gal benannte Maschinenpistole Uzi wurde 1949 bei den
Israelischen Verteidigungsstreitkräften eingeführt. Bekannt wurde sie vor allem durch
ihren Einsatz in der Suezkrise und im Sechstagekrieg, wo sie von Fallschirmjäger- und
Kommandoeinheiten genutzt wurde. Bis in die 1970er-Jahre wurde die Uzi
hauptsächlich von der israelischen Armee verwendet, wo sie sich einen Ruf als
zuverlässige, kompakte und unkomplizierte Waffe erwarb. Dank dieser Eigenschaften
fand sie zunehmend Verbreitung in Militär-, Polizei- und Antiterroreinheiten auf der
ganzen Welt, und auch terroristische und kriminelle Organisationen erkannten bald
ihre Vorzüge. So wurde die Uzi zum Symbol für die israelische Rüstungsindustrie und
taucht in vielen amerikanischen Filmproduktionen auf.

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Uzi Gal, alias Uziel, alias Gotthard Glas, war der Sohn von Eri Glas, alias Erich Glas,
einem Offizier der preußischen Armee und Luftfotografem während des Ersten
Weltkriegs, der am Bauhaus studiert und mit seiner ersten Frau Maria in Weimar
gelebt hatte. Uzi wuchs bei seiner Mutter in einem Haus auf, das neben dem
Bauhausschen Haus am Horn lag, nachdem Erich sie verlassen und nach Palästina
gegangen war, nicht ohne dem Sohn die modernistischen Gene zu vererben.

Yochai Avrahami konstruiert eine historische Erzählung, die wahr sein könnte oder
auch nicht, indem er eine Auswahl von Fakten, Eindrücken und Ansichten
zusammenfügt, die auf Menschen zurückgehen, die in verschiedenen Abschnitten
von Uzi Gals Leben eine Rolle spielten. Er begibt sich an Orte in Deutschland und
Israel, um dort in Archiven zu forschen. Er studiert Stiche von Gals Vater , außerdem
alte Familienfotos, Landkarten und Luftbildaufnahmen. Aus den diversen
Versatzstücken – Berichten von Orten und Menschen – entsteht so eine
fragmentarische Geschichte, die mal auf historischen Fakten zu beruhen scheint, mal
subjektiv und konfus wirkt. Ob es um das Leben der Juden in Deutschland vor der
Machtergreifung der Nazis, das Kibbuzleben in dieser Zeit, das Verhältnis von in Israel
geborenen Juden zu aus Nazi-Europa geflohenen Juden, das Wissen um den
Holocaust oder seine Leugnung in Europa geht – all dies wird in Fragmenten
aufgegriffen und kurz angeschnitten. Weiterhin spielen Architektur, Design und Kunst
der Zeit eine zentrale Rolle und dienen als assoziatives Bindeglied zwischen den
Sphären von Kunst und Krieg.
Avrahami nähert sich politischen Fragestellungen, indem er Narrationen konstruiert
und dekonstruiert und zwischen verschiedenen Zeitebenen wechselt. Er wählt
bewusst eine nicht-künstlerische Sprache, um den Eindruck historischer
Glaubwürdigkeit zu unterstreichen und Realität und Fantasie verschmelzen zu lassen.
Auf diesem Wege untersucht er die zahlreichen, miteinander verflochtenen Ebenen
dessen, was im nationalen historischen Narrativ als objektive Wahrheit
wahrgenommen wird. (Yochai Avrahami)

John Barker / László Vancsa
(L.V.:*1981 in Targu Mures, lebt / lives in Wien / Vienna)
(J.B.:*1948 in London, lebt / lives in London)

Consequences (Folgen), 2018
Video, schwarz-weiß, Ton (nacheinander englisch und deutsch)

In dem Film Consequences wird ein nicht namentlich genannter alter Mann
interviewt. Es geht um die wichtigsten Akteure des Bauhauses, um das, was ihm von
ihnen in Erinnerung geblieben ist. Dabei ist das, was der Zuschauer sieht, identisch mit
dem, was er von seinem Fenster aus sieht. Dort ist es abwechselnd hell und dunkel,
Krähen fliegen in ein Schneegestöber und wieder heraus – Geschichte in Schwarz-
Weiß. Passend dazu hat die Sicht des alten Mannes auf die Männer kaum etwas mit
dem Wunschbild zu tun, das die Sozialdemokraten in der Weimarer Republik von
ihnen zeichneten, sondern er betrachtet sie als elitäre Befürworter einer gefährlichen
Mischung aus Wissenschaftsmanagement, Kriegstechnologie und archaischen

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Vorstellungen von einer organischen, konfliktfreien Gesellschaft, in der der Architekt
Gott spielt und über eine männlich dominierte Welt herrscht. (John Barker)

Yvonne P. Doderer
(*1959 in Stuttgart, lebt in Stuttgart)

Der Garten des Herrn S., 2018
Installation

Die Installation verweist auf den Garten bzw. die „Parklandschaft“, die Albert Speer
während der Verbüßung seiner 20-jährigen Gefängnisstrafe im Spandauer Gefängnis
anlegte. In dieser Gartenanlage drehte er seine Runden: Er zählte Kilometer um
Kilometer und stellte sich vor, er würde von Stadt zu Stadt und um die Welt laufen.
Jahrzehntelang galt Albert Speer als der „gute Nazi“, da es ihm gelang, sich als
Architekt und Technokrat zu inszenieren, der mit den rassistisch-antisemitischen
Ideologien und mit den verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw.
Menschheit (Hannah Arendt) während des Nationalsozialismus kaum etwas zu tun
hatte.
Erst die jüngsten Forschungen zu Albert Speer zeigen das ganze Ausmaß der
Täuschungen, die Speer bewusst und strategisch einsetzte, um sich zu entlasten.
Speer steht damit auch stellvertretend für eine Haltung, die sich den politischen,
gesellschaftlichen und ethischen Dimensionen gestalterischen Tuns entzieht. (Yvonne
P. Doderer)

In/Visible, 2018
Zeichnung auf Tafelfolie,

Im Auftrag des Schocken-Konzerns der Brüder Simon und Salman Schocken entwarf
und baute Erich Mendelsohn, einer der bedeutendsten Architekten seiner Zeit, von
1926 bis 1928 auch in Stuttgart ein „Kaufhaus Schocken“.
Das Gebäude überstand die Bombardements des Zweiten Weltkriegs relativ
unbeschadet. Dennoch wurde es 1960 nach seiner Instandsetzung ungeachtet aller
nationalen und internationalen Proteste abgerissen. An diesem Ort realisierte Egon
Eiermann dann für den „Kaufhaus-Milliardär“ Helmut Horten einen bis heute
existierenden Neubau.
Die Arbeit folgt den Spuren und Verflechtungen, die sich in der Auseinandersetzung
mit der Historie dieses Gebäudes nachzeichnen lassen. (Yvonne P. Doderer)

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Ines Doujak
(*1959 in Klagenfurt, lebt und arbeitet in Wien)

Bauhütte (Keine Angst vor Höhe; Nimm sie dir), 2018
Skulptur aus Pappkarton,
Courtesy: Ines Doujak

Der von Stalin in Auftrag gegebene Palast der Sowjets sollte das höchste Gebäude
seiner Zeit werden, basierend auf einem Wettbewerb, an dem unter anderem Walter
Gropius, Le Corbusier und Erich Mendelsohn teilgenommen hatten. Der von Boris
Iofan im neoklassizistischen Stil entworfene Bau wurde 1941 durch den deutschen
Überfall auf die Sowjetunion gestoppt und nie fertiggestellt. Sein Sockel im Zentrum
Moskaus diente als Freibad.
Diese Rekonstruktion verwendet Kartonverpackungen: all die bunten Überreste der
modernen Konsumgesellschaft als Folge des für die Moderne so zentralen Designs.
Die Figur Lenins als glühender Verfechters des Produktivismus hätte auf dem
Gebäude stehen und ewig in die Zukunft blicken sollen. Hier wird sie durch einen
Astronauten ersetzt, der auf eine Zukunft jenseits der verbrauchten Erde blickt. Der
einstige heroische Traum von einem Gebäudes wird von einem Zug angegriffen,
jenem Vehikel, das die modernistischen Bolschewiki so sehr liebten. Er ist beladen mit
Containern, in denen Rohstoffe und Waren um die Erde kreisen, und erinnert an die
Zeiten, da die Hüter der Menschheit der Technologie verfielen und das Flugzeug der
globalisierten Welt zur Kriegsmaschine machten. (Ines Doujak)

Alexander Kluge
(*1932 in Halberstadt, lebt und arbeitet in München)

Elementare Verhältnisse nach Marx
In seinem Tiergarten („teargarden“) der 280 Arten des Kapitalismus (13 Arten sind
ausgestorben), den der Heimatforscher Fred Tacke, früher Kreissekretär einer
sozialistischen Partei, in einer der Höhlen der Spiegelsberge bei Halberstadt
eingerichtet hat, ist ein Spezialkabinett den Begriffen fest, flüssig und matschig
gewidmet, angewendet auf die Kategorien Ware, Geld, Eigentum und
Produktionsverhältnis. Frisches Geld, so Tacke, ist stets flüssig. In einer Sparbüchse
verwahrt, wird es nach längerer Zeit zu fester Materie. Gespartes wird am Ende,
staatlich angeeignet, zu Eisen, das auf den Feind gefeuert wird, den es doch nach
solcher Ware nicht verlangt.
Inwiefern bildet Geld, fragt Tacke, einen bebaubaren Boden? Kann man auf Geld
Häuser errichten? Nein, heißt die Antwort. Geld braucht den Kontakt zur Materie, wie
ein 3-D-Drucker Stoff braucht. Dies in zweierlei Gestalt, nämlich als lebendige Arbeit
und als Ding. Mit inadäquater Materie fest verknüpft, wird Geld zu Sumpf. (Es versinkt
in Börsentiefe, so Tacke, und kann sich doch aus der Knetmasse der Investition nicht
herausziehen, weil Geld keinen Zopf hat.)

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„Die Spanne eines normalen glücklichen Lebens fällt kürzer aus als die Zeit, die man
braucht, Zeitzeuge zu werden“
Von der Sekretärin Lenins, die im November 1917 im Smolny für ihn die Nächte
hindurch arbeitete, weiß man, dass sie sich später, als sie ihre Erlebnisse ihrer Tochter,
die nachfragte, wiedergeben wollte, sich als eine unzuverlässige Beobachterin
erwies. Sie hatte gearbeitet, war ein schlechter Zeitzeuge. Sie war mit den Tasten
ihrer Maschine beschäftigt gewesen. Wer war noch im Raum? Weiß sie nicht.
Erst in der siebenten Generation nach jener der Revolutionäre, kommentierte der
Genosse Tretjakow diese Beobachtung, wird man einen Menschentyp haben, der
gleichzeitig Produzent und Beobachter seines Lebens sein wird. Sieben
Generationen, das sind zweieindrittel Menschenalter (lifetimes). Vorausgesetzt, dass
die Revolution für diesen Zeitraum andauert und die nötigen Ausbildungsschritte
auch tatsächlich vorgenommen werden. Mit Schärfung einzelner Sinne des
Gedächtnisses oder mit Arbeitsteilung ist die Frage nicht zu lösen.
Die Augen der Sekretärin Lenins lagen, wie gesagt, auf den Schriftstücken und auf
den Tasten ihrer Schreibmaschine, auch streiften ihre Augen die um zwei Uhr früh
müden Gesichtszüge des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare. Sie überlegte,
ob sie ihm ein Glas Wasser anbieten solle. Die Ohren geschlossen (obwohl die keine
Lider haben), damit sie nicht abgelenkt wird, dass sie sich nicht verschreibt.

Mona Mahall / Asli Serbest
(leben / live in Berlin)

Self-cleaning Futures: A Feminist Spatial Agenda (Selbstreinigende Zukünfte: Ein
feministisches Raumprogramm), 2018
Collage: Rendering der Hochhausstadt von Ludwig Hilberseimer (1924), Fotografie
des Braut-Hauses von 1956 von House Beautiful, Zeichnungen

Aus den USA kehrte das Bauhaus nicht nur als neuer Stil und neue Tradition zurück,
die seine Identifikation mit dem freien und demokratischen kapitalistischen Westen
gegenüber einem kommunistischen Osten erlaubte. Das Bauhaus symbolisierte auch
die räumliche Matrix einer recycelten Militärtechnologie, durch die sich der
expandierende Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg global ausdehnen konnte.
Es trug zur Formung eines techno-politischen Nachkriegsraums bei, der Fortschritt
verkörperte und gleichzeitig von der kompletten Zerstörung durch einen nächsten
globalen Krieg bedroht war.
Während dieser Zeit des Kalten Krieges entwarfen die britischen Architekten Alison
und Peter Smithson das House of the Future (1956) als Plastikvision und
Luftschutzbunker zugleich. Archigram entwickelte mit dem Projekt Instant City (1964-
70) einen großen Zeppelin, der abgelegene Orte aufsuchen und bespielen konnte.
Die Neo-Avantgarde-Gruppe war zwar von Popkultur und Massenmedien beeinflusst,
blieb jedoch in ihrem technokratischen Optimismus unpolitisch. Sie ignorierte nicht
nur zeitgenössische Ideen zu Feminismus und Ökologie, sondern kultivierte zudem
den Machismo der heroischen Moderne. Diese Haltung forderte letztendlich die
amerikanische Künstlerin und Erfinderin Francis Gabe mit ihrer Vision für das Self-

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Cleaning House (1979-2007) heraus. Angelehnt an den modernistischen
Küchenentwurf (1926) der Kommunistin und Aktivistin Margarete Schütte-Lihotzky,
zeigt das komplexe Projekt eine feministische Aneignung von Technologie, die der
Erfinderin sogar ein Patent einbrachte.
Während die Bauhaus-Ausstellung von 1968 die Neo-Avantgarde schlicht ignorierte
und ein intaktes Bild der klassischen Moderne zeichnete, klammerte sie Architektur als
Modus sozialen und politischen Engagements mit feministischer Agenda aktiv aus.
Die Installation will diese Lücken und Ausschlüsse füllen, indem sie eine
fragmentarische Sammlung von Plänen, Bildern, Modellen und Programmen
feministischer Visionen zusammenbringt. (Mona Mahall / Asli Serbest)

Kaiwan Mehta
(*1975 in Mumbai, lebt in Mumbai)

A view from Ornament: Design Debates on Indianness (Ansichten vom Ornament:
Designdebatten über Indian-ness)
Präsentation mit Werken von: Jitish Kallat, Madhav Raman, Annapurna Garimella,
Rooshad Shroff, Abin Chaudhury, Rahul Mehrotra, Atul Dodiya, Revathi Kamat,
Shimul Javeri Kadri, Ambrish Arora, Akshat Bhat

Das Bauhaus war als Design-Ideologie und pädagogisches Konzept
ausschlaggebend für viele Debatten und Entwicklungen in Europa. Doch die Schule
und das Konzept entstanden in einer Zeit, da die europäischen Kolonialmächte
weite Teile der Welt unterworfen hatten. Indien als eine der größten britischen
Kolonien hat eine enge Verbindung zu Europa: bedingt durch Kolonialwirtschaft,
akademische Orientalistik-Studien und ein besonderes Interesse der Europäer*innen
an indischer Kultur, Zivilisation und Geschichte. Die materielle Praxis, die dieses
wirtschaftliche und kulturelle Interesse bedingt hat, lässt sich anhand der Geschichte
des Designs in Indien beschreiben. Diese Geschichte setzt in einem kolonialen
Moment ein, in welchem eine reale und eine imaginierte Vergangenheit in die
zeitgenössische Erfahrung einstürzen: manifest in den Debatten der Arts-and-Crafts-
Bewegung, in den Auseinandersetzungen zwischen den dekorativen und schönen
Künsten, dem Handwerk und der industriellen Produktion sowie in den asiatischen
und westlichen Vorstellungen von Indian-ness .
Da die indische Zivilisation durch eine nationalistisch motivierte Befreiungsbewegung
sowie den Nationalismus der jungen, unabhängigen Nation geprägt wurde, wurden
einige Auseinandersetzungen mit besonderer Härte geführt und überdeckten eine
Reihe neuer Praktiken und Dispute bzw. älterer Dispute in neuem Gewand.
In diesem Teil der Ausstellung geht es um die Design-Ausbildung im kolonialen und
unabhängigen Indien sowie um einige historische Debatten, die zwischen der
Ausstellung im Londoner Crystal Palace 1851 und den Festival-of-India-Design-
Ausstellungen in den 1980er-Jahren geführt wurden. Darüber hinaus werden einige
Theoretiker*innen und Kreative vorgestellt, die diese Debatten durch ihre Texte,
Gebäude, Möbel und Stoffe prägten. (Kaiwan Mehta)

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Mateusz Okoński
(*1985 in Krakau, lebt und arbeitet in Krakau)

Pasiak, 2018
Kinetische Skulptur aus Stoff / Kinetic sculpture made of fabric

Pasiak ist ein Objekt aus gestreiftem Stoff. Auf Polnisch bezeichnet pasiak einen
volkstümlichem Stoff, der typisch für die Regionen Großpolen, Masowien, Podlachien
und Schlesien ist. Der Name bezieht sich auf den Stoff und sein Muster: vertikale,
farbenfrohe, helle Streifen. Die Skulptur Pasiak besteht aus Stoffen, die in der
Nachkriegszeit gefertigt wurden und durch das traditionelle volkstümliche
Kunsthandwerk inspiriert sind. Die pasiak-Muster und -Stoffe erhielten die Weber vom
Zentralbüro für Volkskunst und Kunsthandwerk „Cepelia“, einer 1949 in der
Volksrepublik Polen gegründeten staatlichen Kooperative. Diese zentralisierte
Institution für die Produktion von Kunsthandwerk koordinierte nicht nur die lokale
Handwerkerschaft, sondern verfügte auch über das Monopol für den Verkauf ihrer
Arbeiten in ganz Polen – und damit einem Land, das nach dem Willen von
Kulturpolitik und Propaganda der Nachkriegszeit zum „Land der Folklore“ werden
sollte. Auf diese Weise wollte man in der Volksrepublik Volkskunst und Folklore
würdigen.
Erstaunlicherweise aber lässt das Wort pasiak (sofern es nicht wie oben erklärt wird)
nicht nur an volkstümliches polnisches Kunstgewerbe denken, sondern auch an
textiles Kunsthandwerk der amerikanischen Ureinwohner. In diesem Sinne ist die
Arbeit eine Art Ur-amerikanisch-slawisches Totem, das noch vor 50 Jahren ebenso
von einer anthropologischen Expedition in den Anden wie von polnischen
Ethnografen bei Untersuchungen in Dörfern in der Gegend von Łódź oder Warschau
hätte entdeckt werden können.
Es war vermutlich Friedrich der Große, der die Polen als Erster als die amerikanischen
Ureinwohner von Europa bezeichnete. Polen wurde im 18. Jahrhundert von Preußen
annektiert und von Friedrich – aufgrund der vermeintlichen Wildheit und Primitivität
der lokalen „Irokesen“ – zum einen als ideales koloniales Terrain, zum anderen für so
zurückgeblieben und unterentwickelt befunden, dass man es kaum würde
modernisieren können. In diesem Kontext ist pasiak ein Symbol für die
Zurückgebliebenheit nicht-europäischer Stammesgesellschaften. Um zivilisiert und
modern zu werden, muss man es hinter sich lassen.
Gleichzeitig ist pasiak ein oktroyiertes Symbol kolonialer und aufgeklärter Hegemonie
sowie subalterner Unterwerfung. Aus diesem Grund bleibt die Skulptur formal so nah
am Turm des Feuers (1920) von Johannes Itten, einem Schweizer Künstler und
Theoretiker aus der Bauhaus-Gemeinde. Seine architektonische Skulptur reiht sich ein
in die vielen Versuche des Bauhauses, Natur und Symbolik der Farben zu begreifen.
Diese wissenschaftliche und rationale Annäherung an die Farbe sollte das Bauhaus
überdauern und schon bald dem Wahnsinn des aufgeklärten Geistes das Wort
geben. In den Konzentrationslagern der Nazis mussten die Häftlinge gestreifte
Uniformen mit farbigen Aufnähern tragen, die Auskunft über die unterschiedlichen
Häftlingskategorien gaben. Auf Polnisch bezeichnet man die gestreiften Anzüge der
Häftlinge ebenfalls als pasiak. (Mateusz Okoński)
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David Riff / Dmitry Gutov
(*1973, lebt und arbeitet in Moskau und Berlin / *1960 in Moskau, lebt und arbeitet in
Moskau)

Relativism is Dialectics for Idiots (Relativismus ist Dialektik für Idiot*innen), 2018
Installation mit Holzdisplay

Gegenstand dieser Installation sind die Debatten und Auseinandersetzungen an der
legendären Kunsthochschule Wchutemas aus Sicht des Philosophen Michail Lifschitz
(1905–1983), der an der bisweilen als „sowjetisches Bauhaus“ bezeichneten Institution
sowohl studierte als auch lehrte. Lifschitz war aus dem provinziellen Süden der
Ukraine nach Moskau gekommen, um Kunst zu studieren, und schrieb sich an der
1919 als kombinierte Werkstattschule für Malerei, Architektur, Design und Grafikdesign
gegründeten Wchutemas ein. Lifschitz erlebte seinerzeit ganz unmittelbar die
Konflikte und Krisen der verschiedenen konkurrierenden modernistischen
Bewegungen an der Hochschule und wurde dort 1925 als Lehrer für marxistische
Theorie verpflichtet. Nachdem er mit den unterschiedlichen Vorstellungen über die
Rolle der Revolution in der Kunst Bekanntschaft gemacht hatte, entwickelte er schon
bald einen ganz eigenen Standpunkt. Die Revolution sollte die Kunst weder ins
Mittelalter zurückversetzen noch zu deren Auflösung im Zuge einer technologischen
und gesellschaftlichen Erneuerung führen, sondern Auslöser einer neuen Renaissance
sein. Nach seiner Auffassung war es längst an der Zeit, sich der großen kulturellen
Errungenschaften zu bemächtigen. „Relativismus ist Dialektik für Idiot*innen”,
konstatierte er seinerzeit. Lifschitz setzte damit eine Diskussion fort, die W. I. Lenin 1921
im Zuge einer Diskussion mit Studierenden der Wchutemas über Futurismus
angestoßen hatte. Fundamentaler noch war für seine Reflexionen die
Neuinterpretation der Marxschen Theorien zur Ästhetik, die Lifschitz als einer der
Ersten ernsthaft würdigte.
Die Installation der Künstler Dmitri Gutow und David Riff ist Fortsetzung ihrer
Auseinandersetzung mit Lifschitz und seinem geschichtlichen Umfeld. Unvollendete
Rekonstruktionen umfänglicher Studien füllen den Raum, dazu gesellen sich
Stehpulte mit Skizzenbüchern, die mit ihren Bildern und passenden Zitaten unter
anderem auf Lifschitz‘ kritische Auseinandersetzung mit der Wchutemas, dem
Bauhaus und der Avantgarde Bezug nehmen.
Sie sind angeordnet um die Nachbildung einer Renaissance-Schreibstube nach dem
Vorbild des Gemäldes Der heilige Hieronymus im Gehäuse von Antonello da Messina
aus dem 15. Jahrhundert, wo die Besucher*innen deutsche Übersetzungen von
Lifschitz’ Büchern einsehen können. Weiterhin laufen auf einem Monitor Ausschnitte
der in Vergessenheit geratenen Mini-TV-Reihe „Strokes Toward a Portrait of Lenin“
(1967), in der berühmte sowjetische Schauspieler*innen der 1960er- und 1970er-Jahre
Kunststudent*innen im Gespräch mit dem Sowjet-Führer darstellen.
Auf der Rückwand der Schreibstube und den angrenzenden Wänden wird die
Geschichte von Lifschitz‘ dramatischem Ausscheiden aus der Kunsthochschule 1929
dokumentiert. Lifschitz‘ Forderung nach einer Rückbesinnung auf Renaissance-
Traditionen passte nicht zur militanten kommunistischen Parteilinie jener Jahre, und er
wurde als rechter Abweichler gebrandmarkt. (Dmitri Gutow /David Riff)

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