Aporien atomarer Abschreckung - SWP-Studie Peter Rudolf
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SWP-Studie Peter Rudolf Aporien atomarer Abschreckung Zur US-Nukleardoktrin und ihren Problemen Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 15 Juli 2018
Kurzfassung Die nukleare Abschreckung ist wieder da. Gewiss, fort war sie nie, doch in den Hintergrund gerückt – und zumindest in Deutschland im Laufe der letzten Jahrzehnte aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden und kein großes Thema politischer Debatten. Das dürfte sich ändern. Die Hoff- nung, das Abschreckungssystem durch atomare Abrüstung zu überwinden, hat getrogen. Nukleare Abschreckung gewinnt in der Ära beginnender Großmachtkonflikte neue Bedeutung. Die Rüstungskontrolle stagniert, ja erodiert. Der über 30 Jahre alte Vertrag über das Verbot bodengestützter Mittelstreckenraketen ist in Gefahr. Die Modernisierung der Kernwaffen- arsenale geht voran. Deutschland ist über die Nato und die nukleare Teilhabe in das nukleare Abschreckungssystem eingebunden. Zur nuklearen Teilhabe gehört bis dato die Fähigkeit zum Einsatz der in Deutschland gelagerten amerikanischen Atombomben. Dafür sorgen bislang atomwaffenfähige Tornado-Jagdbomber, die jedoch in absehbarer Zeit ersetzt werden sollen. Vor diesem Hintergrund ist ein Rückblick und Ausblick auf die nukleare Abschreckung und ihre strategischen, rechtlichen, ethischen und politi- schen Probleme angebracht. Der Blick richtet sich auf die amerikanische Abschreckungspolitik und ihre Rolle im westlichen Bündnis. Mit dieser Analyse atomarer Abschreckung und ihrer Aporien soll Orientierungswissen für die sich abzeichnende neue Nukleardebatte vermittelt werden.
SWP-Studie Peter Rudolf Aporien atomarer Abschreckung Zur US-Nukleardoktrin und ihren Problemen Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 15 Juli 2018
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Inhalt 5 Problemstellung und Schlussfolgerungen 7 Erweiterte Abschreckung und US-Nukleardoktrin 12 Die strategische Dimension: Logik und Unlogik der Counterforce-Abschreckung 17 Die rechtliche Dimension: Begründungsansätze und ihre Probleme 21 Die ethische Dimension: Legitimationsansätze und ihre Widersprüche 25 Die politische Dimension: Risiken und Kosten des Abschreckungssystems 29 Fazit
Dr. Peter Rudolf ist Senior Fellow in der Forschungs- gruppe Amerika
Problemstellung und Schlussfolgerungen Aporien atomarer Abschreckung. Zur US-Nukleardoktrin und ihren Problemen Die nukleare Abschreckung ist wieder da. Gewiss, fort war sie nie, doch in den Hintergrund gerückt – und zumindest in Deutschland im Laufe der letzten Jahrzehnte aus dem öffentlichen Bewusstsein ver- schwunden und kein großes Thema politischer De- batten. Das dürfte sich ändern. Die Hoffnung, das Abschreckungssystem durch atomare Abrüstung zu überwinden, hat getrogen. Nukleare Abschreckung gewinnt in der Ära beginnender Großmachtkonflikte neue Bedeutung. Die Rüstungskontrolle stagniert, ja erodiert. Der über 30 Jahre alte Vertrag über das Verbot bodengestützter Mittelstreckenraketen ist in Gefahr. Die Modernisierung der Kernwaffenarsenale geht voran. Deutschland ist über die Nato und die nukleare Teilhabe in das nukleare Abschreckungs- system eingebunden. Dazu heißt es im Koalitionsver- trag von 2018: »Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im Strategischen Konzept der Nato eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungspro- zessen teilzuhaben.« Zur nuklearen Teilhabe gehört bis dato die Fähigkeit zum Einsatz der in Deutschland gelagerten amerikanischen Atombomben. Dafür sor- gen bislang atomwaffenfähige Tornado-Jagdbomber, die jedoch in absehbarer Zeit ersetzt werden sollen. Vor diesem Hintergrund ist ein Rückblick und Ausblick auf die nukleare Abschreckung und ihre strategischen, rechtlichen, ethischen und politischen Probleme angebracht. Der Blick richtet sich auf die amerikanische Abschreckungspolitik und ihre Rolle im westlichen Bündnis. Mit dieser Analyse atomarer Abschreckung und ihrer Aporien soll Orientierungs- wissen für die sich abzeichnende neue Nukleardebat- te vermittelt werden. Im Rahmen der »erweiterten Abschreckung« haben amerikanische Kernwaffen die Funktion, mögliche Aggressoren vor Angriffen auf verbündete Staaten abzuschrecken. Das Problem, diese Funktion unter den Bedingungen wechselseitiger atomarer Vernich- tungsfähigkeit glaubwürdig zu erfüllen, hat die ame- rikanische Nukleardoktrin sowohl auf deklaratori- scher als auch auf operativer Ebene geprägt. Abschre- ckung im amerikanischen Verständnis beruht auf der SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 5
Problemstellung und Schlussfolgerungen Fähigkeit, über vielfältige, abgestuft einsetzbare nu- Counterforce-Strategien sollen einen Ausweg aus kleare Optionen zu verfügen, die sich in erster Linie dem moralischen Dilemma nuklearer Abschreckung gegen die militärischen Fähigkeiten eines potentiellen eröffnen. Der grundsätzliche Einwand, so wird be- Gegners richten. Mit dieser Counterforce-Orientierung hauptet, verliere seine Gültigkeit, wenn Atomwaffen soll die Glaubwürdigkeit der Abschreckungsdrohung so eingesetzt werden können, dass Zivilisten nicht erhöht und im Falle eines Krieges der Schaden für die mit Absicht angegriffen werden und Abschreckung USA und Verbündete begrenzt werden. die gegnerische Bevölkerung nicht als Geisel nimmt. Aus der strategischen Logik einer so verstandenen Doch diese Argumentation ist widersprüchlich: Einer- Abschreckung folgt die Notwendigkeit, für möglichst seits wird der einzigartige Charakter atomarer Waffen alle Szenarien Optionen an der Hand zu haben, die bestritten, wenn die Möglichkeit ihres ethisch und denen des Gegners entsprechen. In einem Konflikt humanitär-völkerrechtlich zu rechtfertigenden Ein- soll die eigene Handlungsmöglichkeit erweitert und satzes behauptet wird. Andererseits heißt es, nukleare der Gegenseite die Bürde weiterer Eskalation auferlegt Abschreckung funktioniere, weil sie auf dem Risiko werden. Dieser Logik zufolge, die sich in der jüngsten unkontrollierbarer Eskalation und unkalkulierbarer Überprüfung und Darlegung der amerikanischen Nu- Kosten beruhe. Nicht minder inkohärent ist die so- kleardoktrin, der Nuclear Posture Review vom Febru- genannte interimsethische Position, die sich im Zuge ar 2018, widerspiegelt, benötigen die USA eine Band- der letzten breiten öffentlichen nuklearethischen breite möglichst kontrolliert einsetzbarer atomarer Debatte in den frühen 1980er Jahren, hauptsächlich Optionen, darunter vor allem Kernwaffen geringerer in den großen Kirchen, herausgebildet hatte. Danach Sprengkraft. Die Hoffnung ist, dass so in einem Krieg sei es möglich, zwischen der Abschreckungsdrohung die nukleare Eskalation kontrollierbar bleibt. Schon und dem Einsatz von Kernwaffen zu trennen. Eine zu Zeiten des Ost-West-Konflikts erwies sich die Be- Drohung mit dem alleinigen Ziel der Kriegsverhütung grenzbarkeit und Beendigung eines nuklear geführ- galt im Sinn einer Notstandsethik als bedingt hin- ten Krieges als Problem, auf das die amerikanischen nehmbar, der Einsatz von Atomwaffen indes fast Planer nur eine Antwort hatten: möglichst viele flexi- immer als verboten. ble Optionen, darunter auch die Fähigkeit zu Prä- Unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts war emptivschlägen gegen die gegnerischen Atomwaffen. die Erwartung verbreitet, dass die auf der wechsel- Durch das Zusammenwirken zielgenauer atomarer seitigen Vernichtungsfähigkeit beruhende nukleare und konventioneller Waffen sowie durch Fortschritte Abschreckung dauerhaft einen Krieg verhindern bei der Bekämpfung von strategischen U-Booten und könne. Zweifellos wirkte die wechselseitige Verwund- Cyberwarfare haben sich die Möglichkeiten, gegne- barkeit in Krisen mäßigend auf die Staatsführungen rische Kernwaffen zu neutralisieren, derart erweitert, in Washington und Moskau. Doch die Abschreckungs- dass in der amerikanischen Diskussion von der beziehung zwischen den USA und der Sowjetunion »Counterforce Revolution« gesprochen wird. blieb von Instabilitätsrisiken belastet. Beide Seiten Die am Counterforce-Ansatz orientierte Zielplanung fürchteten, die andere könnte in einer ernsten Krise soll den Einsatz von Atomwaffen in einer Weise den Präemptivschlag erwägen. Aufgrund von Fort- ermöglichen, die grundlegenden Normen des huma- schritten bei der Cyber-Kriegsführung, aber auch bei nitären Völkerrechts nicht widerspricht, also dem weitreichenden zielgenauen konventionellen Waffen, Unterscheidungs- und dem Verhältnismäßigkeitsge- Anti-Satelliten-Waffen, der (amerikanischen) Raketen- bot genügt. Rechtmäßig ist nukleare Abschreckung verteidigung und autonomen Waffensystemen könn- aus dieser Sicht dann, wenn ein rechtskonformer te die strategische Stabilität in Zukunft eher noch Einsatz möglich ist. Ein solcher Legitimierungsansatz gefährdeter sein. Zu rechnen ist auch mit einer weite- stellt darauf ab, dass Atomwaffen kleinerer Spreng- ren, aus der Zeit des Ost-West-Antagonismus bekann- kraft zielgenau gegen militärische Objekte eingesetzt ten Entwicklung, nämlich dass sich das Sicherheits- werden können. Der Begriff »militärisches Objekt« dilemma verschärft und die Rüstungskonkurrenz wird aber in einem sehr weiten, völkerrechtlich strit- angeheizt wird. Denn Abschreckung setzt die Aggres- tigen Sinne verwandt. Unkontrollierbare Folgen von sivität des potentiellen Gegners voraus. Solange er Atomwaffeneinsätzen, das heißt radioaktiver Fallout über militärische Fähigkeiten verfügt, die in einer und Strahlung, bleiben in diesem Rechtfertigungs- Worst-case-Analyse als bedrohlich erscheinen, bleibt ansatz zudem genauso ausgeblendet wie die kumula- er der potentielle Aggressor, der abgeschreckt werden tiven Wirkungen fortgesetzter »kleinerer« Einsätze. muss. SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 6
Erweiterte Abschreckung und US-Nukleardoktrin Erweiterte Abschreckung und US-Nukleardoktrin Die Nato versteht sich nach wie vor als »nukleares Atomwaffen Gefechtsfeldwaffen kurzer Reichweite Bündnis«. Im Falle einer Bedrohung der fundamen- verstanden, im Unterschied zu strategischen Waffen talen Sicherheit eines Mitgliedstaates besitzt es, wie großer Reichweite. Will man ein einfaches pragmati- etwa im Abschlussdokument des Brüsseler Gipfel- sches Kriterium anwenden, dann lassen sich als takti- treffens vom Juli 2018 zu lesen, die Fähigkeit und die sche oder nichtstrategische Waffen all jene bezeich- Entschlossenheit, einem Gegner inakzeptable Kosten nen, die nicht von den einschlägigen amerikanisch- aufzuerlegen. 1 Besser lässt sich der Gehalt nuklearer sowjetischen und amerikanisch-russischen Verträgen Abschreckung kaum auf den Punkt bringen. Ab- zur Begrenzung der strategischen Atomwaffen (SALT- schreckung soll die Absichten des potentiellen Geg- Verträge, START-Verträge) erfasst wurden. 3 ners, seine Kosten-Nutzen-Kalkulation, beeinflussen; Für die abschreckungspolitische Bedeutung takti- Verteidigung soll im Falle des Versagens der Abschre- scher, auf dem Boden verbündeter Staaten stationier- ckung die eigenen Kosten und Risiken begrenzen. ter Kernwaffen werden üblicherweise drei Gründe Im Kontext nuklearer Abschreckung dienen Kern- angeführt. 4 Erstens können sie möglicherweise im waffen dazu, dem Gegner die Möglichkeit einer relativ Sinne der »Abschreckung durch Erfolgsverweigerung« überschaubaren Kosten-Nutzen-Kalkulation zu ent- (»deterrence by denial«) direkte militärische Funktio- ziehen und die Ungewissheit über die Gesamtkosten nen haben. 5 Zweitens erhöhen sie das Risiko unkon- einer Aggression zu erhöhen. 2 trollierbarer Eskalation. Dies entspricht der Logik der Diese Funktion, nämlich die Folgen einer Aggres- Abschreckung als »Wettstreit in der Risikobereitschaft« sion unkalkulierbar und inakzeptabel zu machen, (»competition in risk taking«). In diesem Verständnis erfüllen im Rahmen der sogenannten erweiterten geht es nicht so sehr um militärische Erfolge auf dem Abschreckung vor allem die amerikanischen Atom- Schlachtfeld, sondern um die Entschlossenheit, Risi- waffen. Deren Aufgabe beschränkt sich also nicht ken einzugehen und sich in einen Prozess zu be- darauf, einen Aggressor vor einem Angriff auf die geben, der nicht zu beherrschen ist und am Ende zu USA abzuschrecken. Auch Angriffe auf verbündete hohen Kosten führen könnte, was wiederum keine Staaten sollen auf diese Weise verhindert werden, nicht nur in Europa, sondern auch in Asien. Die 3 Siehe Amy F. Woolf, Nonstrategic Nuclear Weapons, Wash- Abschreckungsdrohung stützt sich in letzter Instanz ington, D.C.: Congressional Research Service (CRS), 21.2.2017 auf die strategischen Atomwaffen der USA. Allerdings (CRS Report), S. 6ff. ist die Unterscheidung zwischen strategischen und 4 Zum Folgenden siehe Todd S. Sechser, »Sharing the Bomb: nichtstrategischen (taktischen) Atomwaffen nicht How Foreign Nuclear Deployments Shape Nonproliferation trennscharf. Traditionell wurden unter taktischen and Deterrence«, in: The Nonproliferation Review, 23 (2016) 3– 4, S. 443–458. 5 Zur Unterscheidung zwischen »deterrence by denial« und 1 Nato, Brussels Summit Declaration. Issued by the Heads of State »deterrence by punishment« siehe Glenn H. Snyder, »Deter- and Government Participating in the Meeting of the North Atlantic rence and Power«, in: Journal of Conflict Resolution, 4 (1960) 2, Council in Brussels, 11-12 July 2018, Brüssel, 11.7.2018. Die For- S. 163–178: »In military affairs deterrence by denial is ac- mulierung entspricht derjenigen früherer Verlautbarungen. complished by having military forces which can block the 2 Die klassische Unterscheidung zwischen Abschreckung enemy’s military forces from making territorial gains. Deter- und Verteidigung findet sich bei Glenn H. Snyder, Deterrence rence by punishment grants him the gain but deters by and Defense: Toward a Theory of National Security, Princeton, NJ: posing the prospect of war costs greater than the value of Princeton University Press, 1961, S. 3ff. the gain.« (S. 163). SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 7
Erweiterte Abschreckung und US-Nukleardoktrin Seite will. Ziel ist also, das gemeinsame Interesse an politischer Druck, daran etwas zu ändern, bestand der Vermeidung eines Atomkrieges zum eigenen Vor- nicht, abgesehen von der versandeten deutschen teil zu manipulieren. 6 Drittens hat die Vornestatio- Initiative in den Jahren 2009/10 zum Abzug der ame- nierung taktischer Nuklearwaffen Signalfunktion rikanischen Atomwaffen aus Deutschland. In der gegenüber einem Gegner. Allianzpolitisch dienen sie Nato wurden Nuklearfragen möglichst ohne große auf diese Weise der Versicherung verbündeter Staaten. öffentliche Aufmerksamkeit behandelt; in den Selbst wenn ihre abschreckungspolitischen Funktio- Gesellschaften der Mitgliedstaaten war die nukleare nen obsolet sein könnten, ließe sich – so eine häufig Abschreckung nach Ende des Ost-West-Konflikts geäußerte Befürchtung – eine Veränderung des kaum mehr ein Thema. 9 Status quo als politisch bedenkliche Botschaft deuten. In Westeuropa wurden taktische Atomwaffen in Die Rolle der erweiterten den 1950er Jahren als Gegengewicht zur konventio- Abschreckung prägte und prägt die nellen Überlegenheit des Warschauer Pakts statio- amerikanische Nukleardoktrin in niert. Für die Nato hat die nukleare Abschreckung hohem Maße. seitdem große politisch-symbolische Bedeutung ge- wonnen. Daran änderte sich auch nichts, als in den Die Rolle der erweiterten Abschreckung prägte und frühen 1990er Jahren die Administration unter dem prägt die amerikanische Nukleardoktrin in hohem Präsidenten George H. W. Bush die taktischen Atom- Maße. Diese zeichnet sich seit mehr als vier Jahrzehn- waffen aus Europa abzog, mit Ausnahme jener 160 ten durch beachtliche Kontinuität aus. Das gilt sowohl bis 200 amerikanischen Atombomben vom Typ B61, für die deklaratorische als auch für die operative die auf Stützpunkten in Belgien, Deutschland, Italien, Nuklearpolitik. Deklaratorische Politik soll potentiel- den Niederlanden und der Türkei stationiert sind. 7 len Gegnern, aber auch verbündeten Staaten die eige- Sie hatten zwar eigentlich keine militärische Funk- nen Fähigkeiten und Absichten vermitteln. Sie soll tion mehr, 8 verkörperten aber weiterhin die ameri- politische und perzeptorische Wirkungen erzielen kanische Nukleargarantie auch in einer Zeit, als die und enthält ein gewisses Maß an Zweideutigkeit, um Bedrohung längst verschwunden und ein wieder- für den Ernstfall die eigene Flexibilität zu erhalten. erstarkendes Russland nur eine ferne Möglichkeit Deklaratorische Politik sollte aber auch nicht zu weit war. Auch wenn in den Jahrzehnten nach Ende der von dem abweichen, was tatsächlich operativ geplant Ost-West-Konfrontation rational wenig für die fort- ist. 10 gesetzte Präsenz taktischer Nuklearwaffen sprach, Die Kontinuität deklaratorischer Politik seit Ende sorgten jedoch ihre symbolische Bedeutung und die des Ost-West-Konflikts gilt in wichtigen Punkten auch auf Konsens ausgerichteten Entscheidungsverfahren für die Amtszeit von Präsident Barack Obama. Dieser der Nato dafür, dass der in den frühen 1990er Jahren machte sich zwar die Vision einer atomwaffenfreien etablierte Status quo fortdauerte. Ein nennenswerter Welt zu eigen und wollte die vertraglich geregelte Abrüstung vorantreiben, aber an den Pfeilern der 6 Thomas C. Schelling, Arms and Influence, New Haven/ London: Yale University Press, 1966, bes. Kap. 3; dazu 9 Trine Flockhart, »NATO’s Nuclear Addiction – 12 Steps besonders Robert Jervis, The Illogic of American Nuclear Strategy, to ›Kick the Habit‹«, in: European Security, 22 (2013) 3, S. 271– Ithaca, NY/London: Cornell University Press, 1984, S. 126– 287. Siehe auch Martin A. Smith, »To Neither Use Them nor 146. Lose Them: NATO and Nuclear Weapons since the Cold 7 Siehe Woolf, Nonstrategic Nuclear Weapons [wie Fn. 3], War«, in: Contemporary Security Policy, 25 (Dezember 2004) 3, S. 13ff. S. 524–544; Michael Paul, Atomare Abrüstung. Probleme, 8 »Given the above-mentioned insight that nuclear weap- Prozesse, Perspektiven, Bonn: Bundeszentrale für politische ons have to be militarily usable (in a plausible manner) in Bildung, 2012 (Schriftenreihe Bd. 1248), S. 39–45. order to have a political deterrence effect, the conceptual 10 So Paul H. Nitze, »Atoms, Strategy and Policy«, in: plausibility of NATO’s nuclear bombs on European soil in Foreign Affairs, (Januar 1956), S. 187–198. Dort findet sich today’s security environment is close to nil.« Karl-Heinz die klassische Unterscheidung zwischen »declaratory policy« Kamp/Robertus C. N. Remkes, »Options for NATO Nuclear und »action policy«, die im heutigen Sprachgebrauch eher Sharing Arrangements«, in: Steve Andreasen/Isabelle als »employment policy« oder »operational policy« bezeich- Williams (Hg.), Reducing Nuclear Risks in Europe. A Framework net wird. Grundsätzlich zum Charakter und der Funktion for Action, Washington, D.C.: Nuclear Threat Initiative, 2011, von »declaratory policy« siehe auch Snyder, Deterrence and S. 76–95 (83). Defense [wie Fn. 2], S. 240f, 246. SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 8
Erweiterte Abschreckung und US-Nukleardoktrin nuklearen Abschreckung rüttelte auch er nicht. 11 So deklaratorischen Nuklearstrategie ist unter Präsident kam es entgegen mancher Erwartung auch unter Trump, das zu den »extremen Bedingungen« auch Präsident Obama in der deklaratorischen Politik nicht »bedeutende nichtnukleare strategische Angriffe« zu einem Verzicht auf den Ersteinsatz von Nuklear- gehören, worunter wohl besonders Cyberangriffe zu waffen. Wohl wurde ein entsprechender Vorschlag verstehen sind. 13 Es geht dabei vor allem um Angriffe gegen Ende von Obamas Amtszeit erörtert, traf indes auf die Zivilbevölkerung, die Infrastruktur sowie auf Ablehnung seitens des Außen-, des Verteidigungs- auf Kernwaffen und ihre Kontroll- und Kommando- und des Energieministers sowie der Verbündeten in einrichtungen. Europa und Asien. Es blieb bei der traditionellen Politik der sogenannten kalkulierten Zweideutigkeit, Die Nukleardoktrin ist von wonach der Ersteinsatz von Atomwaffen nicht kate- beträchtlicher Kontinuität gorisch ausgeschlossen wird. Allerdings werden die gekennzeichnet. genauen Bedingungen, unter denen ein solcher Ein- satz stattfinden könnte, nicht genannt. Im Nuclear Die USA haben zwar die Zahl ihrer Atomwaffen Posture Review Report von 2010 und in der Nuclear seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation erheblich Employment Guidance von 2013 ist die Rede davon, reduziert, doch in ihrer operativen Strategie keinen dass der Einsatz nur »unter extremen Bedingungen« Bruch mit der überkommenen Nukleardoktrin voll- erfolgen werde, um die vitalen Interessen der USA zogen. Das gilt zum einen für die Struktur des nukle- und ihrer Verbündeter und Partner zu verteidigen. aren Dispositivs, denn an der Triade von landgestütz- Ausgeschlossen werden Androhung und Einsatz von ten Interkontinentalraketen, seegestützten Raketen Atomwaffen gegen Nichtkernwaffenstaaten, die Mit- und luftgestützten Systemen änderte sich nichts. Zum glieder des Nichtverbreitungsvertrages sind und ihre anderen hielt Washington an der Option fest, unter vertraglichen Verpflichtungen einhalten. 12 Neu in der höchstem Zeitdruck die Entscheidung zum Einsatz der nuklearen Arsenale treffen zu können (»prompt launch«), sollten die Frühwarnsysteme den Abschuss 11 Siehe Harald Müller/Annette Schaper, US-Nuklearpolitik gegnerischer Raketen melden. So soll verhindert nach dem Kalten Krieg, Frankfurt a.M.: Hessische Stiftung werden, dass die eigenen Atomwaffen durch einen Friedens- und Konfliktforschung 2003 (HSFK-Report Nr. 3/2003); Amy F. Woolf, U.S. Nuclear Weapons: Changes in Policy Erstschlag ausgeschaltet werden. Die Kontinuität and Force Structure, Washington, D.C.: CRS, 23.1.2008; Charles erstreckt sich schließlich auch auf die von einem J. Moxley, Jr., »Obama’s Nuclear Posture Review: An Ambi- Counterforce-Ansatz geleitete Zielplanung. Hier geht tious Program for Nuclear Arms Control But a Retreat from es darum, militärische und dabei vor allem nukleare the Objective of Nuclear Disarmament«, in: Fordham Interna- Fähigkeiten des Kontrahenten zu neutralisieren. Zu tional Law Journal, 34 (2011), S. 734–775; Marco Fey/Giorgio den Zielen gehören also gegnerische Raketensilos, Franceschini/Harald Müller/ Hans-Joachim Schmidt, Auf dem Flughäfen, Stützpunkte der strategischen U-Boote Weg zu Global Zero? Die neue amerikanische Nuklearpolitik zwischen sowie Kontroll- und Kommunikationseinrichtungen. 14 Anspruch und Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), 2010 (HSFK-Report Nr. 4/2010). (Library, Briefing Paper Nr. 7566), S. 37–43; Bruno Tertrais, 12 Siehe Department of Defense, Nuclear Posture Review A Comparison Between US, UK and French Nuclear Policies and Report, Washington, D.C., April 2010, S. IX; Department of Doctrines, Paris: Sciences Po/Centre national de la recherche Defense, Report on Nuclear Employment Strategy of the United scientifique, Februar 2007. States Specified in Section 491 of 10 U.S.C., Washington, D.C., 13 Department of Defense, Nuclear Posture Review, Washing- Juni 2013, S. 4. Siehe dazu Amy F. Woolf, U.S. Nuclear ton, D.C., Februar 2018, S. 21. Zur Einordnung und Bewer- Weapons Policy: Considering »No First Use«, Washington, D.C.: tung der Nuclear Posture Review siehe Oliver Meier, »The CRS, 16.8.2016 (CRS Insight). – Frankreich und Groß- U.S. Nuclear Posture Review and the Future of Nuclear Order«, britannien, die sich anders als die USA an einer »Minimal- in: European Leadership Network, Commentary, 2.3.2018; abschreckung« orientieren und nicht wie Washington über Wolfgang Richter, Erneuerung der nuklearen Abschreckung, abgestufte Counterforce-Optionen verfügen, verfolgen in Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2018 (SWP- ihrer erklärten Nuklearpolitik eine Linie, die der ameri- Aktuell 15/2018); Oliver Thränert, Präsident Trumps Kern- kanischen ähnelt. Ein Verzicht auf den Ersteinsatz gilt zu- waffendoktrin, Zürich: Center for Security Studies (CSS), März mindest für Großbritannien als unvereinbar mit der Nato- 2018 (CSS Analysen zur Sicherheitspolitik, Nr. 223). Abschreckungsdoktrin. Siehe Claire Mills, Nuclear Weapons – 14 »Counterforce Targeting. Counterforce targeting is a Country Comparisons, London: House of Commons, 9.10.2017 strategy to employ forces to destroy, or render impotent, SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 9
Erweiterte Abschreckung und US-Nukleardoktrin Die nukleare Abschreckungspolitik der USA stützt Die nukleare Zielplanung, die im offenbar nach sich erklärtermaßen nicht auf eine sogenannte wie vor geltenden OPLAN 8010-12 vom Juli 2012 Countervalue-Strategie. 15 Unter Countervalue-Zielen festgelegt ist, unterliegt strengster Geheimhaltung. So werden »weichere« Ziele verstanden, aus heutiger lässt sich auch nicht sagen, wie sich die Zielplanung Perspektive etwa industrielle Anlagen, die zur Kriegs- gegenüber einzelnen Ländern, die als potentielle Geg- führungsfähigkeit beitragen. 16 Doch auch solche ner gelten, unterscheidet und welche Folgen der in Ziele dürften abgedeckt werden, denn Abschreckung der Nuclear Posture Review zu findende Slogan der beruht aus Sicht der amerikanischen Militärführung »maßgeschneiderten Abschreckung« (»tailored deter- darauf, dass die amerikanischen Nuklearstreitkräfte rence«) haben wird. Er soll potentiellen Gegnern in der Lage sind (und in diesem Sinne auch so wahr- signalisieren, dass sie mit inakzeptablen Kosten und genommen werden), jene gegnerischen, der Kriegs- Risiken zu rechnen haben, die auf ihre spezifische führung und Kriegsunterstützung dienenden Einrich- Risiko- und Kostenkalkulation zugeschnitten sind. 18 tungen und Fähigkeiten zu zerstören, »die ein poten- Was offizielle Dokumente angeht, tauchte der Begriff tieller Gegner am meisten schätzt und auf die er sich »maßgeschneiderte Abschreckung« erstmals im stützen würde, um seine eigenen Ziele in einer Nach- Quadrennial Defense Review Report von 2006 auf kriegswelt zu erreichen«. 17 und bringt die recht triviale Einsicht auf den Punkt, dass man den Gegner gut kennen sollte, wenn man military capabilities of an enemy force. Typical counterforce seine Wahrnehmung durch Abschreckungsdrohun- targets include bomber bases, ballistic missile submarine gen beeinflussen will. 19 bases, ICBM silos, antiballistic and air defense installations, Die US-Nukleardoktrin stellt auf die Fähigkeit ab, C2 centers, and WMD storage facilities. Generally, the im Ernstfall über möglichst vielfältige Counterforce- nuclear forces required to implement a counterforce target- Optionen zu verfügen. Ihre Befürworter bringen im ing strategy are larger and weapon systems more accurate Wesentlichen drei Argumente vor, weshalb nukleare than the forces and weapons required to implement a Abschreckung auf der Fähigkeit zur Kriegsführung countervalue strategy, because counterforce targets generally beruhen sollte. Das erste Argument ist ein strategisches: tend to be harder, more protected, difficult to find, and more Postuliert wird, dass die Abschreckungsdrohung mobile than countervalue targets.« Joint Chiefs of Staff, glaubwürdig sein muss und dass es notwendig ist, im Doctrine for Joint Nuclear Operations, Joint Publication 3–12, 15.12.1995, S. II-5. (Im Original Teile des Texts fett gesetzt.) Falle eines Versagens der Abschreckung den Schaden 15 »The new guidance requires the United States to main- für die USA und Verbündete zu begrenzen. Das zweite tain significant counterforce capabilities against potential Argument hebt auf rechtliche Aspekte ab: Eine Ab- adversaries. The new guidance does not rely on a ›counter- schreckung, die auf Counterforce-Optionen beruht, value‹ or ›minimum deterrence‹ strategy.« Department of ermögliche es, die humanitär-völkerrechtlichen (im Defense, Report on Nuclear Employment Strategy [wie Fn. 12], S. 4. amerikanischen Sprachgebrauch meist: kriegsvölker- 16 »Countervalue Targeting. Countervalue targeting rechtlichen) Regeln zu respektieren. Das dritte Argu- strategy directs the destruction or neutralization of selected ment schließlich behauptet die moralische Überlegen- enemy military and military-related activities, such as heit einer solchen Form der Abschreckung über industries, resources, and/or institutions that contribute to eine gegen Countervalue-Ziele ausgerichtete Minimal- the enemy’s ability to wage war. In general, weapons abschreckung. 20 Diese drei Argumentationslinien required to implement this strategy need not be as numer- sollen in den folgenden drei Kapiteln näher beleuch- ous or accurate as those required to implement a counter- force targeting strategy, because countervalue targets tet werden. Dabei handelt es sich um eine Bewertung, generally tend to be softer and unprotected in relation to counterforce targets.« Joint Chiefs of Staff, Doctrine for Joint Operations, Joint Publication 3–12, Final Coordination (2), Nuclear Operations [wie Fn. 14], S. II-5. (Im Original Teile des 15.3.2005, S. I–1f. Texts fett gesetzt.) 18 Department of Defense, Nuclear Posture Review [wie Fn. 13], 17 »US nuclear forces deter potential adversaries by pro- S. VIII. viding the President the means to respond appropriately to 19 Siehe etwa M. Elaine Bunn, Can Deterrence Be Tailored?, an attack on the US, its friends or allies. US nuclear forces Washington, D.C.: Institute for National Strategic Studies, must be capable of, and be seen to be capable of, destroying National Defense University, Januar 2007 (Strategic Forum those critical war-making and war-supporting assets and Nr. 225). capabilities that a potential adversary leadership values most 20 So etwa Keith B. Payne, »Why US Nuclear Force Num- and that it would rely on to achieve its own objectives in a bers Matter«, in: Strategic Studies Quarterly, 10 (Sommer 2016) post-war world.« Joint Chiefs of Staff, Doctrine for Joint Nuclear 2, S. 14–24. SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 10
Erweiterte Abschreckung und US-Nukleardoktrin die abschreckungslogisch-immanent bleibt. In einem vierten Kapitel weitet sich der Blick auf eine rück- und vorausblickende Analyse der Risiken und Kosten des Abschreckungssystems. Ob die erweiterte nukleare Abschreckung sicher- heitspolitisch unabdingbar ist, ob es der Stationierung neuer amerikanischer Atomwaffen in Europa bedarf oder was die Alternativen zum amerikanischen Schutzschirm sein könnten – all dies sind wichtige Fragen, die in der vorliegenden Studie jedoch nicht diskutiert werden. SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 11
Die strategische Dimension: Logik und Unlogik der Counterforce-Abschreckung Die strategische Dimension: Logik und Unlogik der Counterforce-Abschreckung Die nukleare Abschreckung der USA beruht auf der scher Ziele sowie von Bevölkerungszentren in der Fähigkeit zur nuklearen Kriegsführung (»Kriegsfüh- Sowjetunion (und in China) ins Auge. So enthielt der rungs-Abschreckung«). 21 Aufgrund des Glaubwürdig- erste Single Integrated Operation Plan (SIOP), den keitsdefizits atomarer Abschreckung begann man, Präsident Eisenhower im Dezember 1960 genehmigte, einsatzfähige Optionen zu suchen, mit denen das 3729 Ziele in der Sowjetunion, China, Nordkorea und Problem der Selbstabschreckung bewältigt werden Osteuropa, die mit 3423 Nuklearwaffen angegriffen sollte. Virulent wurde das Problem, als die Sowjet- werden sollten. Rund ein Fünftel der Ziele waren union im Laufe der 1960er Jahre ihr Atomwaffen- ziviler, vier Fünftel militärischer Art. Die damaligen arsenal ausbaute und Ende jenes Jahrzehnts »nuklea- Schätzungen berücksichtigten nur die Auswirkungen re Parität« erlangte. Mit ihrer bisherigen Strategie der der Explosion selbst (»blast effects«), da die Wirkung »massiven Erwiderung«, wie sie in den 1950er Jahren von Feuer und Strahlung schwer zu bemessen war. formuliert worden war, fassten die USA faktisch die Demnach wären diesen Angriffen innerhalb von drei großflächige Zerstörung industrieller und militäri- Tagen etwa 54 Prozent der sowjetischen und 16 Pro- zent der chinesischen Bevölkerung zum Opfer gefallen, 21 Treffend analysiert wurde diese Entwicklung hin zu das heißt rund 220 Millionen Menschen. 22 Obwohl einer »Ausdifferenzierung der nuklearen Kriegsführungs- die deklaratorische Strategie in Richtung abgestufte optionen« früh von Dieter Senghaas, »Rückblick und Aus- Optionen und flexible Erwiderung verändert wurde, blick auf Abschreckungspolitik«, in: Franz Böckle/Gert Krell blieb die operative strategische nukleare Zielplanung, (Hg.), Politik und Ethik der Abschreckung. Beiträge zur Herausforde- wie sie sich im Single Integrated Operation Plan rung der Nuklearwaffen, Mainz/München: Grünewald/Kaiser, niederschlug, bis weit in die 1970er Jahre hinein alles 1984, S. 98–132 (Zitat S. 108). Bei Senghaas finden sich auch andere als flexibel. 23 die Begriffe Kriegsführungs-Abschreckung und Vergeltungs- Abschreckung, die an die Unterscheidung zwischen »deter- rence by punishment« und »deterrence by denial« anknüp- 22 Siehe Eric Schlosser, Command and Control, London: fen (siehe Fn. 5). Da »deterrence by denial« sich ursprünglich Penguin Books, 2013, S. 206. auf die Verweigerung militärischer Erfolge im territorialen 23 So schreibt William E. Odom, unter Präsident Carter Sinne bezieht und einen Idealtyp bezeichnet, scheint der im Nationalen Sicherheitsrat mit Nuklearfragen befasst, Ausdruck Kriegsführungs-Abschreckung für die reale US- rückblickend: »Looking at the SIOP and its executive plan, Abschreckungspolitik angebrachter zu sein, zumal »Strafe« I realized that this was a war plan that did not allow for in Form erhöhter Kosten immer ein Element der Abschre- choosing specific war aims at the time and in the context ckung ist. – Als frühen Beitrag zur Analyse dieser Entwick- of the outbreak of hostilities. It was just a huge mechanical lung siehe ferner Gert Krell, »Zur Problematik nuklearer war plan aimed at creating maximum damage without Optionen«, in: Erhard Forndran/Gert Krell (Hg.), unter Mit- regard to the political context. I concluded that the United wirkung von Hans-Joachim Schmidt, Kernwaffen im Ost-West- States had surrendered political control over nuclear weap- Vergleich. Zur Beurteilung militärischer Potentiale und Fähigkeiten, ons to a deterministic theory of war that depoliticized the Baden-Baden: Nomos, 1983, S. 79–116. Als Rückblick auf phenomenon outright and ensured an unprecedented die Abschreckungspolitik vor und nach dem Kalten Krieg devastation of both the Soviet Union and the United States.« siehe auch Dieter Senghaas, Weltordnung in einer zerklüfteten William E. Odom, »The Origins and Design of Presidential Welt. Hat Frieden Zukunft?, Berlin: Suhrkamp, 2012, S. 83–128. Decision-59: A Memoir«, in: Henry D. Sokolski (Hg.), Getting SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 12
Die strategische Dimension: Logik und Unlogik der Counterforce-Abschreckung Die Flexibilisierung nuklearer Optionen bedeutete, Wahl, sich auf einen Krieg einzulassen oder den terri- dass Atomwaffen wie konventionelle Waffen als torialen Ausgriff hinzunehmen. 27 Kriegsführungswaffen verstanden werden, mit deren Befürchtet wird, dass sich Russland im Verlauf Einsatz Eskalationsdominanz erreicht werden soll. 24 eines konventionellen Krieges zum Einsatz von Kern- Im klassischen Abschreckungsdenken ist damit waffen entschließen könnte, um eine Kriegsbeendi- gemeint, »in einem bestimmten Bereich der Eskala- gung zu erzwingen, bevor die USA überlegene kon- tionsleiter eigene Vorteile aus[zu]spielen«. 25 Voraus- ventionelle Kräfte einsetzen. 28 Auf Seiten der Nato setzung von Eskalationsdominanz ist eine »günstige war dies unter den Bedingungen des Ost-West-Kon- Asymmetrie der Fähigkeiten«, so dass der anderen flikts eine Option im Rahmen der Strategie flexibler Seite die Last der Eskalation auferlegt wird. 26 Die Erwiderung. Damit sollte der Sowjetunion vor Augen daraus folgende Strategie wurde in den 1970er Jahren geführt werden, dass jeder konventionelle Angriff als Countervailing-Strategie bezeichnet. Der Begriff ein unkalkulierbares Risiko birgt. Zwar wird viel über findet sich in der gegenwärtigen Strategiedebatte die russische Strategie der »Eskalation zur Deeskala- zwar kaum mehr, aber durchaus die dahinterstehen- tion« spekuliert, doch wo die Schwelle zu einem Kern- de Logik: Dem Gegner soll der Erfolg auf allen Stufen waffeneinsatz tatsächlich läge, offenbart die offizielle der Kriegsführung verweigert werden. Ziel ist, den russische Militärdoktrin nicht. Dort findet sich ledig- Kontrahenten abzuschrecken, aber die Kluft zwischen lich der Hinweis, dass Atomwaffen zum Einsatz Abschreckungsdrohung im Frieden und Kriegsfüh- kämen, wenn die Existenz des Staates bedroht wäre. rung, falls die Abschreckung versagt, soll möglichst Eine gewisse Zweideutigkeit gilt anscheinend auch gering gehalten werden. auf russischer Seite als abschreckungspolitisch Wie sehr die gegenwärtige Entwicklung der ame- nützlich. 29 rikanischen Nuklearpolitik dieser Logik folgt, zeigt Sollte Russland taktische Nuklearwaffen relativ ge- sich deutlich in der Debatte um die Stärkung atoma- ringer Sprengkraft einsetzen, habe – so die Befürch- rer Abschreckung gegenüber Russland. Die östlichen tung – die Nato keine glaubwürdigen Optionen. Nato-Staaten können, so die verbreitete Wahrneh- Flugzeuge mit Schwerkraftbomben würden kaum die mung, auf zweifache Weise (militärisch) bedroht russische Luftverteidigung überwinden. Nur in einem werden: zum einen auf subversive, hybride Art, bei massiven militärischen Konflikt, in dem die russische der Russland offene militärische Gewalt eher im Luftverteidigung bereits entscheidend geschwächt Hintergrund androht als tatsächlich einsetzt, zum wäre, ergäbe der Einsatz nuklearer Bomber von Stütz- anderen durch die schnelle Besetzung von Gebieten, punkten im westlichen Europa Sinn. Alles andere um Tatsachen zu schaffen, bevor die Nato reagieren könnte. In letzterem Fall stünde die Nato vor der 27 In beiden Fällen sähe sich die Nato vor eine funda- mentale politische Herausforderung gestellt, die ihren Zusammenhalt untergraben und die Allianz in eine Krise MAD: Nuclear Mutual Assured Destruction, Its Origin and Practice, stürzen würde. Siehe etwa Martin Zapfe, »Deterrence from Carlisle, PA: Strategic Studies Institute, U.S. Army War the Ground Up: Understanding NATO’s Enhanced Forward College, November 2004, S. 175–196 (183). Presence«, in: Survival, 59 (2017) 3, S. 147–160. 24 Siehe Jervis, The Illogic of American Nuclear Strategy [wie 28 Ausführlich zu dieser Problematik siehe Elbridge Colby, Fn 6], S. 56–63. Zur historischen Entwicklung siehe auch The Role of Nuclear Weapons in the U.S.-Russian Relationship, Niccolò Petrelli/Giordana Pulcini, »Nuclear Superiority in the Washington, D.C.: Carnegie Endowment for International Age of Parity: US Planning, Intelligence Analysis, Weapons Peace, Task Force on U.S. Policy toward Russia, Ukraine, Innovation and the Search for a Qualitative Edge 1969– and Eurasia Project, 26.2.2016 (Task Force White Paper); zur 1976«, in: The International History Review, 22.1.2018; David S. russischen Nukleardoktrin siehe Olga Oliker, Russia’s Nuclear McDonough, »The Evolution of American Nuclear Strategy«, Doctrine. What We Know, What We Don’t, and What That Means, in: Adelphi Papers, 46 (2006) 383, S. 13–28. Zu den Problemen Washington, D.C.: Center for Strategic and International und Diskussionen während des Ost-West-Konflikts siehe Studies, Mai 2016; gegen die These einer niedrigeren nukle- Charles L. Glaser, Analyzing Strategic Nuclear Policy, Princeton, aren Schwelle auf russischer Seite argumentiert Kristin Ven NJ: Princeton University Press, 1990. Bruusgaard, »The Myth of Russia’s Lowered Nuclear Thresh- 25 Herman Kahn, Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungs- old«, in: War on the Rocks, 22.9.2017. spirale, Frankfurt/Berlin/Wien 1970, S. 351. 29 Siehe Anya Loukianova Fink, »The Evolving Russian 26 Lawrence Freedman, The Evolution of Nuclear Strategy, Concept of Strategic Deterrence: Risks and Responses«, in: London/New York: Palgrave Macmillan, 1981, S. 218. Arms Control Today, (Juli/August 2017). SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 13
Die strategische Dimension: Logik und Unlogik der Counterforce-Abschreckung wäre wohl nicht mehr als eine »Selbstmordmission«. 30 das »Defizit« bei nichtstrategischen Nuklearwaffen in Gegenwärtig bleiben auf amerikanischer Seite die Europa zu einem Problem der neuen Abschreckungs- strategischen Kernwaffen, vor deren Einsatz große politik. Das gilt aus dieser Sicht umso mehr, da Scheu bestehen dürfte. Politisch könnte das Fehlen Russland über eine vergleichsweise große Zahl nicht- glaubwürdiger Optionen zur Folge haben, dass sich strategischer Atomwaffen verfügt und nach Einschät- die Nato im Fall eines russischen Einsatzes taktischer zungen auf amerikanischer Seite taktische Kern- Atomwaffen auf eine Konfliktbeendigung einließe, waffen mit geringer Sprengkraft entwickelt. 33 statt einen Atomkrieg zu riskieren. 31 Damit der Gegner gar nicht erst auf die Idee kommt, mit einem solchen Die USA brauchen die Fähigkeit zum Szenario zu rechnen, folgt daraus in der Logik nukle- »begrenzten Nuklearkrieg«. arer Abschreckung, dass man im Konfliktfall über glaubwürdige begrenzte nukleare Optionen verfügen Die USA brauchen aus dieser Perspektive die Fähig- muss. 32 keit zum »begrenzten Nuklearkrieg« – um den aus Nicht ohne Grund ist daher die alte Metapher von dem Kalten Krieg stammenden Begriff zu verwenden, den »Sprossen auf der Eskalationsleiter« wieder en der wieder im Schwange ist. 34 Sollte es mit Russland vogue. Die Glaubwürdigkeit einer Abschreckungs- in Osteuropa oder mit China im Pazifik zu einem drohung wird darin gesehen, dass man für alle denk- militärischen Konflikt kommen, in dem keine grund- baren Szenarien über nukleare Optionen verfügt, legenden Interessen der USA auf dem Spiel stehen, die proportional den Optionen des möglichen Geg- muss dieser Krieg begrenzt werden – und müssen ners sind. In der Logik eines solchen Denkens wird möglichst die politischen Ziele durchgesetzt werden. Das bedeutet: Die USA müssen über die Fähigkeiten und den Willen verfügen, in einem »Wettstreit im 30 Edmond Seay, »NATO’s Incredible Nuclear Strategy: Spiel mit dem Feuer« (»competition in brinkmanship«) Why U.S. Weapons in Europe Deter No One«, in: Arms Control dem Gegner die Bürde weiterer Eskalation aufzuerle- Today, 2.11.2011; Steve Andreasen, »Rethinking NATO’s Tac- gen. 35 Diese Sicht hat sich deutlich in der Nuclear tical Nuclear Weapons«, in: Survival, 59 (Oktober–November Posture Review niedergeschlagen, deren Veröffent- 2017) 5, S. 47–53. lichung schließlich auch dazu dient, die Perzeptionen 31 Siehe Jüri Luik/Tomas Jermalavičius, »A Plausible Scenario of Nuclear War in Europe, and How to Deter It: auf Seiten möglicher Gegner zu beeinflussen. Diese, A Perspective from Estonia«, in: Bulletin of the Atomic Scientists, so die Absicht, müssen zur Erkenntnis gelangen, dass 73 (2017) 4, S. 233–239. Gegenwärtig, so der Befund von sie keinen Nutzen aus einer begrenzten nuklearen Vertretern dieser Sicht, ist die Lage so: »Currently, the United States and NATO do not have an obvious and credible re- sponse to a limited Russian nuclear strike. Such a capability 33 Siehe Michael J. Frankel/James Scouras/George W. is required, not so that NATO can fight a nuclear war, but Ullrich, Nonstrategic Nuclear Weapons at an Inflection Point, rather to demonstrate that NATO has a credible response to Laurel, MD: The Johns Hopkins University Applied Physics any feasible scenario in order to deter Russia from conduct- Laboratory, 2017. Die Zahl nichtstrategischer nuklearer ing a nuclear attack in the first place.« Matthew Kroenig, Gefechtsköpfe auf russischer Seite wird auf insgesamt etwa Toward a More Flexible NATO Nuclear Posture. Developing a Re- 2000 geschätzt, einschließlich rund 760 seegestützter sponse to a Russian Nuclear De-Escalation Strike, Washington, Gefechtsköpfe. Siehe Hans M. Kristensen/Robert S. Norris, D.C.: Atlantic Council, November 2016, S. 5. »Russian Nuclear Forces, 2017«, in: Bulletin of the Atomic 32 Siehe Keir A. Lieber/Daryl G. Press, Coercive Nuclear Cam- Scientists, 73 (2017) 2, S. 115–126. paigns in the 21st Century, Monterey, CA: U.S. Naval Postgradu- 34 Im Sinne der folgenden Definition: »Limited nuclear war ate School, The Center on Contemporary Conflict, Januar is a conflict in which nuclear weapons are used in small 2013. Oder wie es in einem anderen Bericht heißt, der dieser numbers and in a constrained manner in pursuit of limited Logik folgt: Zum Zwecke der Eskalationskontrolle brauchen objectives (or are introduced by a country or non-state die USA »discriminate nuclear options at all rungs of the actor in the face of conventional defeat).« Jeffrey A. Larsen, nuclear escalation ladder«. Clark Murdock et al., Project Atom. »Limited War and the Advent of Nuclear Weapons«, in: A Competitive Strategies Approach to Defining U.S. Nuclear Strategy Jeffrey A. Larsen/Kerry M. Kartchner (Hg.), On Limited War in and Posture for 2025–2050, A Report of the CSIS International the 21st Century, Stanford, CA, 2014 (Stanford Security Studies), Security Program, Lanham u.a.: Rowman & Littlefield, 2015, S. 3–20 (6, im Original kursiv). S. VI; ferner Elbridge Colby, A Nuclear Strategy and Posture for 35 Siehe Elbridge Colby, Prevailing in Limited War, Washing- 2030, Washington, D.C.: Center for a New American Securi- ton, D.C.: Center for a New American Security, August 2016, ty, Oktober 2015. bes. S. 26f, Zitat S. 26. SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 14
Die strategische Dimension: Logik und Unlogik der Counterforce-Abschreckung Eskalation ziehen können. 36 Die USA brauchen daher Zwei Aspekte der Eskalationsdynamik erscheinen eine größere Bandbreite abgestufter nuklearer Optio- besonders problematisch. Zum einen: Sobald ameri- nen, darunter vor allem Atomwaffen mit relativ gerin- kanische Atomwaffen, auch wenn sie als taktische ger Sprengkraft. Sie sind nötig, um das Glaubwürdig- verstanden werden, gegen Ziele auf russischem Boden keitsproblem zu reduzieren, das dem Einsatz strategi- eingesetzt werden, ist eine überaus bedeutsame scher Atomwaffen gegen einen Kontrahenten anhaf- Schwelle überschritten. Im Grunde gibt es in der tet, der zu atomaren Gegenschlägen in der Lage ist. nuklearen Eskalationslogik zwei wichtige Schwellen, Dieser Logik entsprechend erlangen »kleinere« den Einsatz von Atomwaffen überhaupt und darauf- Atomwaffen mit begrenzter Sprengkraft Bedeutung in hin die Verwendung solcher Waffen gegen Ziele auf einer Strategie, die Eskalationskontrolle zum Ziel hat. dem Territorium des nuklear bewaffneten Gegners. So haben die modernisierten Schwerkraftbomben B61 Zu Zeiten des Ost-West-Konflikts war die Sensibilität Model 12, die nach amerikanischen Plänen die alten für diese zweite Schwelle im amerikanischen Ab- in Europa gelagerten Bomben von 2021 an ersetzen schreckungsdenken sehr hoch. Damals boten sich sollen, einen Mechanismus, mit dem sich die Spreng- gemäß der Eskalationslogik als Zwischenstufe atoma- kraft auf etwa zwei Prozent dessen reduzieren lässt, re Angriffe auf die sowjetischen Militärstützpunkte was die Hiroshima-Bombe an Vernichtungskraft in Osteuropa an. Heute gibt es eine solche Option besaß. Über einen solchen Mechanismus verfügen nicht mehr. Zum anderen: Russische Frühwarnsysteme zwar bereits einige Varianten der vorhandenen B61- können nicht unterscheiden, womit eine von einem Bomben. Die modernisierte B61-Bombe ist jedoch amerikanischen U-Boot abgefeuerte ballistische Rake- zielgenauer und in der Lage, gehärtete Ziele auszu- te bestückt ist, ob mit einem thermonuklearen Ge- schalten. 37 Sie eignet sich als erste Einsatzstufe einer fechtskopf gewaltiger Zerstörungswirkung oder einem nuklearen Eskalation. Besorgnis aus russischer Sicht Gefechtskopf niedriger Sprengkraft. 40 weckt die Möglichkeit, dass mit einer neuen Gene- Ob und wie ein Atomkrieg begrenzt gehalten und ration von Tarnkappenflugzeugen (»stealth aircraft«), beendet werden kann, war schon unter den Bedin- darunter die F-35 Lightning 2, diese Bomben von gungen der Ost-West-Konfrontation ein Problem, auf Stützpunkten in den östlichen Nato-Staaten zum Ein- das die Vertreter einer solchen Abschreckungsstrate- satz kommen könnten. 38 Wie in der Nuclear Posture gie keine überzeugende Antwort hatten, außer der Review von 2018 angekündigt, sollen zudem neue seegestützte nuklear bestückte Marschflugkörper ge- ringer Sprengkraft entwickelt und seegestützte ballis- tische Raketen mit Gefechtsköpfen niedriger Spreng- Sinne. Das heißt, Intensität oder Ausdehnung eines Konflikts kraft ausgestattet werden. werden über eine als bedeutsam wahrgenommene Schwelle Mit der Einführung dieser Waffensysteme soll die gesteigert, sei es in einem instrumentellen Sinne (um Vor- Glaubwürdigkeit der Abschreckung gestärkt und die teile zu erzielen oder eine Niederlage zu verhindern), sei es nukleare Schwelle insofern erhöht werden, als poten- in einem kommunikativen Sinne (um Signale, etwa der tielle Gegner sich von einer begrenzten nuklearen Entschlossenheit, zu senden). (2) Unbeabsichtigte (»inadver- tent«) Eskalation. Damit sind Handlungen gemeint, die der Eskalation abhalten lassen. Sollte es jedoch zu einem Handelnde nicht als Eskalation verstanden wissen wollte, militärischen Konflikt kommen, dann bleibt ein Prob- die aber der Gegner als solche wahrnimmt und die zu einer lem in diesem Denken nicht gelöst: das der Kontrolle militärischen Eskalation führen. (3) Akzidentelle (»acciden- einer einmal begonnenen atomaren Eskalation. 39 tal«) Eskalation, die das Ergebnis einer mit Fehlern behafte- ten Kriegsführung ist. Siehe Forrest E. Morgan et al., Danger- 36 Siehe hierzu Department of Defense, Nuclear Posture ous Thresholds. Managing Escalation in the 21st Century, Santa Review [wie Fn. 13], S. VII, 30ff. Monica, CA: RAND Corporation, 2008, S. 7–33. Zur Defini- 37 Siehe Hans M. Kristensen/Robert S. Norris, »The B61 tion: »Escalation can usefully be defined as an increase in the Family of Nuclear Bombs«, in: Bulletin of the Atomic Scientists, intensity or scope of conflict that crosses threshold(s) considered signifi- 70 (2014) 3, S. 79–84. cant by one or more of the participants.« (S. 8, Hervorhebung im 38 Siehe James E. Doyle, »Strategic Stability and Arms Original.) Diese Schwellen, so wird zu Recht angemerkt Control«, in: Adelphi Series, 56 (2016) 462, S. 49–68 (52f). (S. 11), sind in hohem Maße subjektiv und damit gewisser- 39 Eskalation ist ein zentraler Begriff im amerikanischen maßen sozial konstruiert. Abschreckungsdenken. Hier muss zwischen drei Typen 40 Siehe Vipin Narang, »The Discrimination Problem: unterschieden werden: (1) Absichtliche oder vorbedachte Why Putting Low-Yield Nuclear Weapons on Submarines Is (»deliberate«) Eskalation im vertikalen oder horizontalen So Dangerous«, in: War on the Rocks, 2.2.2018. SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 15
Die strategische Dimension: Logik und Unlogik der Counterforce-Abschreckung einen: nämlich über möglichst viele flexible Optionen erstrecken sich über weite Bereiche der Kriegsfüh- zu verfügen. 41 rung. Dazu gehören zielgenauere Atomwaffen relativ Um die Glaubwürdigkeit erweiterter nuklearer niedriger Stärke, deren Detonation oberhalb der »fall Abschreckung zu demonstrieren und den Schaden im out threshold« nicht in dem Maße radioaktiven Falle eines Versagens der Abschreckung zu begren- Fallout freisetzt, wie es bei einer Explosion auf dem zen, bedarf es in der Logik der amerikanischen Ab- Boden der Fall wäre. Zu diesen Optionen zählen auch schreckungspolitik auch der Fähigkeit zu präempti- Cyberwarfare, U-Boot-Bekämpfung, Raketenverteidi- ven Counterforce-Optionen. Diese waren Bestandteil gung und präzisionsgesteuerte konventionelle Waffen der amerikanischen Abschreckungspolitik während großer Reichweite, alles in Verbindung mit gewach- des Ost-West-Konflikts. 42 Schadensbegrenzung durch senen Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung und Ausschaltung des gegnerischen strategischen Nuklear- sensorischen Aufklärung. Diese Fähigkeiten sind potentials spielte im Denken der amerikanischen Ent- nicht auf die USA beschränkt oder werden es nicht scheidungsträger eine wichtige Rolle. In öffentlichen bleiben. Aber die USA sind führend bei einer Ent- Verlautbarungen dagegen war Schadensbegrenzung wicklung, die als »Counterforce Revolution« bezeich- durch Erstschlagsfähigkeit ein »Tabu-Thema«. 43 Dass net wurde. 45 präemptive Optionen weiterhin Teil der nuklearen Abschreckungspolitik sind, zeigt sich auf deklaratori- scher Ebene in der Doktrin für gemeinsame Nuklear- operationen aus dem Jahre 2005. Dort heißt es: »Die Abschreckung eines potentiellen feindlichen Einsat- zes von Massenvernichtungswaffen erfordert es, dass die potentielle feindliche Führung glaubt, dass die USA sowohl die Fähigkeit als auch den Willen haben, präemptiv oder prompt vergeltend in einer Weise zu reagieren, die glaubwürdig und wirkungsvoll ist.« 44 Optionen zur Ausschaltung gegnerischer Kernwaffen 41 Siehe Jervis, The Illogic of American Nuclear Strategy [wie Fn. 6], S. 56–85. – Diese Problematik wird durchaus in der Nuclear Posture Review reflektiert, wenn es heißt: »Every U.S. administration over the past six decades has called for flexible and limited U.S. nuclear response options, in part to support the goal of reestablishing deterrence following its possible failure. This is not because reestablishing deterrence is certain, but because it may be achievable in some cases and contribute to limiting damage, to the extent feasible, to the United States, allies, and partners.« Department of De- fense, Nuclear Posture Review [wie Fn. 13], S. 23. 42 Siehe Austin Long, Deterrence. From Cold War to Long War. Lessons from Six Decades of RAND Research, Santa Monica, CA: RAND Corporation, 2008, S. 25–43 (Zitat S. 27). 45 Siehe Keir A. Lieber/Daryl G. Press, »The New Era of 43 Brendan Rittenhouse Green/Austin Long, »The Geo- Nuclear Weapons, Deterrence, and Conflict«, in: Strategic political Origins of US Hard-Target-Kill Counterforce Capa- Studies Quarterly, 7 (Frühjahr 2013) 1, S. 3–14; dies., »The bilities and MIRVs«, in: Michael Krepon/Travis Wheeler/ New Era of Counterforce: Technological Change and the Shane Mason (Hg.), The Lure and Pitfalls of MIRVs: From the First Future of Nuclear Deterrence«, in: International Security, 41 to the Second Nuclear Age, Washington, D.C.: Stimson Center, (Frühjahr 2017) 4, S. 9–49. Siehe zudem Hans M. Kristensen/ Mai 2016, S. 19–53 (Zitat S. 43). Matthew McKinzie/Theodore A. Postol, »How US Nuclear 44 »Deterrence of potential adversary WMD use requires Force Modernization Is Undermining Strategic Stability: the potential adversary leadership to believe the United The Burst-height Compensating Super-fuze«, in: Bulletin of the States has both the ability and will to preempt or retaliate Atomic Scientists, 1.3.2017, (eingesehen am Coordination (2) [wie Fn. 17], S. I-6. 2.5.2018). SWP Berlin Aporien atomarer Abschreckung Juli 2018 16
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