Die neue türkische Diasporapolitik - Yaşar Aydın
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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Yaşar Aydın Die neue türkische Diasporapolitik Ihre Ziele, ihre Grenzen und ihre Herausforde- rungen für die türkeistämmigen Verbände und die Entscheidungsträger in Deutschland S 14 September 2014 Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Begutachtungsverfah- ren durch Fachkolleginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review). Sie geben ausschließlich die persönliche Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2014 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 34 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-100 www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org ISSN 1611-6372 Die großzügige Unter- stützung durch die Stiftung Mercator, Essen, hat diese Untersuchung und ihre Veröffentlichung ermöglicht.
Inhalt 5 Problemstellung und Schlussfolgerungen 7 Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik 8 Rückblick – historische Stationen der türkischen Diasporapolitik 10 Die Entwicklung einer transnationalen türkeistämmigen Diaspora 11 Die gesellschaftlichen Machtverschiebungen 12 Die Neuorientierung in der türkischen Außenpolitik 14 Was ist das »Neue« an der neuen Diasporapolitik? 15 Ökonomische, politische und kulturelle Interessen 15 Ökonomische Interessen 16 Politische Interessen 17 Kulturelle Interessen 18 Zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik 18 Die Türkisch-Islamische Union (DİTİB) 18 Das Amt für Auslandstürken (YTB) 19 Die Yunus-Emre-Kulturzentren (YEKM) 21 Die türkische Diasporapolitik – Folgen, Reaktionen und Kontroversen 23 Konvergenzen und Schnittmengen 24 Diasporapolitik als Konfliktstoff 26 Beschränkte Zugriffsmöglichkeiten der türkischen Regierung 27 Neue Akteure in der türkeistämmigen Diaspora: UETD und CHP 28 Schlussfolgerungen und Implikationen für deutsche Entscheidungsträger 29 Abkürzungen
Dr. Yaşar Aydın ist 2013/2014 Mercator-IPC-Fellow an der SWP
Problemstellung und Schlussfolgerungen Die neue türkische Diasporapolitik Ihre Ziele, ihre Grenzen und ihre Herausforderungen für die türkeistämmigen Verbände und die Entschei- dungsträger in Deutschland Warum fällt es hierzulande oft so schwer, das Inter- esse der türkischen Regierung an den Türkeistämmi- gen in Deutschland in ausgewogener Weise zu be- werten? Der Grund dafür ist offenbar einerseits die Skepsis vieler Entscheidungsträger in Deutschland gegenüber transnationalen Bindungen von Türkei- stämmigen, die als Hindernis für deren Integration in die deutsche Gesellschaft betrachtet werden. Und andererseits gibt es eine verbreitete Sorge vor einer »außengesteuerten Durchdringung« durch den Herkunftsstaat Türkei. Die deutsche Politik lässt sich bei der Beurteilung der türkischen Diaspora und der von Ankara betriebenen Diasporapolitik häufig vom Schreckbild einer »fünften Kolonne« bzw. eines »troja- nischen Pferdes« leiten, wodurch die integrativen Komponenten sowohl der Diaspora als Lebensform als auch der Diasporapolitik aus dem Blick geraten. Poli- tische Entscheidungsträger und Institutionen sollten sich von solchen Vorstellungen verabschieden und die Vermittlungs- und Brückenfunktionen transnationaler Bindungen von Türkeistämmigen zur Türkei anerken- nen. Das Hauptproblem ist nicht, dass sich die türki- sche Regierung für die Türkeistämmigen in Deutsch- land einsetzt, sondern dass sie eine konservative Sozial- moral und eine religiös geprägte kollektive Identität fördert, die nicht nur die Skepsis der deutschen Ent- scheidungsträger evoziert, sondern zugleich zur Ver- festigung kultureller Fragmentierungen der türkei- stämmigen Diaspora beiträgt. Der bisherige Verlauf der deutschen Debatte über das Engagement der türkischen Regierung für die Türkeistämmigen in Deutschland und für deren politische Aktivitäten zeigt, dass die Problematik dringend einer Versachlichung und historischen Einordnung bedarf. Dazu müssen zwei Vorbedingun- gen erfüllt sein: eine Analyse des Verhältnisses der neuen türkischen Diasporapolitik zu den Integrations- bedürfnissen der deutschen Gesellschaft und zu den Integrationsbemühungen der Türkeistämmigen in Deutschland und eine realistische Einschätzung der Kontroll- und Lenkungskapazitäten der türkischen Regierung. Deshalb werden im Folgenden zunächst die Wurzeln der neuen Diasporapolitik Ankaras SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 5
Problemstellung und Schlussfolgerungen rekapituliert, die soziopolitischen und wirtschaft- lichen Triebkräfte hinter dieser Strategie beleuchtet und anschließend die dafür relevanten zentralen Institutionen vorgestellt. Abschließend werden die Reaktionen der türkischen Migrantenorganisationen auf die türkische Diasporapolitik diskutiert. Egal, um welches Thema es geht, Interventionen türkischer Politiker in Angelegenheiten, die die Türkei- stämmigen in Deutschland betreffen, ziehen in den deutschen Medien und in der deutschen Politik in der Regel Kritik auf sich und sorgen für Verstimmungen in den deutsch-türkischen Beziehungen. Entgegen weit verbreiteter Einschätzungen ist das zunehmende Interesse der türkischen Regierung an den Türkei- stämmigen in Deutschland keinesfalls konjunkturell bedingt, sondern Teil einer politischen Strategie, die auf den Ausbau und die Stärkung von Diasporaorgani- sationen und die Erweiterung ihrer Handlungsfähig- keit zielt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die türkeistämmige Diaspora in Deutschland weiterhin im Fokus Ankaras bleiben wird, woraus sich nicht nur Herausforderungen für die bundesdeutsche Außen-, sondern auch Chancen für die Integrationspolitik ergeben. Was der frühere türkische Premier und jetzige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Türkeistämmigen in Deutschland nahelegt, nämlich die hier gegebenen Bildungschancen besser zu nutzen, sich stärker um den sozialen Aufstieg zu bemühen, aktiv am gesellschaftlichen Leben und auch an der politischen Willensbildung teilzunehmen, ist nur zu erreichen, wenn sich die Angesprochenen moderne Verhaltensdispositionen und einen aufgeschlossenen Habitus zu eigen machen. Die mit diesen Fragen befassten Entscheidungsträger und Institutionen in Deutschland sollten daher offen sein für eine Zusam- menarbeit mit der türkischen Diaspora und der türki- schen Regierung, und sie sollten gleichzeitig darauf drängen, dass Letztere die Autonomie der Migranten- verbände achtet und mit ihrer Politik die kulturellen Fragmentierungen innerhalb der türkeistämmigen Diaspora in Deutschland nicht weiter verfestigt. SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 6
Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik Mit seinem selbstbewussten Auftritt in Köln im Jahr denen Erdoğan seine – wie sich inzwischen gezeigt 2008 hat der damalige türkische Ministerpräsident hat, erfolgreiche – Bewerbung bekanntgegeben hatte. Recep Tayyip Erdoğan in Deutschland eine Welle der Bereits im Jahr 2007 kritisierte Armin Laschet, der Kritik und Entrüstung ausgelöst. In seiner Rede hatte frühere Integrationsminister Nordrhein-Westfalens er Assimilation als »Verbrechen gegen die Menschlich- von der CDU, das Vorhaben der türkischen Regierung, keit« 1 verurteilt und die Türkeistämmigen in Deutsch- den türkischen Staatsbürgern im Ausland das Wahl- land dazu eingeladen, ihre Bindungen zur Türkei und recht zuzuerkennen, als »integrationspolitisch schäd- zur türkischen Kultur aufrechtzuerhalten und sich für lich«. 3 Wie ist dieses zunehmende Interesse der Regie- die Belange der Türkei einzusetzen. Sein Appell an die rung in Ankara an den Türkeistämmigen in Deutsch- Türkeistämmigen, die deutsche Sprache zu lernen, land und die Kritik, die sie damit in Deutschland aus- sich politisch zu engagieren und die Chancen des löst, zu erklären? Welche Gründe, Motive und Trieb- deutschen Bildungssystems besser zu nutzen, wurde kräfte lassen sich für dieses Interesse und für die Skep- jedoch kaum zur Kenntnis genommen. Erdoğan, so sis auf deutscher Seite identifizieren? das Urteil eines Spiegel-Autors, dessen Stimme als Die neue türkische Diasporapolitik muss im Zusam- durchaus repräsentativ für das Medienecho gelten menhang mit drei Entwicklungen gesehen werden: kann, instrumentalisiere mit seiner »aggressive[n] erstens mit der Entstehung einer transnationalen Dia- Diaspora-Politik« die türkeistämmige Gemeinschaft in spora in Deutschland, in anderen europäischen Staa- Deutschland, führe sich als »Ersatzkanzler« auf und ten und in den USA. Die türkeistämmige Bevölkerung gebe vor, »sich für die Integration türkischer Einwan- in Deutschland kann als eine »Diaspora« angespro- derer und ihrer Kinder in Deutschland einzusetzen«. chen werden, weil deren Mitglieder sich bezüglich Tatsächlich bewirke er jedoch das Gegenteil davon. 2 ihrer Identität, ihrer Lebensform und aufgrund der Erdoğans erneuter Auftritt in Köln am 24. Mai 2014 erfahrenen und gefühlten Benachteiligung von der löste ebenfalls heftige Reaktionen unter deutschen Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Das Engagement Politikern aus. Der Besuch erfolgte offiziell anlässlich und die Strategie der türkischen Regierung gegenüber des zehnten Jahrestags der Union Europäisch-Türki- der türkeistämmigen Gemeinschaft in Deutschland scher Demokraten (UETD), tatsächlich aber wegen der lassen sich als »Diasporapolitik« bezeichnen, weil sie damals in der Türkei bevorstehenden Wahlen für das auf den Ausbau und die Stärkung der türkischen Ver- Amt des Staatspräsidenten, an denen auch türkische eine und Organisationen und die Erweiterung ihrer Staatsbürger im Ausland teilnehmen dürfen und zu Handlungsfähigkeit zielen. 4 Die neue türkische Dia- sporapolitik steht zweitens im Zusammenhang mit der Etablierung einer neuen Staatselite und der Durchset- 1 »Erdoğans Rede erzürnt deutsche Politiker«, in: Die Welt, 28.2.2011. Zum Thema Assimilation hatte Erdoğan unter zung eines neuen Modernitätsdiskurses und muslimi- anderem Folgendes gesagt: »Ich verstehe die Sensibilität, die schen Nationsverständnisses in der Türkei. Drittens muss Sie gegenüber Assimilation zeigen, sehr gut. Niemand kann von Ihnen erwarten, Assimilation zu tolerieren. Niemand 3 Auch der türkeistämmige Politiker Cem Özdemir von den kann von Ihnen erwarten, dass Sie sich einer Assimilation Grünen hält ein »Auslandswahlrecht« für Türkeistämmige in unterwerfen. Denn Assimilation ist ein Verbrechen gegen die zweiter und dritter Generation für »kaum förderlich, [um] in Menschlichkeit. Sie sollten sich dessen bewusst sein«, zitiert der Moderne anzukommen«, siehe »Warum das Heim-Wahl- nach »Das sagte Ministerpräsident Erdogan in Köln«, in: Die recht der Türken die Integration behindert«, Spiegel online, Welt, 11.2.2008, (Zugriff am 18.4.2013). gegen die deutsche Integrationspolitik, die dem Türkeibezug 4 Johann Heiss/Maria Six-Hohenbalken, »Diaspora«, in: der Türkeistämmigen in Deutschland kritisch gegenüber- F. Kreff u.a., Lexikon der Globalisierung, Bielefeld 2011, S. 44f.; steht. Alan Gamlen, Diaspora Engagement Policies. What Are They, and 2 Maximilian Popp, »Ersatzkanzler in Ankara«, in: Der Spiegel, what Kinds of States Use Them, Oxford: University of Oxford, (2013) 19, S. 36–37. Centre on Migration, Policy and Society, 2006. SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 7
Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik die neue Diasporapolitik in den Kontext der außen- darin, die in Deutschland arbeitenden Staatsbürger politischen Neuorientierung der Türkei eingeordnet dazu zu motivieren, ihre Ersparnisse im Heimatland werden, zu der es ohne die gesellschaftlichen Macht- zu investieren. verschiebungen womöglich nicht gekommen wäre. Die späten 1970er Jahre markieren einen Wandel in Bevor jedoch auf die zentralen Triebkräfte und der Wahrnehmung der türkeistämmigen Arbeits- Interessen der aktuellen Diasporapolitik eingegangen migranten auf Seiten der türkischen Politik. Zum wird, soll ein Rückblick die frühen Etappen dieser einen drang ins Bewusstsein, dass die »Gastarbeiter« in Strategie beleuchten. den verschiedenen europäischen Staaten auf Dauer präsent bleiben würden, als diese ihre verbliebenen Familienmitglieder nachholten statt in die Türkei Rückblick – historische Stationen der zurückzukehren. Zum anderen setzte sich aufgrund türkischen Diasporapolitik von Devisentransfers, die damals einen beachtlichen Anteil des türkischen Bruttosozialprodukts ausmach- Die Türkei förderte ab den 1960er Jahren die Migration ten, die Erkenntnis durch, dass die fortwährende ihrer Bürger nach Europa, unter anderem, um den Niederlassung von Türkeistämmigen in den europäi- eigenen Arbeitsmarkt zu entlasten und auf diesem schen Einwanderungsländern für die Türkei vorteil- Wege möglichen soziopolitischen Spannungen vor- hafter sein könnte als ihre Rückkehr. zubeugen. Die Regierung in Ankara ging damals da- Eine noch wichtigere Zäsur stellt das Jahr 1982 dar: von aus, dass die »Gastarbeiter« nach einigen Jahren Mit einem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz gestand Aufenthalt in Westeuropa mit neuen Fertigkeiten und die Regierung in Ankara türkischen Staatsangehörigen Qualifikationen in die Türkei zurückkehren und so den Erwerb einer weiteren Staatsangehörigkeit (dop- zur Linderung des Fachkräftemangels beitragen wür- pelte Staatsbürgerschaft) zu. Darüber hinaus bekamen den. 5 Mit einer eher defensiven Lenkungs- und Iden- die Ziele und Selbstverpflichtungen der »Diaspora- titätspolitik versuchten die türkischen Regierungen in politik«, nämlich die Belange der Türkeistämmigen jenen Jahren, die Bindungen der Arbeitsmigranten an im Ausland zu vertreten und deren Bindungen an die ihr Heimatland und ihre Loyalität zum türkischen Türkei zu stärken, Verfassungsrang. 6 Staat zu konservieren und zu stärken. Es galt zu ver- In den 1980er Jahren verschob sich der Fokus des hindern, dass sich die im Ausland arbeitenden Bürger türkischen Staates in der Frage der Arbeitsmigranten an die jeweiligen Landeskulturen assimilierten und von wirtschaftlichen hin zu politischen Gesichtspunk- mit der Türkei und der »türkischen Kultur« brachen. ten. Dies wurde an zwei neuen Aktionsfeldern sicht- Da in jener Phase auch die deutschen Regierungen mit bar. 7 Zum einen etablierte die türkische Regierung einer Rückkehr der türkischen Arbeitskräfte und ihrer eine Praxis der koordinierten Interessenvertretung Familien rechneten, wirkten sie diesem Herkunfts- gegenüber den jeweiligen Residenzstaaten, den Kom- landbezug nicht entgegen. munen und lokalen staatlichen Institutionen. Zum Bis in die 1980er Jahre konzentrierte sich der türki- anderen mobilisierte sie nun die türkischen Staats- sche Staat bei der Betreuung türkeistämmiger Arbeits- angehörigen im Ausland bei Angelegenheiten, die die migranten auf fachliche Beratung bei Renten- und »nationalen Interessen« der Türkei betrafen, und anderen sozialen Angelegenheiten in den türkischen bemühte sich, die Migranten in ihre Auseinanderset- Konsulaten durch eigens dafür eingestellte Sozial- zung mit islamistischen, kurdisch-nationalistischen attachés. 1984 wurde in Köln die Türkisch-Islamische und linksradikalen Gruppierungen einzuspannen, die Union des staatlichen Amtes für Religionsangelegen- ihrerseits – das gilt vor allem für die linksradikalen heiten (DİTİB) als Verein eingetragen. Damit erweiterte Kräfte und die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – mit Ankara sein Dienstleistungsportfolio gegenüber den in Deutschland lebenden Türken um die Fürsorge für 6 O. Can Ünver, »Changing Diaspora Politics of Turkey and die Pflege der religiösen Praxis. Public Diplomacy«, in: Turkish Policy Quarterly, 12 (2013) 1, Die wirtschaftliche Dimension der türkischen Len- S. 183 und S. 184. Siehe auch ders., 35 Jahre Zeitzeuge der Migra- kungs- und Identitätspolitik bestand in erster Linie tion und der Bürokratie (türkisch), Ankara 2008. 7 Özge Bilgili/Melissa Siegel, Understanding the Changing Role of the Turkish Diaspora, Maastricht: United Nations University/ 5 Sabri Sayarı, »Migration Policies of Sending Countries«, in: Maastricht Economic and Social Research Institute on In- Annals of the American Academy of Politcal and Social Science, (1986) novation and Technology (UNU‐MERIT), September 2010 485, S. 87–97. (UNU-MERIT Working Paper Series 39/2011). SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 8
Rückblick – historische Stationen der türkischen Diasporapolitik den von ihnen kontrollierten Vereinen versuchten, die Sozialstruktur der Einwanderungsstaaten ein- die Türkeistämmigen gegen den Militärputsch vom gegliedert sein sollten, eine Angleichung an die 12. September 1980 in Stellung zu bringen. Zu diesem Landeskultur oder Anpassung an die jeweiligen natio- Zweck förderte die Regierung in Ankara in den späten nalen Wertvorstellungen und Traditionen wurde 1980er Jahren den Aufbau von Koordinierungsräten, weiterhin abgelehnt. Auf eine sozialpolitische Integra- die sozusagen als Dachverbände der nationalistisch- tion legte die türkische Diasporapolitik Wert, weil sich religiösen und konservativen Vereine sowie der ultra- in Politik und Bürokratie der Türkei die Erkenntnis nationalistischen, der Partei der Nationalistischen durchgesetzt hatte, dass ein Mangel an Anpassung in Bewegung (MHP) nahestehenden Idealisten-Vereinigun- diesem Bereich die außenpolitische Handlungsfähig- gen fungierten. Damit sollten all jene Kräfte gebündelt keit der Türkei in der Europapolitik einengen und zu werden, die bereit waren, den »nationalen Interessen« zwischenstaatlichen Spannungen mit den Zielländern der Türkei in Deutschland durch Beeinflussung der führen würde. 11 Vor diesem Hintergrund appellierte bundesrepublikanischen Politik Geltung zu verschaf- 1995 der damalige Staatspräsident Süleyman Demirel fen. Während die Institution der Türkischen Gemein- an die Türkeistämmigen in Europa, die Staatsbürger- de in Deutschland (TGD) eine eher neutrale Position schaft des jeweiligen Staates zu erwerben. Ein Jahr einnahm, bestand etwa die »Öffentlichkeitsarbeit« der später senkte Ankara die rechtlichen Hürden für den PKK-nahen Organisationen in Deutschland und ande- Austritt aus der türkischen Staatsbürgerschaft. 12 ren europäischen Staaten unter anderem darin, die Alles in allem bewegte sich die türkische Diaspora- dortigen Entscheidungsträger in kurdenfreundlichem politik in den 1990er Jahren vor allem auf drei Hand- Sinne zu beeinflussen. Zu diesem Zweck schmiedeten lungsfeldern: Erstens war sie auf die Bekämpfung sie Bündnisse mit deutschen Parteien und politischen sicherheitsgefährdender Aktivitäten von »extremisti- Gruppierungen. 8 In den späten 1980er und frühen schen« bzw. »radikalen« politischen Organisationen 1990er Jahren ging es der Türkei also hauptsächlich ausgerichtet. Dabei setzte sie stark auf die Koordinie- darum, jene Bestrebungen der PKK und anderer links- rungsräte, die wegen ihrer strikten Orientierung an radikaler Gruppierungen abzuwehren, die sich auf die der türkisch-nationalen Kultur und Ablehnung einer »Unterminierung« der Loyalität gegenüber dem Staat »eigenständigen deutsch-türkischen Kultur« in der richteten. deutschen Öffentlichkeit kritisiert wurden. Zweitens In den 1990er Jahren wurde im türkischen Sprach- sollte die Diasporapolitik dazu dienen, den Forderun- gebrauch die Bezeichnung »Euro-Türken« 9 (»Avrupa gen der Türkeistämmigen gegenüber dem jeweiligen Türkleri«) geläufig. Darin kam zum Ausdruck, dass die Zielland Nachdruck zu verleihen. Und drittens schließ- Tatsache des permanenten Aufenthalts von Türkei- lich war es ihre Aufgabe, den Einfluss auf die in stämmigen im europäischen Ausland nun allseits an- Deutschland (und anderen europäischen Staaten) erkannt wurde. Institutionell ging dieser Paradigmen- lebenden Türken und deren Organisationen nicht zu wechsel mit der Gründung des Ausschusses für Staats- verlieren. In den 1990er Jahren verlagerte sich der bürger im Ausland einher. 10 Zwei Ziele bzw. Vorsätze Aufmerksamkeitsschwerpunkt der Migrantenvereine waren für die türkische Diasporapolitik in diesem von einer Herkunftsorientierung hin zu migrations- Jahrzehnt zentral: die erfolgreiche Integration aller spezifischen Themen, ohne dass das Interesse am Türkeistämmigen in die jeweiligen Aufnahmeländer Heimatland erloschen wäre. Dies zeigt sich beispiels- und die Unterstützung der Migranten bei ihrer Forde- weise in den Appellen der Islamischen Gemeinde Millî rung nach kulturellen Rechten. Die Vorstellung der Görüş (IGMG) an ihre Anhänger, die deutsche Staats- türkischen Regierung von »Integration« war jedoch bürgerschaft anzunehmen, die deutsche Sprache zu sehr eng. Sie beschränkte sich in den 1980er und 1990er Jahren darauf, dass die Türkeistämmigen in 8 Canan Atilgan, Türkische Diaspora in Deutschland. Chance oder Risiko für die deutsch-türkischen Beziehungen, Hamburg 2002, 11 Atılgan, Türkische Diaspora [wie Fn. 8], S. 153f und S. 166ff. S. 219. 12 Mit dem Gesetz Nr. 4112 vom 7.6.1995 wurden ehemali- 9 Ayhan Kaya/Ferhat Kentel, Euro Turks: A Bridge or a Breach gen türkischen Staatsbürgern, die mit amtlicher Erlaubnis between Turkey and the European Union, Brüssel 2005. aus der türkischen Staatsangehörigkeit ausgetreten waren, in 10 Offizielle Internetseite der YTB, lien etc. Rechte zugestanden, die Nichtstaatsbürgern ver- (Zugriff am 4.2.2014). wehrt werden. SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 9
Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik erlernen und sich an der deutschen Politik zu betei- sind laut Migrationsbericht 2012 etwa 1,6 Millionen tür- ligen. 13 kische Staatsangehörige, etwa 1,4 Millionen besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. In dem halben Jahrhundert hat sich das Profil der Die Entwicklung einer transnationalen Mobilität zwischen Deutschland und der Türkei stark türkeistämmigen Diaspora gewandelt. Das aktuelle deutsch-türkische Migrations- geschehen besteht nicht nur aus Familienmigration, Im Jahr 1961 wurde zwischen Deutschland und der die in den letzten Jahren an Bedeutung verloren hat, Türkei ein Abkommen zur Anwerbung von türkischen und Pendelmigration deutscher wie türkeistämmiger Arbeitskräften abgeschlossen, das für beide Staaten Pensionierter. Es finden auch viel mehr Geschäfts- und unvorhergesehene Folgen hatte, weil dadurch Migra- Urlaubsreisen und temporäre Wanderungen von Stu- tionsbewegungen einsetzten, die bis heute anhalten. 14 denten, Wissenschaftlern und sonstigen Hochqualifi- Später folgten ähnliche Anwerbeabkommen mit Bel- zierten in beide Richtungen statt. Diese immense gien, Österreich (1964), den Niederlanden (1967) und Intensivierung und Diversifizierung des Austauschs ist Frankreich (1973). Ab den 1970er Jahren suchten nur ein Kennzeichen der Transnationalisierung, die türkische Arbeiter sodann auch nach Beschäftigungs- die Beziehungen zwischen Deutschland und der Tür- möglichkeiten in arabischen Staaten, und mit dem kei in der Vergangenheit erfahren haben. Die Trans- Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion nationalität kommt in den bikulturellen Orientierun- öffnete sich mit Russland, der Ukraine, den Turk- gen, in den Doppelidentitäten und Doppelloyalitäten republiken und später Rumänien und Polen eine von Türkeistämmigen in Deutschland zum Ausdruck, weitere Zielregion für türkische Arbeitsmigranten. 15 aber auch in deren Aktivitäten, die sich auf beide Heute leben mehr als fünf Millionen türkische Staats- Länder beziehen. Diese Entwicklung ist begünstigt bürger außerhalb der Türkei: etwa vier Millionen in worden durch die aktuellen Globalisierungsprozesse Westeuropa, 300 000 in Nordamerika, 200 000 im im Allgemeinen, die neuen Kommunikations- und Mittleren Osten und 150 000 in Australien. 16 Verkehrsmöglichkeiten und durch die Ausweitung Deutschland ist weltweit das Land mit den meisten bürgerlicher, sozialer und politischer Rechte auf die Türkeistämmigen. Zwischen 1961 und den 1990er Migranten. Jahren kamen über vier Millionen Menschen aus der In Deutschland hat sich eine türkeistämmige trans- Türkei nach Deutschland, von denen etwa die Hälfte nationale Diaspora herausgebildet, in der soziale, wieder in das Land am Bosporus zurückkehrte. Von kulturelle und politische Elemente aus der Türkei den drei Millionen Türkeistämmigen in Deutschland weiter wirken und sich mit hiesigen Elementen ver- mischen und beide Gesellschaften und politische 13 Oğuz Üçüncü (zum Zeitpunkt des Interviews General- Systeme beeinflussen. Dabei spielen die türkischen sekretär der IGMG) betont, dass der Schwerpunkt der Arbeit Medien mit ihren Deutschland- und Europa-Redak- der IGMG in Deutschland liege, obwohl weiterhin Interesse tionen eine wichtige Transmissionsrolle. Sie bilden an der Türkei bestehe: »Ich muss eine vitale Beziehung zu quasi eine »Zwischenwelt« deutsch-türkischer Bezie- meiner Heimat haben. Es gibt nach wie vor viele Dinge, die hungen. Dies ist vor dem Hintergrund, dass die Inter- mich betreffen, auf die ich Einfluss nehmen möchte« (Inter- essen der Türkeistämmigen in den deutschen Medien view am 29.10.2013). Andere Dachverbände machten ähn- liche Entwicklungen durch. Vgl. auch Betigül E. Argun, Turkey wenig behandelt und bedient werden, besonders in Germany: The Transnational Sphere of Deutschkei, New York/ wichtig. Eine nicht zu vernachlässigende Vermittler- London 2003. funktion im Kommunikationsprozess zwischen Ein- 14 Zuvor gab es eine Arbeits- und Bildungsmigration wäh- heimischen und Türkeistämmigen übernehmen auch rend des Ersten Weltkriegs aus dem Osmanischen Reich in die migrantischen Selbstorganisationen, die zumeist das Deutsche Kaiserreich sowie eine Exil- und Hochqualifi- zierten-Migration während des Nationalsozialismus aus transnational ausgerichtet sind. Die Türkeistämmigen Deutschland in die Türkei. prägen mit ihren wirtschaftlichen, soziopolitischen 15 Ahmet İçduygu/Deniz Sert, Länderprofil Türkei, Hamburg/ und kulturellen Aktivitäten nicht nur die Gesellschaft Bonn, April 2009 (Focus Migration 5/2009), (Zugriff auch einen Teil der deutsch-türkischen und der EU- am 22.8.2014). Türkei-Beziehungen. Doch welche Identitätsmerkmale 16 Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs, Turkish Citizens Living Abroad (online), (Zugriff am 13.1.2014). »türkeistämmigen Diaspora« zu sprechen? SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 10
Die gesellschaftlichen Machtverschiebungen Jenseits klassischer Verwendungen bezeichnet der Ministerpräsident Bülent Ecevit einen Reformkurs Begriff »Diaspora« heute ethno-kulturelle oder reli- eingeschlagen, den die AKP-Regierung fortgeführt hat. giöse Gruppen, die aus verschiedenen Gründen außer- Tiefgreifende Gesetzesänderungen näherten die poli- halb ihrer angestammten Länder leben. Diaspora sind tischen Institutionen, das Wirtschafts- und das Rechts- »Teil und Teilhaber jener transnationalen Netzwerke, system der Türkei an die EU-Standards an und trugen in denen das soziale Leben gleichzeitig ›hier‹ und zu einer weiteren Demokratisierung und Pluralisie- ›dort‹ kontextualisiert wird«, in denen »doppelte rung des Landes bei. Dies verschaffte der Türkei An- Loyalitäten und multiple Identitäten ausgebildet und sehen und erhöhte das Vertrauen Dritter ihr gegen- gegen die nationalstaatlichen Identitätsvorgaben be- über, was wiederum zur Folge hatte, dass die Türkei hauptet« werden. 17 Vier Merkmale sind konstitutiv für ihre wirtschafts- und außenpolitischen Handlungs- Diaspora: spielräume erweitern konnte. Im letzten Jahrzehnt a) Dispersion: Ausbreitung außerhalb des Ursprungs- stiegen die ausländischen Direktinvestitionen enorm territoriums; an, die gesamte Wirtschaftsleistung 19 legte zu und die b) Rückbesinnung: Bindung an das Herkunftsland und Türkei wurde zu einem Zuwanderungsland. Identifikation mit diesem; Die AKP-Regierung konnte diese Entwicklungen als c) Gemeinschaftsgefühl: kollektive Erfahrung des Aus- Erfolg für sich verbuchen und daraus Legitimität für schlusses und der Diskriminierung im Gastland; ihren Kampf gegen den säkular-nationalen Macht- d) Exterritorialität: eine kollektive Identität, die nicht block beziehen, zu dem die Militärs und die Angehöri- mehr notwendigerweise an die Zugehörigkeit zu gen der Bürokratie und der Justiz zählen. Die Partei einem spezifischen territorialen Lebensbereich gewann hintereinander drei Parlamentswahlen (2002, gebunden sein muss. 18 2007, 2011) und drei landesweite Kommunalwahlen Die Türkeistämmigen in Deutschland zeichnen sich (2004, 2009, 2014) und erhöhte dabei – außer 2009 – durch eine von der Mehrheitsgesellschaft unterscheid- jedes Mal ihren Stimmenanteil. Im Jahr 2007 war die bare Identität aus. Sie halten intensive und dauerhafte AKP bereits stark genug, den Militärs sogar in einer Beziehungen zur Türkei aufrecht und verfügen über offenen Konfrontation standzuhalten, als diese ver- einen hohen Organisationsgrad. Wenngleich sie in die suchten, mit einem Internet-Memorandum die Regie- öffentliche Meinungsbildung in Deutschland nicht rung unter Druck zu setzen und zum Kompromiss bei vollständig eingebunden sind, werden sie doch von der Wahl des Staatspräsidenten zu bewegen. Die AKP- den politischen Parteien inzwischen als Zielgruppe Führung beschloss vorgezogene Parlamentswahlen, stärker wahrgenommen als in der Vergangenheit. Das aus denen sie als klare Siegerin hervorging (Juli 2007) berufliche Spektrum der türkeistämmigen trans- und ließ im neuen Parlament ihren Kandidaten nationalen Diaspora in Deutschland ist keinesfalls Abdullah Gül zum Staatspräsidenten wählen. Im Jahr homogen. Es reicht vom erfolgreichen Unternehmer 2008 konnte die AKP einen Verbotsantrag abwehren, über Akademiker, Künstler, Fach- und Hilfsarbeiter, 2010 ein Referendum zur Verfassungsänderung und Rentner bis zum Arbeitslosen. 2011 einen weiteren Machtkampf mit der Armeefüh- rung gewinnen. Mit dem Referendum gelang es der AKP-Regierung bereits 2010, eine Gesetzesänderung Die gesellschaftlichen Machtverschiebungen zur Umstrukturierung des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte durchzusetzen und den Widerstand der Die Türkei ist seit mehr als einem Jahrzehnt einem Justiz zu brechen. Schritt für Schritt konsolidierte die Wandlungsprozess ausgesetzt, der schon jetzt mit AKP ihre Hegemonie gegen die alten kemalistisch- deutlichen politischen, wirtschaftlichen und gesell- laizistischen Eliten und Institutionen. schaftlichen Machtverschiebungen einhergegangen Der Aufstieg einer neuen Machtelite und einer ist. 2001 hatte die Dreierkoalition aus Demokratischer neuen konservativen Unternehmerschicht war die Linkspartei (DSP), Partei der nationalistischen Be- Voraussetzung für die Kehrtwende in der Außenpoli- wegung (MHP) und Mutterlandspartei (AnaP) unter 17 Helmuth Berking, »›Homes away from Home‹: Zum Spannungsverhältnis von Diaspora und Nationalstaat«, in: Berliner Journal für Soziologie, 10 (2000) 1, S. 49–60 (53). 19 Bezüglich relevanter Wirtschaftsdaten vgl. Das Statistik- 18 Ebd. Portal (online), . SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 11
Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik tik in den späten 2000er Jahren. 20 Begleitet und legi- einerseits, andere Identitäten wie etwa die kurdische timiert wurde der »Machtwechsel« mit dem Konzept anzuerkennen, die in der türkischen Öffentlichkeit einer »multiplen Modernität« und einem von geopoli- lange Zeit ignoriert und unterdrückt wurden. Und tischen Ambitionen zeugenden und vor allem im andererseits stärkt das »muslimische Nationsverständ- Ausland als »neo-osmanisch« etikettierten Diskurs. Die nis«, das in der breiten Bevölkerung anschlussfähiger neo-osmanische Haltung kommt exemplarisch in ist als der Kemalismus, eine religiös motivierte, ex- jener Rede Erdoğans zum Ausdruck, die er im An- klusive gruppeninterne Solidarität und fördert eine schluss an die Parlamentswahlen am 12. Juni 2011 affirmative Haltung gegenüber der staatlichen Auto- gehalten hat. Darin stellte er den Wahlsieg der AKP als rität. 24 Die Betonung des »gemeinsamen historischen einen »Sieg der Muslime« dar und sandte Grüße an und kulturellen Erbes« macht es für Ankara darüber Länder und Städte, die einst dem Osmanischen Reich hinaus einfacher, sich den muslimischen Nachbarn angehörten: »Heute haben sowohl Istanbul als auch und »verwandten Gemeinschaften« zuzuwenden. Die Sarajewo gewonnen, sowohl Ankara als auch Damas- neue türkische Diasporapolitik mit ihrem Fokus auf kus gewonnen, sowohl Diyarbakır als auch Ramallah die Türkeistämmigen in Europa geht also mit einer gewonnen, als auch Nablus, Dschenin, das Westjordan- Außenpolitik einher, die die Beziehungen zu den land, Jerusalem und der Gazastreifen«. 21 Eine ähnliche Muslimen auf dem Balkan, im Kaukasus und zu den Tendenz hatte auch die Rede des türkischen Außen- Turkvölkern intensivieren will. ministers Ahmet Davutoğlu auf der Konferenz »Osma- nisches Erbe und muslimische Gemeinschaften auf dem heutigen Balkan« in Sarajewo: »Was ist die Tür- Die Neuorientierung in der kei?«, fragte Davutoğlu dort und lieferte die Antwort türkischen Außenpolitik gleich selbst: »Die Türkei ist Kleinbalkan, Klein-Mitt- lerer-Osten, Klein-Kaukasus. Bei uns leben mehr Bos- Die »neue« Diasporapolitik der Türkei ist unter ande- nier als in Bosnien, mehr Albaner als in Albanien, rem eine Folge der erwähnten außenpolitischen Neu- mehr Tschetschenen als in Tschetschenien, mehr orientierung, bei der es sich keinesfalls nur um eine Abchasen als in Abchasien. Wie ist das möglich? Das Prioritätenverschiebung handelt, die in der »Kontinui- osmanische Erbe macht es möglich«. 22 Der Neo-Osma- tät des außenpolitischen türkischen Aktivismus nach nismus lässt sich mit dreierlei erklären: Er bietet dem Ende des Ost-West-Konflikts« stünde. 25 Wenn- einen alternativen Referenzrahmen gegenüber dem gleich sich das verstärkte außenpolitische Engagement Kemalismus; er übt eine motivierende Wirkung im in der Region und das umstrittene Konzept der »strate- Inland aus und flankiert die außenwirtschaftliche gischen Tiefe« in die Tradition der türkischen Außen- Öffnung und expansive Exportpolitik der Türkei ideo- politik als Umsetzung nationaler Interessen einreihen, logisch. 23 stellt das Projekt des Außenministers Davutoğlu zu- Die Betonung multipler – geographischer, histori- gleich in vierfacher Hinsicht einen »Bruch mit der scher und religiöser – Identitäten der Türkei durch die kemalistischen Tradition« dar. 26 Denn die türkische Staatseliten ging mit der Propagierung eines musli- Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg war von mischen Nationalismus einher, der nicht primär auf vier Konstanten geprägt, die unter der AKP-Regierung Rasse und Sprache basiert, sondern sich an einer revidiert wurden: historischen türkisch-osmanischen Identität orien- 1. die außen- und sicherheitspolitische Anbindung tiert. Dieser »muslimische Nationalismus« ermöglicht an das westliche Bündnis- und politische System (Westbindung); 20 Für eine ausführliche Diskussion innenpolitischer Dynamiken der außenpolitischen Neuorientierung und zum Aufstieg neuer Akteure siehe Günter Seufert, Außenpolitik und 24 Jenny White, Muslim Nationalism and the New Turks, Prince- Selbstverständnis. Die gesellschaftliche Fundierung von Strategie- ton: Princeton Univ. Press, 2013. wechseln in der Türkei, Berlin: Stiftung Wissenschaft und 25 Gülistan Gürbey, »Wandel in der türkischen Außenpolitik Politik, Juni 2012 (SWP-Studie 11/2012). unter der AKP-Regierung?«, in: Südosteuropa-Mitteilungen, 50 21 Siehe Hürriyet, 13.6.2011, (Zugriff am 23.3.2014). 26 Heinz Kramer, »Zwischen Tradition und Neuorientierung: 22 Zitiert nach Baskın Oran, Die türkische Außenpolitik (tür- Die Außenpolitik«, in: ders., Türkei, Bonn: Bundeszentrale für kisch), Bd. 3: 2001–2012, Istanbul 2013, S. 199. Politische Bildung, 2011, S. 55 (Informationen zur politischen 23 Ebd., S. 198. Bildung 313). SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 12
Die Neuorientierung in der türkischen Außenpolitik 2. Distanz zu den Nachbarstaaten aufgrund von be- der Sowjetunion und Jugoslawiens reagierte die lasteten Beziehungen wegen der osmanischen Türkei mit einer Erweiterung ihres außenpolitischen Vergangenheit (regionale außenpolitische Abstinenz); Aktionsradius. Das Ziel war die Neuordnung der 3. absoluter Vorrang der Sicherung der territorialen Beziehungen zu den Staaten im Kaukasus, im Nahen und gesellschaftlichen Grundlagen der Türkischen Osten, in Osteuropa, in Zentralasien und auf dem Republik (sicherheitsparadigmatische Orientierung); Balkan. In der Amtszeit von Ahmet Davutoğlu wurde 4. Bestimmung der außenpolitischen Leitlinien durch auch Nordafrika noch in diesen primären Wirkungs- die türkischen Militärs unter Einschluss hoher bereich einbezogen. Bürokraten (militärische Bevormundung). 27 4) Entdeckung der Brücken- und Modellfunktion: Verantwortlich für den Wandel in der türkischen Mit dem Erstarken des politischen Islams und in der Außenpolitik, der bereits nach dem Ende des Kalten Folge der Terrorangriffe vom 11. September 2001 Krieges einsetzte, waren globale Machtverschiebun- wurde die Türkei immer stärker als Brücke zwischen gen, die Auflösung des Ostblocks und Globalisierungs- Orient und Okzident, zwischen dem Islam und dem prozesse, die auch die Türkei erfassten. Vier Entwick- Westen wahrgenommen und als Modell für die Verein- lungen waren in diesem Zusammenhang von beson- barkeit von Demokratie und Islam gefeiert. 30 derer Bedeutung: Seit dem Amtsantritt von Ahmet Davutoğlu im Mai 1) Vom Flanken- zum Frontstaat: Mit der Anbin- 2009 haben sich die Parameter der türkischen Außen- dung an das westliche Militärbündnis erkannte die politik ein weiteres Mal deutlich verschoben. »Strate- Türkei die »Schutz- und Vormachtrolle der USA als gische Tiefe« und »Null-Probleme mit den Nachbar- unumstrittener westlicher Führungsmacht« an. Nach staaten« 31 sind die Schlüsselbegriffe dieser multi- dem Ende des Ost-West-Konflikts, das Davutoğlu als dimensionalen Außenpolitik, die nicht nur mit einem geopolitisches »Erdbeben« 28 bezeichnet, schwand das neuen nationalen Selbstverständnis einhergeht, son- Gewicht der Türkei als »Südostpfeiler der NATO« und dern nun auch von der Maxime der ökonomischen ihre geostrategische Bedeutung erreichte einen Tief- Rationalität geleitet ist und von einer exportorientier- punkt, worauf Ankara mit einer verstärkten Hinwen- ten Wirtschaftspolitik begleitet wird (Primat der Wirt- dung zu den neugegründeten Turkstaaten Zentral- schaft) 32. Das Konzept der »Strategischen Tiefe« stützt asiens reagierte. sich unter anderem auf vier Prinzipien: 2) Außenpolitischer Aktivismus: In der Ära Turgut 1. Betonung der multiplen Identitäten der Türkei, die Özal (1983–1993) änderte die türkische Regierung ihre sich aus unterschiedlichen Religionszugehörigkei- traditionell passive und eindimensionale Außenpoli- ten, Geschichtserfahrungen und geographischen tik zugunsten einer aktiven und multidimensionalen Besonderheiten ergeben. 33 Außenpolitik, mit der gleich mehrere Ziele auf ver- 2. Proaktivität und Multidimensionalität als wesentliche schiedenen Feldern verbunden waren: durch eine Leitlinien der Außenpolitik gegenüber den Staaten multilaterale Wirtschaftskooperation im regionalen des Nahen und Mittleren Ostens, Afrikas und Umfeld wollte sie die ökonomischen Beziehungen zu den Nachbarn vertiefen; in der regionalen und inter- 30 So auch der türkische Ex-Außenminister und Ex-Minister- präsident Mesut Yılmaz in einem Interview mit dem Eurasi- nationalen Politik sollte sich die Türkei als führende schen Magazin vom 6.3.2003: »Wir, die Türken, bringen nun Macht etablieren und rund um das Land sollte ein ein neues Element ein. Wir kennen Europa, denn wir sind Gürtel der Sicherheit, Stabilität und des Wohlstands Teil seiner Geschichte gewesen und werden es demnächst entstehen, ohne »die Priorität der strategischen Part- auch wieder sein, wenn auch auf eine wesentlich friedlichere nerschaft mit dem Westen« aufzugeben 29 Art. Wir kennen aber auch Asien und damit erfüllen wir eine 3) Erweiterung des außenpolitischen Radius: Auf Brückenfunktion, auf die die EU nicht verzichten sollte. Dies ist unsere eurasische Aufgabe«; Eurasisches Magazin (online), den Zusammenbruch des Ostblocks und die Auflösung 25.6.2003, (Zugriff am 16.1.2014). Fn. 25], S. 18. 31 Ahmet Davutoğlu, Strategische Tiefe: Internationale Position 28 Ahmet Davutoğlu, »The Three Major Earthquakes in the der Türkei (türkisch), Istanbul 2005. International System and Turkey«, in: The International Specta- 32 Kemal Kirişci, »The Transformation of Turkish Foreign tor: Italian Journal of International Affairs, 48 (Juni 2013) 2, Policy: The Rise of the Trading State«, in: New Perspectives on S. 1–11 (2). Turkey, (2009) 40, S. 29–57. 29 Gürbey, »Wandel in der türkischen Außenpolitik« [wie 33 Heinz Kramer, »The Future of Turkish-Western Relations«, Fn. 25], S. 19. in: Südosteuropa-Mitteilungen, 53 (2013) 1, S. 57–72 (60). 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Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik Asiens. Mit anderen Worten, die Beziehungen zu die überhaupt ein Kernelement der gegenwärtigen diesen Regionen sollen auf vielfältigen Ebenen proaktiven Außenpolitik ist, sowie schließlich in der vertieft und gepflegt werden, von der Wirtschaft Verbindung dieser Politik mit einem neuen Nations- über Sicherheitsfragen bis hin zur Geostrategie. verständnis, das mit multiplen muslimischen Iden- 3. Präsenz bei Konfliktbewältigung, die in der Rolle der titäten vereinbar ist. Türkei als Vermittler zwischen Konfliktparteien Die aktuelle Diasporapolitik muss auch im Kontext zum Ausdruck kommen soll. Flankiert wird dieser einer allgemeinen Transnationalisierung der türki- Anspruch von einer liberalen Visapolitik und schen Außenpolitik gesehen werden: Wenngleich Einreiseregelung für Bürger der Staaten in der diese weiterhin eine Domäne der Exekutive ist, so hat Region. sie sich doch in den letzten Jahren zivilgesellschaft- 4. Betrachtung der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft lichen Akteuren, Think-Tanks und Wirtschaftsverbän- als Adressaten der Außenpolitik. den geöffnet und steht heute stärker in der Pflicht, Die Neuorientierung der türkischen Außenpolitik sich öffentlich zu rechtfertigen. Die Transnationalisie- spiegelt sich auch in der Umstrukturierung der zu- rung wiederum bringt es mit sich, dass die vormals ständigen Behörden und Einführung neuer Institutio- exklusiven zwischenstaatlichen Kommunikations- nen wider. Am 13. Juli 2010 trat ein neues »Organisa- verbindungen zwischen Deutschland und der Türkei tionsgesetz« für das Außenministerium in Kraft. 2012 immer mehr durch informelle, individuelle Bezie- wurden der Aktionsradius des Türkischen Präsidiums hungen unterhalb der staatlichen Ebene aufgebrochen für internationale Kooperation und Koordination werden. Das hat zur Konsequenz, dass die Trennung (TİKA), die staatliche Entwicklungshilfeagentur der zwischen innen- und außenpolitisch relevanten Sach- Türkei, erweitert und das Budget der Behörde kräftig fragen unscharf wird. Innenpolitische Themen wie erhöht. Mit dem Amt für Auslandstürken und ver- etwa die Integrationsverläufe von Türkeistämmigen in wandte Gemeinschaften (YTB) schuf die Regierung ein Deutschland, die doppelte Staatsbürgerschaft, die neues staatliches Organ. Außerdem etablierte sie neue Familienzusammenführung oder die Vergabe von Institutionen der öffentlichen Diplomatie. Ein zentra- türkeistämmigen Kindern an Pflegeeltern werden zu ler Bestandteil der multidimensionalen Außenpolitik einer außenpolitischen Angelegenheit, und außen- der Türkei ist eine aktive Diasporapolitik, mit der politische Themen wie etwa die EU-Mitgliedschaft der wirtschaftliche, politische und kulturelle Interessen Türkei oder Kritik an der türkischen Regierung wer- verbunden sind. den zu einem Gegenstand der deutschen Innenpolitik unter anderem dadurch, dass sie von türkeistämmi- gen Diasporaorganisationen aufgegriffen werden. Die Was ist das »Neue« an der neuen Folge ist eine Außenpolitisierung der Innenpolitik Diasporapolitik? und Innenpolitisierung der Außenpolitik, ein Effekt, der durch die neue türkische Diasporapolitik noch Die Politik der Türkei gegenüber den türkischen verstärkt wird, was zu zusätzlichen Konflikten in den Staatsangehörigen in Europa lässt sich spätestens seit deutsch-türkischen Beziehungen führt. den 1980er Jahren als Diasporapolitik bezeichnen, Das Schrumpfen der Distanzen, die die Welten frü- denn seit dieser Zeit ist innerhalb der türkischen her auseinanderhielten, dank neuer Transport- und Führung die Dauerhaftigkeit der türkeistämmigen Kommunikationstechnologien und -möglichkeiten Präsenz in verschiedenen Ländern Europas unbestrit- wie etwa Billigflüge, Flatrate-Telefonanschlüsse und ten. Doch worin besteht das »Neue« der aktuellen Dia- Satellitenfernsehen, und die Liberalisierung der sporapolitik? Zum einen in der expliziten Bezeich- internationalen Finanz- und Güterströme haben das nung der Türkeistämmigen im Ausland als »Diaspora«, Instrument der Diasporapolitik für die Türkei zu einer zum anderen in der Einbettung der sie betreffenden attraktiven Option werden lassen. Denn die Angehöri- Politik in eine Strategie der öffentlichen Diplomatie 34, gen der Diaspora verkörpern ein humanes, ökonomi- sches und soziales Kapital, das eingesetzt werden 34 Der Begriff »Public Diplomacy« steht für eine Methode der kann, um die wirtschaftlichen Beziehungen und den Förderung nationaler Interessen durch direkte Überzeugung des ausländischen Publikums und der ausländischen Mei- nungsbildner. İbrahim Kalın, außenpolitischer Berater des ing soft power in the Balkans, the Middle East and Caucasus«, türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan, schreibt dazu: »The siehe İbrahim Kalın, »Soft Power and Public Diplomacy in new Turkish public diplomacy is building on Turkey’s expand- Turkey«, in: Perceptions, 16 (2011) 3, S. 5–23 (5). SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 14
Ökonomische, politische und kulturelle Interessen Handel mit dem Gastland zu intensivieren und Ökonomische, politische und kulturelle Investitionsmöglichkeiten zu eröffnen. Die damit Interessen verknüpften Perspektiven erklären unter anderem den Eifer, mit dem die Türkei ihre Diasporapolitik mit Ökonomische Interessen einer Public Diplomacy flankiert. 35 Das »Neue« der aktuellen türkischen Diasporapolitik Nicht nur die türkische Außenpolitik ist seit dem spiegelt sich auch in institutionellen Entwicklungen Kurswechsel sensibel gegenüber wirtschaftlichen und in der offiziellen Rhetorik wider. Die Gründung Interessen, auch für die neue Diasporapolitik gilt dies. des YTB im Jahr 2010 kann hier als Zäsur betrachtet In den letzten 10 Jahren sind die türkischen Direkt- werden. Auf der Vierten Botschafterkonferenz des investitionen im Ausland kontinuierlich gestiegen. Außenministeriums sprach sich der türkische Außen- 2010 beliefen sie sich auf 1784 Millionen, 2011 auf minister Davutoğlu am 23. Dezember 2011 für eine 2657 Millionen und 2012 auf 4043 Millionen US-Dol- neue Definition von Diaspora aus. Jedes Individuum, lar. Hauptziel war mit 81 Prozent Europa (3273 Mio. das aus Anatolien stamme, gehöre ungeachtet seiner US-Dollar), es folgen mit 10 Prozent der Nahe und Religion und Ethnizität zur türkischen Diaspora. Auch Mittlere Osten (421 Mio. US-Dollar) und mit 3 Prozent Armenier und Griechen zählten dazu, auf die die Asien (132 Mio. US-Dollar). Unter den einzelnen Staa- türkische Regierung zugehen werde, um ihre »Herzen ten lag Deutschland 2012 mit 5,7 Millionen US-Dollar zu gewinnen«. »Wir werden mit jedem aus der Türkei an achter Stelle der Zielländer türkischer Direktinves- abgewanderten Armenier und Orthodoxen sprechen. titionen im Ausland. 37 Die Bedeutung der türkischen Wir werden über unsere glanzvolle gemeinsame Ver- Diaspora für die Außenwirtschaftspolitik Ankaras er- gangenheit sprechen«, setzte Davutoğlu fort. 36 Trotz klärt sich nicht nur mit den engen Handelsbeziehun- des paternalistischen Untertons und der Romantisie- gen zwischen Deutschland und der Türkei – Deutsch- rung der osmanischen Vergangenheit hätte dies der land war 2012 wichtigster Handelspartner der Tür- Auftakt zu Öffnung des offiziellen Nationsverständ- kei –, sondern auch mit der starken türkeistämmigen nisses in Richtung einer multikulturellen türkischen Unternehmerschaft in Deutschland: Dem türkischen Identität sein können. Entgegen der »inklusiven« Außenministerium zufolge befindet sich die Hälfte Rhetorik wurde allerdings geduldet, dass kurz darauf der etwa 140 000 türkeistämmigen Unternehmen in eine Solidaritätskundgebung am 26. Februar 2012 in Europa in Deutschland (70 000). Europaweit beschäfti- Istanbul für die von Armeniern in Bergkarabach er- gen diese 640 000, in Deutschland 330 000 Arbeitneh- mordeten Aserbaidschaner, an der auch der damalige mer. Sie erwirtschaften einen jährlichen Umsatz von Innenminister der Türkei teilnahm, einen armenier- über 50 Milliarden (Europa) bzw. 32,7 Milliarden Euro feindlichen Charakter annahm und dort rassistische (Deutschland) 38 Parolen skandiert wurden. Es ist der Türkei bisher Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass nicht gelungen, den integrationsfreundlichen Worten die etablierte Organisation der türkischen Unterneh- entsprechende Handlungen folgen zu lassen. merschaft, die Assoziation der türkischen Handels- kammern und Börsen (TOBB), eine Vorreiterin der Idee einer aktiven Diasporapolitik ist. Die als staatsloyal geltende TOBB und ihre Vorsitzende M. Rifat Hisar- 35 Kemal Yurtnaç, Vorsitzender des YTB, schreibt dazu: »Today many countries work to strenghthen their public cıklıoğlu setzen sich selbst für den Ausbau der Dia- diplomacy efforts, or ›soft power‹, and expand their sphere of sporanetzwerke ein und waren auch bei der großen influence through their diasporas. [T]he transformations in Konferenz der Nichtregierungsorganisationen feder- Turkish foreign policy in recent years facilitated its quest to führend, die am 7. und 8 Juni 2012 in Ankara statt- have richer relations with the citizens and kin communities fand. Das YTB veranstaltet in unregelmäßigen Abstän- abroad« (Turkey’s New Horizon: Turks Abroad and Related Commu- nities, Ankara: SAM, Center for Strategic Research, Oktober den Treffen von Diasporaorganisationen, zu denen 2012, S. 3f. [SAM Papers 3/2012]). Vertreter türkeistämmiger Verbände im Ausland ein- 36 Oran, Die türkische Außenpolitik [wie Fn. 22], S. 189. Ähnlich äußerte sich der ehemalige Kultur- und Tourismusminister 37 DEİK, Dünya’da ve Türkiye’de Yurtdışı Doğrudan Yatırımlar der Türkei Ömer Çelik: »Armenier aus Anatolien gehören [Ausländische Direktinvestitionen in der Welt und in der zur Diaspora der Türkei«, zitiert in: Milliyet, 26.4.2013, Türkei], Istanbul, August 2013, S. 43f, (Zugriff am 21.3.2014). Citizens Living Abroad [wie Fn. 16]. SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 15
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