Chinas nukleare Abschreckung - SWP-Studie - Stiftung Wissenschaft und Politik
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SWP-Studie Michael Paul Chinas nukleare Abschreckung Ursachen, Mittel und Folgen der Stationierung chinesischer Nuklearwaffen auf Unterseebooten Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 17 September 2018
Kurzfassung Im Vergleich zu den großen Kernwaffenmächten USA und Russland hat China ein bescheidenes nukleares Abschreckungsdispositiv. Peking strebt keine Fähigkeit zur nuklearen Kriegsführung an, sondern sucht auf gerin- gem Niveau mit einer gesicherten Zweitschlagsfähigkeit vor einer Aggression abzuschrecken. Anders als im Falle der rapiden konventionellen Aufrüstung hat China seine Atomwaffensysteme in der Vergangenheit nur langsam und in kleinen Stückzahlen modernisiert. Dies legt die Vermutung nahe, dass Peking prinzipiell keine Gleichrangigkeit mit der Nuklearwaffenkapazität der USA oder Russlands anstrebt und einen symmetrischen Rüstungs- wettlauf vermeiden will. Allerdings betreibt die chinesische Führung in jüngster Zeit eine immer ambitioniertere asymmetrische Nuklearrüstung. So werden mittlerweile auch Unterseeboote mit strategischen Nuklearwaffen ausgerüstet. Die Stationierung von Nuklearwaffen auf Unterseebooten ist mit einem großen Aufwand, komplexen Herausforderungen und hohen Kosten ver- bunden. Warum hat sich China für diese Lösung entschieden und welche weiteren Folgen sind damit verbunden? Stellt sie unter Umständen eine Zäsur in der chinesischen Nuklearstrategie dar? Wie kann China insbeson- dere unter den Bedingungen der Verwundbarkeit strategischer Systeme an der Politik des Nichtersteinsatzes von Kernwaffen festhalten? Da die strate- gischen, mit ballistischen Langstreckenraketen bestückten Unterseeboote im Südchinesischen Meer stationiert sind, erhält der international ausgetragene Streit um den chinesischen Besitzanspruch auf dieses pazifische Randmeer zusätzliche politische Brisanz.
SWP-Studie Michael Paul Chinas nukleare Abschreckung Ursachen, Mittel und Folgen der Stationierung chinesischer Nuklearwaffen auf Unterseebooten Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 17 September 2018
Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Begutachtungsverfah- ren durch Fachkolleginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review). Sie geben die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2018 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-200 www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org ISSN 1611-6372
Inhalt 5 Problemstellung und Schlussfolgerungen 7 Nukleare Abschreckung und ihre Bedeutung für China 9 Nicht nur ein »Papiertiger«. Eine kurze Entwicklungsgeschichte chinesischer Nuklearwaffen 10 Grundsätze der chinesischen Nuklearstrategie 11 Die Politik des Nichtersteinsatzes 13 Das Verhältnis zu anderen Nuklearwaffenstaaten im indo-pazifischen Raum 16 Das chinesische Nuklearwaffendispositiv 17 Schwerpunkt landgestützte ballistische Raketen 18 Verwundbarkeit landgestützter Waffensysteme 19 Ansätze zur Steigerung der Überlebensfähigkeit chinesischer Nuklearwaffen 21 Eigenschaften und Folgen seegestützter Systeme 21 Entwicklungsstand chinesischer seegestützter Systeme 23 Höhere Erfolgsaussicht bei Abwehrsystemen 24 Weniger Verwundbarkeit oder »transparente« Ozeane? 27 Eine »Bastion« für chinesische Unterseeboote im Südchinesischen Meer 31 Konsequenzen maritimer nuklearer Abschreckung 32 Abkürzungen
Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik
Problemstellung und Schlussfolgerungen Chinas nukleare Abschreckung. Ursachen, Mittel und Folgen der Stationie- rung chinesischer Nuklearwaffen auf Unterseebooten Im Vergleich zu den beiden großen Kernwaffen- mächten USA und Russland hat China ein bescheide- nes nukleares Abschreckungsdispositiv, was den Auf- wand, den es dafür betreibt, und den Umfang betrifft. Peking strebt keine Fähigkeit zur nuklearen Kriegs- führung an, sondern sucht auf geringem Niveau mit einer gesicherten Zweitschlagsfähigkeit vor einer Aggression abzuschrecken. Anders als im Falle der rapiden konventionellen Aufrüstung hat China seine Atomwaffensysteme in der Vergangenheit nur lang- sam und in kleinen Stückzahlen modernisiert. Dies legt die Vermutung nahe, dass Peking prinzipiell keine Gleichrangigkeit mit der Nuklearwaffenkapazi- tät der USA oder Russlands anstrebt und einen sym- metrischen Rüstungswettlauf vermeiden will. Allerdings betreibt die chinesische Führung in jüngster Zeit eine immer ambitioniertere asymmetri- sche Nuklearrüstung. Es werden nicht nur land- gestützte ballistische Langstreckenraketen mobil sta- tioniert und mit manövrierbaren Mehrfachgefechts- köpfen ausgestattet sowie neue, hyperschallschnelle Waffensysteme entwickelt, sondern mittlerweile auch Unterseeboote mit strategischen Nuklearwaffen aus- gerüstet. Deren Raketen können unter gewissen Vor- aussetzungen die USA erreichen, schon wenn sie vom Südchinesischen Meer aus gestartet werden. Die Stationierung von Nuklearwaffen auf Unter- seebooten ist mit einem großen Aufwand, komplexen Herausforderungen und hohen Kosten verbunden. Warum hat sich China für diese Lösung entschieden und stellt sie unter Umständen eine Zäsur in der Ent- wicklung der chinesischen Nuklearstrategie dar? Da- zu muss zunächst dargelegt werden, welche Gründe es für die Seestationierung von Nuklearwaffen gibt. Wie ist die chinesische Abschreckungsstrategie kon- zipiert und welche Anforderungen für strategische Nuklearwaffensysteme resultieren daraus? Wie kann China insbesondere unter den Bedingungen der Ver- wundbarkeit strategischer Systeme an der Politik des Nichtersteinsatzes von Kernwaffen festhalten? Da die strategischen, mit ballistischen Langstreckenraketen bestückten Unterseeboote im Südchinesischen Meer SWP Berlin Chinas nukleare Abschreckung September 2018 5
Problemstellung und Schlussfolgerungen stationiert sind, erhält der international ausgetragene Rüstungskontrolle finden in der Trump-Administra- Streit um den chinesischen Besitzanspruch auf dieses tion kaum Unterstützung. In Washington werden pazifische Randmeer, das etwa doppelt so groß ist wie vielmehr die Begrenzungen durch frühere Rüstungs- das Mittelmeer, zusätzliche politische Brisanz. Wel- kontrollvereinbarungen wie den 1987 unterzeichne- che weiteren Folgen sind damit verbunden: Wird ten INF-Vertrag vermehrt kritisiert. Dieses Abkommen China aufgrund der Seestationierung von Nuklear- galt bisher aufgrund der darin vereinbarten Abrüstung waffen seine Politik des Nichtersteinsatzes beibehal- landgestützter ballistischer Raketen und Marschflug- ten können oder folgt daraus ein Politikwechsel? körper (Intermediate-Range Nuclear Forces, INF) mit Strategische Waffensysteme sind in den letzten einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern Jahren immer zielgenauer geworden mit dem Ergeb- als große Errungenschaft. Allerdings verpflichtet es nis, dass Einrichtungen zu Lande wie Kommando- nicht China, sondern nur die USA und die Nachfolge- und Raketenstellungen sowie Flugplätze zunehmend staaten der UdSSR zum dauerhaften Verzicht auf diese verwundbarer wurden. Dies zwingt alle Atomwaffen- Waffentypen. Darüber hinaus ziehen US-Experten mächte dazu, ihr Abschreckungsdispositiv besser zu zunehmend in Zweifel, dass es klug gewesen ist, den schützen. Andernfalls sind sie nicht mehr in der Lage, Einschnitten im Atomwaffenarsenal zuzustimmen, die nukleare Abschreckung glaubwürdig aufrecht- die die USA und Russland 2010 (New START) beschlos- zuerhalten. Die dazu erforderlichen Waffensysteme sen haben. Peking verfügt mittlerweile über das welt- müssen fähig sein, einen Angriff zu überstehen (in- weit größte Arsenal ballistischer Raketen. Die vertrag- dem sie unterirdisch oder mobil auf Land bzw. auf lich festgelegten Begrenzungen werden daher inzwi- See stationiert sind) und die gegnerische Abwehr zu schen in Moskau und in Washington gleichermaßen durchdringen. Beides ist beim derzeitigen Stand der als hinderlich für die Entwicklung eigener Waffen- Technik am besten durch seegestützte Systeme zu systeme betrachtet. erreichen. Nicht nur die USA und Russland moderni- Die aufgezeigten Entwicklungen können sich sieren daher ihre Flotten strategischer Unterseeboote signifikant auf die europäische Sicherheitslage und (ebenso wie Großbritannien und Frankreich), sondern Deutschland auswirken. Berlin verlässt sich auf die auch China und Indien setzen auf Unterseeboote als Nato als ein Bündnis kollektiver Verteidigung, das Trägersystem für ballistische Raketen. Denn Raketen gegenüber äußeren Bedrohungen vorrangig auf Ab- auf Unterseebooten sind unter Wasser gut vor Ent- schreckung setzt. Dazu unterhält die Allianz ein auf- deckung geschützt und können eine Abwehr auf- einander abgestimmtes strategisches Spektrum aus grund kurzer Vorwarnzeit überwinden. Aber auch konventionellen und nuklearen Fähigkeiten. Das er- Unterseeboote sind nicht unverwundbar. Strategisch fordert nicht nur entsprechende Verteidigungsbeiträ- gewährleistet die Stationierung eines Teils des nukle- ge von Deutschland und den europäischen Nato-Ver- aren Waffenpotentials auf See zwar Stabilität im bündeten, sondern auch überlegene nuklearstrategi- Sinne einer gegenseitig gesicherten Abschreckung. sche Fähigkeiten der USA. Schließlich gilt es auf den Diese ist aufgrund des schnellen technologischen Willen und die Fähigkeit der USA zu vertrauen, im Wandels aber ebenso prekär wie die durch mobile Konfliktfall gegenüber Aggressoren die auf Europa Raketen auf dem Land. Schließlich macht der techni- erweiterte Abschreckung wirksam werden zu lassen. sche Fortschritt erstmals den Nuklearwaffeneinsatz In einer Zeit wachsender Großmachtrivalität hat gegen gegnerische Waffensysteme (counterforce) Chinas nukleare Modernisierung umso gravierendere nicht nur mehr denkbar, sondern auch plausibel. Wie Wirkungen und setzt langfristig die Fähigkeiten der schon in der Vergangenheit werden die Weltmeere so USA zur erweiterten nuklearen Abschreckung in zum Austragungsort geopolitischer Konkurrenz und Europa und in Asien unter Druck. Sollte China seine das Denken in Einflusszonen wird Realität, indem strategischen Ambitionen und Fähigkeiten noch er- China das Südchinesische Meer als Schutzraum auch weitern, könnte dies zu einer Verschärfung der Lage für seine Unterseeboote reklamiert. Die wachsende führen. Wachsende Anforderungen der USA im indo- Rivalität zwischen atomar bewaffneten Großmächten pazifischen Raum würden auch Druck auf das strate- hat so auch spezifische Auswirkungen auf die mari- gische Einsatzspektrum der Nato ausüben – von der time und die regionale Sicherheit. U-Boot-Jagd bis hin zur Aufrechterhaltung einer In der Vergangenheit bewährte Ansätze zur Ein- glaubwürdigen nuklearen Abschreckung. Die Sicher- hegung von Großmachtkonkurrenzen sind gegenwär- heit Deutschlands wird so auch aufgrund von Ent- tig nicht realistisch. Die Politikziele Abrüstung und wicklungen in Asien zunehmend prekär. SWP Berlin Chinas nukleare Abschreckung September 2018 6
Nukleare Abschreckung und ihre Bedeutung für China Nukleare Abschreckung und ihre Bedeutung für China Abschreckung ist »der Versuch, einen Gegner von Nuklearwaffenstaaten USA, Russland, China, Frank- einem bestimmten Vorgehen durch die Schaffung reich und Großbritannien, die gemäß dem Nicht- von Risiken zurückzuhalten, die ihm im Verhältnis verbreitungsvertrag (NVV) offiziell anerkannt sind, zu dem erstrebten Gewinn unverhältnismäßig groß wie für neue Nuklearwaffenstaaten wie Indien und erscheinen.« 1 Dem Gegner muss also eine Reaktion Pakistan. Selbst Nordkorea strebt mit seiner rudimen- angedroht werden, die für diesen nicht akzeptabel ist, tären Nuklearfähigkeit im Kern eine solche Abschre- weil die Kosten seines Handelns dann den erwarteten ckung im Verhältnis zu den USA an. Nutzen übersteigen. Nuklearwaffen erlauben es theo- retisch selbst kleineren Ländern wie Nordkorea, Nukleare Abschreckung ist auch nach einem Angreifer unverhältnismäßig zu schaden. Die der Stationierung eines gut geschütz- dafür zur Verfügung stehenden Waffensysteme müs- ten Waffensystems nicht für alle Zeit sen jedoch glaubwürdig einsetzbar sein, damit sie sichergestellt. nicht eingesetzt werden. Aus dieser widersprüch- lichen Logik heraus müssen Nuklearwaffenstaaten Aber selbst bei etablierten Nuklearwaffenstaaten keine militärische Bedrohung durch andere staatliche wie China und Russland werden insbesondere die Akteure fürchten, sobald ihre Trägersysteme – ge- landgestützten Trägersysteme wegen neuer techno- schützt beispielsweise durch Bunker oder unter logischer Entwicklungen (Sensorik, Auflösung und Wasser – eine sichere Zweitschlagsfähigkeit besitzen. Datenerfassung sowie Präzision) zunehmend ver- Denn unter solchen Bedingungen ist ein »Sieg« nicht wundbar. Abschreckung ist also nach der Stationie- möglich, jedenfalls nicht unter rational vertretbaren rung eines vermeintlich sicheren, weil gut geschütz- Bedingungen. 2 ten Waffensystems nicht für alle Zeit und unter allen Zwischen Nuklearwaffenstaaten beruht die Ab- Umständen sichergestellt. 3 Vielmehr erfordert die schreckung vor einem mit Nuklearwaffen ausgetra- Gewährleistung der Sicherheit durch Nuklearwaffen genen Konflikt im Wesentlichen auf einem prekären eine stetige Anpassung an eine Umwelt, die sich dyna- Stabilitätszustand. Strategische Stabilität wird als ein misch verändert. Eine solche Anpassung kann ent- Gleichgewicht verstanden, bei dem keine Seite ihre weder einseitig durch Aufrüstung oder multilateral Massenvernichtungswaffen einsetzt, weil die Gegen- durch Abrüstung und Rüstungskontrolle vollzogen seite stets in der Lage wäre, der zuerst angreifenden werden. Dabei werden bestimmte Waffensysteme in Partei zur Vergeltung ein inakzeptables Maß an Zer- ihrer Zahl oder ihren Fähigkeiten aufgerüstet oder störung zuzufügen (deterrence by retaliation). Dieses beseitigt bzw. begrenzt. Um beispielsweise die Ab- Prinzip gilt gleichermaßen für die traditionellen schreckung durch Vergeltung im Sinne einer gegen- seitig gesicherten Vernichtung (Mutual Assured 1 Henry A. Kissinger, Kernwaffen und Auswärtige Politik, Destruction, MAD) aufrechtzuerhalten, wurden 1972 München: Oldenbourg Verlag, 1974, S. 81. 2 Vgl. Robert Jervis, The Meaning of the Nuclear Revolution: Statecraft and the Prospect of Armageddon, Ithaca, NY: Cornell 3 Ein vermeintlicher Ausweg aus dieser Rüstungsspirale ist University Press, 1989; Elbridge A. Colby, »Defining Strategic mit der Idee einer »Weltuntergangsmaschine« verbunden, Stability: Reconciling Stability and Deterrence«, in: Elbridge vgl. Graham Allison, »Is Nuclear War Inevitable?«, in: New A. Colby/Michael S. Gerson, Strategic Stability: Contending Inter- York Times, 28.12.2017; Daniel Ellsberg, The Doomsday Machine. pretations, Carlisle, PA: Strategic Studies Institute / U.S. Army Confessions of a Nuclear War Planner, London / New York: War College Press, Februar 2013, S. 47–83. Bloomsbury 2017. SWP Berlin Chinas nukleare Abschreckung September 2018 7
Nukleare Abschreckung und ihre Bedeutung für China im ABM-Vertrag die Mittel zur Abwehr ballistischer global die Führung übernehmen zu wollen. 7 Die neue Raketen (Anti-Ballistic Missile, ABM) verboten. Die Großmachtrivalität zwischen den USA und China Aufkündigung des ABM-Vertrags 2002 hat die USA in wird vornehmlich auf diplomatischer und wirtschaft- die Lage versetzt, nicht mehr nur auf eine Vergel- licher Ebene sowie im Cyber- und Informationsraum tungsstrategie zu setzen, sondern eine Strategie des ausgetragen, kann aber militärisch – und damit Verwehrens gegnerischer Optionen (deterrence by nuklear – eskalieren. 8 Es gibt zu viele Krisen und denial) zu verfolgen. Denn eine effiziente Raketen- Konflikte mit großem Eskalationspotential, an denen abwehr vermindert die Einsatzmöglichkeiten des die USA und China sowie Russland beteiligt sind, als Gegners und verschafft so Entscheidungsträgern mehr dass eine militärische Auseinandersetzung in Zukunft Zeit zur Reaktion. An die Stelle der bis dato prakti- völlig ausgeschlossen werden kann. Schließlich hat zierten Rüstungskontrolle defensiver Systeme trat die Trump-Regierung klargestellt, dass sie die mili- dadurch eine unkontrollierte Rüstung bei Offensiv- tärische Überlegenheit der USA auf jeden Fall bewah- waffen mit dem Ziel, diese so weiterzuentwickeln, ren und dazu nicht nur eine Abschreckungsstrategie dass sie die US-Raketenabwehr überwinden können; der Vergeltung, sondern auch des Verwehrens gegne- dazu zählen unter anderem hyperschallschnelle rischer Optionen anwenden will. 9 Gleiter (Hypersonic Glide Vehicle, HGV). 4 Darüber In den USA wird seit Jahrzehnten kontrovers über hinaus hat die Entwicklung hin zu immer präziseren die Rolle von Nuklearwaffen diskutiert; nun unter den Waffensystemen dazu beigetragen, dass die Debatte Bedingungen neuer Großmachtrivalitäten. 10 Dabei über den Einsatz von Nuklearwaffen gegen Waffen- wird häufig übersehen, dass Peking den Nuklearwaffen systeme des Gegners (counterforce) und die damit traditionell eine andere und vielschichtigere Bedeu- verknüpfte Verwundbarkeit der Instrumente nukle- tung zumisst, als dies in Washington der Fall ist. arer Abschreckung wieder neu geführt wird, und zwar unter mittlerweile veränderten politischen, strategischen und technologischen Bedingungen. 5 Der indo-pazifische Raum gerät in diesem Kontext zunehmend in den Blick, weil dort die Fähigkeit der 7 »China and Russia want to shape a world antithetical to USA zur globalen Machtprojektion in besonderem U.S. values and interests. China seeks to displace the United Maße unter Druck gerät. Aufgrund seiner maritimen States in the Indo-Pacific region«, The White House, National Aufrüstung ist China zur größten Marine in Ostasien Security Strategy of the United States of America, Washington, aufgewachsen 6 und stellt die Vorherrschaft der USA D.C., Dezember 2017, S. 25; vgl. Timothy R. Heath, »China’s in dieser Region in Frage. In Washingtons neuer Endgame: The Path Toward Global Leadership«, Lawfare, Nationaler Sicherheitsstrategie werden China und 5.1.2018, (Zugriff am 12.6.2018). net, als »Antithese« zu amerikanischen Werten und 8 Das »Air-Sea Battle Concept« soll die Fähigkeit der USA Interessen. An China wird der Vorwurf gerichtet, die zur globalen Machtprojektion und damit die amerikanische USA aus dem indo-pazifischen Raum verdrängen und Vorherrschaft in Ostasien erhalten. Zu inhärenten Eskala- tionsrisiken siehe Michael Paul, Kriegsgefahr im Pazifik? Die maritime Bedeutung der sino-amerikanischen Rivalität, Baden- 4 Wie USA und Russland hat sich auch China die HGV- Baden: Nomos, 2017, S. 163–173. In der NPR heißt es dazu Technologie angeeignet und bereits mehrfach getestet. explizit: »Direct military conflict between China and the 5 Die Debatte, dass Nuklearkriege wegen der Counterforce- United States would have the potential for nuclear escala- Fähigkeiten einer Seite begrenzbar und führbar sein könn- tion«, U.S. Department of Defense (DoD), Nuclear Posture ten, wurde am intensivsten in den 1980er Jahren geführt. Im Review, Washington, D.C.: Office of the Secretary of Defense, aktuellen Kontext siehe dazu Keir A. Lieber/Daryl G. Press, Februar 2018, S. 32. »The New Era of Counterforce. Technological Change and 9 »We must convince adversaries that we can and will de- the Future of Nuclear Deterrence«, in: International Security, feat them – not just punish them if they attack the United 41 (Frühjahr 2017) 4, S. 9–49. States. We must ensure the ability to deter potential enemies 6 Die chinesische Flotte von über 300 Schiffen und Unter- by denial, convincing them that they cannot accomplish seebooten übertrifft quantitativ bei weitem die US-Pazifik- objectives through the use of force or other forms of aggres- flotte, vgl. Ronald O’Rourke, China Naval Modernization: sion«, White House, National Security Strategy [wie Fn. 7], S. 28. Implications for U.S. Navy Capabilities – Background and Issues for 10 Vgl. Peter Rudolf, US-Geopolitik und nukleare Abschreckung Congress, Washington, D.C.: Congressional Research Service in der Ära neuer Großmachtrivalitäten, Berlin: Stiftung Wissen- (CRS), 25.4.2018 (RL33153), S. 63–66. schaft und Politik, Mai 2018 (SWP-Studie 6/2018). SWP Berlin Chinas nukleare Abschreckung September 2018 8
Nicht nur ein »Papiertiger«. Eine kurze Entwicklungsgeschichte chinesischer Nuklearwaffen Nicht nur ein »Papiertiger«. Eine kurze einer unvorteilhaften Lage. Auswärtige Großmächte Entwicklungsgeschichte chinesischer waren mittels Nuklearwaffen in der Lage, China zu Nuklearwaffen kontrollieren, was Peking – auch in Erinnerung an das »Jahrhundert der Demütigung« – nicht akzeptie- Anders als Moskau definiert Peking sein Verhältnis zu ren konnte. Mao erkannte in der Frage des Besitzes Washington nicht in Maßstäben nuklearstrategischer von Nuklearwaffen eine das Schicksal Chinas bestim- Ebenbürtigkeit oder Parität. Der Grund dafür ist nicht mende Angelegenheit. 14 Die Verfügbarkeit vieler nur eine fundamental andere Sicherheitslage, son- Nuklearwaffen war nicht nötig. Es galt das Prinzip dern auch eine andere »nukleare Philosophie«. 11 In der kleinen Zahl, aber hohen Qualität. Erinnerung an das »Jahrhundert der Demütigung« Der prestigeträchtige eigenständige Bau von Kern- (1839–1949) ist China bestrebt, sich die jeweils waffen machte Peking außerdem von Moskau un- neueste Waffentechnologie anzueignen, um nicht abhängig. Nachdem die Sowjetunion ihre Unterstüt- wieder in Rückstand (und damit in die Gefahr erneu- zung bei diesem Prozess versagt und im August 1960 ter Demütigung) zu geraten. Aber Parität anzustreben ihre Berater aus China abgezogen hatte, ordnete Mao würde aufgrund der unterschiedlichen Kräfteverhält- die Entwicklung von Nuklearwaffen an. Auf den nisse im Vergleich zu den USA und Russland eine ersten Atombombentest am 16. Oktober 1964 folgte enorme finanzielle Anstrengung erfordern, die auf am 17. Juni 1967 der Test einer Wasserstoffbombe. Kosten des sozialen Friedens im Lande – und damit Als Trägersystem war am 27. Oktober 1966 erfolgreich der Regimestabilität – ginge. 12 Nuklearwaffen haben eine Mittelstreckenrakete mit einem aktiven nuklea- insofern eine wichtige, gleichwohl aber begrenzte ren Gefechtskopf getestet worden. Damit hatte China Bedeutung für die chinesische Außen- und Sicher- deren praktische Einsatzreife bewiesen. Mao kom- heitspolitik. mentierte diese Fortschritte stolz mit den Worten: »Wer sagt, wir Chinesen können keine nuklearen Die Verfügbarkeit vieler Raketen entwickeln?« 15 Nuklearwaffen ist Peking nicht Maos Vorgabe, Nuklearwaffen nur in kleiner Zahl, wichtig. Es gilt das Prinzip der aber hoher Qualität vorzuhalten, wurde in den kleinen Zahl, aber hohen Qualität. 1960er Jahren zur offiziellen Leitlinie der chinesi- schen Abschreckungspolitik und gilt noch heute. Mao Tse-tung wird häufig mit der Aussage zitiert, Welche Überlegungen Peking mit diesem Ansatz dass die Atombombe nur ein »Papiertiger« sei, denn eines schlanken und wirksamen Waffenarsenals (lean tatsächlich werde ein Krieg nicht allein durch Waffen- and effective) verknüpft, macht ein Statement des gewalt entschieden. 13 Die kommunistische Führung Generalmajors Peng Guangqian aus dem Jahr 2004 des Landes hat die Bedeutung von Nuklearwaffen deutlich: Selbst wenn die USA fähig wären, China ein- aber zu keiner Zeit unterschätzt. Im dialektischen hundert Mal zu zerstören, so sei sein Land doch sieg- Sinne handelte es sich aus ihrer Sicht bei diesen reich, wenn ihm dies umgekehrt ein Mal gelinge. 16 Waffen um papierene wie reale Tiger: papieren, wenn man sie nicht fürchtet, und real, wenn man sie nicht besitzt. Ohne Nuklearwaffen befand sich die Volks- 14 Vgl. Sun Xiangli, »The Development of Nuclear Weap- republik gegenüber den USA und der Sowjetunion in ons in China«, in: Bin/Zhao (Hg.), Understanding Chinese Nuclear Thinking [wie Fn. 11], S. 79–82. 11 Li Bin, »Differences between Chinese and U.S. Nuclear 15 Shu Guang Zhang, »Between ›Paper‹ and ›Real Tigers‹: Thinking and Their Origins«, in: Li Bin / Tong Zhao (Hg.), Mao’s View of Nuclear Weapons«, in: John Lewis Gaddis/ Understanding Chinese Nuclear Thinking, Washington, D.C.: Philip H. Gordon/Ernest R. May/Jonathan Rosenberg, Cold Carnegie Endowment for International Peace, 2016, S. 3. War Statesmen Confront the Bomb. Nuclear Diplomacy since 1945, 12 In den USA werden die Kosten der Modernisierung der Oxford: Oxford University Press, 1999, S. 212. Triade in den nächsten 30 Jahren auf über 1000 Milliarden 16 Zhang, »Between ›Paper‹ and ›Real Tigers‹« [wie Fn. 15], US-Dollar geschätzt, vgl. Congressional Budget Office (CBO), S. 212f. Vgl. Eric Heginbotham et al., China’s Evolving Nuclear Approaches for Managing the Costs of U.S. Nuclear Forces, 2017 to Deterrent: Major Drivers and Issues for the United States, Santa 2046, Washington, D.C.: CBO, Oktober 2017. Monica: RAND, 2017, S. 19–21; You Ji, »China’s Nuclear 13 Idealiter ist gemäß leninistischer Maxime das ideolo- Doctrine, Its Strategic Naval Power and Anti-Missile Defence gische Bekenntnis der Parteikader für den Ausgang eines Initiatives«, in: Lawrence W. Prabhakar / Joshua H. Ho / Sam Krieges entscheidend. Bateman (Hg.), The Evolving Maritime Balance of Power in the Asia- SWP Berlin Chinas nukleare Abschreckung September 2018 9
Nukleare Abschreckung und ihre Bedeutung für China Die abschreckende Wirkung von Nuklearwaffen sei zur Verfügung stehenden Kernwaffen benutzt werden absolut und könne nicht durch andere Waffen ersetzt sollen und legt dies in ihrer deklaratorischen Version werden, meinte Präsident Xi Jinping in seiner ersten den potentiellen Gegnern gegenüber offen. Obwohl Rede als Generalsekretär der Kommunistischen Partei China eine hohe Geheimhaltung in Fragen nationaler Chinas vor Offizieren der »Zweiten Artillerie« der Sicherheit praktiziert, lassen sich auch hier grund- Volksbefreiungsarmee am 5. Dezember 2012. 17 Diese legende Prinzipien einer solchen Doktrin identifizie- Einheit der Landstreitkräfte war seit ihrer Gründung ren. Ambiguität und Unklarheit, die die offiziellen am 1. Juli 1966 auch für die Betreuung des Nuklear- Erklärungen oft kennzeichnen, sind dabei beabsich- waffenarsenals verantwortlich. Die gewachsene Be- tigt, denn unter der Voraussetzung eines im Vergleich deutung der Raketenstreitkräfte lässt sich daran ab- zu den USA zahlenmäßig weit geringeren Waffen- lesen, dass sie am 31. Dezember 2015 zu einer sepa- arsenals ist Uneindeutigkeit ein Element der Ab- raten Teilstreitkraft aufgewertet wurden. Allerdings schreckungswirkung – und selbst in der relativ aus- ist aufgrund der hohen Geheimhaltung unter Exper- führlichen US-Doktrin werden nicht alle strategisch ten strittig, ob die Raketenstreitkräfte oder die Marine und operativ relevanten Umstände des Einsatzes ex- für Raketen auf strategischen Unterseebooten zustän- plizit gemacht. Dem Zweck, eine glaubwürdige Ab- dig sind. 18 Im Weißbuch 2015 wird die Nuklearstreit- schreckungsfähigkeit zu signalisieren, dient auch die macht als »Eckstein« bezeichnet, auf dem die natio- staatliche Propaganda mit Berichten über die erfolg- nale Souveränität und Sicherheit beruhe. 19 reiche Erprobung neuer Waffensysteme. Weiter- gehende Informationen über technische Charakte- ristika und operative Einsatzbedingungen werden in Grundsätze der der Regel zurückgehalten. Daher herrscht unter Ex- chinesischen Nuklearstrategie perten oft Unsicherheit, sobald über spezifische Aspekte – wie die konkreten Bedingungen des Nicht- Die tautologische Aussage über die defensive Natur ersteinsatzes – diskutiert wird. 21 der eigenen nuklearen Strategie (»a self-defensive In ihren allgemeinen Grundsätzen ist die chinesi- nuclear strategy that is defensive in nature«) 20 ist sche Nuklearstrategie seit Jahrzehnten einfach und typisch für die offiziellen Verlautbarungen zur chine- konstant geblieben. 22 Das ist darauf zurückzuführen, sischen Militärstrategie überhaupt. Auch schreibt dass es sich bei ihr – im Unterschied zur US-Nuklear- Peking keine Nukleardoktrin fort wie die USA, wo die doktrin, die maßgeblich im Pentagon von militäri- Nuclear Posture Review (NPR) von einer neuen Admi- schen und zivilen Experten erstellt wird – im Wesent- nistration jeweils den wandelnden Gegebenheiten der lichen um eine politische Strategie handelt, die ex- internationalen Politik und den variierenden Maxi- klusiv von der Parteiführung konzipiert und über- men des Regierungshandelns angepasst wird. Eine wacht wird. 23 Daher wurden erst nach Maos Tod 1976 Nukleardoktrin bestimmt, unter welchen Bedingun- entsprechende Einsatzpläne erstellt, um die chinesi- gen und in welcher Art und Weise im Konfliktfall die sche Strategie konkret umsetzen zu können. Darüber hinaus gelten die Aussagen von Mao und Zhou Enlai weiterhin als verbindlich. Pacific. Maritime Doctrines and Nuclear Weapons at Sea, Singapur 2006, S. 168. 17 Richard D. Fisher, General Secretary Xi Jinping on Nuclear Weapons, Missiles and Space Warfare, Alexandria, VA: Inter- 21 Vgl. Nan Li, »China’s Evolving Nuclear Strategy: Will national Assessment and Strategy Center, 3.11.2014. China Drop ›No First Use‹?«, in: China Brief, 18 (12.1.2018) 1, 18 Vgl. Hans M. Kristensen/Robert S. Norris, »Chinese S. 8; Liping Xia, »China’s Nuclear Doctrine: Debates and Nuclear Forces, 2016«, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 72 Evolution«, in: Regional Insight, Washington, D.C.: Carnegie (2016) 4, S. 205; Heginbotham et al., China’s Evolving Nuclear Endowment, 30.6.2017. Deterrent [wie Fn. 16], S. 107. 22 Vgl. Sun, »The Development of Nuclear Weapons in 19 Ministry of National Defense, The Peoples Republic of China« [wie Fn. 14], S. 95–99. China, »Full Text: China’s Military Strategy«, in: Xinhua, 23 »Nuclear strategy has remained constant because it is 26.5.2015, (Zugriff am 10.7.2018). delegated to top military officers«, M. Taylor Fravel, »Shifts in 20 Ebd. Vgl. Committee on the U.S.-Chinese Glossary of Warfare and Party Unity: Explaining China’s Changes in Nuclear Security Terms, English–Chinese, Chinese–English Nuclear Military Strategy«, in: International Security, 42 (Winter 2017/ Security Glossary, Washington, D.C., 2008, S. 64f. 2018) 3, S. 39. SWP Berlin Chinas nukleare Abschreckung September 2018 10
Die Politik des Nichtersteinsatzes Mao hatte erkannt, dass mit Nuklearwaffen poli- Die Politik des Nichtersteinsatzes tisch Einfluss auf China ausgeübt werden konnte. Es ist umstritten, ob die Entscheidung, sich diese an- China hat seit dem ersten Nuklearwaffentest am zueignen, auf Drohungen der USA im Korea-Krieg 16. Oktober 1964 stets erklärt, es werde niemals und zurückzuführen ist. 24 Der Besitz von Nuklearwaffen unter keinen Umständen als Erster Nuklearwaffen war aber auf jeden Fall eine Frage, die über die Souve- einsetzen (No First Use, NFU). 27 Diese Entscheidung ränität Chinas entschied, und somit unverzichtbar. mag auch das Ergebnis taktischer Erwägungen ge- Anders als in den USA sollten die Atomwaffen jedoch wesen sein. 28 Als maoistisches Erbe hat die Selbst- prinzipiell nur der Abschreckung dienen und nicht verpflichtung zum Nichtersteinsatz aber seither so- zur Führung eines mit Nuklearwaffen ausgetragenen wohl die deklaratorische Politik als auch die Waffen- Krieges befähigen. 25 beschaffungspolitik 29 geprägt. Zuletzt ist sie im Weiß- buch 2015 noch einmal offiziell bestätigt worden. Es China hat seit seinem ersten ist allerdings unklar, unter welchen Bedingungen ein Nuklearwaffentest 1964 stets erklärt, Einsatz erfolgen würde. es werde niemals als Erster Grundsätzlich gilt für jeden Nuklearwaffenstaat, Nuklearwaffen einsetzen. dass die eigenen Kernwaffen vor einem entwaffnen- den Erstschlag bewahrt werden müssen, sie aber bei Das in den USA verfolgte Prinzip der Abschreckung einem vermeintlich oder tatsächlich drohenden Erst- ist in diesem Kontext betrachtet eine Strategie der schlag auch nicht voreilig eingesetzt werden dürfen. Androhung von Gewalt, 26 die gemäß dem chinesi- Theoretische Lösungsansätze für dieses Problem wer- schen Verständnis eben durch den eigenen Nuklear- den in den USA schon seit den 1960er Jahren disku- waffenbesitz verhindert werden soll. Nach wie vor tiert. 30 Um auf einen Erstschlag zu reagieren, gibt orientiert sich Peking daher bei der Entwicklung von es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: nämlich Nuklearwaffen und der Festlegung der Parameter für Nuklearwaffen zu starten, sobald eine Warnung deren Einsatz am Grundsatz des notwendigen Mini- durch Satellitenortung erfolgt (Launch on Warning) mums an Vergeltung, wozu konsequenterweise auch oder nachdem der Angriff durch eine Explosion die Doktrin des Nichtersteinsatzes gehört. bestätigt worden ist (Launch under Attack). Wenn gegnerische Raketen von Unterseebooten abgefeuert werden, muss theoretisch innerhalb von 5 bis 15 27 Die NFU-Erklärung (»never at any time or under any 24 Die Eisenhower-Regierung entschied im Mai 1953, den circumstances be the first to use nuclear weapons«) erfolgte Einsatz von Nuklearwaffen in Betracht zu ziehen, wenn die am selben Tag; vgl. Pan Zhenqiang, »China’s No First Use of Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Korea schei- Nuclear Weapons«, in: Bin/Zhao (Hg.), Understanding Chinese tern sollten. Es gibt aber keine Belege dafür, dass dies der Nuclear Thinking [wie Fn. 11], S. 51–77. chinesischen Seite mitgeteilt worden wäre. Andere argumen- 28 Ursprünglich ausschlaggebend war das Bemühen tieren, offizielle US-Vertreter hätten dies implizit, aber Pekings, den Druck der internationalen Gemeinschaft zu nichtsdestotrotz deutlich zum Ausdruck gebracht, vgl. verringern, dem 1963 in Kraft getretenen Moskauer Vertrag Jeffrey Lewis, Paper Tigers. China’s Nuclear Posture, London: über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmo- The International Institute for Strategic Studies (IISS), 2014, sphäre beizutreten. Damit wären eigene Nuklearwaffentests S. 38; Heginbotham et al., China’s Evolving Nuclear Deterrent unmöglich gewesen, vgl. Lewis, Paper Tigers, [wie Fn. 24], [wie Fn. 16], S. 16. S. 20–23. 25 Unter der Annahme, dass der totale Krieg einen »Akt 29 So bei der Entscheidung, auf die Entwicklung einer der Verzweiflung« darstelle, zu dem man sich nur dann Neutronenbombe zu verzichten, die den Nuklearkrieg hätte entschließe, wenn die nationale Existenz bedroht ist, kam »führbar« erscheinen lassen, vgl. Sun, »The Development of schon Kissinger zu der Überzeugung, dass »die Fähigkeit, Nuclear Weapons in China« [wie Fn. 14], S. 84. einen totalen Krieg zu führen, als Schutz gegen einen plötz- 30 »If both sides have weapons that need not go first to lichen Überfall auf das Gebiet der Vereinigten Staaten« avoid their own destruction, so that neither side can gain wirke, Kissinger, Kernwaffen und Auswärtige Politik [wie Fn. 1], great advantage in jumping the gun and each is aware that S. 107. the other cannot, it will be a good deal harder to get a war 26 Vgl. Xu Weidi, »China’s Security Environment and the started. Both sides can afford the rule: When in doubt, wait«, Role of Nuclear Weapons«, in: Bin / Zhao (Hg.), Understanding Thomas C. Schelling, Arms and Influence, New Haven, CT: Yale Chinese Nuclear Thinking [wie Fn. 11], S. 40f. University Press, 1966, S. 246. SWP Berlin Chinas nukleare Abschreckung September 2018 11
Nukleare Abschreckung und ihre Bedeutung für China Minuten über den Einsatz eigener Raketen entschie- unter extremen Bedingungen gewährleisten. In bei- den werden. Das Hinauszögern des Einsatzbefehls soll den Szenarien wurden keine Nuklearwaffen ein- Entscheidungsträgern unter dem Druck der Ereignisse gesetzt: Soll nun ein nuklearer Ersteinsatz erfolgen? möglichst viel Zeit verschaffen, um fatale Fehler zu In China wird seit Anfang der 2000er Jahre disku- vermeiden und die Ungewissheit zu verringern. 31 Der tiert, ob die Volksrepublik die NFU-Politik aufgeben Entscheidungsdruck reduziert sich damit aber nur und dem Vorbild anderer Nuklearwaffenstaaten relativ, denn aufgrund der Verwundbarkeit von Ein- folgen soll. Diese Position, die eine Minderheit von richtungen zur Kontrolle des Nuklearwaffeneinsatzes Experten in China vertritt, basiert auf unterschied- kann es unter Umständen schon zu spät sein, um lichen Annahmen: Ein Teil der Fachleute argumen- noch den Einsatzbefehl zu geben. In den USA und tiert, dass China gezwungen sein könnte, als Erster Russland werden strategische Nuklearwaffen daher Nuklearwaffen einzusetzen, wenn es in einem kon- ständig in hoher Alarmbereitschaft gehalten, damit ventionellen Krieg unterliegt und dabei Kerninteres- sie binnen weniger Minuten gestartet werden kön- sen – wie das Überleben oder die Einheit der Nation nen. 32 Ein Fehlalarm könnte deshalb in einer Krise (im Hinblick auf Taiwan) – bedroht werden. Manche einen Atomkrieg »aus Versehen« auslösen, obwohl sprechen sich dafür aus, dass Peking vor Ausbruch kein Angriff erfolgt ist. Wenn aber Nuklearwaffen zu eines Krieges die Schwelle zum Nuklearwaffeneinsatz lange zurückgehalten werden, droht ihr Verlust und niedriger ansetzen sollte, um vor konventionellen ein Versagen der Abschreckung. Angriffen abzuschrecken. Sie befürworten nicht den Chinesische Entscheidungsträger stehen heute vor Ersteinsatz als solchen, aber die Drohung damit. einem ähnlichen Dilemma. Einerseits legt die NFU- Andere sind der Auffassung, dass die Aufgabe der Politik nahe, dass Nuklearwaffen erst nach einer NFU-Politik es Peking erlauben würde, die Abschre- langen Phase militärischer Auseinandersetzungen ckung ähnlich wie Moskau strategisch zu stärken. eingesetzt werden, in der die eigenen Streitkräfte in Weder habe die NFU-Politik die USA von ihren Be- Gefahr geraten, völlig vernichtet zu werden oder Staat mühungen abgehalten, China einzudämmen, noch und Parteiführung zu kollabieren drohen. 33 Anderer- sei sie der Schaffung eines friedlichen und stabilen seits ist denkbar, dass Cyberangriffe im Verbund mit Umfelds förderlich gewesen. Im Gegenteil habe sich dem Einsatz konventioneller Waffen (Conventional die Lage des eigenen Landes unter anderem aufgrund Prompt Global Strike, CPGS) in einem »Counterforce«- der Proliferation von Kernwaffen- und Trägertechno- Schlag zentrale Bestandteile des chinesischen Füh- logie verschlechtert. Daher kommen diese Experten rungssystems und Raketenarsenals vernichten. Die zu dem Schluss, dass China von anderen lernen und Raketenabwehr der USA könnte danach mit Unter- den Ersteinsatz zum Zweck der Abschreckung er- stützung ihrer Alliierten in der Region die noch wägen müsse, um sich gegen die USA behaupten und übriggebliebenen chinesischen Raketen abfangen und die eigene Souveränität und territoriale Integrität damit die Zweitschlagsfähigkeit Pekings zunichte- verteidigen zu können. 34 machen. Natürlich ist dies ein Szenario, das eine Die Führung in Peking könnte infolgedessen zu hohe Risikobereitschaft in Washington voraussetzt. dem Schluss kommen, dass die NFU-Politik geändert Peking muss jedoch die Sicherheit des Landes selbst und die Schwelle zum Nuklearwaffeneinsatz gesenkt werden muss. Der Kommandeur der Raketenstreit- kräfte General Wei Fenghe hat solche Überlegungen 31 Vgl. Ashton B. Carter, »Sources of Error and Uncertain- ty«, in: Ashton B. Carter/John D. Steinbruner/Charles A. angestellt: Sie wurden eine Woche nach dem Besuch Zraket (Hg.), Managing Nuclear Operations, Washington, D.C.: von Präsident Xi bei der Raketentruppe im Dezember Brookings, 1987, S. 618, sowie Peter Hayes, Nuclear Command- 2012 publik. Später wurden Planungen für ein System and-Control in the Millennials Era, Berkeley, CA: Nautilus Insti- von Frühwarnsatelliten bekannt, die zur Umsetzung tute, 17.2.2015 (NAPSNet Special Reports). einer solchen Strategie nötig sind. 35 Im chinesischen 32 Die USA und Russland halten jeweils etwa 900 Nuklear- waffen in hoher Alarmbereitschaft; die genaue Zahl unter- liegt der Geheimhaltung, vgl. Hans M. Kristensen/Matthew 34 Vgl. Pan, »China’s No First Use of Nuclear Weapons« McKinzie, Reducing Alert Rates of Nuclear Weapons, Genf: United [wie Fn. 27], S. 70f; Li, »China’s Evolving Nuclear Strategy« Nations Institute for Disarmament Research, 2012. [wie Fn. 21], S. 10. 33 Vgl. David C. Gompert / Astrid Cevallos / Cristina L. Gara- 35 Gregory Kulacki, China’s Military Calls for Putting Its Nuclear fola, War with China: Thinking through the Unthinkable, Santa Forces on Alert, Cambridge, MA: Union of Concerned Scien- Monica, CA: RAND Corporation, 2016, S. 29f. tists, Januar 2016, S. 4. SWP Berlin Chinas nukleare Abschreckung September 2018 12
Das Verhältnis zu anderen Nuklearwaffenstaaten im indo-pazifischen Raum Weißbuch 2015 ist folgerichtig der Appell enthalten, Das Verhältnis zu anderen Nuklear- dass die nukleare Streitkräftestruktur »optimiert« waffenstaaten im indo-pazifischen Raum werden müsse. Das bezieht sich auf die strategische Frühwarnung, auf Kommando- und Kontrolleinrich- Mit seiner zentralen Lage in Asien befindet sich China tungen (C3), die Eindringfähigkeit eigener Raketen in einem geopolitischen Umfeld, das eines der schwie- und die Reaktionsfähigkeit. 36 Diese Ausführungen rigsten in der Welt ist. Die 22 000 Kilometer lange verstärkten außerhalb Chinas die Sorge, dass unter chinesische Landgrenze teilt sich das Reich der Mitte den neuen Vorgaben künftig unter Umständen mit 14 Nachbarn, darunter mit Indien und der errati- »schnell ein nuklearer Vergeltungsschlag« ausgelöst schen Diktatur in Nordkorea sowie Russland und werden könnte. 37 Pakistan vier nuklear bewaffnete Staaten. An seiner Seegrenze, die sich über 18 000 Kilometer erstreckt, Die aktuelle Modernisierung seiner liegen weitere sechs Nachbarstaaten. Dort trifft China Nuklearwaffensysteme kann auch so auf die vorgelagerten Streitkräfte der USA, deren gedeutet werden, dass China seine Präsenz auch der auf Japan und Südkorea erweiterten NFU-Politik beibehalten will. nuklearen Abschreckung dient. In diesem Umfeld kann der relativ geringe Stellenwert überraschen, den Bislang gibt es aber keine Anzeichen dafür, dass China den Nuklearwaffen bei der Entwicklung seiner die NFU-Politik relativiert und die Alarmbereitschaft Streitkräfte zugemessen hat. Der Grund dafür ist, dass dauerhaft erhöht werden soll. 38 Ganz im Gegenteil Peking den Nutzen dieser Waffen nicht nur substan- können die aktuellen Modernisierungsentscheidun- tiell anders bewertet, sondern auch aus dem kosten- gen auch dahingehend gedeutet werden, dass Peking trächtigen Rüstungswettlauf zwischen Moskau und selbst unter schwierigeren Bedingungen die NFU-Poli- Washington im Kalten Krieg gelernt hat und keine tik beibehalten 39 und parallel dazu die Grundlagen symmetrische Rüstungskonkurrenz betreiben will. dafür schaffen will, in Zukunft über eine schnellere Chinesische Nuklearwaffen dienen dem Schutz vor Reaktionsfähigkeit zu verfügen und gegebenenfalls dem Nuklearwaffeneinsatz eines anderen Staates bzw. die NFU-Politik zu ändern. Dabei dienen die USA als der Fähigkeit, auf einen solchen Schlag reagieren zu Referenzpunkt. Schließlich sind die USA und Russ- können. Nach wie vor gilt ein Konflikt um Taiwan als land die einzigen beiden Nuklearwaffenstaaten, die wahrscheinlichste Ursache für eine sino-amerikanische über die theoretische Fähigkeit zu einem entwaff- Konfrontation, die eskalieren kann. 40 Denkbar ist nenden Erstschlag verfügen und unter den Bedin- aber auch eine Lage, in der ein regionaler Konflikt auf gungen einer verschärften Großmachtrivalität eines die Beziehungen zwischen China und den USA über- Tages die Absicht dazu haben könnten. greift und in der Folge beide in eine direkte militäri- sche Auseinandersetzung verwickelt werden. Bei- spiele dafür sind der weiter andauernde Nordkorea- Konflikt oder die Streitigkeiten im Ostchinesischen und Südchinesischen Meer. Beide Spannungsfelder tangieren sowohl chinesische Kerninteressen als auch Sicherheitsinteressen der USA und bergen daher be- 36 Ministry of National Defense (PRC), » China’s Military trächtliches Eskalationspotential. Strategy « [wie Fn. 19]. 37 Kulacki, China’s Military Calls for Putting Its Nuclear Forces on Die USA wollen ihr gesamtes Nuklearwaffenarsenal Alert [wie Fn. 35]; vgl. Tong Zhao, »Strategic Warning and in den nächsten Jahrzehnten modernisieren. Das China’s Nuclear Posture«, in: The Diplomat, 28.5.2017. Pentagon sieht in Chinas erfolgreicher Weiterentwick- 38 Vgl. DoD, Annual Report to Congress: Military and Security lung von Raketen (und selbst von Raketen, die noch Developments Involving the People’s Republic of China 2017 [fortan zitiert als China 2017], Washington, D.C.: Office of the Secre- 40 Präsident Xi erhielt den lautesten Applaus – insbeson- tary of Defense (OSD), 2017, S. 60; Kristensen/Norris, »Chi- dere von Armeeangehörigen in Uniform –, als er in einer nese Nuclear Forces, 2016« [wie Fn. 18], S. 205. Rede im Oktober 2017 erklärte, »We will never allow any- 39 In diesem Sinne Fan Jishe, China’s Nuclear Policy: Change one, any organization, or any political party, at any time or and Continuity, Seoul: Asia-Pacific Leadership Network, in any form, to separate any part of Chinese territory from 22.11.2016 (Policy Brief 23), aber auch DoD, Annual Report to China«, zitiert in Keith Bradsher, »As China Puts Pressure on Congress: Military and Security Developments Involving the People’s Taiwan, Signs of a U.S. Pushback«, in: New York Times, Republic of China 2018, Washington, D.C.: OSD, 2018, S. 77. 22.2.2018. SWP Berlin Chinas nukleare Abschreckung September 2018 13
Nukleare Abschreckung und ihre Bedeutung für China nicht auf chinesischen Unterseebooten stationiert dert« zu reagieren und Angriffe mit hoher Präzision sind wie die JL-3) einen Beleg dafür, dass das eigene selbst gegen verbunkerte Ziele durchzuführen. SLBM Nuklearwaffenpotential in den letzten Jahren ver- ermöglichen Einsätze gegen gegnerische Waffen- nachlässigt worden sei, denn Peking habe damit den systeme (counterforce) und ihre Verwendung wird Abstand zu den USA verkürzt. 41 Allerdings weisen die wegen ihrer hohen Treffgenauigkeit und geringer entsprechenden Ausführungen in der Nukleardoktrin Detonationswerte mit relativ begrenztem Kollateral- der Trump-Regierung (NPR) mehr auf Kontinuität als schaden erstmals plausibel. 45 Im Sinne der Logik auf einen grundlegenden Wandel hin. Unter anderem nuklearer Abschreckung kann argumentiert werden, sollen die 14 nuklear angetriebenen Unterseeboote dass es derartiger unterschiedlicher Einsatzoptionen der Ohio-Klasse (Sub-Surface Ballistic Nuclear, SSBN) bedarf, wenn die Vergeltungsdrohung als solche durch eine neue SSBN-Klasse ersetzt werden. Das erste glaubwürdig bleiben soll. China dürfte sich aufgrund von zehn Booten der neuen Columbia-Klasse soll 2027 dieser speziell auf amerikanischer Seite vorherrschen- ausgeliefert werden und 2031 einsatzbereit sein. 42 den Argumentation auf jeden Fall in seiner Entschei- Aber die Modernisierung der Triade aus land-, luft- dung zur Modernisierung der nuklearen Infrastruktur und seegestützten Waffenplattformen ist schon von und zur Seestationierung bestärkt sehen. der Obama-Regierung geplant worden und die in der NPR formulierte Idee, eine kleine Zahl von Gefechts- Nach wie vor gilt ein Konflikt um köpfen der Trident-SLBM zu modifizieren, ist eben- Taiwan als wahrscheinlichste Ursache falls nicht neu; ein solches Vorgehen zur Reduzie- für eine sino-amerikanische rung der Sprengkraft der Trident-Gefechtsköpfe, die Konfrontation, die eskalieren kann. dazu dienen könnte, vor einem begrenzten russischen Nuklearwaffeneinsatz abzuschrecken, wurde schon Dem Trend zur Seestationierung folgt auch Russ- vor fünf Jahren empfohlen. 43 Derart modifizierte land, 46 dessen Verhältnis zu China nach wie vor ambi- SLBM-Gefechtsköpfe und wieder eingeführte substrate- valent ist. Die Sowjetunion war in der Geschichte der gische Marschflugkörper (SLCM) 44 machen es – falls Volksrepublik anfangs der große kommunistische die Vorhaben vom Kongress genehmigt und dann Bruderstaat und später ein übermächtiger Feind. Nun auch implementiert werden – theoretisch möglich, zeugen gemeinsame Flottenmanöver im Atlantik und auf begrenzte Nuklearwaffeneinsätze »maßgeschnei- im Pazifik von einer neuen Zusammenarbeit. Moskau und Peking bilden zwar keine Allianz, wohl aber eine 41 DoD, Nuclear Posture Review [wie Fn. 8], S. 8. Zweckgemeinschaft zur Abwehr hegemonialer An- 42 Ronald O’Rourke, Navy Columbia (SSBN-826) Class Ballistic sprüche aus Washington. Die Rekalibrierung russi- Missile Submarine Program: Background and Issues for Congress, scher Macht, die sich zum Beispiel in Moskaus Be- Washington, D.C.: CRS, 13.3.2018, S. 7. Vgl. Wolfgang mühungen ausdrückt, in Feldern wie der Cyber- und Richter, Erneuerung der nuklearen Abschreckung. Die USA wollen Weltraumkriegsführung sowie der Raketenabwehr nukleare Einsatzoptionen und globale Eskalationsdominanz stärken, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2018 (SWP- Aktuell 15/2018). 45 »The accuracy revolution has rendered low-casualty 43 Colby, »Defining Strategic Stability« [wie Fn. 2], S. 63f. counterforce attacks plausible for the first time«, Lieber/ Vgl. DoD, Nuclear Posture Review [wie Fn. 8], S. 53f; Frank Press, »The New Era of Counterforce« [wie Fn. 5], S. 27 und Miller, »Addressing Fears About the Nuclear Posture Review S. 30, sowie DoD, Nuclear Posture Review [wie Fn. 8], S. 23, und and Limited Nuclear Use«, War on the Rocks (online), Amy F. Woolf, »New Nuclear Warheads: Legislative Provi- 28.2.2018, (Zugriff 46 Die maritime Komponente der russischen Triade soll am 12.6.2018). wie in den USA künftig aus 14 Unterseebooten bestehen, 44 Substrategische Marschflugkörper können gleichwohl nämlich sechs Booten der Klasse Delta IV und acht Booten strategische Wirkung entfalten, da sie strategische Landziele der Borei-Klasse. Die Boote sollen gleichmäßig zwischen der von den asiatischen oder europäischen Randmeeren aus Nordflotte und der Pazifikflotte aufgeteilt werden; jeweils erreichen können. SLCM (Sea-Launched Cruise Missiles) er- zwölf Boote wären auf Patrouille, während zwei überholt weitern allerdings nicht nur die Flexibilität nuklearer Ein- und modernisiert werden, vgl. Dmitry Gorenburg, Russia’s satzoptionen, sondern vergrößern auch die Grauzone Military Modernization Plans: 2018–2027, Washington, D.C.: zwischen nuklearen und konventionellen Einsatzprofilen, Program on New Approaches to Research and Security in vgl. Richter, Erneuerung der nuklearen Abschreckung [wie Fn. 42], Eurasia (PONARS Eurasia), November 2017 (PONARS Eurasia S. 3. Policy Memo Nr. 495), S. 2. SWP Berlin Chinas nukleare Abschreckung September 2018 14
Das Verhältnis zu anderen Nuklearwaffenstaaten im indo-pazifischen Raum eine Balance zu den USA herzustellen, erhöht im Peking Indien dagegen vergleichsweise wenig Auf- Sinne Chinas strategisch den Druck auf Washington. merksamkeit und nahm es auch nach den indischen Die hohe Bedeutung von Nuklearwaffen, die ihnen in Kernwaffentests 1998 nicht als Bedrohung der eige- der russischen Sicherheitspolitik zukommt, steht nen Sicherheit wahr. Das beginnt sich zu ändern, 50 allerdings im Gegensatz zu dem Stellenwert, den zumal sich derzeit eine quadrilaterale Beziehung ihnen China zumisst. Peking sieht darin einen be- zwischen den USA, Australien, Indien und Japan sorgniserregenden Trend. Zu diesem Unbehagen herauskristallisiert und Indien aufrüstet: Die indische trägt auch die permanente Stationierung russischer Marine soll Ende 2020 über den ersten Flugzeugträger taktischer Nuklearwaffen im Fernen Osten und die aus heimischer Produktion verfügen, 51 und die Triade Verlegung nuklearwaffenfähiger Flugzeuge vom nuklearer Trägersysteme wurde 2017 durch ein zwei- Typ Su-27 und Su-35 in den asiatisch-pazifischen tes Unterseeboot der Arihant-Klasse verstärkt, das mit Raum bei. Außerdem könnte eine Auflösung des bis zu sechs ballistischen Raketen bewaffnet werden INF-Vertrags die Bedrohung Chinas durch amerika- kann. 52 Im Januar 2018 demonstrierte außerdem der nische und russische Mittelstreckenraketen erhöhen. Teststart einer Agni-5-Rakete, dass Indien künftig dem Jenseits solcher Bedrohungsszenarien nähern sich kleinen Kreis von Ländern angehören wird, die über Moskau und Peking jedoch weiter an und planen im Langstreckenraketen verfügen. Mit der Agni-5 können September 2018 großangelegte Militärmanöver, die Ziele in ganz China bedroht werden. 53 erstmals auch den simulierten Nuklearwaffeneinsatz beinhalten. 47 Im Verhältnis zu Indien zeichnet sich die Heraus- bildung einer prekären Dreiecksbeziehung der beiden asiatischen Kontinentalmächte mit den USA ab. Sollte Neu-Delhi auf eine gegen Peking gerichtete Zusam- menarbeit hinwirken, um den wachsenden Einfluss seines chinesischen Rivalen im Indischen Ozean zu konterkarieren, würde sich der Stellenwert Indiens im chinesischen Sicherheitskalkül ändern. Lange war das indisch-chinesische Verhältnis durch eine »ein- seitige Rivalität« gekennzeichnet. 48 China galt in Indien politisch und wirtschaftlich als Rivale und als Sicherheitsbedrohung (nicht zuletzt aufgrund der »Achse China-Pakistan« 49). Umgekehrt schenkte 47 Vgl. Bill Gertz, »Chinese Military Joining Russians for Nuclear War Games«, Washington Free Beacon, (online), 24.8.2018, (Zugriff am 50 »China is committed to deepening its comprehensive 29.8.2018); Heginbotham et al., China’s Evolving Nuclear strategic partnership of coordination with Russia and estab- Deterrent [wie Fn. 16], S. 71–78; Paul, Kriegsgefahr im Pazifik lishing a closer partnership with India«, The State Council [wie Fn. 8], S. 270. Information Office of the People’s Republic of China, China’s 48 Susan Shirk, »One-Sided Rivalry: China’s Perceptions Policies on Asia-Pacific Security Cooperation, Peking: Foreign and Policies toward India«, in: Francine Frankel/Harry Languages Press, Januar 2017, S. 4. Harding (Hg.), The India China Relationship: What the United 51 Die Marine erhielt außerdem im Januar 2018 das dritte States Needs to Know, Princeton, NJ: Woodrow Wilson Center, von sechs Scorpène-Angriffsunterseebooten. 2004, S. 75–100; vgl. Ananya Chatterjee, »India-China- 52 Indien plant langfristig, bis zu fünf Unterseeboote zu United States: The Post-Cold War Evolution of a Strategic bauen, vgl. Brendan Thomas-Noone/Rory Medcalf, Nuclear- Triangle«, in: Political Perspectives, 5 (2011) 3, S. 74–95; armed Submarines in Indo-Pacific Asia: Stabiliser or Menace?, Gaurav Kampani/Bharath Gopalaswamy, Asia in the »Second Sidney: Lowy Institute, September 2015, S. 7. Nuclear Age«, Washington, D.C.: Atlantic Council, November 53 Vgl. Heginbotham et al., China’s Evolving Nuclear Deterrent 2017, S. 5. [wie Fn. 16], S. 78–86; Gaurav Kampani, China-India Nuclear 49 Andrew Small, The China-Pakistan Axis. Asia’s New Geo- Rivalry in the »Second Nuclear Age«, Oslo: Institutt for forsvars- politics, London: Hurst, 2015. studier (IFS), 2014 (IFS Insights 3/2014), S. 12. SWP Berlin Chinas nukleare Abschreckung September 2018 15
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