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Zuwanderung von Arbeitnehmer/innen aus den neuen Mitgliedsstaaten: Potenzial und Folgen für den Arbeitsmarkt in Deutschland Prof. Dr. Herbert Brücker IAB und Universität Bamberg Internationale Konferenz des DGB Arbeitnehmerfreizügigkeit Berlin, 20. März 2012
Drei Fragen 1. Wie verändert die Arbeitnehmerfreizügigkeit Umfang und Struktur der Migration aus den neuen Mitgliedsstaaten? Wie groß ist das Migrationspotenzial? 2. Was wissen wir über die Qualifikations- und Sektorstruktur der Zuwanderung? 3. Welche Folgen ergeben sich für Arbeitsmarkt und Sozialstaat?
Zur Erinnerung: der institutionelle Rahmen (I/II) 1. Arbeitnehmerfreizügigkeit „2+3+2“ Formel für die Übergangsfristen EU-8: GB, IRL und SWE haben 2004 geöffnet, DE und AT als letzte zum 1. Mai 2011 EU-2: ESP und andere haben zum 1.1.2007 geöffnet, DE, AT und andere nehmen auch die letzte Phase bis zum 1.1.2014 in Anspruch. Aber: Öffnung für Hochqualifizierte 2. Niederlassungsfreiheit (e.g. Selbständige) Gilt seit dem 1.5.2004 für die EU-8 und seit dem 1.1.2011 für die EU-2
Der institutionelle Rahmen (II/II) 3. Dienstleistungsfreiheit Umfasst das Recht zur Entsendung von Arbeitnehmern Gilt seit dem 1.5.2004 für die EU-8 und 1.1.2007 für die EU-2 Aber: Übergangsfristen in ‚sensiblen‘ Sektoren wie Baugewerbe, Reinigungsgewerbe, Gartenbau etc. (rd. 7% der Gesamtbeschäftigung in DE) Diese Übergangsfristen sind analog derjenigen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit für die EU-8 zum 1.5.2011 ausgelaufen Schutz vieler Branchen durch Mindestlöhne bzw. Verbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen
Die wirtschaftliche Ausgangslage 2011 Einkommensdifferenzen zu den EU-8 noch hoch BIP pro Kopf zu KKP in den EU-8: 60% der EU-15 BIP pro Kopf zu laufenden Wechselkursen: 35% der EU-15 Löhne zu laufenden Wechselkursen: 28% der EU-15 Einkommensdifferenzen zu den EU-2 noch höher BIP pro Kopf zu KKP in den EU-2: 40% der EU-15 BIP pro Kopf zu laufenden Wechselkursen: 25% der EU-15 Löhne zu laufenden Wechselkursen: 18% der EU-15 Mittel- und osteuropäische Länder unterdurchschnittlich von Finanzkrise betroffen (Ausnahmen: Ungarn, Lettland) Wichtige konkurrierende Zielländer (IRL, ESP) stark betroffen, GB stärker als DE betroffen
Wichtige Faktoren für die Migration Abnehmende Rolle geografischer Distanz Sinkende Transport- und Kommunikationskosten Billigfluglinien: Fixkosten des Transports sind relevant, nicht variable Kosten der Distanz Folge: Größe der Migrationsgemeinschaft, nicht Entfernung determiniert Transportkosten Sprache scheint ein zunehmend relevanter Faktor zu sein Vorteile der angelsächsischen Länder, aber auch ESP und ITL für Migration aus Rumänien Regionale Migrationscluster sind weniger stabil als in der Vergangenheit Aber: Netzwerke sind immer noch relevant
Struktur der Zuwanderung aus den neuen Mitgliedsstaaten Die jungen Kohorten mit hoher Wanderungsbereitschaft in den EU-8 sind besser qualifiziert als die vergleichbaren Kohorten in Deutschland Geringere Anteile ohne abgeschlossene Berufsausbildung Höhere Anteile mit Hochschulabschluss Die Zuwanderer sind deutlich jünger als die deutsche Erwerbsbevölkerung Die Arbeitsmarktbeteiligung ist ähnlich wie die der Deutschen, die AL geringfügig höher Hoher Anteil an Selbständigen (Niederlassungsfreiheit!) In GB ist die AL von EU-8 Migranten halb so hoch wie von Einheimischen
Migration seit der EU Osterweiterung Die ausländische Bevölkerung aus den EU-8 in der EU-15 ist von 2003 bis 2010 von 0,9 auf 2,4 Mill. Personen gewachsen, das entspricht einer Nettozuwanderung von gut 210.000 Personen p.a. Im gleichen Zeitraum ist ausländische Bevölkerung aus BU und RU in der EU-15 um 1,4 Mill. Personen gewachsen Während DE und AT vor der EU Osterweiterung 60% und GB und IRL 18% der Migranten aus den EU-8 erhielten, erhalten GB und IRL seit 2004 70% und DE und AT nur 18% der Migranten aus den EU-8 80% der Migranten aus BU und RO werden von ESP und ITA absorbiert
Prognose und Entwicklung seit der EU-Erweiterung Tatsächliche Entwicklung des Migrationsstocks aus den EU-8 in der EU-15 und Prognose von Alvarez-Plata/Brücker/Siliverstovs (2003)
Ein methodisches Problem Alle Prognosen beruhen auf der kontrafaktischen Annahme, dass alle EU-15 Länder gleichzeitig ihre Grenzen öffnen Für eine selektive Öffnung existiert kein historischer Präzedenzfall und damit auch keine Daten Tatsächlich hängt das Migrationspotenzial von Einwanderungsbedingungen in anderen Zielländern ab Wir konnten deshalb nur das Potenzial für die EU-15 prognostizieren, für Deutschland nach dem 1. Mai 2011 mussten wir Szenarien auf Grundlage von Plausibilitäts- annahmen rechnen
Prognose der ausländischen Bevölkerung aus den EU-8 in der EU-15 Prognosezeitraum Quelle: Eigene Prognose (Baas/Brücker, 2010; 2011).
Annahmen der Szenarien für Deutschland Hoch: Auf Deutschland entfällt der gleiche Anteil an der Zuwanderung aus den NMS-8 in die EU-15 wie im Jahr 2000 (60%) Mittel: Auf Deutschland entfällt ein Anteil von 45% an der Zuwanderung aus den NMS-8 in die EU-15 Niedrig: Der Anteil Deutschlands an der Zuwanderung aus den NMS-8 in die EU-15 steigt nur geringfügig, d.h. von 15% auf 25%
Szenarien: Ausländische Bevölkerung aus den EU-8 in Deutschland Prognosezeitraum Quelle: Eigene Szenarien (Baas/Brücker, 2010).
Andere Prognosen Hans-Werner Sinn (ifo) erwartete „Millionen“, hat aber keine Prognose vorgelegt. Die ifo-Prognose von 2002, die allein für Deutschland ein Potenzial von 5,8-11,0 Prozent der Bevölkerung der Herkunftsländer prognostizierte, kann heute als widerlegt gelten Die IW-Prognose einer Nettozuwanderung von 400.000 Personen p.a. in den Jahren 2011/12 stützt sich auf eine Abfrage der Migrationsintentionen, die das Migrations- potenzial deutlich überschätzen. Zudem wurden in Widerspruch zu allen Erfahrungen stehende Szenarien über die Zu- und Rückwanderung im Zeitverlauf entworfen
Die Entwicklung seit dem 1. Mai 2011 Drei Datenquellen Wanderungsstatistik des Statistischen Bundesamtes Erfasst alle Zu- und Fortzüge, auch bei kurzfristiger Aufenthaltsdauer (Quelle: Meldeämter) Ausländerzentralregister Erfasst alle angemeldeten Ausländer, die sich nicht nur kurzfristig etwa zu besuchen aufhalten (Quelle: Statistik der Ausländerbehörden, erhalten Meldungen von Meldeämtern) Beschäftigungsstatistik der BA Erfasst alle sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigten Leistungsempfänger nach dem SGB III und SGB II
Die Entwicklung in Deutschland seit dem 1. Mai 2011 Seit Jahresbeginn 2011 betrug des Wanderungssaldo aus den EU-8 9.700 Personen (Wanderungsstatistik) bzw. 4.100 Personen (Ausländerzentralregister) pro Monat Differenz: Unterschiedliche Definitionen und Methoden Datenerhebung, u.a. bei kurzfristiger Migration Seit dem 1. Mai 2011 ist das Wanderungssaldo auf 14.000 Personen (Wanderungsstatistik) bzw. 5.600 Personen (AZR) pro Monat gestiegen, sinkt aber wieder Im Jahresverlauf 2011 kann das Wanderungssaldo auf 95.000 Personen (Wanderungsstatistik) bzw. 50.000 Personen (AZR) geschätzt werden
Wanderungsstatistik: Zuzüge, Fortzüge und Saldo, 2011 Quelle: Statistisches Bundesamt, Wanderungsstatistik, (2012).
Ausländerzentralregister: Zuzüge, Fortzüge und Saldo, 2011 Arbeitnehmerfreizügigkeit Quelle: Ausländerzentralregister, BAMF, vorläufige Angaben, eigene Berechnungen.
Wanderungsstatistik und AZR: Vergleich Wanderungssaldo Quellen: Statistisches Bundesamt, Wanderungsstatistik, Ausländerzentralregister, BAMF. Vorläufige Angaben, 2012.
Beschäftigte Staatsbürger aus den EU-8, 2011 Arbeitnehmerfreizügigkeit Quelle: Statistik der BA, Sonderauswertung, eigene Berechnungen.
Eine interessante Diskrepanz Die Zahl der Beschäftigten aus den EU-8 Staaten ist im Sommer 2011 um rund 100.000 Personen gegenüber dem Vorjahr gestiegen, die Nettozuwanderung belief sich jedoch erst auf 35.000 Personen (AZR) bzw. 65.000 Personen (Wanderungsstatistik) Diese Diskrepanz kann nur dadurch erklärt werden, dass Bürger aus den EU-8, die vorher als Selbständige, gar nicht oder im ‚grauen‘ Sektor tätig waren, jetzt einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen These: Dies ist ein Ergebnis der verfehlten Regulation durch Verschiebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit
Qualifikationsstruktur Die jungen Kohorten mit hoher Wanderungsbereitschaft in den EU-8 sind besser qualifiziert als die vergleichbaren Kohorten in Deutschland Geringere Anteile ohne abgeschlossene Berufsausbildung Höhere Anteile mit Hochschulabschluss Daten zur Qualifikation der Neuzuwanderer liegen noch nicht vor Die Zuwanderer sind deutlich jünger als die deutsche Erwerbsbevölkerung Die Arbeitsmarktbeteiligung ist ähnlich wie die der Deutschen, die AL geringfügig höher Hoher Anteil an Selbständigen (Niederlassungsfreiheit!)
Sektorale Struktur Die sektorale Beschäftigungsstruktur weist im Vergleich zur deutschen Bevölkerung überdurchschnittliche hohe Anteile in folgenden Branchen auf: Landwirtschaft Arbeitnehmerüberlassung Bauwirtschaft Hotel- und Gaststättengewerbe Im Verarbeitenden Gewerbe und den übrigen Dienstleistungen sind die Anteile eher unterdurchschnittlich Detaillierte Angaben zum Gesundheits- und Pflegesektor liegen nicht vor
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt Eine Ausweitung des Arbeitsangebots durch Migration kann, muss aber nicht zu sinkenden Löhnen und – bei unvollkommenen Arbeitsmärkten – zu steigender Arbeitslosigkeit führen Starke empirische Evidenz, dass sich der Kapitalstock an Veränderungen des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsangebots anpasst - Kaldor 1961; Ottaviano/Peri 2006; Brücker/Jahn 2008 Migration wirkt auch dann neutral auf den Arbeitsmarkt, wenn sich in einer offenen Volkswirtschaft die Gütermärkte anpassen Aber: Einzelne Gruppen im Arbeitsmarkt können gewinnen und verlieren!
Auswirkungen auf Wachstum Mit der Zuwanderung steigt zunächst das Bruttoinlandsprodukt, die Gewinne der Kapitalseite sind kurzfristig höher als die Verluste der Arbeitnehmer, d.h. es entsteht ein statischer Wohlfahrtsgewinn Mit der Anpassung des Kapitalstocks steigen vorübergehend auch die Wachstumsraten Langfristig erhöht Migration nur das Wachstum, wenn auch die Rate des technischen Fortschritts steigt Erste empirische Evidenz deutet darauf hin, dass mit steigender Diversität und Qualifikation der Migranten sich positive langfristige Wachstumsimpulse ergeben
Wie messen wir die Arbeitsmarktwirkungen? Berücksichtigung unvollkommener Arbeitsmärkte durch Modellierung von Lohnrigiditäten, die empirisch geschätzt werden Schätzung der Beschäftigungsanpassung an den Lohn Schätzung der Anpassung des Kapitalstocks an die Ausweitung des Arbeitsangebots Unterscheidung von 64 Segmenten im Arbeitsmarkt 4 Qualifikationsgruppen 8 Berufserfahrungsgruppen In- und Ausländer
Annahmen der Simulation: 2011-2020 Der „Schock“ 2011 ist zu klein, um messbare Effekte zu haben, darum Simulation 2011-2020 Hohes Szenario: Zunahme der ausländischen Staatsbürger aus den EU-8 von 633.000 auf 1,5 Millionen Erwerbsquote der EU-8 Migranten von 80 Prozent Mittleres Szenario: Zunahme der ausländischen Staatsbürger aus den EU-8 von 633.000 auf 1,3 Millionen Erwerbsquote der EU-8 Migranten von 74 Prozent Niedriges Szenario: Zunahme der ausländischen Staatsbürger aus den EU-8 633.000 auf 980.000 Erwerbsquote der EU-8 Migranten von 74 Prozent
Simulationsergebnisse I: Gesamtwirtschaft 2020 vs. Benchmarkszenario ohne Freizügigkeit Veränderung in % Szenario Niedrig Mittel Hoch BIP 0,41 0,80 1,16 BIP pro Kopf 0,04 0,09 0,20 Erwerbspersonen 0,59 1,15 1,59 Steuern 0,42 0,83 1,19 Konsum 0,42 0,83 1,19
Simulationsergebnisse II: Arbeitsmarkt 2020 vs. Benchmarkszenario ohne Freizügigkeit Lohn: Veränderung in %, AL-Quote: Veränderung in %-Punkten Szenario Niedrig Mittel Hoch Lohn Inländer 0,07 0,13 0,19 AL-Quote Inländer -0,09 -0,18 -0,25 Lohn Ausländer -0,59 -1,15 .-1,58 AL-Quote Ausländer 1,43 2,79 3,86 Lohn alle 0,00 0,00 0,00 AL-Quote alle 0,08 0,16 0,23
Ergebnisse Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt in Deutschland sind langfristig fast neutral Keine Lohneffekte, geringfügiger Anstiegt der Arbeitslosigkeit (Struktureffekt) Problem: Stark negative Effekte für die ausländische Bevölkerung Signifikante gesamtwirtschaftliche Gewinne Das BIP steigt un 0,4%, das BIP-Pro Kopf um 0,04% Hohe Verluste durch Umlenkung der Migration nach GB Das BIP wäre um 0,8 bis 1,16% gestiegen Das BIP pro Kopf wäre um 0,09 bis 0,20% gestiegen
Gewinne für den Sozialstaat Migranten zahlen geringere Steuern als Einheimische und beziehen mehr Transferleistungen nach dem SGB III und SGB II aufgrund höherer Arbeitslosigkeitsrsiken Die Bildungsausgaben für Neuzuwanderer, aber auch hier geborene Kinder von Migranten sind geringer Nettobeiträge für Rentenversicherungssysteme durch günstige Altersstruktur und kurze Beitragsperioden Nettoerträge von 2.000 Euro je Zuwanderer p.a. bei gegebener sozioökonomischer Struktur, könnten bei höher Qualifikation und besserer Integration auf 5.000 Euro p.a. steigen Bonin (2006) Nettoerträge für den Sozialstaat durch Arbeitnehmerfreizügigkeit belaufen sich folglich auf mindestens 700 Mill. Euro p.a., ohne Umlenkung auf 1,4 bis 1,9 Mrd. Euro p.a. bei einem Nettoertrag von 2.000 Euro je Zuwanderer
Schlussfolgerungen Arbeitnehmerfreizügigkeit hat moderaten Anstieg der Nettozuwanderung bewirkt Nettozuwanderung stieg 2011 max. um 100.000 Personen gegenüber 36.000 Personen 2010 Irreversibilität der Umlenkung nach GB Überdurchschnittlicher Zuwachs der Beschäftigung: Fehlregulierung durch Verschiebung der Freizügigkeit? Günstige Qualifikationsprognose und sinkende Arbeitslosigkeit der Zuwanderer Geringe oder neutrale Arbeitsmarktwirkungen Gewinne für den Sozialstaat
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