Archivnachrichten 61 / September 2020 Thema: Zwischen Feindberührung und "amitié". Unser Nachbar Frankreich

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Archivnachrichten 61 / September 2020 Thema: Zwischen Feindberührung und "amitié". Unser Nachbar Frankreich
Archivnachrichten
61 / September 2020

Thema:
Zwischen Feindberührung und
»amitié«. Unser Nachbar Frankreich

  Landesarchiv        »Die Völker haben        Gemeinsames Gedenken      Quellenbeilage

  Baden-Württemberg
                      ein langes Gedächtnis«   Das »Historial« auf dem   Ein Hoch auf Kaiser
                      Gestern und heute        Hartmannnswillerkopf      oder Republik
Archivnachrichten 61 / September 2020 Thema: Zwischen Feindberührung und "amitié". Unser Nachbar Frankreich
2       Archivnachrichten 61 / 2020
        Editorial

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Archivnachrichten 61 / September 2020 Thema: Zwischen Feindberührung und "amitié". Unser Nachbar Frankreich
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Editorial

                                    Im Jahr 842 besiegelten Karl der Kahle und         Grundpfeiler der europäischen Gemeinschaft,
                                    Ludwig der Deutsche, zwei Enkel Karls des Gro-     wenngleich sie gerade aktuell durch die Coro-
                                    ßen, ihr Bündnis um Ansprüche im fränkischen       na-Pandemie auf eine Probe gestellt wird.
                                    Reich in der Sprache des jeweilig anderen:            In diesen Archivnachrichten betrachten wir
                                    Karl der Kahle, König des westfränkischen          die gemeinsame und wechselvolle Geschichte
                                    Reichs, sprach seinen Eid in althochdeutscher      mit unserem Nachbarn Frankreich. Denn der
                                    Sprache, während Ludwig der Deutsche, König        deutsche Südwesten hatte und hat durch seine
                                    im ostfränkischen Reich, seinen Eid in Gallo-      Grenzlage eine ganz besonders intensive Bezie-
                                    romanisch ablegte. Diese Straßburger Eide sind     hung zu Frankreich. Anlass ist das 150-jährige
                                    ganz frühe Textzeugnisse für die Vorläufer der     Gedenken an den Deutsch-Französischen Krieg
                                    heutigen Sprachen Französisch und Deutsch          1870/71. Zwischen Feindberührung und »amitié«
                                    und gleichzeitig der älteste Rechtstext, der die   spüren die Autorinnen und Autoren sowohl
                                    sprachliche Trennung zwischen dem West-            Kriegen, Konflikten als auch personellen Ver-
                                    und dem Ostfrankenreich bezeugt. Und sie           bindungen, kulturellem Austausch, Annäherun-
                                    belegen eindrucksvoll nicht nur die Bedeutung      gen und Berührungen bis hin zu gegenwärtigen
                                    von Sprache bei der Bündnispolitik, sondern        Beziehungen des Landesarchivs mit Archiven
                                    sie weisen uns auch auf die gemeinsamen            im Elsass nach.
                                    Wurzelns Frankreichs und Deutschlands hin:            Weiter finden Sie in diesem Heft Artikel zu
                                    Das westfränkische und das ostfränkische Reich,    aktuellen Projekten und Berichte aus der Arbeit
                                    die beide aus dem Reich Karls des Großen           des Landesarchivs sowie Informationen zu un-
                                    hervorgingen, wurden zum Ausgangspunkt der         seren Ausstellungen, zu denen wir Sie herzlich
                                    Herausbildung von Frankreich und Deutschland.      einladen. Aufgrund der Corona-Pandemie sind
                                       Die Beziehungen zwischen Frankreich             Veranstaltungen derzeit nur schwierig planbar
                                    und Deutschland sind wechselhaft und voller        und es können sich kurzfristige Änderungen
                                    Verflechtungen, Kontakte und Konflikte. Jedoch     ergeben. Aktuelle Hinweise finden Sie auf der
                                    erst im 19. Jahrhundert und in der ersten          Website des Landesarchivs.
1   Einzug der württembergi-        Hälfte des 20. Jahrhunderts sprach man – vor          Nun wünsche ich Ihnen allen Gesundheit so-
    schen Truppen in Stuttgart      dem Hintergrund zahlreicher Kriege – vom           wie Momente von Nähe und Begegnungen trotz
    am 29. Juni 1871, Ölgemälde
    von Christian Speyer
                                    »Erbfeind« Frankreich. Die Erinnerung an die       der gebotenen Abstandsregelungen und neue
    (1855–1929), o. D.              gemeinsamen Wurzeln Deutschlands und Frank-        Einblicke in die deutsch-französisch Geschichte
    Vorlage: LABW, HStAS M          reichs geriet in den Hintergrund. Nach 1945        bei der Lektüre der Archivnachrichten.
    703 R969N4
                                    gelang eine Annährung und schließlich Freund-
                                    schaft – amitié – mit Frankreich. Durch Städte­       Ihre
2   Straßburger Eide in
    »De dissensionibus filiorum     partnerschaften, Schüleraustausche und Schulen
    Hludovici Pii libri quatuor«    wie das deutsch-französische Gymnasium in
    von Nithard, 10. Jahrhundert.
                                    Freiburg ist die amitié mit Frankreich heute
    Vorlage: Bibliothèque
    nationale Paris,                in unserem Alltag angekommen. Die deutsch-         ±Dr. Verena Schweizer
    Latin 9768, fol. 13r            französische Freundschaft ist ein wichtiger         Redaktion Archivnachrichten
Archivnachrichten 61 / September 2020 Thema: Zwischen Feindberührung und "amitié". Unser Nachbar Frankreich
4                      Archivnachrichten 61/ 2020
                       Inhalt

Inhalt

    	Thema:                                        20	Spiegel deutsch-französischer
                                                        Beziehungen
                                                                                            34	Symbolpolitik
                                                                                            	Die Rückgabe der württembergi-
      Zwischen Feind­                                  Das Turenne-Denkmal in Sasbach          schen Kronjuwelen durch die
       berührung und                                    — Sinah Panizic                         französische Militärregierung am
       »amitié«.                                                                                10. März 1948

       Unser Nachbar
                                                                                                 — Franz-Josef Ziwes
                                                    22	»wo Mode und der gute Ton die

       Frankreich                                       Seele der Stadt ausmachen«
                                                    	Eine markgräfliche Familienreise      36	Eine Reise von
                                                        nach Paris im Jahr 1771                 hohem symbolischem Wert
8	»Die Völker haben ein                                — Wolfgang Zimmermann               	Der Staatsbesuch des
   langes Gedächtnis«                                                                           französischen Präsidenten
	Die deutsch-französischen                                                                     Charles de Gaulle im Jahr 1962
   Kriege und die Überwindung                       24	Allianz gegen Napoleon
                                                                                                 — Nicole Bickhoff
   der »Erbfeindschaft«                             	Württembergische
     — Tobias Arand                                     Staatsverträge von dunkler,
                                                        seidiger Gefahr bedroht             38 Gemeinsames Gedenken
                                                        — Albrecht Ernst, Maike Fuidl       	Das deutsch-französische
12	Württemberg und Montbéliard                                                                »Historial« auf
	Die »Mömpelgarder                                                                            dem Hartmannswillerkopf
    Genealogie« von 1474                            26	Überzeugter Europäer
                                                                                                 — Jean Klinkert
     — Peter Rückert                                    oder früher Nationalist?
                                                    	Fürst Karl Anton von
                                                        Hohenzollern (1811–1885)            40	Ein Archiv zwischen
14	Als Württemberg fast bis in                         — Birgit Meyenberg                      Frankreich und Deutschland
    die Normandie reichte                                                                   	Das Beispiel der Archives
	Herzog Friedrich I. (1557–1608)                                                               départementales
    und die Verpfändung                             28	Die »vollkommene
                                                                                                du Haut-Rhin in Colmar
    des Herzogtums Alençon                              Gleichheit des Vortheils«
                                                                                                 — Laëtitia Brasseur-Wild
     — Erwin Frauenknecht                           	Die Eisenbahnbrücke zwischen
                                                        Kehl und Straßburg von 1861
                                                        — Martin Stingl
16	Auf »Grand Tour«                                                                          	Archiv aktuell
	Frankreich als Ziel von
    Studien- und Kavaliersreisen                    30	»Ach wenn die Siege nur             41	Das Online-Findmittelsystem
    junger Adliger                                      nicht so furchtbar viel Blut             im neuen Gewand
     — Maria Magdalena Rückert                          kosten würden!«                     	Redesign des Online-Katalogs
                                                    	  Briefe aus dem Deutsch-                  des Landesarchivs
                                                        Französischen Krieg
                                                                                                 — Thomas Fricke
18	Von Spionen, Mordbrennern                           — Jan Wiechert
    und Aufbauhelfern
	Beziehungen zwischen Frankreich                                                           42	Zu Besuch in Windhoek
    und dem deutschen Südwesten im                  31	Verbindungsstrecke                  	Kooperation des
    frühen Absolutismus                                 für Soldaten und Kanonen                Landesarchivs mit dem National-
     — Johannes Renz                                	Die Wutachtalbahn                         archiv von Namibia
                                                        als strategische Bahn
                                                                                            	— Nicole Bickhoff, Cornelia Bandow,
                                                        — Annika Ludwig                       Wolfgang Zimmermann

                                                    32	Der Tiefpunkt der deutsch-
                                                        französischen Geschichte
                                                        NS-Gewaltverbrechen an Franzosen
                                                         im Spiegel der Justizakten
                                                        — Peter Müller
Archivnachrichten 61 / September 2020 Thema: Zwischen Feindberührung und "amitié". Unser Nachbar Frankreich
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                                                                               Inhalt

43	Archivgut anders entdecken
	Sachthematische Zugänge
                                            	Kulturgut                                	Geschichte
    im Archivportal-D am                      gesichert                                  original
    Beispiel der Weimarer Republik
                                       49	Hoftheaterpersonal kokett                56	Ein Hoch auf Kaiser oder Republik
    — Inger Louise Banse
                                           aufgefächert                             	Von Sigmaringen nach Paris:
                                       	Die Konservierung eines                        Deutsche und französische
44	Alltagskultur im Südwesten             ungewöhnlichen Accessoires                   Festkultur um 1900 im Vergleich
	Ein drittes Themenmodul                  aus der Fächerstadt                            — Markus Fiederer
    für LEO-BW                               — Andrea Rendler
    — Inka Friesen

45	Zukunft. digital                        	Archive geöffnet
	Zum Start der neuen Publika­
    tionsreihe »Werkhefte digital«     50	Die Tochter des Papstes:
    — Tamara Fröhler                       Margarethe von Savoyen
                                       	Eine internationale Ausstellung
                                           im Hauptstaatsarchiv Stuttgart

  	Quellen
                                       ­	    — Julia Bischoff, Peter Rückert

    griffbereit
                                       52	Was können uns
46	Ein großer Sprung für die              Gewanne erzählen?
    Retrokonversion?                   	Ein künstlerisches
	Hauptstaatsarchiv Stuttgart              Projekt von Sara F. Levin
    testet Texterkennungssoftware an         — Peter Müller
    handschriftlichen Findmitteln
    — Johannes Renz
                                       53	Kamera läuft!
                                       	Ausstellung »Nation im
47	Virtuelle Landeserkundung              Siegesrausch« im Film
    der Vergangenheit                        — Wolfgang Mährle
	Projekt zur Erstellung eines
    digitalen Orthofotos von 1968
    erfolgreich abgeschlossen
                                            	Häuser mit
                                              Geschichte
    — Andreas Weber

48	
   »Es sind nur noch diese einzelnen   54	Als Sigmaringen die
   Fotografien vorhanden…«                 französische Hauptstadt war
	Zur Bedeutung von Fotoaufnahmen      	Der Prinzenbau
   für das Erschließungsprojekt von        (heute Staatsarchiv) 1944/45
   Quellen zur Provenienzforschung           — Johannes Weißhaupt
   im Staatsarchiv Freiburg
    — Katrin Hammerstein

                                            	Junges Archiv
                                       55	»L’histoire en Français«
                                       	Fremdsprachenunterricht im
                                           Staatsarchiv Ludwigsburg
                                             — Julia Schneider
Archivnachrichten 61 / September 2020 Thema: Zwischen Feindberührung und "amitié". Unser Nachbar Frankreich
Archivnachrichten 61 / September 2020 Thema: Zwischen Feindberührung und "amitié". Unser Nachbar Frankreich
Zwischen Feindberührung und »amitié«.
                     Unser Nachbar Frankreich

Cover:
Verkehrsübergabe Rheinbrücke          Grenzüberschreitender Austausch und Begeis­
Kehl – Straßburg, französische
Militärkapelle, 23. September 1960.
Aufnahme: Willy Pragher
                                      terung für die französische Kultur prägten über
                                      Jahrhunderte die Beziehungen zu unserem
Vorlage: LABW, StAF W 134
Nr. 063635a

Präsident Emmanuel Macron und
Bundespräsident Frank-Walter          Nachbarn Frankreich ebenso wie das Erleben
Steinmeier vor dem National-
denkmal am Hartmannswillerkopf,
10. November 2017.                    und Erleiden von Kriegen. Doch erst im 19. Jahr-
Aufnahme: Présidence
de la République –
G. Mariette / L. Blevennec
                                      hundert sprach man in der Rückschau von
Einschließung und Beschießung
der Festung Lichtenberg in
                                      »Erbfeindschaft«. Dieses Schlagwort wurde im
                                      Deutsch-französischen Krieg 1870 / 71 sowie in
den nördlichen Vogesen durch
württembergische Truppen
am 9. August 1870, Aquarell von
Karl Albert Schott (1840–1911),
o. D. [um 1900].                      den Weltkriegen gezielt gepflegt und propa-
Vorlage: LABW, HStAS M 703
R968N37
                                      gandistisch eingesetzt. Nach 1945 gelang eine
                                      Überwindung der Gräben – sichtbares Zeichen
Schild »Sie kommen aus Europa,
sie bleiben in Europa« in Weil,
Otterbach.
Aufnahme: Willy Pragher
Vorlage: LABW, StAF W 134 Nr.         der »deutsch-französische Freundschaftsver-
026502

Diese Seite:
                                      trag« von 1963. »Zwischen Feindberührung und
Einweihung der Brücke Neuenburg
– Chalampé, Durchschneidung           ›amitié‹« (Zuneigung, Freundschaft) spiegelt
des Bandes auf französischer
Seite, 17. August 1963.
Aufnahme: Willy Pragher
                                      sich die wechselvolle gemeinsame Vergangen-
                                      heit des deutschen Südwestens und Frankreichs.
Vorlage: LABW, StAF W 134
Nr. 069157c
Archivnachrichten 61 / September 2020 Thema: Zwischen Feindberührung und "amitié". Unser Nachbar Frankreich
8                        Archivnachrichten 61 / 2020
                         Zwischen Feindberührung und »amitiè«

»Die Völker haben ein
langes Gedächtnis«
Die deutsch-französischen
Kriege und die Überwindung
der »Erbfeindschaft«

1                                           Wenn es deutschen Soldaten des Ersten Welt-         ken, als er im September 1870 im Gefolge der
                                            kriegs in der Etappe oder während des oft auch      deutschen Armeen das Königsschloss von
                                            ereignislosen Lebens in den Schützengräben          Versailles besuchte: Endlich, nach zwei Jahrhun-
                                            der Westfront langweilig wurde, konnten sie zu      derten ist alle Schmach getilgt, die Er und die
                                            erbaulich-patriotischer Lektüre greifen. Neben      Seinen dem deutschen Namen gethan. Dieser Tag
                                            anderen Durchhalte- und Rechtfertigungs­            sühnt und rächt Straßburg und Freiburg, Heidel-
                                            schriften konnten sie ein schmales Heft lesen,      berg und Speyer und die verwüstete Rheinpfalz.
                                            das Karl Wild, Professor an der Universität         Die Völker haben ein langes Gedächtnis, und alte
                                            Heidelberg, 1917 in Kaiserslautern verlegen ließ    Schulden werden nicht vergessen. Am 18. Januar
                                            und den sperrigen Titel Wie die Franzosen vor       1871 vermerkte schließlich Kronprinz Fried-
                                            200 Jahren in Heidelberg und in der Pfalz hausten   rich Wilhelm von Preußen, Sohn des an diesem
                                            trug (Abb. 1). Im Untertitel war die Zielgruppe     Tag im Spiegelsaal von Schloss Versailles zum
                                            der Schrift direkt angesprochen: Für die im         Kaiser proklamierten Wilhelm I. voller Stolz in
1   Bucheinband des Werks                   Schützengraben und für die daheim. Im Vorwort       sein Diarium: Ich ließ meine Blicke während dieses
    von Karl Wild.
                                            wird Wilds Intention deutlich. Mit Blick auf das    Teils der Feier über die Versammlung und an
    Vorlage: Karl Wild: Wie die
    Franzosen vor 200 Jahren in             zerstörte Heidelberger Schloss schreibt Wild:       die Decke schweifen, wo Ludwigs XIV. Selbstverherr­-
    Heidelberg und in der Pfalz             edenfalls sind die Ruinen ein Wahrzeichen der       lichungen, riesig in Allegorien und erläuternden,
    hausten. Kaiserslautern 1917
                                            früheren Ohnmacht Deutschlands […]. Sie sind        prahlerischen Inschriften abgebildet, namentlich
                                            aber auch eine Warnung vor unserem gefährlichen     die Spaltung Deutschlands zum Gegenstand haben,
                                            Nachbar im Westen. Auch nach zwei Jahrhunder-       und fragte mich mehr als einmal, ob es denn wirk-
                                            ten konnte die noch immer lebendige Erinnerung      lich wahr sei, daß wir uns in Versailles befänden,
                                            an die katastrophalen Zerstörungen der Pfalz,       um hier die Wiederherstellung des deutschen
                                            Heidelbergs, Mannheims und von Teilen Würt-         Kaisertums zu erleben – so traumartig wollte mir
                                            tembergs, wie sie auf Befehl des französischen      das Ganze erscheinen. (Abb. 3) Die Kaiserpro­
                                            Monarchen Ludwig XIV. während des Pfälzischen       klamation im Spiegelsaal von Versailles, später
                                            Erbfolgekrieges stattfanden, zur Ertüchtigung       oft als bewusster Akt der Demütigung Frank-
                                            des Wehrwillens deutscher Soldaten funktionali-     reichs dargestellt, war den handelnden Zeit­
                                            siert werden.                                       genossen wohl vor allem ein Akt ausgleichender
                                               Schon Jahrzehnte vorher, im Deutsch-Franzö-      Gerechtigkeit, in einem Gebäude, das prakti­
                                            sischen Krieg von 1870 / 71 erinnerte man sich      scherweise gerade zur Verfügung stand – schließ­-
                                            auf deutscher Seite noch lebhaft der französi-      lich befand sich die militärische und politische
                                            schen Angriffe unter dem Sonnenkönig und hatte      Führung Preußens und seiner Verbündeten seit
                                            das Gefühl, nun eine alte historische Rechnung      September 1870 in Versailles.
                                            begleichen zu können. Nicht nur die Zerstörungen        Unabhängig davon, dass diesen antifranzö­
                                            der Pfalz durch den berüchtigten Ezéchiel de        sischen Rachephantasien durchaus etwas Pro­-
                                            Mélac (Abb. 2), auch der Raub der Reichsstadt       pagandistisches anhaftet, gründen sie doch auf
                                            Straßburg und des Elsass, das Ludwig XIV. 1681      tatsächlichen historischen Erfahrungen und
                                            Frankreich einverleibte, sollte 1870 / 71 endlich   zugefügten Verletzungen, die als Traumata über
                                            gerächt werden. Ludwig Pietsch, ein Berliner        Generationen hinweg im kollektiven nationalen
                                            Schriftsteller und Maler, hatte Revanchegedan­      Gedächtnis verankert waren. Ein neutraler
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2                                             Zeuge dafür, dass es sich dabei keineswegs nur         den Trümmern des 1806 untergegangenen
                                              um die Wahrnehmung der meinungsbildenden               Reichs aus und verleibte sich Teile des deutschen
                                              deutschen Eliten aus Kultur, Militär und am Hof        Nordens bis Hamburg ein. Die süddeutschen
                                              handelte, ist der britische Kriegsreporter William     Rheinbundstaaten – darunter Baden und Würt-
                                              Howard Russell, der angesichts des Elends auf          temberg –, die – protokollarisch von Napoleon I.
                                              den Schlachtfeldern des Krieges 1870 / 71 über         erhöht – unabhängig bleiben durften, bezahl­
                                              die Gefühle auch der einfachen Krieger aus             ten den Preis hierfür mit dem Leben tausender
                                              Preußen oder Württemberg grübelt: Es ist die           Landeskinder, die als Teil der Grande Armée
                                              französische Begeisterung für »la Gloire« […]          den Russlandfeldzug mitmachen mussten. Erst
                                              deret­wegen der seßhafte Deutsche nunmehr eine         die Befreiungskriege 1813–1815, die eine Re-
                                              ruhige, kalte Befriedigung darin findet, gen Ver-      aktion auf das maßlose Ausgreifen Napoleons I.
                                              sailles zu marschieren, in Gedanken daran, was die     waren, trugen dann den Krieg von deutschem
                                              Franzosen vor langer Zeit in Berlin getan haben        auf französischen Boden.
                                              und zuvor in der Pfalz, und edle Strafen für all das      Als der Krieg 1870 / 71 ausbrach, hatten
2   Ezéchiel de Mélac (um 1630–1704),
    französischer General, zeitweise          zu ersinnen, was die Vorfahren seiner gefallenen       die französischen Truppen Karten der Pfalz und
    Befehlshaber der Rheinarmee               Feinde seinem Großvater, wenn nicht seiner Groß-       Badens im Gepäck, aber keine des Elsass oder
    Ludwigs XIV., deutscher Kupferstich
    von 1689.                                 mutter angetan haben.                                  Lothringens. Ziel war es, entlang der Mainlinie
    Vorlage: https://commons.                     Hinter den ironischen Worten des Journalisten      die süddeutschen Staaten von jenen des Nord-
    wikimedia.org/wiki/File:WP_Melac.         verbirgt sich der ganze Horror der deutsch-            deutschen Bundes zu trennen. Mit diesem Plan
    jpg, public domain
                                              französischen Kriegsgeschichte seit dem Ende des       war die Hoffnung verbunden, der Partikularis-
                                              17. Jahrhunderts, die mit Ausnahme des Ersten          mus in Baden oder Württemberg sei stark genug,
                                              Koalitionskriegs und der berühmten Kanonade            dass sich der Süden an der Seite Frankreichs
                                              von Valmy 1792, bis 1870 / 71 hauptsächlich eine       gegen Preußen wenden könnte. Da sich der von
                                              Geschichte französischen Ausgreifens öst­-             Frankreich im Juli 1870 nach preußischer Provo­
                                              lich des Rheins war. Im Pfälzischen Erbfolge-          kation erklärte Krieg von Beginn an auf fran­
                                              krieg 1688–1697, im Spanischen Erbfolgekrieg           zösischem Boden abspielte, erwies sich der
                                              1701–1714, im Österreichischen Erbfolgekrieg           Plan als genauso hinfällig, wie die vor allem im
                                              1740–1748 und im Siebenjährigen Krieg                  Grenzland Baden geäußerte Furcht vor einer
                                              1756–1763 standen französische Truppen auf             Invasion Napoleons III. Nicht jeder Badener oder
                                              dem Boden des Heiligen Römischen Reichs                Württemberger ging mit Begeisterung in den
                                              Deutscher Nation und fochten dort für Frank-           Krieg gegen Frankreich, doch die Ablehnung
                                              reichs Ruhm und dynastische Interessen. In den         der erneuten französischen Aggression war auch
                                              Napoleonischen Kriegen schließlich weitete             im Südwesten allgemein (Abb. 4). Die bewusst
                                              das Kaiserreich Frankreich seinen Umfang auf           geschürte nationalistische Erinnerung an die

3   Kaiserproklamation Wilhelms I.        3
    in Versailles am 18. Januar 1871,
    Gemälde von Anton von Werner,
    Friedrichsruher Fassung, 1885.
    Vorlage: https://commons.
    wikimedia.org/wiki/File:
    Anton_von_Werner_-_Kaiser
    proklamation_in_Versailles_
    1871.jpg, public domain
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10                          Archivnachrichten 61 / 2020
                            Zwischen Feindberührung und »amitiè«

4    Württemberger Truppen vor
     Paris. Aquarell von K. Schott.
     Vorlage: Württembergs
     Söhne in Frankreich 1870 / 71.
     Hg. von Paul Dorsch, Calw /
     Stuttgart 1910. o.S.

5    Siegesdenkmal in Freiburg / Br.
     Aufnahme: Jörgens.mi /
     CC BY-SA 3.0, https://commons.
     wikimedia.org/wiki/File:
     Siegesdenkmal_(Freiburg_im_
     Breisgau)_jm59159.jpg

                                               4                                                      5

                                               vorangegangenen Kriege des »Erbfeinds« war             Weltkriegs stand das Ziel der Wiedergewinnung
                                               dabei ein wesentlicher Faktor. Dass sich dennoch       des geraubten Elsass in Frankreich an erster
                                               sofort nach den ersten großen Schlachten               Stelle. Als dann 1914 wieder deutsche Soldaten
                                               des August 1870 im ganzen deutschen Südwes-            auf französischem Boden standen, ließen sich
                                               ten neben den Reservelazaretten auch zahlrei-          nun in Frankreich die einseitig zugespitzten
                                               che private Spitäler und Hilfsorganisationen der       Erinnerungen an 1870 / 71 instrumentalisieren,
                                               Pflege zehntausender deutscher und franzö-             um gegen die vermeintlichen deutschen Barbaren
                                               sischer Verwundeter annahmen, zählt zu den             die Civilisation zu verteidigen. Die Wirkmächtig-
                                               besten Kapiteln dieses Krieges.                        keit dieses Narrativs, das nicht weniger hasser-
                                                   Der Verlauf des Krieges, der mit jedem             füllt und historisch unterkomplex war als jenes
                                               Monat rücksichtsloser auch gegen die französi-         vom »französischen Erbfeind«, zeigte sich dann
                                               sche Zivilbevölkerung geführt wurde, mündete           im Versailler Vertrag von 1919. Die vermeintliche
                                               in die von der deutschen Seite so triumphal            Demütigung von 1871 wurde 1919 mit einer
                                               empfundene Reichsgründung. Doch hinterließ             tatsächlichen Demütigung beantwortet. Dass die
                                               dieser Triumph eine mehrfache Belastung,               deutsche Delegation den diktierten Frieden in
                                               die sich schließlich als tödlich für das Kaiserreich   jenem Spiegelsaal unter protokollarisch entwür­
                                               und als toxisch für die deutsch-französischen          digenden Umständen unterzeichnen musste,
                                               Beziehungen erweisen sollte. Im ganzen Kaiser­         war für viele Deutsche schmerzhaft genug. Den
                                               reich durchdrang der Militarismus als Folge der        Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Ver-
                                               siegreichen Einigungskriege alle gesellschaft-         trages, der einseitig die Verantwortung für die
                                               lichen Bereiche. Noch heute künden zahllose            Katastrophe des Weltkriegs dem Reich zuschob,
                                               Denkmäler und Straßennamen von der damali­             empfanden jedoch alle Deutschen klassen-
                                               gen Anbetung der deutschen Waffen und Helden           und parteienübergreifend als ungerecht.
                                               (Abb. 5). Generationen von deutschen Schul-            In der Mantelnote des Versailler Vertrags wird
                                               kindern wurden im Geist des Kriegs erzogen             die deutsch-französische Kriegsgeschichte seit
                                               und man darf wohl vermuten, dass das für die           dem 17. Jahrhundert bis zum Beginn des
                                               Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht ohne             Weltkriegs indirekt in einer Weise dargestellt,
                                               Bedeutung war. Die Annexion des Elsass und von         die in Deutschland als Zumutung empfunden
                                               Teilen Lothringens, die in Deutschland zum einen       wurde: Während langer Jahre haben die Regie-
                                               als historische Wiedergutmachung und zum               renden Deutschlands, getreu der preußischen
                                               anderen als strategischer Schutz des deutschen         Tradition, die Vorherrschaft in Europa angestrebt.
                                               Südwestens vor französischen Angriffen                 Die ungeheuerlichen Verwüstungen, welche die
                                               gedeutet wurde, war für Jahrzehnte Frankreichs         deutschen Armeen 1914–1918 in Belgien und
                                               blutende Wunde und Grundlage einer dauerhaften         im Nordosten Frankreichs hinterließen, können
                                               Politik der Revanche. Bei Beginn des Ersten            solche Wertungen aus französischer Sicht
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                                                                                          Zwischen Feindberührung und »amitiè«

                                                erklären; doch viele Deutsche rechneten         gebliche »Erbfeindschaft« in eine deutsch-
±Literaturhinweise                              diese trotzdem mit den Kriegen Frankreichs      französische Freundschaft zu verwandeln.
    Tobias Arand: Epochenjahr 1917              seit dem 17. Jahrhundert gegen, empörten        Dass der Impuls hierfür von Ludwigsburg
    (Geschichte und Geschehen.
    Themeheft). Stuttgart / Leipzig 2007.       und entlastetet sich so zugleich von ihrer      ausging, ist aus südwestdeutscher Sicht ein
                                                eigenen Schuld. Der Kampf gegen den             besonderes Glück. Am 9. September 1962
    Tobias Arand: 1870 / 71. Die
    Geschichte des Deutsch-Französi-            Schandvertrag von Versailles, seine Umstän­     reichte Frankreichs Präsident Charles de
    schen Krieges erzählt in                    de und einseitigen Schuldzuweisungen            Gaulle in einer Rede im Innenhof des Lud-
    Einzelschicksalen. Hamburg 2018.
                                                waren es, die Adolf Hitler Popularität über     wigsburger Schlosses der deutschen Jugend
    Gestorben für ›Vaterland‹ und               das braune Milieu hinaus einbrachten und        die Hand zur Freundschaft: Die Zukunft un-
    ›Patrie‹. Die toten Krieger aus dem
    Feldzug von 1870 / 71 auf dem               ihm so half, die Macht zu erringen. Daran       serer beiden Länder, der Grundstein, auf dem
    ›Alten Friedhof‹ in Ludwigsburg.            zeigt sich mit aller Deutlichkeit die Ge-       die Einheit Europas errichtet werden kann und
    Ludwigsburg 2012.
                                                fährlichkeit einseitig-nationalistischer, die   muß, und der höchste Trumpf für die Freiheit
    Erbfeinde – Erbfreunde. Die                 eigene Schuld und Verantwortung leug-           der Völker bleiben die gegenseitige Achtung, das
    deutsch-französischen Beziehungen
    zwischen 1870 und 1945 im
                                                nender Geschichtsbilder. Die Verantwort-        Vertrauen und die Freundschaft zwischen dem
    Spiegel zeitgenössischer Literatur.         lichen beider Seiten haben sich im 19. und      französischen und dem deutschen Volk. (Abb. 6)
    Aus­stellungskatalog. Hg. vom               20. Jahrhundert derartiger Geschichtsbilder         Trotz mancher Belastungsproben dieser
    Deutsch-Französischen Institut.
    Ludwigsburg 2007.                           bedient, um ihre Interessen zu verfolgen        Freundschaft, zuletzt in der Corona-Krise
                                                und die Völker aufeinander zu hetzen.           seit März 2020, hat sie zum Glück bis heute
    Michael Jeismann: Das Vater­-
    land der Feinde. Studien                        Ein umso größeres Wunder ist es, dass       Bestand. ±Tobias Arand, Professor
    zum nationalen Feindbegriff und             es nach den deutschen Verbrechen im             für Geschichte und Geschichtsdidaktik
    Selbstverständnis in Deutschland
    und Frankreich 1792–1918.                   Zweiten Weltkrieg gelingen konnte, die an-      an der PH Ludwigsburg
    Stuttgart 1992.

    Jörn Leonhard: Der überforderte
    Friede. Versailles und die Welt         6
    1919–1923. München 2018.

    Nation im Siegesrausch. Württem­
    berg und die Gründung des
    Deutschen Reichs 1870 / 71. Hg. von
    Wolfgang Mährle. Stuttgart 2020.

    Roland Vetter: »Die ganze Stadt
    ist abgebrannt« – Heidelbergs
    zweite Zerstörung im Pfälzischen
    Erbfolgekrieg. Karlsruhe 2016.

    Wolfram Wette: Militarismus
    in Deutschland. Geschichte einer
    kriegerischen Kultur.
    Darmstadt 2008.

    Mareike König und Élise Julien:
    Verfeindung und Verflechtung.
    Deutschland und Frankreich
    1870– 1918 (Deutsch-Französische
    Geschichte 7). Darmstadt 2019.

6   De Gaulle während der
    »Rede an die deutsche Jugend«
    am 9. September 1962.
    Vorlage: Bundesarchiv B 145
    Bild-00011789
    Aufnahme: Simon Müller
Archivnachrichten 61 / 2020                  13
                                                                                       Zwischen Feindberührung und »amitiè«

Württemberg und
Montbéliard
Die »Mömpelgarder
Genealogie« von 1474

                                    Für die Beziehungen zwischen dem deutschen         Überführung in die Stiftskirche nach Montbé-
                                    Südwesten und Frankreich war die Verbindung        liard, beschreibt sie die genealogische Abfolge
                                    zwischen Württemberg und Montbéliard von           und Verwandtschaftsverhältnisse der Grafen
                                    herausragender Bedeutung: Über vier Jahrhun-       von Montbéliard bis zur Heirat zwischen
                                    derte, von 1397 bis 1796, gehörte die Grafschaft   Henriette und Eberhard. Besondere Bedeutung
1   Wappen von Württemberg          Montbéliard an der burgundischen Pforte zu         kommt der Darstellung wegen ihrer kostbaren
    und Montbéliard in der          Württemberg, bis sie im Zuge der Französischen     Illustrationen zu, die von dem Schreibkünstler
    »Mömpelgarder Genealogie«.
                                    Revolution an Frankreich abgetreten wurde.         und Buchmaler Stephan Schriber am Uracher Hof
    Vorlage: LABW, HStAS A 266
    U 1, S. 8                          Durch die Heirat zwischen Graf Eberhard IV.     gestaltet wurden. Der Text wurde offenbar in
                                    von Württemberg und Henriette von Mont­            Montbéliard für Graf Eberhard im Bart verfasst.
                                    béliard, der Erbtochter des bedeutenden Grafen­-       Die Mömpelgarder Genealogie, die in
                                    geschlechts, war die Grafschaft in die Hände       mehreren Parallelhandschriften und Abschriften
                                    der Grafen von Württemberg gelangt. Damit          überliefert ist, weist mit Eberhards Devise
                                    war der Anfang für eine neue Adelsdynastie         Attempto (Ich wag’s) auf der Titelseite und der
                                    gemacht, die auch in der Herrschaftssymbolik       Jahreszahl 1474 auf seine berühmte Uracher
                                    der Familie ihren Ausdruck fand: Das Wappen        Hochzeit mit Barbara Gonzaga hin (Abb. 2). Ihre
                                    der Grafschaft Montbéliard, zwei goldene           Entstehung ist also im Kontext der angespro-
                                    Barben auf rotem Grund, wurde in den Württem-      chenen Herrschaftsrepräsentation und dynasti-
                                    berger Wappenschild, neben die drei schwar­-       schen Selbstdarstellung zu verstehen: Der
                                    zen Hirschstangen auf goldenem Grund, aufge­       Fürst präsentiert die internationale Bedeutung
                                    nommen (Abb. 1).                                   seiner Dynastie!
                                       Graf Eberhard im Bart von Württemberg               Eine Miniatur zeigt die ganze Gestalt des
                                    (1445–1496), der Enkel Henriettes und Eber-        jugendlichen Grafen Eberhard im Bart. In der
                                    hards IV., brachte seinen besonderen Stolz auf     Rechten hält er den württembergischen Wappen-
2   Titelseite der »Mömpel­-        seine vornehme Mömpelgarder Abstammung             schild, in der Linken das kurpfälzische Wappen
    garder Genealogie«.             in vielfältiger, repräsentativer Weise zum         seiner Mutter, Mechthild von der Pfalz. Darüber
    Vorlage: LABW, HStAS A          Ausdruck. So sollten die Wappen seiner Ahnen       finden sich die Wappen seiner Großeltern und
    266 U 1, S. 2
                                    den neuen Festsaal in seinem Schloss Urach         der Mömpelgarder Ahnenpaare aus drei weite-
                                    zieren, wie Eberhard auch weitere solcher          ren Generationen (Abb. 3) – der Stolz Eberhards
                                    Ahnenproben in seinen Kirchenbauten monu­          auf seine Mömpelgarder Vorfahren steht hier
                                    mental anbringen ließ.                             stellvertretend für das Haus Württemberg und
                                       In besonders kostbarer Form hat Eberhard        dessen Nähe zu Burgund und Frankreich.
                                    im Bart eine Handschrift anfertigen lassen, die        Als nach dem Zweiten Weltkrieg erste
                                    von der Familiengeschichte des Hauses Mont-        Schritte der Versöhnung zwischen Deutschland
                                    béliard berichtet: Die sogenannte Mömpel­          und Frankreich aufgenommen wurden, war
                                    garder Genealogie von 1474. Bereits der Titel      die Städtepartnerschaft zwischen Ludwigsburg
                                    verrät die inzwischen erfolgte Eindeutschung       und Montbéliard im Jahr 1950 die erste deutsch-
3   Graf Eberhard im Bart in        des französischen Montbéliard zum schwäbischen     französische Städtepartnerschaft, die hierfür
    der »Mömpelgarder Genealogie«   Mümpel- oder Mömpelgard: Wie Mümpelgard an         wegweisend wirken sollte – die Erinnerung
    zwischen den Schilden
    seiner Vorfahren.
                                    die herrschaft Wirtemberg khomen ist, ist sie      an die gemeinsame historische Vergangenheit
    Vorlage: LABW, HStAS A 266
                                    überschrieben. Beginnend mit der Erhebung der      von Württemberg und Montbéliard hatte
    U 1, S. 13                      Reliquien des heiligen Maimbœuf und ihrer          den Ausschlag dafür gegeben. ±Peter Rückert
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                           Zwischen Feindberührung und »amitiè«

Als Württemberg fast                                                                            berühmten Edikt von Nantes 1598 wurde der
                                                                                                württembergische Herzog als treuer Alliierter

bis in die Normandie reichte                                                                    der französischen Krone erwähnt – beides
                                                                                                war für den prestigebewussten Württemberger

Herzog Friedrich I. (1557–1608)
                                                                                                äußerst wichtig.
                                                                                                    Um die Kredite zurückzuzahlen, sollte Fried-

und die Verpfändung
                                                                                                rich pfandweise die Einkünfte des Herzogtums
                                                                                                Alençon in der Normandie erhalten. Pläne

des Herzogtums Alençon
                                                                                                dazu wurden bereits 1598 / 99 mit Heinrich IV.
                                                                                                verabredet, federführend auf württembergi-
                                                                                                scher Seite war Friedrichs Vertrauter Benjamin
                                                                                                Bouwinghausen von Wallmerode. Aber die Sache
                                                                                                landete vor Gericht, denn das Herzogtum ge­-
                                                                                                hörte zum französischen Tafelsilber – als Apanage
                                                                                                war es den Prinzen der Bourbonen vorbehalten
                                                                                                und eigentlich unveräußerlich. Der Streit der
1    Beglaubigte Abschrift des                Als Fürst ohne Grenzen hat man den württem-       französischen Rechtsgelehrten darüber dauerte
     Vertrags von Alençon,
     datiert vom 23. April 1605.
                                              bergischen Herzog Friedrich I. bezeichnet –       bis 1605.
     Vorlage: LABW, HStAS                     nicht nur wegen seiner imponierenden Reisen,          Friedrich war dann Titularherzog von
     A 115 Bü 37                              sondern auch wegen seiner umtriebigen politi-     Alençon. Der Vertrag wurde in gedruckter Form
                                              schen Ambitionen. Bereits vor seinem Herr-        publiziert: Contract d’Engagement faict par
2    Titelblatt des gedruckten                schaftsantritt in Württemberg (1593) war er als   le Roy à Monseigneur le Duc de Wirtemberg des
     Vertrags von 1606.
                                              Graf von Mömpelgard in die konfessionellen        Domaines, Chateaux, terres et Seigneuries d’Alen­
     Vorlage: LABW, HStAS A
     115 Bü 44                                Spannungen in Frankreich verwickelt, die seit     çon (1606). Format und Ausgestaltung der
                                              1585 im Krieg der drei Heinriche eskalierten.     gedruckten Urkunde sind ungewöhnlich, im
                                              Friedrich unterstützte dabei Heinrich von Na-     Bestand LABW, HStAS A 115 sind neben einer
                                              varra (1553–1610) – dieser galt als zukünftiger   beglaubigten Abschrift (Abb. 1) auch mehrere
                                              Thronfolger und als Garant für die französi-      gedruckte Exemplare mit Pergamenteinband
                                              schen Protestanten.                               und Goldprägung vorhanden (Abb. 2). Der würt-
                                                 Die finanziellen Leistungen Friedrichs waren   tembergische Gesandte und zeitweilige Ober-
                                              enorm, an eine Rückzahlung der Subsidien war      vogt Hans Jakob Breuning von Buchenbach
                                              auch nach der Thronbesteigung Heinrichs IV.       verfasste dazu auch eine aufwendig gestaltete
                                              (1594) kaum zu denken. Dankbarkeit und Wert-      Geschichte der Herzöge von Alençon.
                                              schätzung des französischen Königs äußerten           Der finanzielle Gewinn aus dem Pfandbesitz
                                              sich zunächst anders: 1596 verlieh er Friedrich   war bescheiden, denn die Verwaltungskosten
                                              den französischen Michaelsorden, und im           des Herzogtums – als Statthalter wurde von

1                                                                                               2
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                                                                                        Zwischen Feindberührung und »amitiè«

3   Wappenentwurf von 1607.        3
    Das neue, zentrale Element
    ist der bekrönte Herzschild
    mit dem Wappen des Her­
    zogtums Alençon: drei gol-
    dene Lilien in blau, umgeben
    von einem roten Bord mit
    acht goldenen Kugeln. In der
    Helmzier wird das Wappen
    im Kleid des Mömpelgarder
    Fischweibleins erneut
    dargestellt. Die umlaufende
    Kette und die Umschrift
    (HONY SOIT QVI MAL Y
    PENSE) nehmen Bezug auf
    die beiden renommierten
    Orden, die Herzog Friedrich
    erhalten hatte: 1596 den
    Michaelsorden (Kette) und
    1603 den englischen Hosen-
    bandorden (Umschrift).
    Vorlage: LABW, HStAS 115
    Bü 43

                                       Bouwinghausen eingesetzt – fraßen die Einkünf-   Kette steht für den französischen Michaelsorden,
                                       te vollständig auf. Umso größer aber war der     die Umschrift HONY SOIT QVI MAL Y PENSE
                                       Prestigegewinn, den Friedrich auch repräsenta-   symbolisiert den englischen Hosenbandorden,
                                       tiv zum Ausdruck bringen wollte. Das verdeut-    den Friedrich 1603 erhalten hatte. Beide Ver-
                                       licht der Entwurf für ein neues Staatswappen     leihungen steigerten das Prestige des Würt­
                                       von 1607 (Abb. 3). Dem bisherigen Wappen         tembergers an den europäischen Höfen. Im
                                       wird als Herzschild das Wappen von Alençon       Januar 1608 ist Friedrich unerwartet gestorben,
                                       hinzugefügt. Die drei gekrönten bourbonischen    die geplante heraldische Repräsentation mit
                                       Lilien, umgeben von einem kugelbesetzten         dem neuen Wappen wurde nicht verwirklicht.
                                       roten Bord, weisen prominent auf den prestige-   1612 schließlich fand die Episode ein Ende,
                                       trächtigen neuen Titel hin. Zudem nahm           denn für rund 750.000 Gulden löste die fran-
                                       das neue Wappen auch die beiden renommierten     zösische Krone das Herzogtum Alençon wieder
                                       Orden auf, die Friedrich bekommen hatte: die     aus. ±Erwin Frauenknecht
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                                                                                           Zwischen Feindberührung und »amitiè«

Auf »Grand Tour«                                                                           Da Reisen in der Vormoderne nicht nur ein teu-
                                                                                           res Unterfangen, sondern – zumal in den Zeiten

Frankreich als Ziel
                                                                                           des Dreißigjährigen Krieges – auch immer mit
                                                                                           Gefahren für Leib und Leben verbunden war,

von Studien-
                                                                                           kam den Hofmeistern, die die jungen Touristen
                                                                                           begleiteten, eine zentrale Rolle zu. In ständi-

und Kavaliers­reisen
                                                                                           gem brieflichen Kontakt mit den Daheimgeblie-
                                                                                           benen stimmten sie nicht nur den Stundenplan,

junger Adliger
                                                                                           sondern auch die Reiseroute ab. Johann Chris-
                                                                                           toph und Joachim Gottfried von Limpurg-Gail-
                                                                                           dorf reisten nahezu drei Jahre durch Frankreich.
                                                                                           Vom Juli 1611 bis zum Mai 1614 ging es von
                                                                                           Straßburg über Paris die Loire entlang bis nach
                                                                                           Bordeaux, Toulouse und Marseille und über
                                                                                           Lyon und Dijon wieder zurück nach Paris, wo
                                                                                           sie elf Monate blieben.
                                                                                               Paris war der Höhepunkt einer jeden Kava­-
                                                                                           lierstour, da hier die Studia florieren, auch dabei
                                                                                           die exercitia und politica am besten im schwang
                                                                                           gehen. Neben allerlei Studien, Fechten und
                                                                                           Reiten wurden hier Opern, Komödien und Ball­-
2                                                                                          häuser sowie die umliegenden sehenswerten
                                                                                           königlichen Schlösser, so z. B. Fontainebleau,
                                                                                           besucht. Länger hielten sich die Limpurger
                                                                                           auch an den protestantischen Ritterakademien
                                                                                           in Sedan und Saumur auf. Saumur galt zudem
                                                                                           als der Ort, an dem die französische Sprache am
                                                                                           reinsten gesprochen wurde. Diese zu erlernen
                                                                                           war ein weiteres Ziel der ausgedehnten Frank-
                                                                                           reichreisen. Wer diese Sprache, die vor allen an-
                                                                                           deren rhumb und vorzug hatte, nicht beherrschte,
                                                                                           war unter Grafen und Herren wenig angesehen
                                                                                           und aestimiert. Deshalb sollten nicht nur prae-
                                                                                           cepta grammaticis, sondern auch die natürliche
                                                                                           pronunciation im Land selbst geübt werden.
                                                                                           Dies konnte schwierig werden, wie etwa Philipp
                                                                                           Albrecht von Limpurg 1665 erfuhr, da sich zu
                                                                                           viele estrangers in der Stadt aufhielten, die sich
                                                                                           lieber ihrer deutschen Mutter­sprache bedien-
                                                                                           ten. Daher schrieb auch der Hofmeister Graf
                                                                                           Otto Heinrichs immer wieder
                                                                                           nach Gaildorf, um Geld für die Weiterreise
1   Brief mit Karikatur des Hof-      Frankreich galt in der Frühen Neuzeit neben          nach Paris zu erbitten. Allerdings starb der
    meisters des Schenken
    Philipp Albrecht von Limpurg,
                                      Italien als das zweite bedeutende Ziel von Kava­     Grafensohn am 4. Oktober 1653 in Saumur an
    Johann Heinrich Hipp, an          liersreisen. Auf der Grand Tour sollten junge        Fieber und ließ seinen Hofmeister, der noch
    einen ungenannten Schuldner       Adelige Kontakte knüpfen, Bildung und Weltläu-       einen Grabstein in Paris für ihn in Auftrag gab,
    mit der Bitte um Aufschub
    der Rückzahlung einer Geld-       figkeit erlangen und die vorbildliche französische   mit Schulden zurück. Anderen Gefahren erlag
    schuld [1666].                    Hof- und Adelskultur – die courtoisie – kennen-      der zu Ausbildungszwecken nach Frankreich
    Vorlage: LABW, StAL B 114         lernen, die sie dann an ihren eigenen Höfen          geschickte Philipp Albrecht. Er sprengte
    Bü 3013
                                      imitierten. So auch für die Erbschenken von          1668 die Reisekasse, da er sich nur noch Diane
2   Itinerar der Reise der Schenken   Limpurg, die im 17. Jahrhundert regelmäßig ihre      und Venus – c’est à dire la chasse et l’amour –
    Johann Christoph und              Söhne nach Frankreich schickten, um sich die         widmete. Besonders interessant sind die
    Joachim Gottfried von Limpurg-
    Gaildorf 1611–1614.               dortigen mores, die nicht allein in ceremonia und    Reiseberichte im Limpurger Bestand auch des-
    Vorlage: LABW, StAL B 114         handkhüssen bestehen sollten, anzueignen, gal-       halb, weil sie zuweilen über tagespolitische
    Bü 4937                           ten doch die Franzosen in geberden den Teutschen     Ereignisse wie etwa eine von König Ludwig XIII.
                                      überlegen. Eine wahre Fundgrube zur Erforschung      1626 aufgedeckte Verschwörung oder die
                                      von Studienreisen nach Frankreich bieten um-         Friedensverhandlungen Kardinal Mazarins
                                      fangreiche Briefwechsel, Itinerare, Rechnungen       mit Spanien berichten, die 1659 in den Pyrenä-
                                      und Reiseinstruktionen im Bestand LABW, StAL         enfrieden münden sollten.
                                      B 114 des Staatsarchivs Ludwigsburg.                 ±Maria Magdalena Rückert
18                          Archivnachrichten 61 / 2020
                            Zwischen Feindberührung und »amitiè«

Von Spionen, Mordbrennern und Aufbauhelfern
Beziehungen zwischen Frankreich und dem
deutschen Südwesten im frühen Absolutismus
                                               Seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges         sionspolitik des französischen Königs mit der
                                               gelang es dem zur führenden europäischen Groß­-   vorübergehenden Besetzung Mömpelgards
                                               macht aufgestiegenen Frankreich zunehmend,        seit 1676 zu spüren. Im Jahr darauf fiel Freiburg
                                               sein Territorium nicht nur in Richtung des        im Breisgau für 20 Jahre an Frankreich. Als
                                               Rheins auszudehnen, sondern auch immer            nachhaltige französische Erfolge erwiesen sich
                                               mehr Einfluss auf den deutschen Südwesten zu      u. a. die sukzessive Annexion des Elsass und des
                                               nehmen. Die Rheinische Allianz (Erster Rhein-     Sundgaus sowie die Besetzung der Grenzstadt
                                               bund) und die Aufstellung eines französischen     Straßburg im Jahr 1681.
                                               Kandidaten für die Kaiserwahl von 1658 waren          Gegen die französische Expansion konnte
                                               erste Wegmarken in der Politik des jungen und     die im gleichen Jahr erlassene neue Reichs-
                                               aufstrebenden Königs Ludwig XIV., die seine       heeresverfassung wenig ausrichten. So hatte
1    Titelblatt eines Propa­gan­da­            lange Regierungszeit prägen sollten. Promi-       etwa der Schwäbische Reichskreis lediglich gut
     gedichts gegen Frankreich,
                                               nentes Ereignis im Südwesten war der Tod des      5.000 Mann Sollstärke als eigenes Kontingent
     in welchem die französischen
     Truppen mit den Tataren                   französischen Marschalls Henri de Turenne bei     aufzubieten, hochgerechnet auf das gesamte
     und Osmanen verglichen                    Sasbach in der Ortenau im Jahr 1675 während       Reich waren es etwa 40.000 Mann. Im Vergleich
     werden. Darin auch folgende
     Zeile: »Befehl ertheilet er               des Holländischen Krieges, der später in einem    dazu wird die damalige französische Armee-
     so wider alle Rechte, Spionen             Denkmal festgehalten wurde. Als deutsch-          stärke auf mindestens 200.000 Mann geschätzt.
     sind ihm lieb und wärens
     gleich nur Knechte«, Druck 1689.
                                               französisches Kooperationsprojekt entstand        Vom Reichsheer zu unterscheiden waren zwar
     Vorlage: LABW, HStAS
                                               dort im April 2001 auch ein Museum. Württem­      die wesentlich besser ausgerüsteten Kaiser-
     A 115 Bü 54                               berg bekam die Auswirkungen der Expan-            lichen Truppen, welche zu diesem Zeitpunkt

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                                   aber weitgehend mit der Abwehr der Osmanen          unter denen neben dem bereits genannten
                                   ausgelastet waren. Dazu kam dann auch noch          Turenne der Offizier Ezéchiel de Mélac
                                   die gezielte Anwerbung von Spionen von Seiten       besonders berüchtigt war. Die Schlossruinen
                                   Frankreichs. Durch einen Archivalienerwerb          von Heidelberg und Hirsau sind heute noch
                                   im Jahre 1958 gelangte ein Verhörprotokoll gegen    Zeugen dieser Epoche.
                                   den 18-jährigen Studenten Adam Bruckert aus             Auswirkungen auf den deutschen Süd­­­wes­ten
                                   Offenburg in die württembergischen Kriegs-          hatte auch die Religionspolitik Ludwigs XIV.:
                                   akten, der für die Franzosen die Befestigungs-      Im Zuge des Edikts von Fontainebleau am
                                   werke verschiedener südwestdeutscher Städte         18. Oktober 1685, welches das Toleranzedikt
                                   erkundet haben soll. Ihm wurden schließlich         Heinrichs IV. von 1598 auf- und den Katho­
                                   nach dem Urteil eines Kriegsgerichts Nasen [sic!]   lizismus endgültig in den Rang einer französi-
                                   und Ohren durch den Hencker abgeschnitten […],      schen Staatsreligion erhob, warb Württemberg
                                   in den Backen Ein galgen gebrennt und ihm auf       gezielt hugenottische Glaubensflüchtlinge an,
                                   diese Weise der Ruckwegh nach Straßburg halber      die u. a. in Cannstatt, Stuttgart und später
                                   gewiesen, wo er studiert hatte. Dies war für die    auch Ludwigsburg zur Errichtung von Manufak-
                                   damalige Zeit ein maßvolles Urteil, da für Spione   turen und damit zur Förderung des Handwerks
                                   noch bis ins 20. Jahrhundert (Mata Hari!) die       angesiedelt wurden. Ähnliche Maßnahmen
2   Urteil eines Kriegsgerichts    Todesstrafe galt, aber gerade damit erhoffte        gab es auch in Baden (Siedlungen Neureut
    im Lager bei Biberach          sich das Gericht wohl die größere Abschreckung.     und Friedrichstal). Diese Maßnahmen dienten
    (heute Ortenaukreis) gegen
    den Studenten und Spion            Während des Pfälzischen Erbfolgekriegs          letztlich als Blaupause für die Aufnahme der
    Adam Bruckert vom              (1689–1697) verwüstete die französische Armee       piemontesischen Waldenser, deren Höhepunkt
    23. Mai / 2. Juni 1690.
                                   nicht nur die Pfalz (u. a. die Städte Heidelberg,   im Jahr 1699 anzusetzen ist und zur Errichtung
    Vorlage: LABW, HStAS
    A 29 Bü 163 (Erwerbung 1958)
                                   Mannheim und Bretten), sondern auch badische        eigener Siedlungen führte, die auch heute
                                   (u. a. Durlach, Ettlingen und Pforzheim) und        noch französische Namen tragen, etwa Perouse,
3   Rekonstruktion des             württembergische Städte (u. a. Backnang, Beil-      Pinache, Groß- und Kleinvillars oder Serres.
    Klosters Hirsau nach alten
                                   stein, Calw, Marbach, Vaihingen und Winnen-         Diese Migranten erwiesen sich ähnlich wie
    Abbildungen, Druck o. D.
    Vorlage: LABW, HSTAS
                                   den). Auch das Kloster Hirsau wurde ein Opfer       in Preußen im kriegsgebeutelten Südwesten als
    J 190 Hirsau                   der Politik der französischen Mordbrenner,          nachhaltige Aufbauhelfer. ±Johannes Renz

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     Zwischen Feindberührung und »amitiè«

Spiegel deutsch-
französischer Beziehungen
Das Turenne-Denkmal
in Sasbach

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2                                   Wie aus einem Gedenkstein zum Ruhm und                 Karl X. wurde zwischen 1826 und 1829 – Sasbach
                                    Tod eines Feldherrn ein Friedenssymbol werden          gehörte nunmehr zu Baden, der Platz um das
                                    kann, zeigt die Geschichte des Turenne-Denk-           Denkmal blieb französisch – ein neues, drittes
                                    mals in Sasbach. Am 27. Juli 1675 befehligte der       Ehrenmal aus bläulichem Granit aufgestellt und
                                    1611 in Sedan geborene und durch Ludwig XIV.           1854 mit einem neuen Wächterhaus versehen.
                                    zum maréchal général des camps et armées du               Danach war das Denkmal jedoch Anschlägen
                                    roi ernannte Henri de la Tour d’Auvergne,              ausgesetzt, Ursache nationalistischer Streitig-
                                    vicomte de Turenne, die französischen Truppen          keiten und vielfach Thema in der deutschen und
                                    am Rhein. Um sich in der Schlacht gegen die            französischen Presse, wo durchaus rüde Text-
                                    kaiserlichen Truppen des Generals Raimondo             passagen wie: Achern, 22. Nov. Sind denn die Fran-
                                    von Montecuccoli einen besseren Überblick              zosen gänzlich verrückt? […] Es ist aber nicht nur
                                    über das Schlachtfeld bei Sasbach zu verschaf-         dummes Zeug, sondern es ist auch verlogen und
                                    fen, ritt Turenne auf eine Anhöhe, wo er durch         impertinent (Bezirksamt Achern) gedruckt wurden.
                                    eine Kanonenkugel aus den Geschützen der                  Im Jahr 1940 ordnete Hitler die Zerstörung
                                    Truppen des Markgrafen von Baden getroffen             des Gedenkorts an, und nur der List des seiner-
                                    wurde. Inmitten seiner Untergebenen soll der           zeitigen französischen Denkmalwächters ist es
1   Das heutige (vierte) Turenne-
    Denkmal in Sasbach.             als Vater der Soldaten bekannte Feldherr seinen        zu verdanken, dass der Gedenkstein erhalten
    Fotografiert von der dazu-      Verletzungen erlegen sein.                             blieb, da er ihn vor seiner Abberufung auf dem
    gehörigen Allee aus.
                                        Als sich 1766 der Erbprinz von Braunschweig        Grundstück vergrub. Nach Kriegsende unter
    Aufnahme: LABW, Sinah
    Panizic                         und der Marquis de Castries von Straßburg auf          französischer Besatzung wurde das Ehrenmal
                                    die Spuren Turennes begaben, stellten sie fest,        wiederaufgebaut und schließlich im Oktober
2   Das vierte Turenne-             dass kein Erinnerungsmal am Sterbeort des              1945 das inzwischen vierte Turenne-Denkmal
    Denkmal in Sasbach mit          französischen Nationalhelden errichtet worden          durch General de Gaulle feierlich eingeweiht.
    erstem Gedenkstein.
                                    war. Daraufhin ließ der Militärgouverneur von             1998 gelangten Wächterhaus und Grund-
    Aufnahme: LABW, Sinah
    Panizic                         Straßburg einen dreieckigen, etwa anderthalb           stück in den Besitz der Gemeinde Sasbach. In
                                    Meter hohen Gedenkstein mit dem Text: Hier ist         Zusammenarbeit mit dem Haus der Geschichte
3   Zeitungsartikel zum             Turenne vertoetet worden. errichten.                   Baden-Württemberg richtete man dort ein
    Turenne-Denkmal.                    Um mehr Ansehen am französischen Hof               Museum als deutsch-französischen Erinne-
    Vorlage: LABW, StAF B
                                    zu erlangen, verfügte Kardinal Louis de Rohan-         rungsort ein. Das Turenne-Denkmal in Sasbach
    685 / 1 Nr. 1386
                                    Guéméné, Fürstbischof zu Straßburg und                 war stets ein Gradmesser deutsch-französischer
4   Kopie eines Kupferstiches       Landesherr, einen dreieckigen, über 15 Meter           Befindlichkeiten. Was ursprünglich die
    von Christophe Guérin           hohen Obelisken aus schwarzem Marmor und               militärische Stärke einer Großmacht versinn-
    nach einer Zeichnung von
                                    ein Wächterhaus an Turennes Todesstelle zu             bildlichen sollte, wurde später zum Symbol
    d’Etienne, 1782.
    Vorlage: LABW, StAF B
                                    errichten. Dieser, 1785 fertiggestellt, fiel bereits   des Willens, nie wieder gegeneinander Krieg zu
    685 / 1 Nr. 1384                1786 einem Sturm zum Opfer. Erst unter König           führen. ±Sinah Panizic

                                    3                                                      4
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                           Zwischen Feindberührung und »amitiè«

1    Brief von Pierre Philippe             1
     Maelrondt, Agent der
     Markgräfin in Paris, an
     Karoline Luise von Baden
     über die aktuellen Mode-
     trends an der Seine mit
     beigefüg­ten Stoffmustern,
     Paris 18. August 1754.
     Vorlage: LABW, GLAK FA 5
     A Corr. Bd. 43, 48 (Eigentum
     des Hauses Baden)

2    Pierre Philippe Maelrondt (?).
     Skizze einer Damenfrisur,
     um 1770.
     Vorlage: LABW, GLAK Hfk
     Hs. 434 IV, 5 (Eigentum des
     Hauses Baden)

3    Pierre Philippe Maelrondt (?).        3
     Kostümstudie einer
     Dame in Reifrock, um 1760.
     Vorlage: LABW, GLAK Hfk Hs.
     434 V, 1 (Eigentum
     des Hauses Baden)

     Online-Angebot:
     Kunst und Korrespondenz.
     Karoline Luise von Baden:
     https://www.karoline-luise.
     la-bw.de/
Archivnachrichten 61 / 2020                     23
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»wo Mode und der gute Ton die
Seele der Stadt ausmachen«
Eine markgräfliche Familienreise
nach Paris im Jahr 1771

                                      Paris – die Metropole an der Seine wurde in          (1715–1808) oder Jean-Henri Eberts (1726–1803)
                                      Reisehandbüchern des 18. Jahrhunderts als            öffneten der Markgräfin die Türen zu den Ateliers
                                      eine mit von den angenehmsten, galantesten und       der Künstler. Kultureller Höhepunkt der Paris-
                                      vollkommensten Städten in Europa gefeiert.           reise war die Teilnahme der badischen Gäste an
                                      Neue Trends in den Wissenschaften, der Philo-        einer Sitzung der Akademie der Wissenschaften
                                      sophie oder der Kunst wurden hier diskutiert,        sowie der Königlichen Akademie für Malerei
                                      die Art und Weise, wie man sich in Paris kleidete,   und Bildhauerei.
                                      sowie der Lifestyle der Aristokraten und Intel-         Die beiden ältesten Söhne erhielten jeden
                                      lektuellen prägten ganz Europa. Versailles           Vormittag Unterricht durch die führenden
                                      war der Inbegriff absolutistischer Herrschaft        Wissenschaftler der Stadt, den Chemiker Jacques-
                                      und Repräsentation.                                  Antoine Cousin (1739–1800), den Physiker
                                          Der Besuch von Paris war für jugendliche         Balthazar-Georges Sage (1740–1824) und
                                      Adelige auf ihren Kavalierstouren ein Muss           die beiden Nationalökonomen Pierre Samuel
                                      – so auch für die Prinzen aus dem Hause Baden-       Dupont de Nemours (1739–1817) und Marquis
                                      Durlach. Markgraf Karl Friedrich (1728–1811)         de Mirabeau (1715–1789). Ganz im Sinn des
                                      und seine Gattin Karoline Luise (1723–1783)          aufgeklärten Absolutismus sollten die Prinzen
                                      verwandelten jedoch die geplante Reise ihrer         in den Natur- und Staatswissenschaften aus-
                                      beiden ältesten Söhne Karl Ludwig (geb. 1755)        gebildet werden, um deren Erkenntnisse später
                                      und Friedrich (geb. 1756) kurzerhand in einen        in Regierungshandeln umzusetzen.
                                      mehrmonatigen Bildungsaufenthalt der ganzen             Der Tagesablauf der Prinzen war eng getak­tet
                                      Familie, an dem auch der dritte und jüngste          und bot nur wenig Erholung. Karl Ludwig durfte
                                      Sohn Ludwig (geb. 1763) teilnahm. Erbprinz           sich zumindest an einem Abend beim diner
                                      Karl Ludwig führte – natürlich auf Französisch       entschuldigen, denn schließlich waren ihm vor-
                                      – ein ausführliches Tagebuch (Journal d’un           mittags sechs Zähne gezogen worden (je me
                                      voyage fait à Paris en 1771), in dem sich eigene     suis fait separer les 6 premières dents d’en haut).
                                      Schilderungen mit nur wenig veränderten                 Sehen und gesehen werden war das Motto
                                      Exzerpten aus den gängigen Reiseführern              bei den Spaziergängen auf den Pariser Boulevards.
                                      vermischten.                                         Auch dafür war Markgräfin Karoline Luise
                                          Markgraf Karl Friedrich führte seinen            von ihren Korrespondenzpartnern gut vorberei-
                                      ältesten Sohn in dessen künftige Aufgaben als        tet worden: Man wusste, was in war und wie man
                                      badischer Regent ein. Es galt höfisches Leben        sich zu kleiden hatte. Denn – so hatte ihr 1762
                                      einzuüben und Kontakte zu knüpfen. Die bei-          Baron Carl Ludwig August von Palm geschrieben
                                      den Empfänge durch Ludwig XV. in Versailles          – Paris war die Metropole, in der Mode und der
                                      bildeten dabei den Höhepunkt, auch wenn              gute Ton die Seele der Stadt ausmachten; wenn
                                      der Erbprinz enttäuscht in seinem Tagebuch           auch manche Dame zu extravagant auftrat, wie
                                      vermerkte, dass der König nur mit seinem Vater       ein englischer Beobachter dem Baron zuraunte:
                                      gesprochen und ihn gar nicht beachtet habe.          these beauties are too artificial for my taste.
                                      Den diplomatischen Codes der Zeit entsprechend          Im September 1771 fand die Reise der mark­-
                                      trat man in einem spielerischen Inkognito als        gräflichen Familie ein abruptes Ende: Es war
                                      Grafen von Eberstein auf, nicht, um unerkannt        zu befürchten, dass in Rastatt Markgraf August
±Literaturhinweise
                                      zu bleiben, sondern um die starren Regeln            Georg Simpert von Baden-Baden sterben
  Die Meistersammlerin. Karoline
  Luise von Baden. Hg. von Holger     des höfischen Zeremoniells zu umgehen.               könnte. Die Vereinigung der seit 1535 geteilten
  Jacob-Friesen u. a. München 2015.       Die umfassend gebildete Markgräfin Karoline      Markgrafschaft war greifbar nahe. Jetzt musste
  Aufgeklärter Kunstdiskurs und       Luise besuchte mit Prinz Friedrich, der die Vor-     der Regent in Karlsruhe präsent sein. Pferde
  höfische Sammelpraxis. Karoline     liebe für die schönen Künste mit seiner Mutter       und Kutschen wurden auf dem Heimweg nicht
  Luise von Baden im europäischen
  Kontext. Hg. von Wolfgang
                                      teilte, die öffentlichen und privaten Kunst-         geschont: Vier Achsenbrüche hielt Karl Ludwig
  Zimmermann u. a. München 2015.      sammlungen der Stadt. Langjährige Korrespon-         in seinem Tagebuch fest.
                                      denzpartner wie etwa Johann Georg Wille              ±Wolfgang Zimmermann
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