Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 66. Jahrgang Mai 2022

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Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 66. Jahrgang Mai 2022
Christen heute 2022/5

                        D i e A lt-K a t ho l i s c h e Z e i t s c h r i f t i n D e u t s c h l a n d + 6 6 . J a h r g a n g · M a i 2 0 2 2

                        3   Die andere Maria (I)
                            von Gerhard Ruisch              11   Maria ist beliebt
                                                                 von Raimund Heidrich
                        5   Die andere Maria (II)                                                23 Gewalt – Frucht eines
                            von Georg Spindler              11   Die Heilige und die Hure           christlichen Lebens?
                                                                 von Francine Schwertfeger          von Veit Schäfer
                        7   Maria in der Bibel…
                            und in den Dogmen               13 Marienkult oder doch besser       24 „Frieden schaffen ohne Waffen“?
                            von Thomas Sprung                  eine kritische Mariologie?           von Francine Schwertfeger
                                                               von Raimund Heidrich
                        10 Maria: Von der Seeschlacht-                                           28 Aus dem Land der
                           Siegerin zur Friedenskönigin     14 „La Tirana“ und „La Chinita“         Ausgestoßenen…
                           von Veit Schäfer                    von Sebastian Watzek                 von Veit Schäfer
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 66. Jahrgang Mai 2022
Abrüstung der Sprache                    Reaktivierung von Traumata               der Ukraine andererseits waren“, die
                                                                                            im Krieg gefordert                       aus Weltkrieg                            den russischen Präsidenten Wladimir
                                                                                            Der Krieg militarisiert auch             Durch den Krieg in der Ukraine           Putin zum Angriff ermuntert hätten.
                                                                                            die Sprache, sagt die Linguistin Kris-   können nach Ansicht des Arztes und       Angesprochen auf Äußerungen unter
            Namen & Nachrichten
                                                                                            tin Kuck. „Wir vernehmen gerade in       Psychotherapeuten Gereon Heuft           anderem der früheren Ratsvorsit-
                                                                                            besonderem Maße eine Sprache, die        vom Universitätsklinikum Münster         zenden der Evangelischen Kirche in
                                                                                            mit Superlativen und klaren Schwarz-     bei Überlebenden des Zweiten Welt-       Deutschland, Margot Käßmann, die
                                                                                            Weiß-Unterscheidungen arbeitet“,         kriegs traumatische Erfahrungen          sich kritisch zu Waffenlieferungen an
                                                                                            meint sie. „Und ich würde diesen         reaktiviert werden. Der Krieg finde in   die Ukraine und das geplante 100-Mil-
                                                                                            Sprachgebrauch tatsächlich als Beson-    Europa „mehr oder weniger vor unse-      liarden-Euro-Sondervermögen zuguns-
                                                                                            derheit in Kriegssituationen einstu-     rer Haustür“ statt, und bei den Über-    ten der Bundeswehr geäußert hatte,
                                                                                            fen.“ Sie rät ebenso wie die Leiterin    lebenden weckten Ländernamen wie         sagte der 78-jährige Katholik Thierse:
                                                                                            der Dudenredaktion Kathrin Kunkel-       Russland oder Polen vielfältige Asso-    „Mir scheint, das ist ein Pazifismus auf
                                                                                            Razum zu sprachlicher Abrüstung.         ziationen. Hinzu komme die „unmit-       Kosten anderer.“
                                                                                            „Wir betreiben eine so starke morali-    telbare Bedrohungserfahrung“ bis hin
                                                                                            sche Abwertung von Putin, dass man       zu Andeutungen, es könne zu einem        Finanzierung von Terrormiliz
                                                                                            ihn sich als Verhandlungspartner         globalen Krieg kommen. Ein zentraler     Die Gesellschaft für bedrohte
                                                                                            kaum noch vorstellen kann“, so Kuck.     Punkt beim Wiederaufkommen von           Völker (GfbV) fordert die Bundes-
                                                                                            Kunkel-Razum fragt: „Wenn man            Traumata seien die Bilder von flüch-     regierung auf, ihre Kontakte in der
                                                                                            Sprache so aufrüstet, wie kommt man      tenden Frauen und Kindern, erklärte      nordwestlichen syrischen Provinz Idlib
                                                                                            da wieder runter, um miteinander zu      Heuft. Die Überlebenden des Zweiten      zu nutzen, um das Eigentum der ver-
                                                                                            reden?“                                  Weltkriegs seien damals selbst Kinder    triebenen christlichen Minderheit zu
                                                                                                                                     gewesen. Die realen Bilder aus dem       schützen. Der Syrischen Beobachtungs-
                                                                                            100 Gemeinden wechseln                   Ukraine-Krieg erinnerten sie an die      stelle für Menschenrechte zufolge haben
                                                                                            zu ukrainischer Kirche                   Zeit vor über 75 Jahren.                 sich islamistische Milizen die Immobi-
                                                                                            Rund 100 Kirchengemeinden in                                                      lien der Vertriebenen angeeignet. Syri-
                                                                                            der Ukraine sind von der Ukrainisch-     Militärbudget europäischer Nato-         sche Familien, die in diese Häuser und
                                                                                            Orthodoxen Kirche des Moskauer Pat-      Länder höher als Russlands               Wohnungen eingezogen sind, müssen
                                                                                            riarchats zur 2018 gegründeten, eigen-   Die Militärbudgets der 27 euro-          hohe Mieten für sechs Monate im Vor-
                                                                                            ständigen (autokephalen) Orthodoxen      päischen Nato-Länder waren 2019          aus an die Terrormiliz Hay‘at Tahrir al-
                                                                                            Kirche der Ukraine gewechselt. Rund      kaufkraftbereinigt doppelt so hoch wie   Sham entrichten. „Das ist der syrische
Titelbild: Davide Alberani, „Super Mary“, Flickr. Bildbearbeitung und Überarbeitung durch

                                                                                            60 Prozent der etwa 41 Millionen         die Russlands, ohne Berücksichtigung     Ableger des islamistischen Netzwerks
John Grantham. Die Abkürzungen „MP“ und „ΘY“ sind traditionellen Ikonen entnommen

                                                                                            Ukrainer bekennen sich zum ortho-        der Kaufkraft fünfmal so hoch. Wis-      Al-Kaida“, berichtet der GfbV-Nahos-
                                                                                            doxen Christentum. Die moskautreue       senschaftler des Bonner International    treferent Kamal Sido. „Die Terrormiliz
                                                                                            Kirche zählt in der Ukraine zwar         Centers for Conflict Studies errechne-   finanziert ihre Aktivitäten nun also
und bedeuten „Mήτηρ Θεού“ bzw. „Mutter Gottes“ (vgl. Konzil von Ephesus 431).

                                                                                            deutlich mehr Gemeinden als jede         ten im Auftrag von Greenpeace eine       durch Mieteinnahmen und den Han-
                                                                                            andere Konfession. Aber in Umfragen      Gesamtsumme für Europa von rund          del mit Immobilien der vertriebenen
                                                                                            bekannten sich die meisten Bürger        427 Milliarden Euro. „Angesichts         oder geflüchteten Christen in der Pro-
                                                                                            zur neuen, unabhängigen orthodoxen       solch astronomischer Summen, die         vinz Idlib.“
                                                                                            Kirche.                                  die Nato und Deutschland ausgaben,
                                                                                                                                     drängt sich die Frage auf, warum die     Neue Fleischkennzeichnung
                                                                                            Run auf Deutschkurse                     Landes- und Bündnisverteidigung          Das Bundeslandwirtschaftsmi-
                                                                                            Die Nachfrage nach Deutsch-              derart unzureichend sein soll“, sagte    nisterium strebt nach einem Zeitungs-
                                                                                            Unterricht ist unter ukrainischen        Alexander Lurz, Greenpeace-Experte       bericht eine neue Haltungskennzeich-
                                                                                            Geflüchteten riesig: Ein Angebot des     für Frieden und Abrüstung. „Bevor        nung für Fleischprodukte im Handel
                                                                                            Goethe-Instituts mit Hauptsitz in        nun weiter knappe Steuergelder in eine   an. Diese solle sich an der bereits
                                                                                            München für Online-Kurse war nach        scheinbar höchst ineffiziente Bundes-    bestehenden Skala von 0 bis 3 für die
                                                                                            48 Stunden ausgebucht. Dabei gab         wehr gepumpt werden, braucht es eine     Produktion von Eiern orientieren.
                                                                                            es für sie einen Rabatt von 99,9 Pro-    Reform des Systems“, so Lurz.            Dabei steht 0 für Bio und 3 für Klein-
                                                                                            zent – wer aus der Ukraine stammt,                                                gruppenhaltung der Tiere. Bei Schwei-
                                                                                            muss nur einen symbolischen Preis        „Pazifismus auf Kosten anderer“          nen etwa könnte die Kennzeichnung
                                                                                            von 25 Cent zahlen. Die Lehrkräfte       Der ehemalige Bundestagspräsi-           bedeuten, dass Bio-Ware mit einer 0,
                                                                                            stammen selbst aus der Ukraine und       dent Wolfgang Thierse (SPD) hat die      Freiland-Schweine mit einer 1, Tiere
                                                                                            unterrichten zum Teil noch aus dem       Friedensbewegung angesichts des rus-     mit Frischluft-Kontakt mit einer 2
                                                                                            Kriegsgebiet. Insgesamt haben knapp      sischen Angriffs auf die Ukraine zum     und alle anderen mit einer 3 gekenn-
                                                                                            1.800 Menschen einen Platz in einem      Umdenken aufgefordert. Sie werde         zeichnet werden. Die allermeisten der
                                                                                            der Kurse bekommen.                      nur glaubwürdig bleiben, wenn sie        in Deutschland gehaltenen Schweine
                                                                                                                                     anerkenne, „dass es die Schwäche und     fielen demnach in Kategorie 3.
                                                                                                                                     Uneinigkeit des Westens einerseits
                                                                                                                                     sowie die Schutz- und Wehrlosigkeit      fortgesetzt auf Seite 31             5

     2                                                                                                                                                                                        Christen heute
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 66. Jahrgang Mai 2022
Die andere Maria
Teil I

                                                                   und meine Geschwister. Denn wer Gottes Willen tut, der
                                                                   ist für mich Bruder, Schwester und Mutter!“
                                                                   Mk 3,20f;31-35

                                                               Also, Maria kommt zusammen mit den Geschwistern
                                                               Jesu – ein geplanter Einsatz der gesamten Familie –, um
Vo n Ger h ar d Ruisch                                         Jesus mit Gewalt (!) in die Familie zurückzuholen. Und
                                                               Jesus distanziert sich in geradezu schroffer Weise von sei-     Gerhard

U
         nter allen Bibelstellen, in denen von                 ner Familie: Diejenigen, die auf ihn hören, diejenigen die      Ruisch ist
         Maria die Rede ist, sticht eine heraus. Sie steht     den Willen Gottes tun, seien für ihn Bruder, Schwester          verantwortlicher
                                                                                                                               Redakteur von
         bei Markus, im ältesten Evangelium, und dort          und Mutter. Diese Worte beinhalten die Aussage, dass            Christen heute
kommt Maria nur an dieser Stelle vor. Zeichnen die ande-       seine leiblichen Angehörigen es nicht mehr sind. Und den        und Pfarrer in
ren Evangelisten Maria als die jungfräuliche Mutter (Mat-      Vorwurf, dass sie den Willen Gottes nicht erfüllen. Här-        Freiburg
thäus und Lukas), als die Schmerzensmutter unter dem           ter geht es kaum! Dass Markus offensichtlich als einziger
Kreuz ( Johannes), als eine der führenden Jüngerinnen Jesu     Evangelist theologisch nicht an Maria interessiert ist, macht
(Lukas in der Apostelgeschichte), so beschreibt Markus         die Annahme wahrscheinlich, dass er der historischen Maria
den Punkt, an dem sie ihrem Sohn am fremdesten ist – und       am nächsten kommt. Dafür, dass die Begebenheit einen
umgekehrt:                                                     historischen Kern hat, spricht auch, dass Matthäus und
                                                               Lukas sie von ihm übernommen (dabei aber alles Anstö-
    Jesus kehrte nach Hause zurück. Sogleich liefen wieder     ßige eliminiert) haben, obwohl sie doch nicht gut zu dem
    so viele Menschen zu ihm, dass er und seine Jünger nicht   passt, was sie sonst über Maria erzählen.
    einmal Zeit zum Essen hatten. Als seine Angehörigen             Das, was die anderen Evangelisten erzählen, lässt den
    das erfuhren, wollten sie ihn mit Gewalt von dort          Schluss zu, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn
    wegholen. „Er hat den Verstand verloren!“, sagten sie.     sich später gebessert hat. Trotzdem ist die Frage zu stellen,
    […] Noch während Jesus sprach, kamen seine Mutter          ob diese herbe Bibelstelle nicht alles ins Wanken bringt,
    und seine Geschwister. Aber weil so viele Menschen         was die spätere Dogmatik und die Marienverehrung aus der
                                                                                                                                  Foto: Peter, „Antonello da Messina –
                                                                                                                                  Annunziata, detail (1475)“, Flickr

    bei ihm waren, konnten sie nicht zu ihm gelangen.          Mutter Jesu gemacht haben. Dafür ist zunächst zu fragen,
    Sie blieben vor dem Haus stehen und baten, Jesus           was denn die Stelle wirklich über Maria aussagt.
    herauszurufen. Drinnen saßen die Leute dicht um
    Jesus gedrängt; sie richteten ihm aus: „Deine Mutter,      Besorgte Mutter
    deine Brüder und deine Schwestern warten draußen                Markus schildert Maria und die Geschwister Jesu als
    auf dich. Sie wollen mit dir reden!“ Doch Jesus fragte     Menschen, die die Initiative ergreifen. Sie sprechen sich
    zurück: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine          ab, sie machen sich auf einen Weg, sie haben ein drin-
    Geschwister?“ Dann sah er seine Zuhörer an, die rings      gendes Ziel: Sie wollen Jesus nach Hause holen. Wenn es
    um ihn saßen, und sagte: „Das hier sind meine Mutter       sein muss mit Gewalt. Eine kritische Interpretation wird
                                                               fragen, was die Familie Jesu sich da anmaßt: Ist er nicht

6 6 . J a h r g a n g + M a i 2 0 2 2 3
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 66. Jahrgang Mai 2022
ein erwachsener Mann? Ist sein Weg nicht zu respektie-             Die Kindheitsgeschichte im Lukasevangelium ist genauso
                                                           ren? Haben sie womöglich nur Angst, Jesus könnte mit               wie die bei Matthäus ein großartiger Mythos, erzählende
                                                           seinen Eskapaden sie als Familie blamieren? Gönnen sie             Theologie, wunderschönes Bild für das, was Johannes
                                                           ihm womöglich seinen Erfolg nicht – während sie alle ein           die „Menschwerdung des Wortes“ nennt. Nur eines sind
                                                           mittelmäßiges, bescheidenes Leben führen, ist Jesus zum            die beiden Geburtsgeschichten Jesu nicht: historische
                                                           geachteten Rabbi mit großer Anhängerschaft geworden.               Berichte.
                                                           Können sie nicht sehen, dass er den jüdischen Glauben,                  Historisch gesehen hat Maria nicht von Anfang an
                                                           den sie alle teilen, auf eine aufregend neue Weise deutet,         Bescheid gewusst, hat nicht schon vor Jesu Geburt durch
                                                           und anerkennen, dass er vielen einen neuen Zugang eröff-           einen Engel eine Erläuterung seiner außerordentlichen
                                                           net hat?                                                           Bedeutung erhalten. Sondern sie hat wie jede Mutter ihren
                                                                Aber eine wohlwollende Interpretation wird feststel-          Sohn heranwachsen sehen und war mal mit ihm zufrieden,
                                                           len, dass die Angehörigen wirklich etwas auf sich nehmen,          mal unzufrieden, war mal stolz und mal unglücklich, hat
                                                           um Jesus herauszuholen. Es scheint ihnen wichtig zu sein,          versucht ihm die Wege zu ebnen, damit er ein glücklicher
                                                           dass er nach Hause kommt. Sie bekommen ja mit, wie über            Mensch wird, hat versucht, ihn so gut zu erziehen, wie es
                                                           Jesus gesprochen wird – und das ist keineswegs einhellig           ihr möglich war. Und sie hat ihn manchmal verstanden
                                                           positiv. Gerade in Nazareth ist Jesus ja nach dem Zeugnis          und manchmal auch nicht, wie es Eltern eben so geht.
                                                           der Evangelien auf starken Widerstand gestoßen. Die reli-               So wie Jesus erst entdecken musste, wer er ist und was
                                                           giöse und politische Obrigkeit im damaligen Israel heraus-         sein Auftrag von Gott her ist, weil er es eben nicht von
                                                                                      zufordern war lebensgefährlich!         Anfang an wusste (auch wenn Lukas dem zwölfjährigen
                                                                                      Was sie über das öffentliche Auftre-    Jesus so altkluge Worte in den Mund legt wie: „Wusstet
                                                                                      ten des Sohnes und Bruders hören,       ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater
                                                                                      lässt die Sorge in ihnen wachsen,       gehört“ – Lk 2,49), weil er eben ein „wahrer Mensch“ war
                                                                                      dass er sich um Kopf und Kragen         und diese Suchbewegung zum Menschsein gehört, so war
                                                                                      redet. So entsteht der Wunsch in        auch Maria nicht immer die Mutter Gottes und schon gar
                                                                                      ihnen, ihn zu retten, vor sich selbst   nicht die Himmelskönigin. Sie musste darum ringen, ihren
                                                                                      und vor seinen Feinden. Und wenn        Sohn zu verstehen, sie hatte Angst um ihn (zu Recht, wie
                                                                                      er überhaupt nicht einsichtig ist –     sich zeigen würde), und sie wollte ihn schützen – weil sie
                                                                                      ein Wahnsinn! Dann muss es zur          ihn liebte.
                                                                                      Not eben mit Gewalt sein, denn
                                                                                      das ist dann ein Zeichen, dass er       Starke Frau
                                                                                      jeden Bezug zur Realität verloren             Aber noch eine andere Erkenntnis lässt sich aus dieser
                                                                                      hat und durchgedreht ist.               kurzen Episode bei Markus gewinnen, eine, die ebenfalls
                                                                                            Was ist das dann, was die         einen Gegenpol darstellt zu Lukas. Dort ist Maria die, die
                                                                                      Familie Jesu macht? Übergriffig-        an sich geschehen lässt. Bei Markus ist sie höchst aktiv. Es
                                                                                      keit? Anmaßung? Wir haben gut           steht da nur in einer Andeutung, deren Aussage einem nur
                                                                                      reden als Christen, die in Jesus seit   bewusst werden kann, wenn man sich vor Augen hält, in
                                                                                      2000 Jahren den Erlöser sehen.          welcher Gesellschaft Maria lebt. Offensichtlich ist sie ja zu
                                                                                      Aber wie hätte seine Familie diese      dem Zeitpunkt schon Witwe, weil Josef mit keinem Wort
                                                                                      Perspektive haben können? Nein,         erwähnt wird. In einer patriarchalen Gesellschaft aber ist
                                                           in meinen Augen gibt es zwei Gründe für das Auftauchen             dann längst der älteste verfügbare Sohn zum Familienober-
                                                           Marias und ihrer anderer Kinder: abgrundtiefe Sorge und            haupt geworden. Jesus als der Erstgeborene fällt hier weg,
                                                           mütterliche bzw. geschwisterliche Liebe.                           weil er ja nicht mehr in Nazareth lebt. Die Namen der Brü-
Bild: Die Jungfrau Maria erschlägt den Teufel. Aus einem

                                                                Dann aber kann ich aus dem von Markus geschilder-             der Jesu sind Markus bekannt: Jakobus, Joses, Judas und
englischen Manuskript von William de Brailes, 13. Jhd.

                                                           ten Zwischenfall zwar erfahren, dass Maria ihren Sohn              Simon (Mk 6,3). Jakobus als der Erstgenannte dürfte wohl
                                                           keineswegs immer verstanden hat, aber dass das Motiv, das          auch der Älteste nach Jesus sein.
                                                           sie antreibt, die Liebe einer Mutter ist. Das aber steht in              Zu erwarten wäre nun entsprechend dem Denken pat-
                                                           keinerlei Widerspruch dazu, Maria als Vorbild für unseren          riarchaler Gesellschaften aller Zeiten, dass es hieße: „Jako-
                                                           Glauben zu verehren.                                               bus und deine anderen Brüder, deine Mutter (und deine
                                                                                                                              Schwestern) stehen draußen…“ Stattdessen: „Deine Mutter
                                                           Einfach Mensch                                                     und deine Geschwister warten auf dich…“ Maria wird als
                                                                Im Lukasevangelium kommt schon vor der Geburt                 das Familienoberhaupt wahrgenommen. Von ihr geht die
                                                           Jesu ein Engel zu Maria und erklärt ihr, dass sie vom Hei-         Initiative aus. Ihre Sorge um den Sohn, ihre Liebe treibt
                                                           ligen Geist einen Sohn bekommen wird, den man den                  sie, die ganze Familie zusammenzutrommeln und etwas zu
                                                           „Sohn des Höchsten“ nennen wird. Maria stimmt dem zu:              unternehmen. Die Menge an Anhängern Jesu verhindert
                                                                                                                              das Vorhaben – in dem Moment wohl kaum zur Freude
                                                               Siehe, ich bin die Magd des Herrn;                             Marias.
                                                               mir geschehe, wie du es gesagt hast…
                                                               Lk 1,32.38                                                     Liebe schenkt Verständnis
                                                                                                                                   Liebe zu den Kindern aber ist auch ein starkes Motiv
                                                                                                                              für Eltern, die eigenen Positionen zu überdenken. Auch

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Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 66. Jahrgang Mai 2022
wenn die Kinder Wege gehen, die man niemals für sie              unmöglich machen, Maria zunächst einmal ganz als
geplant hätte, entwickeln gesunde Eltern eine Solidari-          Mensch, Frau und Mutter zu sehen. Die Episode macht es
tät mit ihnen, die den Eltern hilft, auch unerwartete Wege       schwierig, in Maria einen Übermenschen, eine Himmels-
zu akzeptieren. Die Liebe hat es Maria ermöglicht, Jesus         königin, gar eine Göttin zu finden. Aber die suchende,
doch noch zu verstehen, zu erfassen, dass er nicht verrückt      sorgende und liebende Frau, die uns in dieser Bibelstelle
geworden ist, sondern eine Berufung von Gott hat, der er         begegnet, die Glaubende, die ihren Sohn bis ans bittere
folgen muss, und seinen Weg mitzugehen. Sie, die ihn erst        Ende begleitet, sie ist uns näher und deshalb auch hilfrei-
vor den Konsequenzen seines Weges retten wollte, konnte          cher als eine Göttin.
zur Jüngerin werden, die die Konsequenzen mitgetragen                 Vielleicht müsste diese große Heilige mit anderen Lie-
hat.                                                             dern besungen werden, als sie in den Gesangbüchern ste-
     Maria begegnet uns als ein normaler Mensch, als             hen, mit anderen Bildern vor Augen geführt werden, als es
eine normale Frau und Mutter, die aber zu einer so gro-          in unseren Kirchen geschieht, mit anderen Worten ange-
ßen Liebe fähig ist, dass sie für alle Zeiten ein Vorbild sein   sprochen als in traditionellen Mariengebeten. Doch keine
kann.                                                            Frage: Maria ist es wert, dass man sie sich vor Augen stellt,
     Bringt das die späteren theologischen Deutungen             dass Christen sie besingen und sie ansprechen.             n
der Person Marias ins Wanken? Ich finde ja, wenn diese

Die andere Maria
                                                                                      des Fragens ist typisch für viele Chris-
                                                                                      ten des Westens, für die es wichtig
                                                                                      ist, ob ein Text „historisch“ wahr ist
                                                                                      oder nicht. Christen des Ostens haben
                                                                                      diese Probleme nicht. Sie sehen die
Teil II                                     vor einem gotischen oder barocken         Wahrheit im Text und verstehen sie.          Georg Spindler
Die Beterin des Magnificat                  Marienbildnis steht und das oft sehr      Alles andere ist unwichtig.                  ist Diakon im
Vo n Georg Spin dler                        liebliche, hin und wieder aber auch             Was uns nun in diesem Mag-             Ehrenamt in
                                                                                                                                   der Gemeinde
                                            traurige und schmerzliche Gesicht         nificat begegnet, ist buchstäblich

W
                                                                                                                                   Rosenheim
             er ist diese Maria, die        Marias betrachtet, wird kaum auf die      umwerfend. Da wird alles umgesto-
             von vielen als „Mutter         Idee kommen, es könnte auch noch          ßen, was Menschen von Gott, von
             Gottes“ angerufen wird?        eine „andere Maria“ geben. Von genau      der Gesellschaftsordnung und auch
Die Christen des Ostens haben für sie       dieser ist nun im so genannten „Mag-      der Politik dachten und denken.
eine andere Bezeichnung, dort wird          nificat“ die Rede, das wir im ersten      Dieser Lobgesang Mariens ist einer
sie Theotokos, also „Gottesgebärerin“       Kapitel des Lukasevangeliums finden.      der wichtigsten, aber auch einer der
                                                                                                                                 Bild: Visitation de la Vierge Marie,

genannt, aber auch dieser Titel stößt            Wie hat das etwa fünfzehnjäh-        gefährlichsten Texte der gesamten
                                                                                                                                 15. Jahrhundert, Frankreich. Aus

bei vielen auf Ablehnung. Im Koran          rige Mädchen Maria einen solchen          Religionsgeschichte.
ist Maria eine eigene Sure gewidmet.        Text verfassen und sprechen können?             Ich möchte nun gerne Vers für
Wer ist nun diese Frau wirklich, die        Wer hat diese Worte außer Maria und       Vers betrachten und bedenken.
                                                                                                                                 Wikimedia Commons.

Jesus geboren hat und die darum „von        Elisabeth gehört und wer hat sie auf-
allen Geschlechtern seliggepriesen          geschrieben, so dass Lukas (oder wer      „Meine Seele preist die
wird“, wie uns Lukas in seinem Evan-        immer dieses Evangelium verfasste) sie    Größe des Herrn…!“
gelium (Lk 1,39-56) berichtet?              dann in sein Evangelium aufnehmen         Diese Anfangsworte geben dem
     Wer vor einer der üblichen Mari-       konnte? Ich wurde das vor nicht lan-      gesamten Text den Namen: „Magni-
enfiguren, vor einer Marienikone oder       ger Zeit tatsächlich gefragt. Diese Art   ficat anima mea Dominum…“ Maria

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Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 66. Jahrgang Mai 2022
Magnificat anima mea Dominum;
       versteht, dass nicht der Verstand für     Gottes ist. Gott hat Erbarmen, er          Menschen, die der Meinung sind,

     Et exultavit spiritus meus
       das Erleben Gottes zuständig ist, son-    kennt uns und „weiß, welche Art            bereits alles zu „haben“. Diese Worte
       dern anima, die Seele. Gottes Größe       von Geschöpfen“ wir sind. Von              sind eine große Herausforderung an
       übersteigt immer den Verstand, die        Geschlecht zu Geschlecht, also durch       unsere heutige Weltsicht. „Hast du
       Seele aber hat Platz für Gott, ist sie    alle Zeiten, bleibt Gottes Treue beste-    was, dann bist du was!“ Gott sieht die

         in Deo salutari meo,
       doch der Ort, wo „Gott im Men-            hen. Auf sie ist Verlass.                  Wirklichkeit anders.
       schen wohnt“, wie Meister Eckhart es
       beschreibt.                               „Er vollbringt mit seinem Arm              „Er nimmt sich seines
                                                 machtvolle Taten. Er zerstreut, die        Knechtes Israel an und denkt

Quia respexit humilitatem ancillae
                                                 im Herzen voll Hochmut sind.“              an sein Erbarmen…“
       „…und mein Geist jubelt über              Jetzt wird es politisch. Hochmut           Wieder klingt hier Gottes Erbarmen
       Gott, meinen Retter.“                     kommt vor dem Fall, so sagt ein            an, das sich des Menschen annimmt.
       Maria sieht in Gott nicht eine Macht,     Sprichwort. „Hochmut“ ist Über-            Der „gütige und menschenfreund-

   suae; ecce enim ex hoc beatam
       der wir Menschen Gehorsam, Got-           heblichkeit, unser deutsches Wort          liche Gott“, wie ihn die Liturgie der
       tesfurcht und Erfüllung sämtlicher        „Hochmut“ führt etwas in die Irre,         Ostkirchen preist, bleibt Israel, sei-
       Gebote schuldig sind, sondern viel-       als handelte es sich um eine Hochge-       nem Knecht, nach wie vor verbun-
       mehr ihren Retter. Darum jubelt sie       stimmtheit des Herzens. Das Gegen-         den. Gottes Liebe ist keiner Laune

  me dicent omnes generationes.
       voll Freude. Hier klingt bereits wie in   teil ist der Fall. Das sagt auch der       unterworfen.
       einer Vorwegnahme die „Frohe Bot-         Koran, wo es heißt: „Gott liebt die
       schaft“ an, das Evangelium Jesu.          nicht, die stolz und hochmütig ein-        „…das er unseren Vätern
                                                 herschreiten.“ „Zerstreut“ werden sie,     verheißen hat, Abraham und

 Quia fecit mihi magna qui potens
       „Denn auf die Niedrigkeit seiner          so wie die Bauleute, die jenen großen      seinen Nachkommen auf ewig.“
       Magd hat er geschaut. Von nun an          Turm bauen wollten, der bis in den         Abraham ist der „Vater der Glau-
       preisen mich selig alle Geschlechter.“    Himmel reicht. Spüren wir, wie aktu-       benden“, der gemeinsame Vater von
       Gerade das Niedrige und Gewöhn-           ell Marias Lobgesang hier ist?             Juden, Christen und Muslimen.

    est, et sanctum nomen ejus,
       liche findet vor Gott Gefallen. Vor                                                  Ihnen allen gilt die Verheißung. Das
       Gott ist das Kleine groß und das          „Er stürzt die Mächtigen vom               Magnificat bestätigt die Bedeutung
       Große klein. Hier wird in einer Art       Thron und erhöht die Niedrigen.“           des Bundes mit Abraham und sei-
       Vorausschau das ganze Programm Jesu        Jetzt wird es nicht nur politisch, son-   nen Nachkommen. So wird Maria

  Et misericordia ejus a progenie
       zum Ausdruck gebracht, die Kenosis,       dern brandgefährlich. Kein Wunder,         zur verbindenden Gestalt. Das junge
       das bedeutet Gottes Herabsteigen in       dass einige südamerikanische Dik-          jüdische Mädchen „Miriam“ wird zur
       die Niedrigkeit, wie sie sich auch in     tatoren diesen Text des Magnificat         christlichen „Maria“ und zur muslimi-
       der Geburt des Kindes in Bethlehem        verboten hatten. Wenn das nicht Auf-       schen „Maryam“.

   in progenies timentibus eum.
       zeigt. So dürfen wir das Magnificat       ruf zum Umsturz ist? Revolutionärer
       wirklich ein „Evangelium im Evange-       kann ein Text nicht sein. Es ist die            Ist es berechtigt, Maria zu ver-
       lium“ nennen.                             große Umwälzung, zu der das Evange-        ehren? Von streng protestantischer,
                                                 lium aufruft. Die sogenannten Mäch-        besonders von freikirchlicher Seite,

  Fecit potentiam in bracchio suo;
       „Denn der Mächtige hat Großes an          tigen werden langfristig keine Zukunft     wird diese Frage häufig verneint. Ich
       mir getan. Sein Name ist heilig!“         haben, auch wenn sie ihre Macht für        sehe das anders. Gerade das Magnifi-
       Maria lobt sich nicht selbst. Sie sieht   Jahrhunderte etablieren möchten.           cat eröffnet und berechtigt die Vereh-
       Gottes Handeln in sich. Gott „tut         Den „Niedrigen“ wird die Zukunft           rung und Wertschätzung dieser Frau,

Dispersit superbos mente cordis sui.
       Großes an ihr“. Alles Große, Gute und     gehören. Das ist genau das Programm        durch die (in buchstäblichem Sinn)
       Schöne in ihrem Leben, so sieht sie es,   der Theologie der Befreiung.               uns das Heil, Christus, geschenkt
       ist Gottes Tun und sein Geschenk.                                                    worden ist. Dieser biblische Text sagt
            Unsere Gesellschaft lebt dagegen     „Die Hungernden beschenkt                  doch ganz klar: „Von nun an preisen

     Deposuit potentes de sede,
       von der Selbstdarstellung: „Schau         er mit seinen Gaben. Gott lässt            mich selig alle Geschlechter.“ Unter
       mal, was ich wieder Tolles gemacht        die Reichen leer ausgehen.“                diese Menschen reihe ich mich gerne
       habe!“                                    Hier sehen wir wieder dieselbe             ein und preise Maria mit den Wor-
                                                 Umdrehung der Wirklichkeit. Got-           ten des Engels: „Sei gegrüßt, Maria!

        et exaltavit humiles.
       „Er erbarmt sich von Geschlecht zu        tes Gaben sind für die „Hungernden“,       Du bist voll von Gnade. Der Herr ist
       Geschlecht über alle, die ihn ehren.“     das bedeutet, für diejenigen, die sich     mit dir. Du bist gesegnet unter den
       Hier klingt der „erbarmende Gott“         nicht mit allem Möglichen vollge-          Frauen…“                             n
       an, wie er uns auch im Koran begeg-       stopft haben. Die „Reichen“, das sind

     Esurientes implevit bonis,
       net, wo „Erbarmer“ einer der Namen        im Sprachgebrauch des Evangeliums

  6
      et divites dimisit inanes.                                                                           Christen heute
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 66. Jahrgang Mai 2022
Magnificat                               wohlgefällig
                                         mit dem Blick der Liebe
                                         Er vertraut mir Sein Heil an
Vo n J u tta R esp on dek                das Er der Welt offenbaren will

meine Seele preist                       voller Freude lobpreise ich
     die Größe des Herrn                      die Größe des Herrn
und mein Geist jubelt                    für so viel Ansehen und Wohlwollen
     über Gott meinen Retter             wachsend und reifend
denn Er hat mich angeschaut                   zu Größe und Bedeutsamkeit
mich                                     werde ich mich als würdig erweisen                                                 Jutta Respondek
eine einfache unbedeutende Frau          und vertrauensvoll                                                                 ist Mitglied der
eine von Vielen                               in Seinen Dienst stellen                                                      Gemeinde Bonn
                                         zum Wohle der Völker
seligpreisen werden mich alle                 und zum Heil der Welt        ■
Geschlechter
denn der Mächtige
der Großes vollbringt
     und dessen Name heilig ist
Er hat mich angeschaut

Maria in der Bibel…                                           ihr heraus: Sie besingt in zahlreichen Versen, welche alle-   Thomas Sprung
                                                              samt aus vielen Stellen verschiedenster Bücher des Alten      ist Mitglied
                                                              Testaments zusammengestellt sind und eine Kurzfassung         der Gemeinde
                                                                                                                            Koblenz
                                                              der wichtigsten Inhalte der jüdischen Bibel darstellen, ein
Ein Überblick                                                 großes Gotteslob. Darüber hinaus wird in dem Gesang
Vo n T ho m as Sp run g                                       eine apokalyptische Sozialutopie entfaltet. Dieser endet
                                                              mit einem Verweis auf Gottes Erbarmen in seinen Verhei-

A
        lle vier Evangelisten, aber auch der Völ-             ßungen an Abraham. Der Zusammenhang von Wort und
        kerapostel Paulus, setzen sich in ihren Schriften     Glaube führt sie und alle anderen Glaubenden in einen
        mit der Person der Mutter des Herrn auseinander.      Zustand der Seligkeit (so auch Lk 11,48).
Am intensivsten erfolgt dies durch den Evangelisten Lukas,         Die lukanisch ausgemalte Weihnachtserzählung mit
und das in beiden seiner Werke, seinem Evangelium und         der Niederkunft „im Stall“ und der matthäischen „Anbe-
der Apostelgeschichte.                                        tung der drei heidnischen Weisen“ sowie der „Flucht nach
                                                              Ägypten“ (Mt 2) sind hinlänglich bekannt. Deren Histo-
Die drei synoptischen Evangelien                              rizität wird heute mehr als angezweifelt, da wir für eine
      Im Alten Testament wird uns der große Glaube des        Volkszählung in dieser Zeit, aber auch eine Kindertötung
Abraham, der auf Gottes Weisung seine Heimat in Ur ver-       durch Herodes keine außerbiblischen Quellen kennen.
lässt und ins Ungewisse aufbricht, als Idealtypus des gott-   Unstrittig ist hingegen die geistgewirkte Mitwirkung Mari-
gläubigen Menschen vorgestellt. Später ist er sogar bereit,   ens im Heilsgeschehen Gottes.
seinen einzigen Sohn als Opfer für Gott zu geben. Ähn-             Die nach den jüdischen Religionsgesetzen vorge-

                                                                                                                               Deutschland, 1. Viertel 19. Jhd. Aus Wikimedia Commons.
lich ist es im Neuen Testament die junge Jüdin Maria, der     schriebene Opferung der (männlichen) Erstgeburt im
durch den Engel verkündigt wird, den „Sohn des Höchs-         Tempel, die ersatzweise durch die Opferung von Tauben
ten“, den „Gottessohn“ zu gebären. Schon der Gruß des         erfolgt, wird durch das Staunen der jungen Eltern über die
                                                                                                                               Bild oben: „Maria bei Elisabeth“, Hinterglasbild,
Engels ließ sie nach Auskunft der Schrift erschrecken,        Bekenntnisse des alten Simeon im dritten großen Canti-
weshalb die Beschwichtigung „Fürchte dich nicht“ durch        cum des Lukas-Evangeliums, dem Nunc dimittis (Lk 2,29–
den Gesandten Gottes notwendig wird. Es ist wie bei den       32), aber auch der Prophetin Hanna (2,36-38) geprägt. Wie
Propheten-Berufungen: Der Herr ist mit ihr. Zudem wird        bereits die heidnischen Weisen aus dem Osten erkennen
der Heilige Geist Gottes über sie kommen und sie von der      nun zwei alte, lebenserfahrene, weise Juden, ein Mann und
Kraft des Höchsten überschattet werden. Alles das, weil bei   eine Frau, Jesus als den erwarteten Gottessohn.
Gott nichts unmöglich ist (Lk 1,37)! Eine Feststellung, die        Lukas erzählt uns auch von den ersten erfolgreichen
sich durch die ganze Heilsgeschichte mit Gott zieht.          Lehren des Zwölfjährigen im Tempel. Hier begegnet er
      Spannend die Reaktion der jungen Maria auf diese        dem Vorwurf seiner besorgten, suchenden Mutter „Kind,
Begegnung: Sie nimmt ohne Murren (vgl. Jeremias), ohne        wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben
Fluchtversuch (vgl. Jonas) das ihr Verkündigte sofort an:     dich voll Angst gesucht“ mit der für sie verblüffenden Ant-
„Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es          wort „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht,
gesagt“ (1, 38). Beim Besuch ihrer ebenfalls schwangeren      dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“
Cousine Elisabeth bricht es im sogenannten Magnificat,        (2,48-49). Hier stehen sich bereits elterliche Fürsorge und
das wir noch heute täglich in der Tagesliturgie beten, aus    Berufung in die Verkündigung gegenüber.

6 6 . J a h r g a n g + M a i 2 0 2 2 7
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 66. Jahrgang Mai 2022
Das Thema findet sich auch im
                                                                                              Markus-Evangelium an zwei Stellen:
                                                                                              Zunächst versuchen seine „Verwand-
                                                                                              ten“ darum, ihn in die Familie zurück-
                                                                                              zuführen, da er „von Sinnen“ sei (Mk
                                                                                              3,20-21). Und dann kommt nament-
                                                                                              lich genannt auch seine Mutter Maria
                                                                                              persönlich zu ihm. Sie tritt vor das
                                                                                              Haus, geht allerdings nicht hinein,
                                                                                              sondern lässt ihn herausrufen. Jesus
                                                                                              folgt allerdings nicht der Aufforde-
                                                                                              rung seiner Mutter, sondern lehrt die
                                                                                              Anwesenden weiter, und zwar über die
                                                                                              wahre Verwandtschaft: einer Gemein-
                                                                                              schaft, die sich dadurch auszeichnet,
                                                                                              dass sie „den Willen Gottes erfüllt“
                                                                                              (Mk 3,31-35).

                                                                                              Das Johannes-Evangelium
                                                                                                   Im Johannes-Evangelium begeg-
                                                                                              net uns die Mutter des Herrn ledig-
                                                                                              lich an zwei Stellen: Zuerst am Beginn
                                                                                              seines öffentlichen Wirkens anlässlich
                                                                                              der „Hochzeit zu Kana“. Hier han-
                                                                                              delt ihr Sohn auf ihre Aufforderung
                                                                                              hin. Es erfolgt mit dem „Weinwun-
                                                                                              der“ das erste „Zeichen“, das Jesus als
                                                                                              vollmächtigen Repräsentanten der
                                                                                              anbrechenden Gottesherrschaft bestätigt ( Joh 2,1-12). Das    aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren
                                                                                              nächste Mal begegnet uns seine Mutter am Ende seines          von einer Frau und dem Gesetz unterstellt…“ (Gal 4,4).
                                                                                              Seins als Mensch in der Passionsdarstellung. Hier steht
Bild: Triptychon, „Die Jungfrau Maria stillt Jesus“, umgeben von den Aposteln und beschützt

                                                                                              Maria gemeinsam mit ihrer Schwester auf dem Golgotha-         Die Offenbarung des Johannes
                                                                                              Hügel und begleitet ihren Sohn bis in den grausamen Tod            In diesem letzten Buch des Neuen Testaments lesen
durch zwei Erzengel, äthiopisch-orthodox, 2. Hälfte des 15. Jhd. Von der Smithsoninan

                                                                                              ( Joh 19, 25). Die Übertragung der Sorge für seine Mutter     wir von einer Frau die „mit der Sonne bekleidet [ist]; der
                                                                                              an den uns unbekannten Lieblingsjünger durch den bereits      Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf
                                                                                              Gekreuzigten mag symbolisch für die Fürsorge (Proexis-        Sternen auf ihrem Haupt“ (Offb 12,1-2). Diese Aussage
                                                                                              tenz) Jesu stehen ( Joh 19, 26-27).                           wurde in der Glaubensgeschichte häufig mit der Person der
Institution, National Museum of African Art. Aus Wikimedia Commons.

                                                                                                   In den Oster- und Erscheinungsberichten der Evan-        Maria in Beziehung gesetzt. Hinweise auf Zusammenhänge
                                                                                              gelien erfahren wir nichts über Maria. Allerdings lesen wir   mit der Vision bestehen lediglich in der nicht-kanonischen
                                                                                              von ihr in der sogenannten                                    Literatur, den sogenannten Apokryphen.

                                                                                                                                                            …und Maria in
                                                                                              Apostelgeschichte
                                                                                                   Der Verfasser des Lukas-Evangeliums hat sie uns

                                                                                                                                                            den Dogmen
                                                                                              hinterlassen. Sie beginnt mit der Himmelfahrt Jesu und
                                                                                              beschreibt, wie es mit der Jesus-Bewegung danach weiter-
                                                                                              ging. Hier ist Maria wieder präsent. Sie ist Mitglied der

                                                                                                                                                            D
                                                                                              Jerusalemer Urgemeinde, die aus den namentlich auf-                     ie Eigenschaften Mariens, der biblischen
                                                                                              geführten Aposteln, den „Frauen“ und den Brüdern des                    Mutter des Menschen Jesus, war in der Kirchen-
                                                                                              Herrn besteht (Apg 1,14). Von einer leiblichen Aufnahme                 geschichte einige Male Gegenstand von Dogmen.
                                                                                              Mariens in den Himmel, also einer eigenen „Himmelfahrt“       Hierbei wurde ihre Gottesmutterschaft, ihre immerwäh-
                                                                                              sagt uns die Bibel nichts.                                    rende Jungfräulichkeit, ihre Unbefleckte Empfängnis und
                                                                                                                                                            ihre leibliche Aufnahme in den Himmel als kirchliche
                                                                                              Der paulinische Briefkorpus                                   Lehrmeinung festgelegt.
                                                                                                   Paulus erwähnt die Mutter des Herrn, die nicht
                                                                                              namentlich genannt wird, im Brief an die heidenchristli-      Gottesmutterschaft
                                                                                              chen Gemeinden in Galatien, dem heutigen Zentralanato-            Die Gottesmutterschaft wurde auf dem Konzil von
                                                                                              lien. Der Galaterbrief wurde vermutlich im Spätherbst 55      Ephesus (431) dogmatisiert, da Jesu Mensch-Sein durch die
                                                                                              verfasst. Im Zusammenhang mit dem christologischen Ver-       Geburt belegt wurde. Daher wurde Maria der kirchliche
                                                                                              ständnis zwischen Jesu Mensch- und Gott-Sein, also dem        Ehrentitel der „Gottesgebärerin“ (theotokos) zugesprochen
                                                                                              Verhältnis zwischen den zwei „Naturen“ führt er aus: „Als     (DH 251).

     8                                                                                                                                                                                        Christen heute
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 66. Jahrgang Mai 2022
Es entwickelte sich im Weiteren        überraschend die Bulle „Ineffabilis Deus“ („Der unaus-
                    eine theologische Diskussion um die          sprechliche Gott“). Diese stellte insofern ein dogmenge-
                    beiden Naturen Jesu: Das Verhält-            schichtliches Novum dar, da das Dogma vom Papst allein,
                    nis von Gott und Mensch in Jesus.            also ohne Bestätigung durch das Bischofskollegium, recht-
                    Dazu gab es in der damaligen Debatte         lich verbindlich verkündet wurde. Hierin wird die Lehre
                    verschiedene Ansichten. Im ägyp-             definiert,
                    tisch-syrischen Raum vertrat man die
                    Ansicht, dass Jesus Gott in mensch-              …dass die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick
                    licher Hülle gewesen sei (Monophy-               ihrer Empfängnis durch die einzigartige Gnade und
                    sitismus), und im türkisch-persischen            Bevorzugung des allmächtigen Gottes im Hinblick
                    Raum, dass beide Naturen zwei                    auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des
                    getrennte, durch das Band der Liebe              Menschengeschlechtes, von jeglichem Makel der
                    zusammengehaltene, Personen seien                Urschuld unversehrt bewahrt wurde.
                    (Nestorianismus). Nach letzterer Les-            DH 2803
                    art wäre Maria dann nicht eine Jesus-,
                    sondern eine Christus-Gebärerin. Das         Äußerungen zur Nichtannahme führen auch hier zu einem
                    Konzil von Chalcedon (451) sorgte            Ausschluss aus der Sakramentengemeinschaft der Kirche
                    für eine Klärung in der Frage und legte      als Tatstrafe.
                    fest, dass Jesus eine Person, die zugleich
                    Gott und Mensch („vere deo – vere            Leibliche Aufnahme in den Himmel
                    homo“) war – wie es noch heute Inhalt             Die durch das Erste Vaticanum im Infallibilitäts-
                    unseres Glaubensbekenntnisses, dem           dogma (Unfehlbarkeit des Lehramtes) kirchenrechtlich
                    Nizäno-Konstantinopolitanum, in allen        neu geschaffene Möglichkeit, von sich aus ohne Rückbin-
                    christlichen Kirchen ist. Das bedeutet,      dung eine Lehre verbindlich zu verkünden, wurde seit der
                    dass die beiden Naturen Jesu unver-          Promulgation am 18. Juli 1870 lediglich ein einziges Mal
                    mischt, unverändert, ungeteilt und           genutzt. Papst Pius XII. verkündete an Allerheiligen 1950
                    ungetrennt sind (DH 302).                    das Dogma „Munificentissimus Deus“ („Der unendlich frei-
                                                                 giebige Gott“). Darin lehrt er:
Immerwährende Jungfräulichkeit
     Da Jesus als Erlöser der Welt (Salvator mundi) selbst           Wir verkünden, erklären und definieren es als einen
vollkommen sündenfrei sein sollte, musste dies nach Auf-             von Gott geoffenbarten Glaubenssatz, dass die makellose
fassung der Lateransynode (649-653) zwangsläufig auch                Gottesmutter, die allzeit reine Jungfrau Maria, nach
für seine Mutter gelten. Darum erklärte sie den Glau-                Vollendung ihrer irdischen Lebensbahn mit Leib und
ben an die immerwährende Jungfräulichkeit Marias und                 Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen
ihre unbefleckte Empfängnis (immaculata conceptio) für               wurde.
„heilsnotwendig“:                                                    DH 2803

    Wer nicht mit den Heiligen Vätern im eigentlichen und        Eine biblische Fundierung gibt es hierfür nicht. So ver-
    wahren Sinne die heilige und immer jungfräuliche und         merkte schon Epiphanius von Salamis um 370: „Ob sie
    unbefleckte Maria als Gottesgebärerin bekennt, da sie        [Maria] nun gestorben ist, wir wissen es nicht, und ob sie
    […] das göttliche Wort selbst, das vom Vater vor aller       begraben ist“ (Panarion 78,11).
    Zeit gezeugte, in den letzten Zeiten, ohne Samen, vom             Es handelt sich um ein Phänomen des „Volksglau-
    Heiligen Geist empfangen und unversehrt geboren hat,         bens“, der bereits für das 6. Jahrhundert belegt ist. Selbstre-
    indem unverletzt blieb ihre Jungfrauschaft auch nach         dend ist die Nichtannahme des Glaubenssatzes wieder mit
    der Geburt, der sei ausgeschlossen…                          der eo ipso eintretenden kanonischen Tatstrafe der Exkom-
    DH 503                                                       munikation belegt.
                                                                      Die alt-katholische systematische Theologie rekurriert
Eine Nichtannahme dieser Lehre wurde mit der Exkom-              auf die Lehrentscheidungen des ersten Jahrtausends vor der
munikation (anathema) bedroht. In der mittelalterlichen          Spaltung in Ost- und Westkirche, also die sieben Ökume-
Scholastik wurde der Fortbestand der Jungfräulichkeit            nischen Konzilien (Nicäa I (325), Konstantinopel I (381),
Mariens nach der Geburt Jesu erneut überdacht. Das Tri-          Ephesus (431), Chalcedon (451), Konstantinopel II (553),
dentinum (1545-1563) bestätigte hierzu das frühmittelalter-      Konstantinopel III (680) und Nicäa II (787)). Hier finden
liche Dogma.                                                     sich die allgemein, also auch in den orthodoxen Kirchen
                                                                 gültigen Glaubenssätze. Die beiden Mariendogmen des 19.
Unbefleckte Empfängnis                                           und 20. Jahrhunderts werden darum durch die alt-katholi-
   Der stark marianisch geprägte Papst Pius IX. pro-             schen Kirchen nicht rezipiert.                              n
mulgierte ohne äußeren Anlass am 8. Dezember 1854

6 6 . J a h r g a n g + M a i 2 0 2 2 9
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 66. Jahrgang Mai 2022
Maria: Von der Seeschlacht-                                                           während des Kampfes das schon lange
                                                                                                                                                                                          als siegverheißend geltende Rosen-

                                                                                                    Siegerin zur Friedenskönigin                                                          kranzgebet angeordnet. Mittlerweile
                                                                                                                                                                                          wird nicht mehr offiziell an den Sieg
                                                                                                                                                                                          erinnert; man spricht nur noch vom
                                                                                                    Von Veit Sch ä fer                                                                    Rosenkranzfest. Der Preis für den
                                                                                                                                                                                          Sieg war hoch: Binnen vier Stunden

                                                                                                    S
                                                                                                          eitdem im frühen 5. Jahr-            Kriegsflotte mehrerer Staaten zu Was-      30000 getötete Türken, 8000 Tote
                                                                                                          hundert das Konzil von Ephesus       ser gebracht hatte. Der Sieg der christ-   und ebenso viele Verwundete auf
                                                                                                          Maria, die Mutter Jesu, dogma-       lichen Koalition beendete zwar die         christlicher Seite.
                                                                                                    tisch zur Gottesgebärerin (Theoto-         türkische Expansion, aber keine lang-
                                                                                                    kos) erklärt hatte, breitete sich in der   fristig stabilisierende Wirkung – die      Maria Königin des Friedens
                                                                                                    Kirche über die Jahrhunderte und           Türken rüsteten wieder auf, die christ-         Ein gegenteiliges Motiv, Maria
                                                                                                    praktisch in der ganzen Welt die Ver-      liche Liga zerfiel. 100 Jahre später       mit einem programmatischen Titel
  Veit Schäfer                                                                                      ehrung und Anrufung Mariens aus.           standen die Türken vor Wien. Den-          zu versehen, hatte Papst Benedikt
  ist Mitglied                                                                                      Die Anlässe dafür reich(t)en von           noch hat die Seeschlacht ihren Ruf als     XV. (1914-22). Während des 1. Welt-
der Gemeinde                                                                                        markanten geschichtlichen Ereignis-        Schicksals-„Schlacht des Abendlan-         kriegs hatte er wiederholt vergebens
    Karlsruhe
                                                                                                    sen in Kirche und Welt bis hin zu den      des“ über die Jahrhunderte bewahrt         Friedensappelle an die verfeindeten
                                                                                                    schlichten Bitten unzähliger gläubiger     und auch als Hinweis auf die Macht         Staaten gerichtet. Am 1. August 1917
                                                                                                    Menschen in den Wechselfällen des          des Gebets.                                schließlich richtete er einen dramati-
                                                                                                    Lebens um Rat, Trost, Hilfe und Für-             Ein Jahr später führt der Papst      schen Appell an die kriegführenden
                                                                                                    sprache bei Gott. Votivtafeln in vielen    den Gedenktag „Unserer Lieben Frau         Staaten:
                                                                                                    Wallfahrtsorten zeigen eindrucksvoll,      vom Siege“ ein. Er hatte vor und                „Soll denn die zivilisierte Welt
                                                                                                    wie Menschen die erflehte Hilfe Mari-                                                 nur noch ein Leichenfeld sein, soll das
                                                                                                    ens in ihren körperlichen, seelischen                                                 ruhmreiche und blühende Europa,
                                                                                                    Nöten und sozialen Notlagen erfuh-                                                    wie von einem allgemeinen Wahnsinn
                                                                                                    ren und erfahren. Über solche indivi-                                                 fortgerissen, in den Abgrund ren-
                                                                                                    duellen Glaubenserfahrungen soll und                                                  nen und Hand an sich selbst anlegen
                                                                                                    kann hier nicht räsoniert werden.                                                         zum Selbstmord?“ In vollkomme-
                                                                                                         Etwas kritischer darf man viel-                                                       ner Unparteilichkeit rufe er zum
  Bild: „Unsere liebe Frau von Galway“, eine Darstellung von der „Lieben Frau des Sieges“, Irland

                                                                                                    leicht die Würden oder ehrenvollen                                                         Frieden auf, „wie es jenem ziemt,
                                                                                                    Funktionen sehen, die Maria vonsei-                                                      der als der gemeinsame Vater alle
                                                                                                    ten der Kirche, den Päpsten zumeist,                                                  seine Kinder mit der gleichen Liebe
  aber wahrscheinlich ursprünglich aus Italien, 17. Jhd. Aus dem Galway City Museum.

                                                                                                    aber auch von weltlichen Herrschern                                                   umgibt“. Auch dieser Versuch schei-
                                                                                                    zugesprochen wurden. 1656 erklärte                                                      terte kläglich, die meisten Staaten
                                                                                                    beispielsweise der polnische König                                                          antworteten nicht einmal auf
                                                                                                    Johann II. Kasimir Maria zur                                                                  den päpstlichen Aufschrei. Im
                                                                                                    „Königin der polnischen Krone“,                                                                Gegenteil, gemeinsam diffa-
                                                                                                    Papst Pius XI. legte den 3. Mai                                                                 mierten die Feinde den Papst
                                                                                                    als Festtag „Unserer Lieben Frau,                                                               als Parteigänger der ande-
                                                                                                    Königin von Polen“ fest. Hinter                                                                 ren Seite. Die herbste Ent-
                                                                                                    solchen Proklamationen stehen                                                                   täuschung für ihn dürfte die
                                                                                                    (kirchen-)politische Erwägungen                                                                 Reaktion der katholischen
                                                                                                    und sogar Kriege.                                                                               Bischöfe der kriegführenden
                                                                                                         Kommen wir in diesen schreck-                                                              Länder gewesen sein, die weit-
                                                                                                    lichen Kriegstagen auf zwei Ehrentitel                                                         hin die Ziele ihrer Regierun-
                                                                                                    zu sprechen, die Maria im Zusammen-                                                           gen vertraten.
                                                                                                    hang mit weltgeschichtlichen Kriegs-                                                             Angesichts der Verheerung
                                                                                                    ereignissen zugesprochen wurden.                                                       Europas fügte Benedikt XV. den Titel
                                                                                                                                                                                          „Maria Königin des Friedens“ in die
                                                                                                    Unsere Liebe Frau vom Siege                                                           Lauretanische Litanei ein. Augen-
                                                                                                         Es war im Oktober 1571, als                                                      scheinlich ein nicht minder hilflo-
                                                                                                    eine christliche Flotte die als unbe-                                                 ser Versuch, mithilfe des Glaubens
                                                                                                    siegbar geltende und weitaus stär-                                                    an himmlische Mächte das Grauen
                                                                                                    kere türkische Seestreitmacht in der                                                  künftiger Kriege abzuwenden: Zwei
                                                                                                    Seeschlacht bei Lepanto (Golf von                                                     Jahrzehnte später brach der noch
                                                                                                    Patras) be­siegte. Unter beträchtli-                                                  schrecklichere 2. Weltkrieg aus.      n
                                                                                                    chen Mühen hatte Papst Pius V. eine

          10                                                                                                                                                                                            Christen heute
„gestandene Männer“ attraktiv, wie die großen Wallfahr-

Maria ist beliebt                                              ten nach Telgte bei Münster zum Pieta-Gnadenbild der
                                                               „schmerzhaften Mutter“ zeigen.
                                                                     Aber es gibt in den letzten Jahrhunderten auch immer
Vo n R aimun d Heidr ich                                       mehr fragwürdige Marien-Erscheinungsorte, an denen ein
                                                               eigentümlicher Wunderglaube große Blüten treibt. Einige

„M
                 aria zu lieben ist allzeit mein Sinn.“        hat die Römisch-Katholische Kirche sogar anerkannt, z. B.
                 Dieses alte Lied kennen ja wohl viele noch.   Fatima, bei anderen, z. B. bei Medjugorje in Bosnien-Her-
                 Mein alter Kumpel aus der Jugendzeit hatte    zegowina, ist sie bisher dann doch sehr zurückhaltend.
eine Freundin, die Maria hieß; so war bei ihm das Lied               Martin Luther hat zwar den übertriebenen Heiligen-
doppelt angebracht. Und dazu trug er als Zweitnamen            kult abgelehnt, war aber ansonsten auch klassischer Mari-       Raimund
„Maria“, wie Rainer Maria Rilke zum Beispiel. Das dürfen       enverehrer. Und das mittelalterliche Erbe hat sich auch         Heidrich
Männer ja. Die große Ausnahme. Rundum: Maria war ihm           an die evangelischen Marien- und Frauenkirchen vererbt,         ist Mitglied
                                                                                                                               der Gemeinde
schon immer nahe.                                              z. B. an die Frauenkirche in Dresden. Alle Christen gleich      Dortmund
     Und wenn ich mich umgucke: Wie viele tragen Maria         welcher Konfession halten am antiken Credo fest, in dem
als Vornamen? Unzählige. Auch in unterschiedlicher sprach-     Maria wie selbstverständlich eine Jungfrau genannt wird.
licher Form als Marie oder Ria oder als englisches Mary              Es bleiben Fragen zu stellen: Was wissen wir über-

                                                                                                                             Jungfrau Maria, Youngjin_Archive
oder als russisches Maschenka. Alle kommen vom hebräi-         haupt historisch gesichert über Maria? Doch eigentlich

                                                                                                                             Hintergrundfoto: Tätowierung
schen Mirjam, das unter anderem auch als „Meerstern“           nur, dass sie Maria hieß und dass ihr Mann der Bauhand-
gedeutet wird. Auch in zusammengesetzter Form kommt            werker Josef war, dass sie mehrere Kinder hatten, darunter
Maria vor als Maria-Anna, kurz Marianne, oder als Maria-       auch ihren Sohn Jesus, und dass sie im kleinen, unbedeu-
Elisabeth, kurz Marlis. Rundum: Maria war und ist beliebt!     tenden Nazareth in Galiläa wohnten. Aber wie sind die
     Wie viele Kapellen, Kirchen und Dome sind nach ihr        tiefgründigen biblischen Aussagen und Bilder bezüglich
benannt? Manche etwas versteckt als Kirchen „ULF“, Kir-        Maria zu deuten? Welche Bedeutung könnte für uns heute
chen „unserer lieben Frau“, kurz „Frauenkirche“.               Maria haben, welche Rolle könnte sie heute spielen? Ein-
     Und dann die große Zahl der Wallfahrtskirchen. Die        fach links liegen lassen geht gewiss nicht. Oder wollen wir
klassischen, die vor allem die mütterliche „Trösterin der      uns wirklich mit Maria anlegen, mit Maria, der Mutter
Betrübten“ im Blick haben. Diese Maria ist gerade auch für     Jesu?                                                    n

Die Heilige und die Hure                                                           und leibfeindlicher Ausprägungen,
                                                                                   die Weiblichkeit noch bedrohlicher
                                                                                   erscheinen ließen. Die Gottesmutter
                                                                                   konnte auf keinen Fall durch einen
Maria versus Maria                                                                 immerhin fortpflanzungsnotwen-
Vo n Fr ancin e Schwert feger                                                      digen, aber als sündig verteufelten,
                                                                                   möglicherweise lust- und liebevol-

V
        on Maria ist in der Regel         der Gottesmutter gelingt wohl die        len Geschlechtsakt verunreinigt
        als Jungfrau und Gottesmut-       grandioseste Auferstehung der Mut-       („befleckt“) worden sein. Die Jung-
        ter die Rede. Die „heilige        tergöttin früherer Jahrtausende, deren   frau Maria wurde zum nie erreich-
Maria, Mutter Gottes“ ist Fürspreche-     Symbole und Titel sie übernimmt;         ten Traumziel der katholischen Frau         Francine
rin und gehorsame „Magd“ des Herrn.       sie wird zur liebreichen Herrin, thro-   glorifiziert.                               Schwertfeger
                                          nenden Göttin, Gnadenspenderin,                                                      ist Mitglied
                                                                                                                               der Gemeinde
Jungfrau Maria –                          Retterin, Erhörerin von Gebeten,         Magdalena – heilige Hure?                   Hannover
nie erreichtes Traumziel                  Meereskönigin, Maienkönigin, Her-             Zum Gegenpol wurde bald in
     Die feministische Geschichts-        rin des Grünens und Blühens, sancta      der Kirche die andere Maria gekürt:
lesung hingegen bescheinigt ihr           regina, stella maris, mater dolorosa.“   Maria von Magdala, aus der Jesus nach
den verkappten Rang einer Göttin               Das ganze Lehrgebäude der           dem Markus- und Lukasevangelium
neben dem männlichen Trio Gott-           Mariologie hat teils zu schweren         sieben Dämonen ausgetrieben hatte
vater-Sohn-Heiliger Geist, mit dem        innerkirchlichen Zerwürfnissen           (Mk 16,9; Lk 8,2). Papst Gregor I. hat
die frühe Kirche den noch heidni-         geführt. War bei den Evangelis-          sie 591 in einer Predigt mit der Sün-
schen Menschen in ihrer Sehnsucht         ten die besondere Empfängnis Jesu        derin gleichgesetzt, die Jesus die Füße
nach einem weiblichen und liebevol-       („durch den Hl. Geist“) noch ein         wusch (Lk 7,36-50). Im althochdeut-
len Pendant zum strafendem Vater-         Stilmittel, die Geburt des Erlösers      schen Sprachraum wurde sie deshalb
gott entgegengekommen sei. Christa        gemäß alter Göttermythen als etwas       als „huora“ (Ehebrecherin) bezeich-
Mulack, feministische Theologin,          Übermenschliches darzustellen, so        net; von da an war sie die „Hure“,
schreibt in Maria, die geheime Göttin     begann schon unter den ersten Chris-     weshalb spätere Heime für „gefallene
im Christentum: „Mit der Verehrung        ten die Herausbildung asketischer

6 6 . J a h r g a n g + M a i 2 0 2 2 11
Mädchen“ den Namen „Magdale-                                                         Die Männer zweifeln, und Pet-
      nenheime“ erhielten.                                                            rus hetzt (Kap. 9.4):
           Kann es sein, dass Maria Mag-
      dalena die Personifikation der                                                   Sprach Er wirklich ohne unser
      „heiligen Hure“ war, die in matriar-                                             Wissen mit einer Frau und
      chalen Religionen als Repräsentan-                                               dies vor uns verborgen? Sollen
      tin der Göttin im Tempel den als                                                 wir uns ihr nun zuwenden
      göttlich verstandenen Geschlechts-                                               und ihr künftig zuhören?
      akt mit Männern zwecks „heiliger                                                 Hat Er sie uns vorgezogen?
      Hochzeit“ vollzog? Immerhin war
      das bei Luther (Mt 4,15) übersetzte                                             Maria bricht in Tränen aus und
      „heidnische Galilea“, das wörtlich                                              Levi nimmt sie vor Petrus in Schutz
      „Bezirk der Heiden“ heißt, vor-                                                 (Kap. 9.7):
      mals unter assyrischer Herrschaft.
      Die Assyrer hatten in ihrer Vielgöt-     Magdalena ihr von Jesus empfangenes     Nun sehe ich, wie du [Petrus]
      ter-Religion auch sumerische Ein-        geheimes Wissen den Jüngern, weil       dich gegen diese Frau aufbäumst,
      flüsse. Und der berühmte sumerische      Petrus sie auffordert. Aus Kap. 5.5:    als wäre sie dein Gegner. Denn
      Gilgamesch-Epos ist laut Forschung                                               wenn der Retter sie als wertvoll
      ursprünglich matriarchal gewesen.            Schwester, wir wissen, dass         erachtete, wieso möchtest du sie
      Dazu gehörten Tempeldienerinnen              der Retter dich mehr liebte als     dann ablehnen? Der Retter kennt
      (Harimtu), die im Namen der Göt-             alle anderen Frauen. Berichte       sie sicherlich sehr gut. Das ist der
      tin Ishtar/Inanna mit Männern die            uns von den Worten…                 Grund, wieso er sie mehr liebte
      heilige Hochzeit vollzogen (s. die                                               als uns. Wir sollten uns besser
      Mythen von Inanna und Dumuzi bzw.        Sie spricht über die Entwicklung der    schämen und lieber dafür sorgen,
      Samhat und Enkidu, der dadurch vom       Seele.                                  den perfekten Menschen in uns
      „Tier“ zum Mensch werden sollte).                                                und für uns zu leben, so wie Er es
      Wurde dies mit der Vorherrschaft                                                 uns aufgetragen hat. Lasst uns das
      der Männer entweiht und ver-             Maria Magdalena: Festtag 22.7.          Evangelium predigen und nicht
      teufelt? Wurde die unverheiratete                                                Regeln oder Gesetze aufstellen,
      Magdalena zur verachteten Hure,          5   Attribute: unter dem Kreuz,         die jenseits dessen stehen, die
      weil sie einst der Göttin diente, sich       Salbgefäß, als Büßerin, Geißel,     uns der Retter mitgeteilt hat.
      nicht an einen Mann band? Das                mit Musikinstrumenten,
      kann nur Spekulation bleiben.                nackt und völlig behaart, mit      Diese Perspektive des Evangeliums
           Ein spannendes Textfrag-                Totenschädel (als Symbol für       der Maria ist ein starkes Zeugnis
      ment ist das Evangelium der Maria            Nichtigkeit / Eitelkeit).          für eine Strömung, die ebenfalls in
      (Magdalena) aus der 2. Hälfte            5   Patronin von Ripatransone; der     der Kirche vorhanden war; doch
      des 2. Jahrhunderts. In ihm ist sie          Frauen, reuigen Sünderinnen        konnte sie sich bekanntlich in der
      ungewöhnlich deutlich die heraus-            und Verführten; der Kinder, die    Kirchengeschichte nicht durchset-
      ragende, selbständige/unverheira-            schwer gehen lernen; der Schüler   zen. Stattdessen wurde Leib- und
      tete, den Männern gleichgestellte            und Studenten, Gefangenen; der     Frauenfeindlichkeit kultiviert bis
      Apostelin, die eine enge Bindung             Handschuhmacher, Wollweber,        hinein in die christliche Sexual-
      zu Jesus gehabt hat – aber wohl              Kammmacher, Friseure, Salben-      erziehung. Wie weit diese Intro-
      keine sexuelle, wie so viele neu-            mischer, Bleigießer, Parfüm-       jektionen der männlichen Psyche
      ere, phantasievolle Publikationen            und Puderhersteller, Gärtner,      gehen, spiegelt sich nicht nur bei
      gern glauben machen möchten.                 Winzer, Weinhändler, Böttcher;     manchen Männern wider, sondern
      Prof. Dr. Silke Petersen schließt            gegen Augenleiden und Pest;        es hat durch Jahrhunderte z. T.
      dies jedenfalls aus; siehe ihr Beitrag       gegen Gewitter und Ungeziefer.     auch gläubige Frauen in ihrer Sexu-
      Maria aus Magdala zum wissen-            5   Bauernregeln:                      alität behindert.
      schaftlichen Bibellexikon der Deut-          An Magdalena regnet’s gern,             Wie kommt es sonst, dass Por-
      schen Bibelgesellschaft im Internet          weil sie weinte um den Herrn.      nografie so weit verbreitet ist, auch
      (2011). (Dort rückt sie auch die             Regnet’s am Magdalenentag,         unter verheirateten Männern? Die
      aus ihrer Sicht z. B. im Evangelium          folgt gewiss mehr Regen nach.      Psyche spaltet die Frau auf in die
      des Philippus erwähnten Küsse                Wie Maria fortgegangen,            brave, aber langweilige Hausfrau
      zurecht.)                                    wird Magdalena                     und Mutter (asexuelle Heilige) und
                                                   		   sie empfangen.                in die verruchte, aber aufregende
      Brodelnder Geschlechterkonflikt              Am Tag der heiligen                Prostituierte, mit der „Mann“ sich
           Das Evangelium der Maria                		   Magdalenen                    alle Phantasien auszuleben traut
      schildert einen brodelnden                   kann man schon                     und, wie Frauenschutzorganisa-
      Geschlechterkonflikt in der Nach-            		   volle Nüsse sehen.            tionen auch warnen, die Frau als
      folge Jesu. So offenbart Maria
                                                   Aus: www.heiligenlexikon.de
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