Asyl als Übergang Transiträume in der griechischen Tragödie - Theater der Zeit
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Asyl als Übergang Transiträume in der griechischen Tragödie von Susanne Gödde I. Hikesie versus Asyl Mit dem Heiligtum – sei dies der Tempelbezirk in seiner gesamten Ausdehnung oder, konkreter, der Altar in dessen Innerem – betritt ein um Schutz Bittender, ein Verfolgter, ein ‚Asylant‘ in der griechischen Antike einen sakralen Ort, einen Ort, der den Göttern heilig ist, einen Ort, von dem er – dies die Grundbedeutung von asylos – nicht ‚geraubt‘, also entfernt, werden darf. Diese Zuflucht im Heiligtum, so sehr das ungeschriebene Sakralrecht sie garantiert, ist jedoch immer temporär und zu unterscheiden von einem dauerhaften Schutz, der nur durch eine politische Instanz gewährt werden kann. „The god and his altar“, schreibt Froma Zeitlin, „are only the intermediary in the transaction between suppliant and polis“.1 Zwar konnten antike Heiligtümer größere Mengen von Menschen über einen längeren Zeitraum aufnehmen [zu den räumlichen Dimensionen vgl. die Abb. 1 und 2], und es sind Fälle von bis zu 20-jährigen Aufenthalten von Schutzsuchenden im Tempelbezirk überliefert, deren Verfahren so lange anhängig waren2 – doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass das Heiligtum immer nur als Transitraum, als Durchgangsstation hin zu einem dauerhafteren und insofern sichereren Aufenthaltsort gelten kann, über den politische Instanzen zu beschließen hatten. Man mag im antiken Sakralrecht, das Fremden, Bettlern und Verfolgten, insbesondere geflohenen Sklaven, aber auch Mördern Schutz versprach und das eng verwandt war mit der im mediterranen Raum fest verankerten Institution der Gastfreundschaft, jene Humanität verwirklicht sehen, die die diversen Humanismen in der griechischen Antike zu finden glaubten. Aber bei genauerem Hinsehen wird man feststellen, dass Asyl und Hikesie in der literarischen, historiographischen und ikonographischen Überlieferung vor allem als Situationen des Prekären, des Flüchtigen und des Kampfs um Rechte und Verfahren begegnen und gerade deshalb für die antike Tragödie zum geeigneten räumlichen und affektiven Modell der Instabilität und des Konfliktes werden konnten.3 Der Tempel oder Altar als Ort des Schutzes spielt in der diskursiven Bearbeitung von Hikesie und Asyl eine doppelte, eine paradoxe Rolle: Zum einen verortet er den Fliehenden und Schutzsuchenden an einem Heterotopos, einem ‚sakralen‘ Ort, der aus der ‚normalen‘ Lebensordnung ausgegliedert ist und an dem der Verfolgte ungeachtet seiner Vorgeschichte4 Schutz genießt. Zwar ist hierbei zu bedenken, dass die Dichotomie zwischen ‚sakral‘ und ‚profan‘ im antiken Griechenland nicht so starr war, wie dies in den meisten modernen Theorien des Sakralen oder Heiligen, zumal französischer Provenienz, unterstellt wird. Die graduelle Abstufung der Heiligkeit von Räumen, wie sie auf den Abbildungen 1 und 2 zu erkennen ist, deutet die Fluidität des Konzeptes an.5 Doch ist unbestritten, dass mit dem Aufenthalt im Tempelbezirk und markiert durch den Vollzug bestimmter ritueller Gesten sowie den Einsatz entsprechender Accessoires das Recht auf Schutz und der damit einhergehende Status der (zunächst vorübergehenden) Asylie wenn nicht automatisch erwirkt, so doch vehement beansprucht wurde.6 Ein Zeus-Orakel, das Pausanias zitiert, soll die Schutzflehenden selbst gar – ungeachtet ihrer möglichen moralischen oder juristischen Schuld – als „heilig und rein“ (????? ?? ??? ?????) bezeichnet haben.7 Zum anderen aber galten für das Betreten eines Tempelbezirkes durchaus bestimmte Reinheitsgebote, die etwa vorschrieben, dass Gebärende, Menstruierende oder Sterbende mit dem heiligen Grund nicht in Berührung kommen sollten. Gemäß einer strengen Auslegung dieser Regel müsste zumindest der blutbefleckte Schutzsuchende ebenso vom Tempel ausgeschlossen gewesen sein. Doch konnte selbst dieser – trotz des Protestes, den das immer wieder hervorrief8 – zumindest temporär in den Tempelbezirk aufgenommen werden, ein Indiz für die außermoralische und vorjuridische Logik dieses Sakralrechts.9 Heilig und profan, rein und unrein gehen provokante, dialektische Relationen ein in der Situation der Hikesie, und so bezeichnen die Schutzflehenden im griechischen Sakralrecht immer eine Aufhebung alltäglicher Gesetzlichkeiten, gegebenenfalls auch eine Transgression von – unter anderen Umständen – Verbotenem. Die scheinbar so sicheren Sakralzonen lassen sich also auch als Orte der Instabilität und der Unsicherheit, ja bisweilen sogar der erlaubten und doch gewaltsamen Grenzverletzung verstehen. Dies vor allem deshalb, weil sie lediglich eine erste Anlaufstelle und Transitphase im Verfahren der Schutzgewährung darstellen. Zudem aber zeigt sich bei genauerer Durchsicht des Materials, dass Literatur und Bildkunst weitaus häufiger das Scheitern der Hikesie und den Frevel gegen das Sakralrecht in Szene setzen als den Schutz, den das Ritual gewähren soll. In diesen Fällen dient der Altar als zeichenhafter Verstärker einer Gewalthandlung. Die Ikonographie antiker Vasenbilder vermittelt bisweilen den Eindruck, dass eine Ermordung oder Vergewaltigung, indem sie am Altar stattfindet, an den sich das Opfer der Gewalt geflüchtet hat, allererst als solche ausgewiesen wird. Gewalt gegen Schwache und Unterlegene – wie die des Achill gegen den jungen Trojaner Troilos [Abb. 3] oder die des Aias gegen Kassandra [Abb. 4] – wird durch die Hinzufügung des
Bildzeichens ‚Altar‘ als extreme Transgression markiert. Somit wird der Altar, der idealiter Ort des Schutzes ist, text- oder bildstrategisch zugleich zum Ort des Ausgeliefertseins und des Tabubruchs. Das Ritual der Hikesie, das im Idealfall zur Aufnahme des Fremden oder Schutzsuchenden führt, kann (und muss) sich neben dem heiligen Ort auch an einen menschlichen Adressaten richten, in der Regel an einen mit Entscheidungsmacht ausgestatteten Repräsentanten eines Gemeinwesens.10 Während im ersten Fall – also beim Schutz durch den Ort – die Berührung des Altars oder eines Götterbildes ausschlaggebend ist, berührt der Schutzflehende im zweiten Fall Knie, Kinn oder Hände des Adressaten – offenbar in dem Glauben, dass diese Körperteile dessen Macht und Kraft in besonderer Weise symbolisieren. Zum weiteren Verständnis der rituellen Gestik des Berührens trägt auch die Etymologie des Begriffs ‚Hikesie‘ bei: Das Substantiv hiketeia und das dazugehörige Verbum hiketeuein, ‚flehen, bitten‘, leitet sich von derselben Wurzel her wie das Verbum hikneisthai, das ‚ankommen‘ bedeutet. Der Terminus des Rituals bezieht seine Schlagkraft aus der Vorstellung, dass der, der in der Fremde ‚ankommt‘ (hikneisthai), zugleich der ist, der um Schutz ‚bitten‘ muss (hiketeuein), den er als Fremder zunächst nicht genießt. Das griechische Sakralrecht unterscheidet also zwischen einem Ritual des Ankommens (Hikesie) und dem erst darauf folgenden zweiten Schritt der potentiellen Aufnahme (Asyl).11 Die Überschneidung der Bedeutungsfelder ‚ankommen‘ und ‚bitten‘ setzt sich fort in der Gestik der Hikesie. Die ausgestreckten Arme desjenigen, der sich – wie etwa Odysseus, der nach dem Schiffbruch das Land der Phaiaken erreicht – an die Küste rettet, antizipieren das rituell-symbolische Berühren des Altars oder der entsprechenden Körperteile des Adressaten. Unterstützt und verlängert wird diese Geste durch das Tragen von mit Wolle umwundenen Ölzweigen, einem innerhalb des griechischen Kulturraums untrüglichen Zeichen für den Status des Schutzflehenden, dessen genaue Symbolik im Unklaren bleiben muss, aber häufig mit Sakralität und Reinheit assoziiert wird. Mit der Berührung des Adressaten ist ein Anspruch verbunden, ein Kontakt, der den Beginn der Inkorporation markieren kann, zugleich eine potentielle Aggression, die die ursprünglich schwache Position des Schutzflehenden spannungsvoll verkehrt. Die taktile Bitte, der Kontakt, so hat es Simon Goldhill formuliert, „eröffnet die Möglichkeit des Kontrakts“.12 Brian Vickers wählt für diese Konstellation unter anderen Vorzeichen die Formel „gesture as pressure“.13 Indem das Bitten um Aufnahme jedoch zunächst als Ankommen figuriert und vom Asyl im eigentlichen Sinne differenziert wird (Hikesie versus Asylie), wird auch der prekäre Status des Prozesses deutlich: Wer ankommt, ist noch lange nicht aufgenommen, Ankommen ist nicht dasselbe wie ‚Angekommen-Sein‘, ist ein liminaler Status, ein Übergang, dessen defizitäre Verfasstheit Elfriede Jelinek im letzten Satz der Schutzbefohlenen aufgreift, wenn sie schreibt: „Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da.“14 Zu Topographie und Gestik kommt noch ein Drittes hinzu: Während vielfach von Ritualen gesagt werden kann, dass sie performativ eine neue Wirklichkeit schaffen, dass allein die symbolischen Handlungen einen Statuswechsel erwirken, ist das Ritual der Hikesie auf zusätzliche, nämlich sprachliche, Verfahrensschritte angewiesen, um zum Abschluss zu kommen. Hier begegnen sich Drama und Politik in der Erzählung und Verhandlung eines Falls, in der Entscheidung über Gehen oder Bleiben.15 Die Hikesie, das zeigen die Tragödien, ist nicht zu denken ohne ein Narrativ, mit dem die Schutzflehenden ihre Aufnahme zu erzwingen suchen, indem sie ihren Fall, die gegenwärtige Notlage, so drastisch wie möglich schildern und damit den tragischen Affekt des eleos, des Mitleid( en)s, evozieren.16 Dieses Plädoyer erinnert den Adressaten an seine religiöse Pflicht und an sein öffentliches Ansehen, das im Falle einer Verletzung des Sakralrechts massiven Schaden nehmen würde. Ein wichtiges Argument im Rahmen dieser Hikesie-Rhetorik ist in fast allen Asyl-Tragödien die Verwandtschaft: In bisweilen hanebüchenen genealogischen Ketten demonstrieren die Ankommenden sowohl in Aischylos’ Hiketiden als auch in Euripides’ Herakliden und Hiketiden, dass ihr Geschlecht und das der potentiellen Helfer viele Generationen zuvor aus einem gemeinsamen Stamm entsprungen ist. Wer diese Verwandtschaft nicht nachweisen kann, hat, so suggeriert es die Tragödie, keine Chance, in die genealogisch und territorial abgesicherten Trutzburgen der griechischen Poleis einzudringen. Das Sprechen der um Schutz Bittenden, das ein ‚Sprechen um Leben und Tod‘ ist und das eine hohe Affinität zum Grundton des Sprechens in der Tragödie aufweist,17 charakterisiert den Transit, den Übergang: Die Ankommenden müssen sich ihre Aufnahme mit ihrem Körper und ihrer Stimme rituell und rhetorisch ‚ersprechen‘. Während in Aischylos’ Hiketiden die potentiell ‚zu lange‘ oder ‚zu dreiste‘ Rede der Danaiden im Dialog – nicht jedoch in den Chorliedern – immer wieder von ihren männlichen Gegenspielern, von Pelasgos oder Danaos, in ihre Schranken verwiesen wird, um das Überbordende der weiblichen Verzweiflungsrhetorik zu kontrollieren,18 analogisiert Euripides die intensive Sprache der Not und die intensive Sprache der Dichtung beziehungsweise der Kunst miteinander, wenn er etwa Iphigenie, die ihren Vater um Verschonung bittet, den Wunsch äußern lässt, sie möge über „die Stimme des Orpheus“ verfügen, mit der sie „singend Steine um sich scharen und bezaubern könnte, wen sie wollte“.19 Hekabe unterstellt im gleichnamigen Stück, dass die Bitte um das Leben ihrer Tochter Polyxena mehr Erfolg haben könnte, wenn die Gesten nicht nur stumm blieben, sondern die einzelnen Körperteile tatsächlich eine Stimme hätten, was jedoch nur im Medium der Kunst (techne) möglich sei:
O wohnte mir eine Stimme in den Armen, in den Händen, im Haar, im Tritt der Füße, sei es durch die Kunst des Daidalos, sei’s durch die Kunst auch eines Gottes, daß allesamt sie weinend deine Knie umschlängen und flehend alle ihre Zungen sprechen ließen.20 Was hier formuliert wird, ist die Vision einer gestischen Sprache, die den Adressaten physisch ‚berührt‘ und ‚bewegt‘ und ihn so – aufgrund eines sprachlich-körperlichen Kontaktes – auch zur Akzeptanz der Hikesie verpflichtet. Hekabe verfügt jedoch über diese Sprache nicht (oder nur im Konjunktiv), Agamemnon kann sich ihrer Bitte entziehen und Polyxena wird geopfert. Was innerhalb der Fiktion des Dramas scheitert, muss jedoch bei den Zuschauern im Athener Dionysos-Theater, die sich – vielleicht? – von der Sprache der Tragödie bedrängen und berühren lassen, nicht ebenfalls ohne Erfolg sein. Das Hikesie- beziehungsweise Asyl-Geschehen in den entsprechenden Tragödien weist noch ein weiteres Moment von Übergang, von Transit auf, nämlich das der Entscheidung, die durch die entstandene Krise erforderlich wird, zumal dann, wenn eine dritte Partei, der Verfolger des Schutzflehenden, mit seinen Ansprüchen in den Prozess involviert ist und der Adressat der Hikesie die Sache des Verfolgers und die des Verfolgten gegeneinander abwägen muss.21 Hier kommen häufig die Institutionen und Entscheidungsverfahren der demokratischen Polis zum Tragen, Debatten in der Volksversammlung und Abstimmungen sowie Gerichtsverfahren (etwa in den Eumeniden). Doch nicht weniger relevant für den zu fällenden Beschluss ist das Sakralrecht und die im Falle der Abweisung drohende Befleckung und ihre Konsequenzen (deutlicher in den Vordergrund gerückt in Aischylos’ Hiketiden). Inwiefern die rationale oder gar autonome Entscheidung des Protagonisten und damit ein vermeintlich dramatisches Moment überhaupt zu den Wesensmerkmalen der griechischen Tragödie gezählt werden kann, ist vielfach diskutiert worden.22 In fast allen der im Folgenden zu besprechenden literarischen Hikesie-Szenen stellt die Forderung des Schutzsuchenden ein Eindringen von außen dar, das die vorhandene Ordnung auf eine harte Probe stellt, und häufig ist die positive Entscheidung für das Asyl nicht ohne einen hohen Preis zu haben. II. Homer, Odyssee: Hikesie und Identität Im Folgenden möchte ich auf die konkrete literarische Ausformung des bisher eher allgemein skizzierten Transits eingehen. Es geht mir dabei nicht vorrangig um Räume im wörtlichen Sinne. Gezeigt werden soll vielmehr, wie der Transit der Hikesie, die Schwellensituation, die sie darstellt, durch andere Schwellen und Übergänge in den jeweiligen Narrativen verstärkt oder gespiegelt wird, so dass die Situation des Schutzflehenden generell zum Paradigma oder zur Metapher für Statuswechsel werden kann. Odysseus’ Ankunft bei den Phaiaken, die letzte Station seiner Abenteuer und notwendige Voraussetzung für eine Rückkehr in die ‚reale‘ Welt von Ithaka, ist durch zahlreiche Hikesie-Szenen skandiert:23 Wenn er sich zunächst an die Knie des Flussgottes wendet (Od 5,449), der ihn in seinem Mündungsdelta wie in einen Schoß aufnimmt und ans sichere Land spült, so ist bereits hier die liminale Symbolik nicht zu übersehen. Die nächste Hikesie, bei der Königstochter Nausikaa, findet ‚figurativ‘, also rein sprachlich und ohne Berührung statt, aus Respekt und Ehrfurcht vor der ‚göttergleichen‘ Jungfrau (Od 6,142 – 149).24 Im Laufe der Phaiaken-Episode rückt Odysseus in die Rolle des potentiellen Ehemanns der Nausikaa auf; dass er sie hier, obwohl die Hikesie dies zuließe, gerade nicht berührt, unterstreicht unter anderem, dass er sich – eben dem rauen Meer entronnen, nackt und mit einer Salzkruste bedeckt – noch außerhalb der Grenzen des zivilisierten Lebens bewegt. Diese Grenze wird er erst überschritten haben, wenn der Phaiakenkönig Alkinoos ihn von dem Herd, an den er sich in dessen Palast gesetzt hat, ‚aufhebt‘ und ihm anbietet, auf dem Lehnstuhl seines eigenen Sohnes Platz zu nehmen (Od 7, 162 f.) – das ‚Aufstehen-Lassen‘ bzw. ‚Aufheben‘ (anhistemi) des Schutzflehenden ist ein ritueller Akt, mit dem die Hikesie formal beendet wird. Doch bevor dies geschieht, wendet Odysseus, der von der Göttin Athene durch Nebel unkenntlich gemacht worden war, sich an die Knie der Königin Arete und bittet diese um Schutz und Aufnahme. Dass in dem Augenblick, in dem Odysseus die Knie der Königin berührt, der göttliche Nebel „von ihm zurückfloß“ (Od 7, 143), zeichnet die Hikesie-Bitte zugleich als Sichtbarwerdung eines zuvor durch sein Schicksal in die Unsichtbarkeit Verbannten aus und als Schock, der sich im langen Schweigen der Anwesenden ausdrückt. Das Erscheinen des hiketes wird hier – wie bereits in der berühmten Szene zwischen Achill und Priamos im 24. Gesang der Ilias – als der Einbruch des ganz Anderen in die Normalität einer geschlossenen Gesellschaft inszeniert.25 Zum Gleichgestellten wird Odysseus dann im weiteren Verlauf der Szene, indem er an den Wettspielen der Phaiaken teilnimmt und sich so Ansehen und materiellen Gewinn erwirbt, vor allem aber, indem er die Geschichte seiner Abenteuer erzählt, die eng mit der Frage nach seiner Identität verknüpft ist und durch die er sich nicht zuletzt das Heimgeleit ‚erkauft‘. Die Aufnahme bei den Phaiaken, jenen Bewohnern an der Grenze zwischen der Welt der Ungeheuer und Zauberinnen und der Realität Ithakas, dient Odysseus als Passage und Transit, hier in einem emphatischen Sinne der Probe und der Erneuerung.26
III. Aischylos, Hiketiden – Hikesie und Hochzeit Mein zweites und ausführlicher zu behandelndes Beispiel sind die Schutzflehenden oder Hiketiden des Aischylos. Auch hier steht, wie in der Phaiaken-Episode der Odyssee, im Zentrum der Hikesie die Situation des Ankommens in der Fremde, und auch hier wird dieser Status des ‚in-between‘ noch verdoppelt und gespiegelt durch einen zweiten Übergang, den die Protagonistinnen durchlaufen, nämlich denjenigen von der Jungfrau zur Ehefrau. Schutzflehender und Jungfrau, so hat Froma Zeitlin betont, sind isomorphe Kategorien, beide bewegen sich an den Rändern der Gesellschaft und verkörpern „das Andere der Kultur“.27 Allerdings: Während die Danaiden, auf der Flucht vor der Gewalt ihrer Bräutigame, die Hikesie zu einem Ende bringen und im griechischen Argos aufgenommen werden wollen, möchten sie den Zustand der Jungfräulichkeit, so scheint es, auf Dauer stellen. Und indem das Drama die sichere Erfüllung der Hikesie bis zum Ende in der Schwebe hält, wird auch die transitorische Rolle der Jungfrau und damit die Verweigerung der Ehe aufs Äußerste ausgereizt.28 Die Hiketiden des Aischylos – zu datieren in die späten sechziger Jahre des 5. Jahrhunderts v. Chr. – inszenieren die Inkorporation der aus Ägypten nach Argos geflohenen Danaostöchter als Passage vom Meer, über das sie nach Griechenland geflohen sind, über die Küste, an der ihr Schiff – wie später auch das ihrer Verfolger – anlegt, des Weiteren über den Aufenthalt in einem nicht näher lokalisierten Heiligtum, markiert durch einen Hügel (?????) und einen Altar der agonioi theoi (V. 189: ??????? ????),29 bis in die Stadt des Pelasgos, Argos, die am Ende des Stücks, im Moment der Aufnahme, als „gut eingezäunt“ (??????) und durch die „hohe Kunst (???????) der Türme eingeschlossen“ charakterisiert wird (V. 954 ff.).30 Keine der antiken Asyltragödien hat die Bewegung der Flucht so prägnant in Text (und vermutlich auch in dramatisches Spiel) umgesetzt wie die Hiketiden des Aischylos und damit einen der zentralen Affekte der antiken Tragödie, die Angst, dramatisiert.31 Zustände des Aufgelöstseins und der Entgrenzung bestimmen die Disposition der Danaiden, was gleich mehrfach in den ersten Versen des Dramas (V. 1 – 5 und V. 14 f.) anklingt: Zeus, Hort auf der Flucht (???????), möge schaun voller Huld, Auf unsere Schar, die zu Schiff aufbrach Von dem Mündungsgebiet, dem feinsandgen Ried Des Nils. Das heilge verlassend, Nahe Syrien das Land, sind wir nun auf der Flucht (????????), […] Zu fliehn (???????) ungesäumt (??????) durch die Woge des Meers, Zu landen am Strand von Argos, […].32 Ich verweise hier nur auf das Adverb anheden in Vers 14, das, abgeleitet vom Verbum anhie¯mi, ‚entsenden, loslassen‘ – von Oskar Werner hier mit „ungesäumt“ wiedergegeben –, Grenzenlosigkeit und Freiheit, aber auch die Abwesenheit von Schutz, die Haltlosigkeit und Offenheit der Situation, evoziert. Später, im Gespräch mit Pelasgos, ersehnen die Danaiden eine Flucht „zu den Sternen“ (???????? […] ?????, V. 393 ff.), ein Wunsch, der im dritten Stasimon, als die Gefahr durch die Verfolger erneut konkret geworden ist, weitergeführt wird bis hin zu den wiederholten Todes- und Auflösungswünschen der Frauen (V. 779 f., V. 781 f., V. 788 ff.). Das Heiligtum, in dem die Danaiden und ihr Vater Danaos sich während des gesamten Stücks befinden, bleibt ein Ort der Unsicherheit. Zunächst müssen die fremd aussehenden Mädchen, die Pelasgos keiner Kultur eindeutig zuordnen kann (V. 277 – 290), ihren potentiellen Retter unter Aufbietung aller rituellen und argumentativen Mittel, bis hin zur Erpressung und Androhung, das Heiligtum mit ihrem Blut zu beflecken, davon überzeugen, dass er sie aufnimmt (V. 455 – 467). Als Pelasgos unter Qualen und Sorgen der Bitte stattgibt, seinen Entschluss aber von der Volksversammlung noch bestätigen lassen muss, fordert er die Danaiden auf, den Altar zu verlassen und sich in einen (offenen) Hain in der Ebene (?????? ???’ ?????, V. 508) zu begeben. Doch dies weisen die Frauen voll Furcht zurück, da ihnen dieser Hain, den sie bebelos (???????, V. 509), ‚allgemein zugänglich‘ (Werner übersetzt zugespitzt: „ungeweiht“), nennen, nicht genügend Schutz verbürgt. Entsprechend ist anzunehmen, dass sie auf dem Hügel bei den Götterbildern verbleiben – eine Szene, die die Grenzen der sakralen Schutzzone sehr eng zieht und sehr ernst nimmt. Im kurzen zweiten Epeisodion überbringt Danaos seinen Töchtern den Volksbeschluss, der das metoikein (?????????, das „Mitwohnen“) und die Asylie in Aussicht stellt (V. 608 f.). Es schließt sich ein Dankeslied an, bevor im dritten Epeisodion das zugesagte Asyl erneut in Frage gestellt wird: Die Aigyptossöhne nähern sich der Küste, um die Danaiden im vierten Epeisodion handgreiflich zu bedrohen, in der Absicht, sie nach Ägypten zurückzuführen und in die Ehe zu zwingen. Die Schutzfunktion des Heiligtums muss ein zweites Mal unter Beweis gestellt werden. Schließlich verteidigt Pelasgos den zugesagten Schutz gegenüber den Ansprüchen der Ägypter und führt die Frauen in der Exodos in die Stadt Argos, wo sie wohnen sollen. Die Tragödie zeigt jedoch nicht nur die humanitäre Erfüllung des Asylbegehrens durch den argivischen
König – sie inszeniert auch die Widerstände, die dieser Aufnahme vorausgehen, und zwar in Form von vehement vertretenen Territorialansprüchen (V. 250 – 273) und Fremdheitszuschreibungen (V. 277 – 290) sowie einer in der Metapher des Schiffsbruchs entfalteten Entscheidungskrise des Pelasgos (V. 407 – 417). Die Stadt, in die die Danaiden am Ende einziehen, und die allem Anschein nach Sicherheit gewähren wird, wird nämlich zuvor, im ersten Epeisodion, von Pelasgos in einem Land verortet, das stolz ist auf seine Grenzen und auf seine Reinheit. Dieses Land war von Apis, einem Arzt und Seher, von einer Befleckung durch Ungeheuer gereinigt worden – und die Bezeichnung dieser Drachen als einer „üble[n] Mitwohnerschaft“ (????????) deutet an, dass Argos sich vor erneuten, ähnlich bedrohlichen ‚Mitbewohnern‘ – wie eben den Danaiden – zu hüten gedenkt (V. 262 – 267): Apis ja, der von jenseits, Naupaktos, kam, Ein Arzt und Seher, Sohn Apollons, macht dies Land, Von menschenmordenden Ungeheuern frei, die einst, Von uralt blutger Taten Scheußlichkeit befleckt, Ans Licht gebracht die Erde, ob der Greul voll Groll: Ein drachenwimmelnd, schauderweckend Mordgezücht [wörtl.: eine Schar von Drachen, eine üble Mitwohnerschaft].33 In jüngerer Zeit hat Geoffrey Bakewell vorgeschlagen, Aischylos’ Hiketiden, die er im Untertitel seines Buches als „tragedy of immigration“ bezeichnet, als Gründungsmythos für die Institution der Metoikie zu verstehen. Allerdings werde, so wird hier argumentiert, die Metoikie – eine Athener Institution, die Fremden ein Bleiberecht in der Stadt gewährte, ohne sie aber zu Vollbürgern zu machen – in Aischylos’ Drama nicht als zivilisatorische Errungenschaft im Sinne der Gastfreundschaft und Eingliederung von Fremden gefeiert, sondern, so Bakewell, „the play’s newcomers provide an example of the political dangers a city ran by accepting metics“.34 In Bakewells Lektüre der Hiketiden figurieren die Danaiden auf mehreren Ebenen als Bedrohung für die zivile Ordnung und die Reinheit der Polis Argos, und ihre Aufnahme durch Pelasgos ist, so argumentiert er, lediglich dem Druck der Krise geschuldet. Auf der Ebene des Plots kann alles, was wir über den Fortgang der Trilogie wissen35 – die Danaiden werden, bis auf eine, ihre Ehemänner ermorden, und Danaos wird den Thron des Pelasgos usurpieren –, eine solche Lesart durchaus bestätigen, denn Argos wird kein Glück mit diesen Flüchtlingen haben. Andererseits aber wird in dieser wie auch in anderen Tragödien die xenophobe Polis-Ideologie konterkariert durch eine Sprache, die Fragilität und Emotionalität exponiert und Partei ergreift für das Schicksal der Schutzflehenden und gegen die sich abschottende Polis. Die Hiketiden des Aischylos inszenieren, neben der Flucht der Danaiden, noch eine weitere Fluchtbewegung, die sich mit einer poetischen Reflexion des Phänomens der Grenze, aber auch der Mischung verbindet. Es handelt sich um die Flucht der Io, der Geliebten des Zeus, die von Zeus in eine Kuh verwandelt und von der Bremse der eifersüchtigen Hera von Griechenland bis nach Ägypten verfolgt wird, wo sie dann durch eine wundersame Berührung (und durch einen Hauch) des Zeus ihren Sohn Epaphos entbindet und von ihren Schmerzen sowie von der Kuhgestalt erlöst wird (V. 313 ff.; 535; 577 – 581). Io, die im Stück als meixombrotos (V. 568: ????????????), als Mischwesen aus Mensch und Tier, bezeichnet wird, stellt das ‚Rollenmodell‘ dar, die „Spur“ (V. 538), der die Danaiden folgen, ihres Zeichens ebenfalls Mischwesen, astoxenoi, zur Stadt gehörig und dennoch fremd (V. 356: ?????????). Der Transit der Danaiden durch das Heiligtum von Argos, der während des gesamten Stücks andauert, bis sie am Ende nach der durch die Volksversammlung beschlossenen Aufnahme diese Zone des Übergangs verlassen und in die Stadt einziehen, hat also ein Pendant in einer anderen Passage, der Passage der Io, die, jenseits der Liebesaffäre des Zeus und ihrer Folgen, auch auf die Trennung und erneute Verschmelzung zweier Kulturen verweist. Zunächst „definiert“ (??????, V. 546) Io durch ihre Flucht, die sie durch die Wogen des Bosporos (der ‚Kuhfurt‘) führt, die beiden Erdteile, Asien und Europa, in ihren jeweiligen Grenzen. Dann aber steht sie als ‚Urmutter‘ der im Stück aufgerufenen genealogischen Kette bis hin zu den Danaiden auch für die erneute Verbindung von Ägypten und Griechenland. Der Plot der Hiketiden erweist sich über die Figur der Io als Teil einer größeren Migrationserzählung, eines aitiologischen Gründungsmythos, der erklärt, wie der Ägypter Danaos und seine Töchter – als Nachkommen der griechischen Io – (zurück) nach Argos kamen und die dortige Herrschaft usurpierten.36 Zwei politische Konflikte sind im Stoff der Hiketiden angedeutet: der zwischen Aigyptos und seinen Söhnen auf der einen und Danaos und seinen Töchtern auf der anderen Seite, also ein dynastischer Brüderkampf, und der zwischen dem in Griechenland alteingesessenen Pelasgos und den ägyptischen Usurpatoren. Wir wissen nicht, wie genau Aischylos in den weiteren beiden Stücken der Trilogie diese Konflikte dramatisiert hat oder wie deutlich er die Gewalt der Danaiden in der Hochzeitsnacht und die folgende Neuordnung, die wohl auch die Installierung eines Gerichts eingeschlossen hat, miteinander vermittelt hat.37 Für das erhaltene Stück lässt sich jedenfalls sagen, dass es die Inkorporation der ägyptischen Frauen (und ihres Vaters) als einen widerständigen und riskanten Prozess vorführt, der am Ende nicht vollständig abgeschlossen ist. Während zwei prominente Fälle von Asylgewährung im Mythos der Polis Athen ideologisch funktionalisiert werden und zum Ausweis einer auch humanitären Vorrangstellung zählen,38 wird die Gewährung des Asyls in den Hiketiden nicht gefeiert. Die Tragödie endet mit dem Flehen der Hiketiden um ein „lösendes Mittel“ (????????? / ????????, V. 1072 f.), das ihnen dazu verhelfen könnte, die immer noch drohende Ehe zu vermeiden. Die hohen Türme der Stadt, die die Danaiden nun einschließen – ein Bild für die Zwangsehe, in die sie schließlich geführt werden –, sind noch nicht die Lösung, auf die diese Trilogie
vermutlich zusteuerte. In der erhaltenen Tragödie sind Flucht und Hikesie vielmehr auf Dauer gestellt und verweisen auf mehrfache – soziale, politische und ethnische – Aushandlungsprozesse. IV. Euripides und Sophokles: Trauer und Tod Drei weitere Beispiele für die Hikesie als Verstärker oder Rahmung eines tragischen Übergangs seien nur kurz angedeutet: Euripides’ Hiketiden39 verhandeln einen der beiden mythischen Asyl-Fälle, die in den Annalen der Stadt Athen zum Ausweis der eigenen Ruhmestaten wurden: Es handelt sich um die militärische Unterstützung, die der mythische König Theseus den argivischen Müttern gewährte, denen die Thebaner – nach dem Kampf der Sieben gegen Theben – die Bestattung ihrer gefallenen Söhne verweigern (der Plot entspricht also im Kern der Geschichte der Antigone, nur dass das Bestattungsverbot hier auf alle argivischen Strategen ausgedehnt ist). Diese Hikesie wird nicht als eine Bitte um Asyl vollzogen – und gehört somit nicht im engeren Sinne zum Thema dieses Bandes. Aber sie kann verdeutlichen, wie sehr das Ritual zur Exponierung von Liminalität – hier der Trauer – dient und zudem, wie widerständig die Integration solcher Bittflehenden ist. Die Hikesie der Mütter findet an einem signifikanten Ort statt: im Heiligtum von Eleusis, das durch den Mythos von Demeter und Persephone als Ort der Trauer und der Wiedervereinigung, aber auch der Überschreitung der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits ausgewiesen wird.40 Theseus scheint die Tiefendimension des Ortes nicht zu ermessen, denn er will die Trauer aus dem Heiligtum verbannen. Seine zunächst abwehrende Haltung gegenüber den Schutzflehenden führt die Ordnung (kosmos) und den Verstand (synesis) ins Feld und verwahrt sich gegen jede Vermischung (V. 222 ff.; 311) – ein Thema, das auch in den Hiketiden des Aischylos prominent war, in denen sowohl Io als auch die Danaiden als ‚Mischwesen‘ die klare Ordnung, die Trennung von Mensch und Tier, von fremd und eigen oder von rein und unrein störten. An dem Chor der argivischen Mütter beanstandet Theseus, dass ihr Gesang nicht „einem Rhythmus“ folgt (??? ??? ?????? ????? ???????, V. 94 f.), dass sie „mit vielen Stimmen“ (so die Übersetzung von Ebener) singen.41 Theseus wird schließlich – durch Vermittlung seiner Mutter Aithra und um seinem Ansehen und dem Athens nicht zu schaden – dem Gesuch der Argiverinnen stattgeben und die Bestattung der Leichen im Kampf gegen Theben erwirken. Dennoch bleibt diese Hikesie letztlich unerfüllt. Denn was die Mütter sehnlichst erbitten ist der Anblick (immer wieder als theama bezeichnet und dadurch auch auf das Theater selbst zu beziehen) und die Berührung der Leichen. Dies versagt Theseus ihnen, weil er fürchtet, dass die Trauer der Mütter beim Anblick der toten Söhne die Ordnung erneut gefährden würde. Auch die zweite Tragödie, die einen der topischen Asylfälle behandelt, derer Athen sich in seiner panegyrischen Rhetorik rühmt, scheint das glatte Funktionieren der Institution in Frage zu stellen. In Euripides’ Herakliden42 erhalten die Nachkommen des Herakles zwar von Demophon und den Athenern den erbetenen Schutz vor ihrem Verfolger Eurystheus. Doch zahlen sie dafür einen hohen Preis – nämlich das ohne rationale Begründung eingeführte Opfer einer Jungfrau, das Persephone fordert. In dem Moment, in dem der Athener König selbst mit der Frage konfrontiert ist, seine eigene Tochter für die fremden Schutzflehenden zu opfern, zeigt sich die natürliche Grenze des Altruismus und die potentielle Zumutung, die mit der Asylbitte verbunden sein kann. Weiteren Aufschluss über das Prekäre der Hikesie liefert Sophokles’ Ödipus auf Kolonos,43 in dem das Ritual erneut zur Metapher einer Transgression wird. Ödipus, aus Theben verbannt und bei Athen, im Hain von Kolonos, angekommen, bittet um Aufnahme in einem Heiligtum, das eigentlich unbetretbar ist, und bei Göttinnen, die man eigentlich nicht adressieren darf. Es scheint, als wolle Sophokles mit dieser ‚verbotenen‘ Hikesie all die Tabus, die Ödipus’ Leben kennzeichnen, noch einmal räumlich und rituell ausstellen. Das Stück inszeniert die allmähliche Inbesitznahme des verbotenen Grundes durch den outlaw und Beflecker Ödipus, dessen nun heiliger Status – als Schutzflehender und als werdender Heros – ihn berechtigt, dort zu sein, wo niemand sein darf. Sein von den Anwesenden (Theseus und seinen Töchtern) kaum zu rekonstruierendes, kaum zu begreifendes Verschwinden ist kein plötzlicher und endgültiger Tod, sondern ein Hinübergleiten in einen anderen Zustand, das den Aufenthalt im Heiligtum der tabuisierten chthonischen Gottheiten gewissermaßen auf Dauer stellt. Alle hier nur partiell besprochenen Hikesie-Tragödien stellen Figuren in einem Zwischen aus, zeigen einerseits das Prekäre und Unentschiedene der Hikesie und nutzen dies andererseits für eine Ästhetik des Flüchtigen und der Flucht, die dem Modus des Dramatischen im Sinne des Handelns und der Entscheidung entgegenwirkt. V. Flucht und Szene Die Momente von Flucht und Transit wurden im Vorangehenden vor allem in zweierlei Hinsicht in den Blick
genommen: Zum einen korrespondieren sie mit anderen Aspekten der Liminalität und des Übergangs, wie der Jungfräulichkeit, der Trauer oder dem Tod. Das Ritual der Hikesie, das das Auf-der-Flucht-Sein fortsetzt und ausstellt, dient hier in einer existenziellen Weise als Rahmung einer Situation des Prekären, des In-Between. Zum anderen erfordern und akzentuieren Flucht und Transit eine bestimmte Intensität des Sprechens, mit der die fliehenden Protagonisten ihren Fall vorbringen und ihr Leben zu erhalten suchen. Dieses Sprechen der Hikesie, der Flüchtenden arbeitet dem Pathos-Regime der Gattung Tragödie zu, es ist ein Sprechen, das insbesondere die beiden von Aristoteles ins Zentrum der tragischen Affektlehre gestellten Emotionen, phobos und eleos, Furcht und Mitleid (bzw. Jammer) aufruft.44 Die Hikesie inszeniert und provoziert zudem – und dieser dritte Aspekt wurde hier weniger ausführlich behandelt – Entscheidungsszenen und gibt daher Anlass, erneut darüber nachzudenken, welche (auch politischen) Handlungsmodelle die Tragödie entwirft und reflektiert. Entscheidung wird in der Hikesie-Situation zum Problem, Ansprüche – die des Fliehenden und die des Verfolgers – müssen geklärt werden, die Durchlässigkeit des eigenen Systems, die Offenheit für Fremde steht auf dem Spiel.45 In den Hiketiden des Aischylos ist es Pelasgos, der erpresst wird, bevor er den Fall an die Volksversammlung delegiert; in den Hiketiden des Euripides muss Theseus erst überredet werden, sich der trauernden Frauen, die seine Ordnung stören, anzunehmen; in Euripides’ Herakliden geschieht die Aufnahme um einen hohen Preis: das Opfer einer der schutzflehenden Herakles-Töchter. Mit dem Titel dieses Sammelbandes und der gleichnamigen Tagung im Sommer 2016 in Konstanz weisen die Herausgeberinnen auf eine Analogie zwischen dem Fliehen und dem Szenischen des Dramas hin, die dieser Beitrag im Aspekt des Transits, des Übergangs auszuloten versucht hat. Als Moment des Zwischen, als immer wieder neu, durch Auftritte und Abgänge sich konstituierende Form, scheint die Szene besonders geeignet, den Status des Fliehenden, des Schutzlosen, des Asyl Suchenden ins Bild zu setzen.46 Für die griechische Tragödie hat insbesondere Hans-Thies Lehmann die theatrale Szene, die er mit der emotionalen Aussprache und der diskursiven Reflexion, aber auch mit dem Bruch jeglicher Form der Kontinuität verband, gegenüber dem im engeren Sinne Dramatischen als zentral herausgearbeitet: „Die Plötzlichkeit der Szene setzt nicht erst in der Anagnorisis ein, sie ist der Puls und Lebensnerv des tragischen Diskurses“.47 Lehmann priorisiert weiter die Szene vor dem Schluss der Tragödie und verortet im „Zwischen“ der dramatischen Momente, in der Verzögerung, die Konstitution des Subjekts, das „sich [sein Leiden] vor Augen stellt“.48 Für die hier besprochenen Tragödien wird dies bestätigt durch den Befund, dass am Ende des Stücks oftmals keine zufriedenstellende Lösung des Falls steht, dass Konflikte eher ausgestellt als ausgeräumt werden und dass – selbst noch im Fall des schmerzfreien und wundersamen Todes des Ödipus auf Kolonos – das Ende mehr Fragen als Antworten bereithält. Arbeitet die Flucht und die Bitte um Aufnahme also einer bestimmten Formsemantik – dem Reflexionspotenzial des Szenischen – zu, außerdem der Intensivierung der damit einhergehenden Affekte ( phobos, eleos) und der Eindringlichkeit des Sprechens, das oftmals an die Stelle von Handlungen tritt, so sollte nicht vergessen werden, dass vermittelt durch diese ästhetisch-theatralen Momente auch ein politisches Thema verhandelt wird. Flucht und Verfolgung waren, das belegen die historischen Zeugnisse, ubiquitär in der Welt der Athener Theaterzuschauer, und die Tragödie konnte die existenziellen Entscheidungsszenarien modellhaft nachspielen und die Konfrontation von fremd und autochthon, von humanitärem Ethos und xenophober Ideologie zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte machen. Ohne eine genealogische Verbindung von antikem Theater und Asyl postulieren zu wollen, lässt sich gewiss behaupten, dass die Mittel des Theaters geeignet sind, das Leid und die Rhetorik von Geflohenen sowie die Entscheidung über ihr Bleiben in Szene zu setzen. Theater und Asyl, genauer Asylverhandlung, weisen Strukturanalogien auf. Mit dem Raum des Theaters – zunächst der Orchestra, später einer leicht erhöhten Spielstätte vor dem Bühnenhaus, der Skene49 – betritt der Protagonist vor allem einen Raum des ‚Gesehen-Werdens‘, des Weiteren der (oft monologisch-lyrischen) Aussprache und der (übrigens nicht unbedingt dialogischen) Verhandlung. Ob dieser Ort – wie der des rituellen Asylgesuchs, der Hikesie – auch ein sakraler Ort ist, wird von Historikern des antiken Theaters kontrovers diskutiert. Das Dionysos-Heiligtum mit seinem Altar lag in unmittelbarer Nachbarschaft des Athener Theaters, die Zuschauer waren Teil einer Festgemeinschaft und hatten zuvor an einer großen Prozession und einem Opfermahl teilgenommen. Das Theater selbst verfügte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht über einen Altar, doch die Hikesie-Tragödien setzen einen solchen als Requisit und Zentrum des dramatischen Spiels fraglos voraus.50 Doch dürfte deutlich geworden sein, dass der Altar in diesem Geschehen zwar Fluchtpunkt und Anlaufstelle ist, häufig auch als Schutzwehr und Garantie für Sicherheit bezeichnet wird, dass er aber in literarisch-dramatischer Hinsicht vielmehr als Zeichen der Instabilität, des Übergangs und des Sakrilegs eingesetzt wird. Die Abfolge von sakraler Hikesie und politisch verfügtem Asyl ist kein Automatismus. Es gilt vielmehr stets auszuhandeln, bis zu welchem Punkt die Normen beider Bereiche konfliktfrei nebeneinander existieren können. 1 Zeitlin, Froma: „The Politics of Eros in the Danaid Trilogy of Aeschylus“, in: Hexter, Ralph/Selden, Daniel (Hrsg.): Innovations of Antiquity, New York/London 1992, S. 203 – 252, S. 210: „When the Danaids emerge from their sheltering ship (134 f.) at the edge of the sea (31), in the liminal space between sea and city, they cling to the altar as the testimony of their identity – their genealogical link to Zeus. But as soon as they enter upon the ritual of supplication, they have entered into the world of politics, for the god and his altar are only the intermediary in the transaction between suppliant and polis.“ Zum Ineinandergreifen und zum Konflikt von religiöser und politischer Ordnung in der antiken Hikesie bzw. Asylie vgl. aus archäologischer Perspektive
Sinn, Ulrich: „Greek Sanctuaries as Places of Refuge“, in: Marinatos, Nanno/Hägg, Robin (Hrsg.): Greek Sanctuaries. New Approaches, London/New York 1993, S. 88 – 109, insb. S. 91 – 94 sowie aus epigraphischer Sicht: Chaniotis, Angelos: „Conflicting Authorities. Asylia between Secular and Divine Law in the Classical and Hellenistic Period“, in: Kernos 9 (1996), S. 65 – 86. Besonders vehement argumentiert Naiden gegen eine rein ritualistische Auffassung der Hikesie und plädiert für ein „overlap between supplication and the law“. Sein Fazit: „In any act of supplication, the act of judgment is quasilegal“: Naiden, Fred S.: Ancient Supplication, Oxford 2006, S. 17. 2 Die Abbildungen zeigen eindrücklich, wie groß der weitere, hier von einer Mauer umgebene Tempelbezirk (weiß markiert) gegenüber dem eigentlichen Heiligtum sein konnte. Dieser Bezirk konnte etwa größeren Gruppen von Zufluchtsuchenden oder Fremden (z. B. Gesandten oder Athleten, die zu Götterfesten anreisten) als Aufenthaltsort dienen. Beide Abb. aus: Sinn: „Greek Sanctuaries“, Abb. 5.9 und 5.10, S. 104 f. Zur Sakralität der Tempelzone(n) vgl. unten bei Anm. 5 sowie Gödde, Susanne: Das Drama der Hikesie. Ritual und Rhetorik in Aischylos’ Hiketiden, Münster 2000, S. 27 f., insb. Anm. 74. Eine eindrucksvolle Liste von Personengruppen, die in einem antiken Heiligtum Asylie beantragen konnten, bietet Garland, Robert: Wandering Greeks. The Ancient Diaspora from the Age of Homer to the Death of Alexander the Great, Princeton/Oxford 2014, S. 116 (im Kapitel: 7 „The Asylum-Seeker“). 3 Vgl. Vickers, Brian: Towards Greek Tragedy. Drama, Myth, Society, London 1973, S. 453: „All the Greek tragedies dealing with the suppliant present that situation as uncertain, fragile, full of pain and suffering.“ 4 Zu dieser Problematik vgl. insbesondere Chaniotis: „Conflicting Authorities“ und Garland: Wandering Greeks, S. 116. Naiden: Supplication, insb. S. 16 und im Kapitel 3 (S. 105 – 169) listet hingegen Fälle der Zurückweisung von Schutzflehenden auf. Vgl. zum fraglichen Recht Schuldiger auf Asyl (und zur Definition von Schuld) auch den Beitrag von Winfried Schmitz im vorliegenden Band. 5 Zur Terminologie des Heiligen in der griechischen Antike vgl. etwa Vernant, Jean Pierre: „Das Reine und das Unreine“, in: ders., Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland, Frankfurt a. M. 1987, S. 113 – 131 (frz. Original 1953 f.; wieder abgedruckt in: Vernant, Jean-Pierre: Mythe et société en Grèce ancienne, Paris 1974, S. 121 – 140); Parker, Robert: Miasma. Pollution and Purification in Early Greek Religion, Oxford 1983, S. 1 – 17 und Appendix 1, S. 328 – 331; Bremmer, Jan: „‚Religion‘, ‚Ritual‘ and the Opposition ‚Sacred vs. Profane‘: Notes towards a Terminological ‚Genea logy‘“, in: Graf, Fritz (Hrsg): Ansichten griechischer Rituale, Geburtstags-Symposium für Walter Burkert, Castelen bei Basel, 15. bis 18. März 1996, Stuttgart/Leipzig 1998, S. 9 – 32, insb. S. 24 – 31; Gödde: Hikesie, S. 30 f., Anm. 85. 6 Dass der Erfolg kein Automatismus war, betont Naiden, Supplication. Zur Abgrenzung bzw. zum Ineinandergreifen von sakralem und profanem Recht vgl. auch Traulsen, Christian: Das sakrale Asyl in der Alten Welt. Zur Schutzfunktion des Heiligen von König Salomo bis zum Codex Theodosianus, Tübingen 2004, S. 180 – 185. Hinsichtlich der tatsächlichen historischen Praxis bleibt freilich zu berücksichtigen, dass literarische Texte das Ritual durchaus auch zur Inszenierung und Verstärkung von Konflikten einsetzen und die Dynamik des Sakralen möglicherweise überpointieren. 7 Pausanias 7,25,1. 8 Besonders einschlägig: Euripides: Ion 1314 ff. und Tacitus: Annalen 3,60,1. 9 Dazu mit weiterer Literatur Gödde: Hikesie, S. 33 f. mit Anm. 94. Allerdings gehen der Aufnahme eines Blutschuldigen in einigen Darstellungen durchaus bestimmte Reinigungszeremonien voraus, besonders prominent in der Geschichte des Orest, wie Aischylos sie in den Eumeniden dramatisiert. Vgl. auch die in Anm. 1 und 6 genannte Literatur. 10 Zum gesamten Ablauf und allen Spielarten vgl. Gould, John: „Hiketeia“, in: Journal of Hellenic Studies 93 (1973), S. 74 – 103. Kritik am ritualistischen Zugang von Gould, der die quasilegale Seite der Hikesie ignoriere, bei Naiden, Supplication, S. 8 – 18. 11 Diese Zweiteilung ist in der Forschung umstritten bzw. wird dadurch irritiert, dass Hikesie häufig vorschnell mit Asyl gleichgesetzt wird. Vgl. dazu den Beitrag von Winfried Schmitz in diesem Band sowie Dreher, Martin: „Hikesie und Asyl in den Hiketiden des Aischylos“, in: ders. (Hrsg.): Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 58 – 84. Naiden, Supplication, S. 6 f. et passim teilt das Ritual in 4 Schritte: 1) die Annäherung, 2) die Gesten, 3) die Argumente, 4) die Antwort des supplicandus („yes or no“). 12 Goldhill, Simon: The Poet’s Voice. Essays on Poetics and Greek Literature, Cambridge 1991, S. 73: „contact opens the possibility of contract“. 13 Vickers: Tragedy, S. 441 f. 14 Jelinek, Elfriede: Die Schutzbefohlenen, Verlagsfassung Rowohlt Theater Verlag, Hamburg o. J., S. 58. 15 Wie eng die genealogische Verbindung von Theater und Asyl tatsächlich ist, soll am Ende des Beitrags kurz diskutiert werden. Hier genügt es zunächst festzuhalten, dass das (wenn auch schmale) Corpus an erhaltenen Tragödien insgesamt 5 Stücke aufweist, die wesentlich von der Thematik des Asyls bzw. der Hikesie bestimmt sind: die Hiketiden und die Eumeniden des Aischylos, Sophokles’ Ödipus auf Kolonos sowie von Euripides die Hiketiden und die Herakliden; in Medea und Herakles wird das Asyl in einzelnen Epeisodia relevant. Kürzere Hikesie-Szenen im Sinne des Bittflehens gibt es darüber hinaus etwa in Sophokles’ König Ödipus und in Euripides’ Hekabe, Hippolytos, Ion, Iphigenie in Aulis. – Darüber hinaus finden sich Hikesie- bzw. Asyl-Narrative natürlich auch in allen anderen Genres der griechischen Literatur, vom Epos über die Lyrik bis zur Historiographie und zum Roman. Die Frage nach dem intrinsischen Zusammenhang von Flucht und (theatraler) Szene ist also zunächst nicht auf das Drama beschränkt, sondern jede Altarflucht, auch die in Prosatexten erzählte, hat eine theatrale und szenische Qualität. In diesem Beitrag bleiben andere als dramatische Zeugnisse jedoch ausgespart. 16 Zur Hikesie als einer Situation eindringlichen Sprechens vgl. Most, Glenn W.: „The Stranger’s Stratagem: Self-Disclosure and Self-Sufficiency in Greek Culture“, in: Journal of Hellenic Studies 59 (1989), S. 114 – 133; Crotty, Kevin: The Poetics of Supplication. Homer’s Iliad and Odyssey, Ithaca/London 1994 sowie Gödde: Hikesie, insb. S. 39 – 45, S. 73 f. (zur Odyssee), S. 83 – 86 (zur Iphigenie in Aulis), S. 86 – 94 (zur Hekabe), S. 147 – 176 (zu Aischylos’ Hiketiden). 17 Neben der Intensität einer existenziellen Sprache und der in dieser vorgetragenen Lebenserzählung
lassen sich noch andere Analogien zwischen Hikesie und dramatischer Rede beobachten: vgl. Gould: „Hiketeia“, S. 87, Anm. 64: „There is a close connection between face to face supplication and stichomythia, especially in Euripides: the connection stems from the peculiar dramatic quality of stichomythia, which serves to present moments where forces in opposition meet in an ambiguous tension and a breakthrough is always a felt possibility.“ 18 Aischylos: Hiketiden, V. 194 – 203 (Danaos zu seinen Töchtern): „In züchtiger, klagender, dringlicher Rede gebt / den Fremden Antwort, wie’s Schutzflehenden geziemt, / Deutlich darlegend eure blutschuldfreie Flucht. / In Eurer Stimme liege nichts von dreistem Ton. / Nichts Eitles zeige sich auf dem mit keuscher Stirn / Geschmückten Antlitz und im Auge voller Ruh! / Werdet nicht vorlaut noch auch zögernd, schleppend im / Gespräch! Weckt solche Art doch Mißgunst nur und Haß. / Lernt euch bescheiden! Arm seid, fremd, landflüchtig ihr; / Ein keckes Mundwerk ziemt sich für die Schwächern nicht.“ (Aischylos: Tragödien und Fragmente, hrsg. u. übers. v. Oskar Werner, München 1980, S. 501). 19 Euripides: Iphigenie in Aulis, V. 1211 – 1214; hier zit. n. Euripides: Werke in drei Bänden, aus dem Griechischen übertragen von Dietrich Ebener, Bd. 3, Berlin/Weimar 1979, S. 51. 20 Euripides: Hekabe, V. 836 – 840; hier zit. n. Euripides: Werke, Bd. 1, S. 176. 21 Die trianguläre Situation der Hikesie, zumal im Drama, betont besonders Kopperschmidt, Josef: „Hikesie als dramatische Form“, in: Jens, Walter (Hrsg.): Die Bauformen der griechischen Tragödie, München 1971, S. 321 – 346. 22 Zur Inszenierung der – meist retardierten und ritualisierten – Entscheidung in der Tragödie vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der Tragödie, Stuttgart 1991, insb. S. 90 – 105 (zu Entscheidung und Zögern) und S. 157 – 162 (generell zum Diskurs des Rechts in der Tragödie); des Weiteren Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt a. M. 2005, der im ersten Teil seines Buches (S. 13 – 109) den „Exzeß des Urteilens“ im König Ödipus behandelt; mit Rekurs auf die Theorien von Florens Christian Rang und Walter Benjamin vgl. auch: Vismann, Cornelia: „Das Drama des Entscheidens“, in: dies./Weitin, Thomas (Hrsg.): Urteilen/Entscheiden, München 2006, S. 91 – 100. – Zur Entscheidung des Pelasgos in Aischylos’ Hiketiden vgl. Gödde: Hikesie, S. 18 f. mit Anm. 47 und S. 199 – 210. 23 Ausführlicher zu dieser Abfolge mit weiteren Literaturhinweisen: Gödde: Hikesie, S. 57 – 74 sowie Dreher, Martin: „Die Hikesie-Szenen der Odyssee und der Ursprung des Asylgedankens“, in: Luther, Andreas (Hrsg.): Geschichte und Fiktion in der homerischen Odyssee, München 2006, S. 47 – 60. Homers Odyssee zit. mit der Sigle Od (Odyssee). 24 Zum Konzept der figurativen Hikesie vgl. Gould: „Hiketeia“, S. 77. 25 Zur Hikesie des Priamos bei Achill vgl. Gödde: Hikesie, S. 48 – 55 mit weiterer Literatur. 26 Den Aspekt der rites de passage in der Phaiaken-Episode behandelt etwa Segal, Charles: „The Phaeacians and the Symbolism of Odysseus’ Return“, in: Arion 1 (1962), S. 17 – 64 und ders., „Transition and Ritual in Odysseus’ Return“, in: Parola di Passato 22 (1967), S. 321 – 344. Vgl. auch Murnaghan, Sheila: Disguise and Recognition in the Odyssey, Princeton 1987 sowie Crotty: Poetics. Das Thema der Schwellenrituale setzt sich in den Heimkehrgesängen fort: dazu Goldhill: Poet’s Voice, S. 1 – 68. 27 Zeitlin: „Politics of Eros“, S. 205: „[…] in their flight from the suitors and their arrival on the shores of Argos, the suppliants’ position also corresponds to that of the virgin who is situated on the margins of society, betwixt and between, both ‚other‘ to the culture and yet a part of it, […].“ 28 Diese Offenheit wird freilich im Fortgang der Trilogie, deren genauer Plot umstritten ist, aufgehoben: Aus anderen Zeugnissen des Mythos wissen wir, dass die Aigyptos-Söhne die Hochzeit schließlich erwirken können, dafür aber bereits in der Hochzeitsnacht bis auf einen mit ihrem Leben bezahlen. Auch eine abschließende Gerichtsversammlung soll eine Rolle bei der ‚closure‘ der Handlung gespielt haben. Zur Problematik der Trilogie vgl. Rösler, Wolfgang: „Der Schluß der Hiketiden und die Danaiden-Trilogie des Aischylos“, in: Rheinisches Museum 136 (1993), S. 1 – 22 (wieder abgedruckt in: Lloyd, Michael (Hrsg.): Oxford Readings in Classical Studies: Aeschlyus, Oxford 2007, S. 174 – 198); Gödde: Hikesie, vgl. Index: s. v. Trilogie; Hose, Martin: „Vaticinium post eventum and the Position of the Supplices in the Danaid Trilogy“, in: Cairns, Douglas/Liapis, Vayos (Hrsg.): Dionysalexandros. Essays on Aeschylus and his Fellow Tragedians in Honour of Alexander F. Garvie, Swansea 2006, S. 91 – 98; Föllinger, Sabine: Aischylos. Meister der griechischen Tragödie, München 2009, S. 102 f. und Papadopoulou, Thalia: Aeschylus: Suppliants, London 2011, S. 15 – 24. 29 ag?nioi theoi bezeichnet wörtlich die ‚Götter des Wettkampfs‘ (so in Platon, Nomoi 783a), wird aber von Oskar Werner wiedergegeben mit „vereinte Stadtgottheiten“ (Aischylos: Tragödien, S. 501), und auch A. J. Bowen: Aeschylus: Suppliant Women, hrsg., übers., kommentiert und mit einer Einl. versehen v. A. J. Bowen, Oxford 2013, ad loc. erläutert: „ag?nios, ‚assembled‘, comes from ag?n, whose primary sense is ‚gathering‘.“ Eduard Fränkel zu Aischylos, Agamemnon V. 513 verweist auf ein Homer-Scholion, das ag?nios mit agoraios parpahrasiert, also bezogen auf die Agora, den Ort des Handels und der Rede, gibt aber zu bedenken, dass diese in den Hiketiden nich der Ort der Handlung ist (Aeschylus: Agamemnon, hrsg. u. kommentiert v. Eduard Fränkel, Bd. 2, Oxford 1974 (Repr. Oxford 1950), S. 262 f.). Das Beiwort ag?nioi, so Fränkel weiter, verweise in diesem Drama nicht auf den Ort der Versammlung, die Agora, sondern auf die Versammlung mehrerer Götter auf dem Hügel des Heiligtums außerhalb der Stadt. Vgl. jedoch Bakewell, Geoffrey W.: Aeschylus’s Suppliant Women. The Tragedy of Immigration, Madison, Wisconsin 2013, S. 27: „Its [sc. the shrine’s] description as belonging to the ag?nioi theoi implies that the place is not just a sacred space, but has a communal dimension as well.“ – Die Verbindung ag?nioi theoi begegnet in den Hiketiden noch an drei weiteren Stellen (V. 242, V. 333, V. 355), und es ist verführerisch, darin – zusätzlich zu den Konnotationen der Pluralität der Götter (Versammlung) und ihres möglichen Bezugs zur Öffentlichkeit der Polis – auch die Nuance des ‚Wettkampfs‘ der Asyl suchenden Danaiden zu sehen, über den ja die Götter wachen. So auch impliziert bei Dreher: „Hikesie und Asyl“, der S. 60 von „Kampfgöttern“ spricht. 30 Zit. mit Verszahl nach folgender Ausgabe: Aischylos: Hiketiden, in: ders.: Tragödien und Fragmente, hrsg. u. übers. v. Oskar Werner, München 1980, S. 488 – 553. 31 Das Ineinander von Flucht und Angst ist als Gegenmoment zum Handeln zentral in Snell, Bruno:
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