Aus der Zeit gefallen - Der Buchbinder Christfried Wenke - tuebingen-info.de
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Tübinger Köpfe Aus der Zeit gefallen Der Buchbinder Christfried Wenke Foto: Barbara Honner Barbara Honner Das Buchbinderhandwerk war alles andere als der Berufswunsch des 15-Jährigen. „Von wegen, du möchtest das nicht!“, donnerte der strenge Vater, der keinen Widerspruch duldete. Christfried weinte, aber man musste nehmen, was im Arbeiter- und Bauernstaat des Jahres 1956 gebraucht wurde. Und Buchbinder waren gesucht in der Buchstadt Leipzig. C hristfried Wenke ist gut vorbereitet auf unser Gespräch. Biografische Unterlagen, sortierte Fotos und ausge- oder würzt seine Ausführungen mit einer Portion Spöttelei. „Ich bin ein Zyniker“, behauptet er selbstironisch. „Ich habe 50 der Erwachsenen“ und das Tragen von „Leibchen“ im Bett, um für den Fall eines Fliegeralarms auf dem Weg zum Luft- wählte Ansichtsexemplare liegen bereit. Prozent Kunden, die mich schätzen, und schutzkeller angezogen zu sein. Tief ins Tübingens letzter handwerklicher Buch- 50 Prozent, die ich irritiere.“ Aber das Gedächtnis des Vierjährigen eingebrannt binder ist ein strukturierter Mensch, der macht ihn nicht weniger sympathisch, haben sich allerdings die einmarschieren- gerne den Überblick behält. Mit seiner denn Wenke ist nicht nur ein professio- den Amerikaner nach Kriegsende und das großen, schlanken Statur und seinem neller Handwerker und glaubwürdiger Entsetzen darüber, dass die „Sarotti-Moh- kritischen Blick ist er außerdem eine res- Geschäftsmann, er ist auch ein guter ren nicht so lieb waren, wie wir sie uns pekteinflößende Erscheinung, die auch in Zuhörer und unterhaltsamer Zeitge- von der Schokolade vorgestellt hatten“. Strickjacke Seriosität ausstrahlt. nosse mit einem liebenswürdig-herben Fremd und unbekannt waren auch die Sein gutes Gedächtnis macht ihn zu Charme. ostpreußischen Flüchtlingsfamilien, die einem dankbaren Gesprächspartner. Die in die oberen Stockwerke des Mietshauses Geschichten aus seinem Leben erzählt er Behütete Kindheit in schweren Zeiten einquartiert wurden. Aber mit den Ver- über weite Strecken mit ernstem Impe- Christfried Wenke wuchs als mittleres von triebenen kamen auch neue Spielkamera- tus, aber nicht leidenschaftslos. Christ- fünf Kindern in einer bürgerlichen Pfar- den an, mit denen die Wenke-Geschwister fried Wenke ist ein politisch denkender rersfamilie auf. 1941 geboren, erlebte der trotz anfänglicher Sprachschwierigkeiten Mensch, der aus seiner Haltung keinen kleine Christfried die Gräuel des Krieges schnell Freundschaft schlossen. Kinder Hehl macht. Gerne kommentiert er den und der schweren Bombenangriffe auf kriegen das hin: Man versteht sich, hält Weltenzustand auch mal scharfzüngig Leipzig vor allem über den „Schrecken zusammen, und die Großen passen auf 56 Tübinger Blätter 2021
Tübinger Köpfe die Kleinen auf. „Kriegskinder sind eine besondere Generation. Viele sind ohne Vater und im permanenten Mangel groß geworden. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“ Ein Satz, den Wenke noch oft wiederholen sollte. Nicht mit den Wenkes! Christfrieds erste Schuljahre fielen in die Gründungszeit der DDR. Bereits 1948 begannen die Versuche der russi- Foto: privat schen Besatzungsmacht, die Kirche aus der Gesellschaft zu verdrängen. Auch die evangelisch-lutherische Pfarrersfamilie geriet unter Druck. Der Vater versuchte, Familie Wenke 1952: Christfried mit „Mieze“ seine Emmaus-Gemeinde zusammen- zuhalten, so gut es ging. Zuhause wurde Mutters Kaffeewärmer fortan als Abhör- Besuch bei der Tante in Westberlin nicht einen Industriebuchbinder-Lehrling trotz sicherung über das Telefon gestülpt, aber mehr zurückkehrte. Die Partei hatte dem Kenntnissen in der Pressvergoldung eine den Schikanen der neuen russischen Leh- Abiturienten und Albert-Schweitzer-Ver- echte Herausforderung, da dies kontinu- rer waren die Wenkekinder in der Schule ehrer das Medizinstudium verweigert. ierliche Übung erfordert und vor allem trotz bester Noten hilflos ausgeliefert. in handwerklich orientieren Betrieben Später, der jugendliche Christfried war Falzen, schneiden, heften, kleben: gelehrt wird. Als Wenkes Proben zuhause bereits in der Lehre bei der Leipziger der Buchbinder missglückten, bat er den Chef der renom- Großbuchbinderei E. A. Enders, holte Die Silbermedaille bescherte Wenke eine mierten Buchbinderei Altmann um er bei der in der DDR obligatorischen Verkürzung der Lehrzeit auf zwei Jahre, einen Crashkurs. Dieser zeigte „auf einen Teilnahme am Bundeswettkampf der die er durch eine Zusatzausbildung zum baumlangen Kerl, der mit nacktem Ober- Lehrlingsbuchbinder die Silbermedaille „Pressvergolder“ erneut um ein Jahr auf körper schwitzend in der Hitze des Rau- und erhielt eine Einladung zu Walter die Regelzeit verlängerte. Es war eine mes und Blattgoldes stand und mit einem Ulbricht nach Berlin. „Da gehst du nicht strenge, aber gute Lehrzeit bei Enders: Handstreich den Goldschnitt bewerkstel- hin!“, erklärte der Vater und entschuldigte 52-Stunden-Woche, 50 Mark Lehrgeld, ligte“, erzählt Wenke. „Genauso schnell das Fernbleiben des Preisträgers mit der 25 davon für die Mutter. Wenke erinnert zog er ihn auch wieder ab und reichte unaufschiebbaren Teilnahme an einem sich amüsiert an so manchen Unfug in mir grinsend den Buchblock zurück.“ der begehrten Ferienlager. Ungefähr zur der Werkstatt, wie zum Beispiel an den Selbstredend bestand der Lehrling wenig selben Zeit weigerte sich der Lehrling, mit roter Farbe beträufelten Pappmaché- später die Goldschnitt-Vorführung wie bei einem der zahllosen Aufmärsche die finger, den die Bengel dem Meister Izin- die gesamte Prüfung mit „Sehr gut“ und rote Fahne oder Transparente zu tragen. ger in die Schneidemaschine legten und nahm anderntags dankend das Jobange- Er stellte sie kurzerhand in die Ecke und aufgeregt nach Hilfe riefen. bot zum Sortimentsbuchbinder an. Der handelte sich einen veritablen Verweis Für seine Gesellenprüfung 1959 wollte Altmann-Chef hatte sich unerwartet als ein. Es war im selben Jahr 1958, als der er nicht weniger als ein gebundenes Mitglied der Prüfungskommission ent- ältere Bruder mit 18 Jahren von einem Buch mit Goldschnitt vorlegen. Für puppt und war von Wenkes Couragiert- heit beeindruckt. Trotz der anspruchsvollen Beschäftigung mit Unikaten, der lehrreichen Zusam- Foto: Barbara Honner menarbeit mit Kunstschmieden und Schreinern und der Mitverantwortung bei der Messegestaltung träumte Wenke von einem Ingenieursstudium. Doch er hatte die Rechnung ohne die Nationale Volksarmee gemacht. Diese stand eines Tages in der Buchbinderei und drohte dem Gesellen: „Wenn du weiterkom- men willst, musst du etwas für den Staat tun!“ Ein Leben als Rekrut in der NVA war nun aber wirklich das Letzte, wofür sich der junge Wenke erwärmen konnte. Das Restaurieren von Büchern gehört zur Ausbildung eines handwerklichen Buchbinders. Tübinger Blätter 2021 57
Tübinger Köpfe Man muss nicht jedes Elend mitmachen, entschied er – und packte sein Köffer- chen. Und Tschüss! Mit einem Freund von der Volkspolizei, einem gelernten Kfz-Mechaniker, bestieg er früh morgens den Zug nach Ostber- lin. In einer Aktentasche hatte Wenke nur Waschzeug, Rasierzeug, ein frisches Hemd, Geld, den Gesellenbrief und den Personalausweis eingepackt. Ein Zwi- Foto: privat schenfall mit Aufruhr, Geschrei und Hun- degebell hinderte die kontrollierenden Russen an einer eingehenderen Visita- tion der beiden jungen Männer. Hun- Hochzeit mit Margit 1973 in Kassel derte Menschen täglich nahmen 1960 das Risiko einer bis zu drei Jahre dauernden Man fragt sich, wie schwer ihm wohl der immer im Verdacht der Agententätig- Gefängnisstrafe wegen unerlaubten Ver- Abschied aus der Heimat gefallen ist. In keit“, bemerkt Wenke trocken. Aber er lassens der sowjetischen Besatzungszone den schön gestalteten Fotoalben entdeckt wollte vorankommen. Ein sechssemestri- auf sich. Die beiden Republikflüchtigen man einen gutgelaunten und gutgebau- ges Studium an der Akademie für Grafi- überschritten am Ostbahnhof herzklop- ten jungen Mann inmitten seiner „Kum- sches Gewerbe Anfang der 1960er-Jahre fend die Sektorengrenze, kauften sich pels“: mit Moped und Zelt an der Ost- finanzierte er sich über Jobs in Münchner ein Lufthansa-Flugticket nach Hannover, see, in Wanderstiefeln in der Sächsischen Buchbindereien. Das hatte er schließlich umgingen so zunächst das Auffanglager Schweiz oder bei Ausflügen nach Dresden gelernt. und landeten zwei Wochen später nach und auf die Wartburg. Er hatte Freunde Seit Jahren schon attackierten sich die Umwegen über Traunstein schließlich in und Familie aus Rücksicht vor Mitwisser- Supermächte im Kalten Krieg, die Bun- München. In der bayerischen Landes- schaft wortlos verlassen. Nur die Mutter desrepublik hatte sich trotz heftiger hauptstadt quartierten sie sich im Kol- hatte es geahnt. Seine Familie sollte er Proteste 1955 wiederbewaffnet, und fast pinghaus ein. Dieses bot wandernden erst wieder sehen, als er auf den Leipziger schien es so, als käme der junge Wenke Gesellen und Lehrlingen aus aller Welt Messen zu tun hatte. vom Regen in die Traufe. Denn nun hatte seit dem 19. Jahrhundert neben einem er die Bundeswehr am Hals. „Die ver- Schlafplatz eine solide Grundversorgung Auf dem Weg in die Zukunft folgten einen ja regelrecht“, erinnert sich und eine strenge Hausordnung an: kein Mit Unterstützung der Jugendgilde der Wenke. „Aber gegen die Vorstellung, dass Alkohol, keine Mädchen und um 22 Uhr sowjetischen Besatzungszone gelang es ich im Ernstfall nicht auf meine Eltern Sperrstunde. Aber das Leben dort war dem inzwischen 20-Jährigen, aus Leipzig und Geschwister schießen könnte, war auch ein Zusammentreffen vieler Natio- die erforderlichen Papiere und Bescheini- wenig einzuwenden.“ Irgendwann ließen nen und Herkünfte mit viel Raum für gungen für einen bundesdeutschen Pass sie den Verweigerer in Ruhe. „Man musste Kameradschaft und Verbundenheit. Hier zu beschaffen und sich vom Verdacht der sich durchlavieren.“ waren sie also erstmal richtig. Spionage freizusprechen. „Man stand ja Mit dem erfolgreichen Akademie-Ab- schluss inklusive zweier Meisterprüfun- gen trat er 1966 in Kassel eine Abteilungs- Foto: privat leiterstelle in einer Großbuchbinderei an. Hier verstärkte sich das Interesse fürs betriebliche Personalwesen. Und wieder einmal zeigte sich Wenkes Entschlossen- heit: Bei der Deutschen Angestelltenaka- demie machte er den Personalwirt. Als Betriebsassistent und Leiter des Perso- nalwesens einer großen Lederwarenfabrik in Eschwege unterstützte er ab 1969 die Einrichtung eines Betriebsrates. „Es ging mir immer um sozialen Ausgleich zwi- schen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer- interessen. Aber ich verzweifelte genauso oft an den sozialen Ungerechtigkeiten wie an der Unvernunft eines großen Teils der Arbeitnehmerschaft“, bedauert Wenke. „Das Leben ist keine Einbahnstraße“ – auch so ein Wenke-Satz. Von den Kon- Mit den „Kumpels“ in München, Wenke vorne in hellem Hemd. 58 Tübinger Blätter 2021
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