AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen - Bundeszentrale für ...

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70. Jahrgang, 33–34/2020, 10. August 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
     Jahrestage,
 Gedenktage, Jubiläen
          Achim Landwehr                               Frank Bösch
        MAGIE DER NULL                                IM BANN
                                                   DER JAHRESTAGE
           Winfried Müller
      ZUR KARRIERE EINER                             Elke Gryglewski
      ZEITKONSTRUKTION                              GEDENKEN
                                                AN DEN HOLOCAUST:
  Jacqueline Nießer ∙ Juliane Tomann
                                               RITUAL UND REFLEXION
         GESCHICHTE
    IN DER ÖFFENTLICHKEIT                             Hedwig Richter
         ANALYSIEREN                             ÜBER GEDENKTAGE
                                                 UND DEMOKRATIE
          Markus Drüding
    EINE GELEGENHEIT ZUM
    HISTORISCHEN LERNEN?

                      ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                           FÜR POLITISCHE BILDUNG
                  Beilage zur Wochenzeitung
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen
                           APuZ 33–34/2020
ACHIM LANDWEHR                                    FRANK BÖSCH
MAGIE DER NULL                                    IM BANN DER JAHRESTAGE
Zuweilen darf man den Eindruck haben, die         Die derzeit begangenen historischen Jubiläen
Bewusstwerdung über das Historische findet        verengen unser Geschichtsbewusstsein. Denn in
wesentlich mittels Jubiläen statt. Warum geden­   kurzen Abständen erinnern ähnliche Jahrestage
ken wir bestimmten Geschehnissen nicht dann,      an heroische Aufbrüche, große Männer und
wenn sie an der Zeit wären, sondern wenn sie      tragische Gewalt. Nötig ist deshalb eine kreative
im Kalender stehen?                               Erweiterung der Perspektiven.
Seite 04–09                                       Seite 29–33

WINFRIED MÜLLER                                   ELKE GRYGLEWSKI
ZUR KARRIERE EINER ZEITKONSTRUKTION               GEDENKEN AN DEN HOLOCAUST:
Das historische Jubiläum hat seine eigene         RITUAL UND REFLEXION
Geschichte, die bis ins 16. Jahrhundert           „Gedenken an den Holocaust“ hat viele
zurückreicht. Seither gewähren Jubiläums­         Facetten. Wer wie wo warum wem gedenkt,
situationen Einsichten in zeittypische Motive     ist nicht nur anlässlich von Gedenktagen eine
bei der Aktualisierung und Inszenierung der       relevante Frage. Grundsätzlich kann Gedenken
Vergangenheit.                                    nicht ohne historisches Wissen um die Ereignisse
Seite 10–16                                       stattfinden.
                                                  Seite 34–39
JACQUELINE NIEẞ ER · JULIANE TOMANN
GESCHICHTE IN DER ÖFFENTLICHKEIT                  HEDWIG RICHTER
ANALYSIEREN                                       ÜBER GEDENKTAGE UND DEMOKRATIE
Will man Jahrestage nicht nur als historisches,   Nationale Gedenktage werden häufig mit
sondern als Gegenwartsphänomen verstehen,         martialischer und heroischer Ästhetik gefeiert.
eignen sich dafür Public History und Ange­        Demokratische Erinnerung führt diese Tradition
wandte Geschichte. Was können diese Ansätze       weiter, weil sie von der Annahme geprägt ist,
zu einem vertieften Verständnis von Jubiläen      Demokratiegeschichte sei eine Chronik von
beitragen?                                        Gewalt. Wie könnte es besser gehen?
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MARKUS DRÜDING
EINE GELEGENHEIT
ZUM HISTORISCHEN LERNEN?
Gedenktage und Jubiläen können für die
Schülerinnen und Schüler ein Gegenstand
historischen Lernens sein, der zum Verständnis
der gegenwärtigen Geschichtskultur beiträgt.
Hierzu bedarf es einer Didaktisierung dieser
Feiertage.
Seite 23–28
EDITORIAL
Jahrestage seien wie „Flächenbombardements“, schrieb der Politologe Ivan
Krastev in dieser Zeitschrift anlässlich des 100. Jahrestages der Russischen
Revolution. Ihnen entkommen weder die Geschichtswissenschaften noch die
historisch-politische Bildung. In diesem Jahr haben wir mit Themenheften
bereits der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz
und des Kriegsendes sowie der Entstehung der Vereinten Nationen vor 75 Jahren
gedacht und, etwas vorzeitig, den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit begangen.
Wir nutzen auch weniger etablierte Jahrestage, zuletzt 5 Jahre „Wir schaffen
das“ oder im vergangenen Jahr 70 Jahre Simone de Beauvoirs „Das andere
Geschlecht“. Bei zwei Anlässen haben wir aus politisch-bildnerischen Überle­
gungen heraus das Jahr vor dem Jahr besprochen („Vorkrieg 1913“, „1967“).
    Kritik an der „Jubiläumitis“ (Marko Demantowsky), an „Zeitgeschichte als
Jubiläumsreigen“ (Martin Sabrow) wird immer wieder geäußert. Ein Ausstieg
aus dem Jahrestagskarussell scheint aber nur schwer möglich und ist, je nach
Anlass, auch nicht wünschenswert. Denn Jahrestage versprechen planbare
Öffentlichkeit für historisches Wissen und bieten, insbesondere als institutiona­
lisierte Gedenktage, Staat und Gesellschaft Gelegenheit, innezuhalten. Ob damit
stets historischer Erkenntnisgewinn und eine gründliche Selbstbefragung einher­
gehen, mag hingegen bezweifelt werden.
    Um die unerwünschten Folgen einer „Jahrestagisierung“ abzumildern,
gilt es, Routinen bis hin zur Erstarrung beim Begehen der immergleichen
Gedenktage und Jubiläen vorzubeugen. So wird etwa vorgeschlagen, den
Kanon der Jahrestage zu erweitern, um marginalisierter Geschichte Raum zu
geben. Dass das auch jenseits von einzelnen Tagen möglich ist, zeigen etwa der
Black History Month oder der Queer History Month, die in einigen Städten
stattfinden. Schließlich lässt sich zu jeder Zeit, an jedem Tag, in jedem Monat
oder Jahr, fragen, für welche aktuellen Debatten und Probleme sich ein ver­
tiefter Blick in die Geschichte lohnen könnte.

                                                      Anne Seibring

                                                                               03
APuZ 33–34/2020

                                                    ESSAY

                                 MAGIE DER NULL
                                    Zum Jubiläumsfetisch
                                           Achim Landwehr

Wir schreiben das Jahr 2020. Zweimal die Zwei,           delt es sich also um eine Glaubensform – um den
zweimal die Null. Eine jubiläumsbegünstigende            Glauben an eine „Geschichte“, die unter anderem
Jahreszahl. Hübsche palindromische Daten lassen          dadurch beglaubigt wird, markanter Daten ausgie­
sich daraus basteln, wie der 02. 02. 2020. Beliebt bei   big zu gedenken, sobald sie ein Alter erreicht ha­
Hochzeitspaaren, die wissen, wie bedeutsam sol­          ben, dem unser numerisches System eine hinrei­
che merkfähigen Daten sind. Sie beugen nicht nur         chende Anzahl an Nullen zugedacht hat.
der Gefahr vor, den Tag der eigenen Vermählung zu            Angesichts dieser Ehrfurchtsregel mag man
vergessen, sondern transportieren auch die wenig         ausrufen: Ausgerechnet die Null! Ausgerech­
subtile Botschaft, diesem Datum sei eine ganz be­        net diese das Nichts bezeichnende Ziffer! Die­
sondere Bedeutung eigen. Wir scheinen uns kaum           ses Monstrum von einem Zeichen, das etwas be­
wehren zu können gegen diesen Eindruck, dass hin­        zeichnen soll, das nicht bezeichnet werden kann,
ter bestimmten Zahlen und Zahlenkombinationen            weil es gar nicht existiert. Ausgerechnet in die­
tiefere Bedeutungen stecken als die oberflächlich        ses Nichts, dessen kreisrunde Form an einen alles
sichtbaren. Ist es denn Zufall, wenn das Wort zählen     verschlingenden Höllenschlund gemahnen kann,
auch im Verb erzählen vorkommt? Erzählen diese           wird so viel Bedeutung gelegt.
Ziffern denn nicht von untergründigen Sinnebenen,            Ohne die Null sähe unsere Welt fraglos an­
die sich auf den ersten Blick nicht offenbaren?          ders aus, und wahrlich nicht nur in jubiläums­
     Selbst für weniger mystisch Veranlagte scheint      geschichtlicher Hinsicht. Es hat eine Weile ge­
außer Frage zu stehen, dass insbesondere im Zeit­        dauert, bis diese Zahl im europäischen Kontext
verlauf runden Zahlen eine besondere Relevanz zu­        etabliert werden konnte. Die griechischen und la­
kommt. Insofern kann es auch nicht verwundern,           teinischen Zahlensysteme kannten die Null nicht,
wenn das metrische System in der Gedenkkultur ei­        und das Christentum hatte aus theologischen
nen unübersehbaren Siegeszug absolviert hat. Alle        Gründen erhebliche Probleme mit der Bezeich­
Vielfachen von 5 oder 10 sind dazu geeignet, als Ju­     nung des Nichts – vor allem mit einem Nichts,
biläum herzuhalten. Diesen Umstand dürfen wir            das trotz seines Nichts-Seins bezeichnet werden
einerseits der physischen Ausstattung des Homo           und durch sein Vorhandensein erhebliche Unter­
sapiens zuschreiben. Dass Menschen üblicherwei­          schiede machen konnte, zum Beispiel als Platz­
se über zwei Hände mit jeweils fünf Fingern verfü­       halter an Dezimalstellen.01
gen, verleiht den Zahlen 5 und 10 eine gewisse Na­
türlichkeit und selbstverständliche Evidenz. Daher                    SCHATTENGLEICHE
ist selbst das 35-jährige Bestehen der Metzgerei um                   GEGENWÄRTIGKEIT
die Ecke einen Bericht in den Lokalnachrichten
wert. Aber als jubiläumstechnische Ehrfurchtsregel       Also zweimal die Zwei und zweimal die ominöse
kann gelten: je mehr Nullen, desto besser. 100 Jah­      Null. Mit dieser Jahreszahl verbindet sich unter
re sind schon eine Respekt gebietende Zahl, weil sie     anderem der 100. Jahrestag des Versailler Vertrags
die Grenzen üblicher Zeitzeugenschaft überschrei­        (10. Januar 1920), der 75. Jahrestag der Befrei­
tet. 1000 Jahre sind eine Zeitspanne, die das eigene     ung des Konzentrations- und Vernichtungsla­
Vorstellungsvermögen bereits überfordert und als         gers Auschwitz (27. Januar 1945), der 75. Jahres­
Zahl so übermächtig wirkt, dass sie – zumindest in­      tag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa
nerlich – das Knie beugen lässt. Bei der aktuell zu      (8. Mai 1945), ebenso der 75. Jahrestag der Atom­
beobachtenden historischen Jubiläumskultur han­          bombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki

04
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen APuZ

(6. und 9. August 1945) und der 30. Jahrestag der                    Farben zu tauchen – weil die Möglichkeit des eige­
Deutschen Einheit (3. Oktober 1990). Nicht zu­                       nen Überlebens qua Gedenken immerhin gegeben
letzt aufgrund des 75-jährigen Endes des Zwei­                       ist. Stellvertretend wird dieses Fortdauern über
ten Weltkrieges darf auch das Jahr 2020 als ein be­                  die eigene Existenz hinaus immer dann vollzogen,
sonderes Gedenkjahr gelten. Wie schon die Jahre                      wenn ein Jubiläum begangen wird.
2018 (100 Jahre Ende des Ersten Weltkrieges),                             Wie groß das sozialpsychologische Bedürf­
2017 (500 Jahre Reformation), 2014 (100 Jahre                        nis nach einer zumindest partiellen Aufhebung
Beginn des Ersten Weltkrieges) …                                     der Zeit ist, ließe sich volkswirtschaftlich verhält­
    Man kann die nicht ganz unberechtigte Fra­                       nismäßig leicht berechnen, würde man all die Ar­
ge stellen, wie unser Verhältnis von (und zu) Ge­                    beitszeit, Arbeitskraft und finanziellen Aufwen­
schichte und Vergangenheit aussähe, wenn es das                      dungen addieren, die jährlich aufgebracht werden,
Jubiläum nicht gäbe. Anders formuliert: Man darf                     um sowohl die Gründung des Kleingärtnervereins
zuweilen den Eindruck haben, die Bewusstwer­                         im Jahr Soundso als auch das Bestehen staatlicher
dung über das Historische findet wesentlich (oder                    Institutionen seit diversen Jahrzehnten feierlich zu
gar schon ausschließlich?) mittels solcher Gedenk­                   begehen. Ein Homo oeconomicus müsste sich un­
veranstaltungen statt. Es ist schon häufiger festge­                 weigerlich die Frage stellen, ob wirtschaftliche Res­
stellt worden, dass unsere Geschichtskultur jubilä­                  sourcen nicht effektiver genutzt werden könnten.
umsfixiert ist.02 Aber woher rührt diese Fixierung,                       Das Bauchgefühl sagt jedoch, dass es nicht we­
diese Attraktion der runden Jahreszahl, die Magie                    niger, sondern eher mehr Gedenkveranstaltun­
der Null? Warum gedenken wir bestimmten Ge­                          gen anlässlich runder Jahreszahlen gibt. Vielleicht
schehnissen nicht dann, wenn sie an der Zeit wä­                     konnten wir uns also immer noch nicht von den Be­
ren, sondern wenn sie im Kalender stehen?                            dürfnissen befreien (aber wäre es denn überhaupt
    Giacomo Leopardi, ein italienischer Schrift­                     eine Befreiung?), die sich seit alttestamentarischen
steller des frühen 19. Jahrhunderts, hielt in seiner                 Zeiten mit dem Jubeln verbinden: sich in der Zeit
Aphorismensammlung fest, dass Jahrestage des­                        zu orientieren und sich von der Zeit zu befreien.
wegen so beliebt seien, weil sie die Illusion näh­
ren, „als kehrten jene Dinge, die unwiederbring­                                      EINE RHYTHMISIERTE
lich für immer dahin sind, ins Leben zurück und                                          „STUNDE NULL“
wären, zwar schattengleich, gegenwärtig; dies
aber gibt uns unendlichen Trost, es verbannt den                     Das alttestamentarische Jubelfest lässt sich als
Gedanken der Zerstörung, des Auslöschens, der                        eine Vergegenwärtigung begreifen. Das hebrä­
uns so sehr widerstrebt, und spiegelt die Gegen­                     ische Wort jobel bedeutet Widder und verweist
wart jener Dinge vor, die wir uns wirklich anwe­                     auf die Praxis, nach dem Ablauf von sieben mal
send wünschen oder deren wir doch aus besonde­                       sieben Jahren, also in jedem 50. Jahr, ein Erlass­
rem Anlaß gerne gedenken.“03                                         jahr zu begehen. In einem Jobeljahr sollten alle
    Bestimmter Ereignisse zu gedenken, soll nicht                    zu ihren Sippen und ihrem Grundbesitz zurück­
nur Erinnerung bewahren, nicht nur dem Ver­                          kehren, Sklaven sollten freigelassen, Äcker nicht
gessen vorbeugen, soll dem alles verschlingenden                     bestellt und verpfändetes Land zurückgegeben
Wandel nicht nur ein Schnippchen schlagen, son­                      werden (3. Buch Mose 25, 8–55). Das Blasen des
dern auch ein wenig dabei helfen, die eigene Ver­                    Widder­horns, des Schofar, war das akustische Sig­
gänglichkeit wenn schon nicht zu verhindern, so                      nal für ein solches Erlassjahr: eine „Stunde Null“,
doch zumindest abzumildern und in freundlichere                      um die Zeit von Neuem beginnen zu lassen.04
                                                                         Etymologisch verband sich über die Jahr­
                                                                     hunderte der hebräische jobel mit dem lateini­
01 Vgl. Brian Rotman, Signifying Nothing. The Semiotics of
Zero, Stanford 1996; Robert Kaplan, Die Geschichte der Null,
                                                                     schen iubilare zum inzwischen praktizierten Ju­
München–Zürich 20042.                                                biläum. Die römische Papstkirche bezog sich auf
02 Vgl. etwa Marko Demantowsky, Vom Jubiläum zur Jubilä-             das alttestamentarische Vorbild, als Papst Bonifa­
umitis, in: Public History Weekly 11/2014, https://public-history-   tius VIII. das Jahr 1300 zu einem Heiligen Jahr
weekly.degruyter.com/2-2014-11/vom-jubilaeum-zur-jubilaeumitis; ​
Martin Sabrow, Zeitgeschichte als Jubiläumsreigen, in: Merkur
789/2015, S. 43–54.                                                  04 Vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum, Jubiläum, in: Friedrich
03 Giacomo Leopardi, Das Gedankenbuch. Aufzeichnungen                Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart–​Weimar
eines Skeptikers, hrsg. v. Hanno Helbling, München 1985, S. 21.      2007, Sp. 52–56.

                                                                                                                                    05
APuZ 33–34/2020

erklärte, in dem für Rompilger ein vollständiger                   erinnert, dass (Schöpfungs-)Zeit vergeht, sondern
Sündenablass zu erlangen war.05 Die Heiligen                       dass sich Geschichte ereignet. Das mag auch eine
Jahre sollten zunächst nach mosaischem Vorbild                     Begründung dafür sein, weshalb das historische Ju­
und streng mathematischer Teilbarkeit zunächst                     biläum eine stetig wachsende Bedeutung erfährt:
alle 100, dann alle 50 Jahre stattfinden. Schon im                 Anstatt der Tatsache zu gedenken, dass Zeit (durch
15. Jahrhundert wurde der Rhythmus auf 25 Jah­                     den Schöpfer) für uns gemacht und gegeben wird,
re verkürzt – und falls nötig, wurde auch mal ein                  feiern wir den Umstand, selbst unsere Zeit und un­
Heiliges zwischendurch und außer der Reihe ein­                    sere Geschichte zu machen. Und wenn sich dies auf
gefügt.06 Diese Praxis zeigt aber schon eine andere                vorteilhafte Weise zu einem geldwerten Vorteil ver­
Ausrichtung an. Neben die Aufhebung der Zeit,                      arbeiten lässt, werden sich wohl nur notorische Ka­
die Vergebung der Sünden und die runde Zahl trat                   pitalismuskritiker beschweren.
nun auch die Ökonomisierung der Aufmerksam­                            Das Teilprojekt Historisierung war im Rah­
keit. Für das Papsttum und die Stadt Rom waren                     men des Metaprojekts Aufklärung einst dazu an­
(und sind bis heute) die Heiligen Jahre ein gu­                    getreten, religiöse Antworten nach dem „Woher
tes Geschäft. Glücklich kann sich daher ein Ort                    kommen wir?“ („Und wo gehen wir hin?“) durch
schätzen, der eine Institution beherbergt, die die                 eine empirisch fundierte Alternative abzulösen.
Stellvertretung Gottes auf Erden samt mono­                        Anstatt in der Vertikalen nach Auskünften zu su­
polisierter Heilsgarantie für sich beansprucht.                    chen, sah man sich nun in der Horizontalen um.
    Schon sehr früh manifestiert sich in der Praxis                Aber ähnlich wie im Rahmen des Gesamtvorha­
der Jubiläumsfeierlichkeiten eine Einsicht, für die                bens namens Aufklärung war wohl auch in der
man wahrlich keine Marketingabteilung benötigt:                    Unterabteilung Historisierung lange Zeit nicht
Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut, und Jubilä­                    aufgefallen, dass an die Stelle der Fetischisierung
en können zu ihrer Steuerung wirksam beitragen.                    göttlicher Schöpfermacht nun die Fetischisierung
Vergangenheitsbewirtschaftung entwickelt sich zu                   des Historischen trat.
einem lukrativen Geschäftsmodell.07
    Das gelang noch besser und noch umfänglicher,                                 IDENTITÄTEN IN DER
als sich das Jubiläum von der kalendarischen Zeit                              RÜCKKOPPLUNGSSCHLEIFE
ablöste und an die historische Zeit anheftete.08 Auch
hierfür sind die Heiligen Jahre der Papstkirche be­                Die neue Fetischisierung, wie sie sich in der Vereh­
deutsam. Denn weil die protestantischen Kirchen                    rung der Null manifestiert, scheint sich immer wei­
nicht wie der Papst von der Garantie des Heils und                 ter in die Höhe zu schrauben. Jubiläen kommen
dem Ablassversprechen profitieren konnten, muss­                   sich selbst schon zuvor, weil die wichtigen Veröf­
ten sie ihre eigene Tradition begründen und auf Ge­                fentlichungen, Bücher, Fernsehdokumentationen
schichte setzen. Das Phänomen des neuzeitlichen                    und Ausstellungen inzwischen deutlich vor dem
historischen Jubiläums ist daher wohl mit dem ers­                 eigentlichen Jubiläum auf dem Markt sein müssen,
ten Reformationsjubiläum im Jahr 1617 anzuset­                     um in der allgemeinen Reizüberflutung noch wahr­
zen.09 Seither wird nicht einfach an die Tatsache                  genommen zu werden. Rückkopplungsschleifen
                                                                   stellen sich ein, wenn nicht nur – wie im Falle des
                                                                   Luther- oder korrekter: Reformationsjubiläums
05 Vgl. Arndt Brendecke, Die Jahrhundertwenden. Eine
Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Frank­furt/M.–
                                                                   2017 geschehen – ein Jubiläumsgeschehen auf sich
New York 1999.                                                     selbst zurückblickt,10 sich also schon selbst histo­
06 Vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum, Heiliges Jahr, in: Jaeger        risiert, sondern wenn diese Selbsthistorisierung so
(Anm. 4), Bd. 5, Sp. 312–316.                                      weit reicht, dass eine Jubiläumsfeierlichkeit selbst
07 Exemplarisch: Ralph Bollmann, Luther. Ein Sommermärchen.
                                                                   schon wieder Jubiläen gebiert.11
Millionen Besucher, Milliarden Umsatz: Das Reformationsju-
biläum wird ein Riesengeschäft. Und jeder will dabei sein, in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28. 8. 2016, S. 23.        10 Vgl. Hartmut Lehmann, 500 Jahre Reformation. Neuer-
08 Vgl. Winfried Müller, Vom „papistischen Jubeljahr“ zum his-     scheinungen aus Anlass des Jubiläums, in: Historische Zeitschrift
torischen Jubiläum, in: Paul Münch (Hrsg.), Jubiläum, Jubiläum …   1/2018, S. 85–131; Matthias Pohlig, Jubiläumsliteratur? Zum
Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005,   Stand der Reformationsforschung im Jahr 2017, in: Zeitschrift für
S. 29–44.                                                          Historische Forschung 2/2017, S. 213–274.
09 Vgl. Thomas Kaufmann, Reformationsgedenken in der               11 Vgl. Hartmut Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017,
Frühen Neuzeit. Bemerkungen zum 16. bis 18. Jahrhundert, in:       Göttingen 2012. Dieses Buch ist fünf Jahre vor dem Reformations-
Zeitschrift für Theologie und Kirche 3/2010, S. 285–324.           jubiläum erschienen.

06
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen APuZ

    Gedenktage und Jubiläen sind also in der                   die da auch vor? Wenn Jubiläen von Daten und
Lage, in unsere linearen Zeitmodelle retardieren­              Zahlen und Nullen abhängen, sind sie dann nur
de Schleifen einzubauen, die eigentlich mehr irri­             für bestimmte Wirs von Bedeutung?
tieren müssten, als sie das tatsächlich tun. Unter                 An dieser unscheinbaren Formulierung, dass
der Ägide einer sich selbst als weitgehend säkular,            wir das Jahr 2020 schreiben, lässt sich ersehen, wie
weitgehend rational und weitgehend ökonomisch                  falsch der Gedanke ist, historische Jubiläen hätten
verstehenden Kultur müssten regelmäßig wieder­                 etwas mit historischer Rückvergewisserung oder
kehrende Besinnungen auf Geschehnisse eigent­                  gar geschichtlicher Bewusstseinsbildung zu tun.
lich als Fremdkörper wirken. In die vermeintlich               Dem ist selbstredend nicht so. Es geht vielmehr –
eindeutige, homogene, unidirektionale Bewegung                 neben den bereits genannten Punkten – wesentlich
der Zeit, aus der Vergangenheit kommend und                    um gegenwartszentrierte Identitätsproduktion.
sich in die Zukunft bewegend, werden zirkulä­                  Solcherart werden traditionelle Geschichtsbilder
re Abzweigungen eingelassen. Der Zeitpfeil wird                weitergetragen. Denn die historische Jubiläums­
mit kreisförmigen Ornamenten garniert.                         kultur ist nicht nur personenfixiert, weshalb es ir­
    Eine „moderne“ Auffassung von Zeit scheint                 gendwie immer noch große (weiße, tote) Männer
solcherart durch ein „traditionelles“ Zeitver­                 sind, die Geschichte machen. Zusätzlich wird über
ständnis in Unruhe gebracht zu werden. Denn,                   Jubiläen weiterhin in einer national aufgeladenen
so meinen wir zu wissen, während sich „moder­                  Manier gesprochen, wenn diese Jubiläen immer
ne“ Gesellschaften linear in eine offene Zukunft               noch und immer wieder daraufhin befragt werden,
hineinbegeben, drehen sich „traditionelle“ Ge­                 was sie denn im Guten wie im Schlechten für die­
sellschaften zirkulär im Kreis des Immerglei­                  ses Kollektiv bewirkt haben.
chen. Diese Entgegensetzung ordnet sich ein in                     Wie bedeutsam Gedenkveranstaltungen für
die Kategorisierung des französischen Ethnolo­                 die kollektive Identitätsbildung sind, lässt sich
gen Claude Lévi-Strauss, der von „kalten“ und                  an dem kriegstreibenden Potenzial ersehen, das
„heißen“ Gesellschaften gesprochen hat, von                    ihnen eigen ist.13 Ein Beispiel unter vielen ist
denjenigen, die auf Beständigkeit Wert legen,                  die Rede von Slobodan Milošević anlässlich der
und denjenigen, die Neuerungen bevorzugen.12                   600-Jahr-Feier der Schlacht auf dem Amselfeld
Das Beispiel Jubiläum zeigt – wie viele andere                 am 28. Juni 1989 – ein bedeutsames Ventil für
Phänomene auch –, dass häufig Mischformen                      den serbischen Nationalismus und den folgenden
zu beobachten sind, die vielleicht gerade erst                 Ausbruch des Jugoslawien-Krieges.
die Dynamik provozieren, die man ausschließ­
lich der „modernen“ Existenzweise zuzurech­                                  ALTERNATIVE JUBILÄEN?
nen geneigt ist.
    Neben die Fixierung auf rhythmisiert wieder­               Nun scheint der Eindruck nahezuliegen, ich woll­
kehrende Ereignisse und die Ökonomisierung der                 te am (historischen) Jubiläum kein gutes Haar las­
Aufmerksamkeit treten noch weitere Probleme                    sen. Dem möchte ich widersprechen (und damit
im Kontext einer ausgefeilten Jubiläumskultur.                 mir selbst). Ich habe nichts gegen Jubiläen. Ich
    Der erste Satz meines Textes lautet: „Wir                  habe nur etwas gegen die dominierende Praxis
schreiben das Jahr 2020.“ Das sollte man sich viel­            des Jubilierens, gegen ihre vorherrschenden Cha­
leicht auf der sprichwörtlichen Zunge zergehen                 rakterzüge der Kommerzialisierung, Personali­
lassen. Nicht, weil es sich bei dieser trivialen Aus­          sierung, Nationalisierung und Ereignisfixierung.
sage um eine irgendwie herausragende Formulie­                     Die Gefahr, die mit repetitiven Gedenktagen
rung handeln würde, sondern weil sie selbstent­                verbunden ist, liegt auf der Hand. Wiederholung
larvend ist. Denn in der Tat: Wir schreiben. Da ist            kann zu Übermüdung führen, im schlimmsten
ein Wir, das (für sich) festlegt (also festschreibt),          Fall gar zu Ablehnung. Nachdem ein Thema sei­
dass nach einer bestimmten Zähl- und Datier-
und Erzählweise nun ein bestimmtes Jahr sei.
    Und die anderen „Wirs“? Und die anderen                    13 Vgl. Johannes Burkhardt, Die kriegstreibende Rolle histori-
                                                               scher Jubiläen im Dreißigjährigen Krieg und im Ersten Weltkrieg,
Zähl- und Datier- und Erzählweisen? Kommen
                                                               in: ders. (Hrsg.), Krieg und Frieden in der historischen Gedächt-
                                                               niskultur. Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer
12 Vgl. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frank­furt/M.   Argumente und Jubiläen von der Antike bis in die Gegenwart,
1973.                                                          München 2000, S. 91–102.

                                                                                                                             07
APuZ 33–34/2020

nen Neuigkeitswert verloren hat, besteht die aku­        Mittelpunkt rücken, die uns heute etwas lehren
te Gefahr, dass es nur noch als Pflichtübung abge­       könnte und nicht einer rhythmisierten Rück­
leistet wird, aber damit ein Gedenken der Inhalte        kopplungsschleife gehorcht.
gerade nicht mehr stattfindet.                               Ich bin mir gänzlich darüber im Klaren, dass
     Die weltweit etablierte Gedenkkultur, mit all       eine alternative Jubiläumskultur schon deswegen
ihren Spezifika und regionalen Eigenheiten, steht        spinnert erscheinen muss, weil sie sich schwerlich
also vor einem echten aufmerksamkeitsökono­              verkaufen lässt – aber ich will wenigstens nicht
mischen Dilemma: Einerseits ist es gelungen, be­         auf die Möglichkeit verzichten, mir das einen
stimmte Themen und Ereignisse über den Weg der           Moment lang vorzustellen.
Jubiläen fest in der Öffentlichkeit zu verankern,            Ein interessantes Beispiel ist ausgerechnet
ihnen regelmäßige mediale Berichterstattung zu­          der Internet-Konzern Google, der auf der Start­
kommen zu lassen und damit nicht zu einem ereig­         seite seiner Suchmaschine ab und an sogenannte
nisabhängigen, sondern regelmäßig wiederkehren­          Google-Doodles platziert. Zu bestimmten An­
den Thema zu machen. Andererseits birgt gerade           lässen wird das Google-Logo verändert, um die
die regelmäßig wiederkehrende Behandlung eines           Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die nicht
Gedenkthemas die Gefahr jeder Routinisierung,            dem Gedenkkalender gehorchen, sondern der
dass nämlich Aufmerksamkeit schwindet, sobald            Dringlichkeit eines Themas. Am 26. Juni 2020
sie in den immer gleichen Abständen zu den im­           wurde beispielsweise des 78. Geburtstages von
mer gleichen Gegenständen eingefordert wird.             Olive Morris gedacht, einer 1979 verstorbe­
     Daher lohnt es sich, die Frage zu stellen, ob Ge­   nen britischen Aktivistin gegen Rassismus. Am
denktage tatsächlich der angemessene und beste           23. Juni gab es einen Doodle zum 141. Geburts­
Weg sind, um Aufmerksamkeit für einen bestimm­           tag von Hudā Schaʿrāwī, einer ägyptischen Femi­
tes (historisches) Thema zu erzeugen, oder ob nicht      nistin und Pionierin der Frauenbewegung. Solche
andere Wege versucht werden sollten. Und es lohnt        Google-Doodles haben etwas für sich, nämlich
sich die Frage, ob andere Wege überhaupt möglich         das eindeutige Überraschungsmoment. Die Frage
sind. Denn Gedenktage funktionieren gerade we­           drängt sich auf, wer ist das, dem da gedacht wird?
gen der Magie der Null, gerade wegen ihrer Vorher­       So gänzlich ohne Nullen und ohne bereits vorge­
sehbarkeit, gerade aufgrund der Tatsache, dass der       formtes Jubiläumswissen?
Aussage „100 Jahre Wasauchimmer“ an sich schon
ein Nachrichtenwert zukommt, ganz unabhängig                         EINE THEORETISCHE
davon, was dieses Wasauchimmer ist. Der histori­                     HERAUSFORDERUNG
sche Sachbuchmarkt zeigt es ja in aller Deutlichkeit:
Einen erheblichen Teil seiner Produktion verdankt        Vielleicht lauert in solchen Formen doch noch die
er genau dieser routinisierten Gedenkkultur.             eine oder andere Möglichkeit für Jubiläen – auch
     Wie wäre es also, Jubiläen zu feiern, die tat­      wenn ich mir relativ wenig Illusionen mache bezüg­
sächlich zu einer gegenwärtigen Beschäftigung            lich ihrer tatsächlichen Nutzung. Denn die Bewirt­
mit vergangenen Zuständen passen, die uns heu­           schaftung des seltenen Guts namens Aufmerksam­
te auch inhaltlich etwas zu sagen haben – und die        keit ist dann doch anders ausgestaltet und richtet
sich nicht darauf beschränken, ein historisches          sich nicht nach theoretischen Wünschbarkeiten.
Früher jubiläumsmäßig solange auszusaugen, bis               Aber wenn es diese Aufmerksamkeitsökono­
nichts mehr davon übrigbleibt?                           mien nicht gäbe, dann, ja dann … – dann würden
     Ich will daher gar nicht übersehen, dass es         historische Jubiläen sich nicht darin erschöpfen,
durchaus andere Möglichkeiten gibt, mit Jubilä­          entweder in einem präsentischen Sinn die Ver­
en umzugehen. Sie könnten genutzt werden, um             gangenheit zur Beschreibung oder gar zur Bestä­
Themen zu ventilieren, die ansonsten eher im             tigung der Gegenwart zu degradieren oder in ei­
Hintergrund verkümmern würden.                           nem antiquarischen Sinn diese Vergangenheit in
     Man könnte sich von einer Fixierung auf die         ihrem separierten Eigenleben belassen zu wollen.
Null lösen und Jubiläen in den Mittelpunkt stel­             Dann ließe sich dem Irritationspotenzial hin­
len, die nicht der runden Zahl gehorchen, die aber       reichend Raum geben, das auch historische Jubilä­
zeigen, welcherart unsere Gegenwart mit ver­             en entfalten können. Mit anderen Worten: Wir wis­
gangenen Zeiten verstrickt ist. Man könnte eine          sen nie, welche Möglichkeiten und Wirklichkeiten
Aufmerksamkeitsökonomie um Jubiläen in den               in den Vergangenheiten noch schlummern, von de­

08
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen APuZ

nen wir heute noch gar nichts ahnen, die uns aber      gen bedacht würden, die Ereignisse und deren Ju­
in absehbarer oder auch fernerer Zukunft durchaus      biläen mit sich bringen, wenn man heute schon
beschäftigen können. Dieses Irritationspotenzial       bedächte, welche Jubiläen zukünftig mit Blick
vergangener Zeiten für eine Gegenwart muss man         auf heutige Entscheidungen begangen würden,
aber auch zulassen können, nicht zuletzt, indem        wenn man sich fragte, ob auch in anderen Län­
man an das Vergangene nicht nur Fragen stellt, de­     dern Jubiläen begangen werden, die ein bestimm­
ren Antworten schon längst feststehen, sondern in­     tes Wir des Feierns für wert erachten. (Schließlich
dem man sich die Frage stellt, welche Fragen man       hat jede gefeierte Schlacht nicht nur einen Sieger,
denn in einer Vergangenheit gestellt hat.              sondern auch einen Verlierer.)
     Doch genau das geschieht viel zu selten. His­
torische Jubiläen werden vornehmlich als Sprung­                             CODA
brett benutzt, um vermeintlich historisch in­
formiert in die Vergangenheit einzutauchen; sie        Wir schreiben bald das Jahr 2021. Auch das eine
werden zur passiven Folie, um der Vergangenheit        durchaus jubiläumsbegünstigende Jahreszahl. Auch
flugs etwas zuzuschreiben, das sich in unserem ei­     daraus lassen sich hübsche palindromische Daten
genen Hier und Jetzt ganz gut ausmacht. Wie bei        formen. Vor allem aber werden im kommenden
anderen Fremdheitserfahrungen, so geht es auch         Jahr die heute noch so bedeutsamen und nach Auf­
bei Jubiläen häufig um Anpassung an die gegebe­        merksamkeit heischenden Jubiläen schon unbedeu­
nen (gegenwärtigen) Verhältnisse, aber nicht um die    tend geworden sein und Staub angelegt haben.
Verunsicherung durch das Fremde (Vergangene).              Bis siebenmal sieben Jahre ins Land gezo­
     Mir würde es bereits genügen, die Möglich­        gen sind, die historische Erinnerung wiederbe­
keit der Irritation durch das historische Jubiläum     lebt werden kann, die letzte Gedenkveranstal­
zu seinem Recht kommen zu lassen. Denn ent­            tung schon so lange her ist, dass sich nur noch
gegen subkutaner Einschätzungen ist es weit we­        die Alten daran erinnern können und der Pro­
niger klar, was ein Jubiläum auch und gerade in        zess von Erinnerung und Erneuerung wieder
theoretischer Hinsicht sein könnte, als man ge­        von vorne beginnen darf. Das Widderhorn kann
meinhin vermuten würde.                                wieder hervorgeholt und geblasen werden. Und
     Wie sieht es beispielsweise aus mit dem Ver­      auch diesmal wird – fraglos mit großer Berechti­
hältnis von Einmaligkeit und Regelmäßigkeit? Wie       gung – betont werden, dass diesem wie auch im­
ist es möglich, ein jubiläumsartig gefeiertes Ereig­   mer zu bezeichnenden historischen Ereignis, das
nis begreifen, bezeichnen und sogar einordnen zu       nun nicht mehr nur 50, sondern bereits 100 Jah­
können, obwohl es sich doch um eine Einzigartig­       re zurückliegt, gänzlich neue Bedeutungen abge­
keit handeln soll? Oder wie sieht es aus mit dem       wonnen werden können. Und auch diesmal wird,
Verhältnis von Gegenwärtigkeit und Nachträg­           nicht minder berechtigt, betont werden, wie be­
lichkeit? Wie ist es möglich, ein historisches Er­     deutsam dieses vergangene Ereignis für das Ver­
eignis als Jubiläum zu feiern, dessen Sich-Ereignen    ständnis der Gegenwart ist. Und auch diesmal
immer nur dadurch zum Thema gemacht werden             wird diese Bedeutsamkeit durch eine nicht nur
kann, dass man es einer schriftlichen, bildlichen      hinreichende, sondern sogar überschüssige An­
oder sonstwie zeichenförmigen Beschreibung zu­         zahl medialer Angebote befriedigt werden. Und
führt – und zwar immer erst im Nachhinein? Aus         auch wenn dieses Gedenken mit dem Hauch ei­
diesen und einigen anderen Schwierigkeiten, die        ner Ahnung versehen sein mag, all das geschehe
einem das Jubiläum eigentlich aufgibt, ließe sich      zum ersten Mal, so wird man doch wissen kön­
durchaus Kapital schlagen, um dem Verhältnis der       nen, dass alles schon einmal geschehen ist, und
Zeiten auf den Grund zu gehen, um zu eruieren,         nun alles wieder von vorne beginnt.
wie wir mit anderen Zeiten umgehen wollen.
     Jubiläen hätten das Potenzial, zu einer Inver­
sion der Zeiten zu führen. Als Knotenpunkt, als
Relativum ohne eigene Substanz, ist es dazu in         ACHIM LANDWEHR
der Lage, das Verhältnis von Vergangenheit, Ge­        ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit
genwart, Zukunft nicht nur immer wieder auszu­         und Dekan der Philosophischen Fakultät an der
tarieren, sondern beständig infrage zu stellen. Das    Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
wäre möglich, wenn auch die anderen Verzeitun­         achim.landwehr@hhu.de

                                                                                                            09
APuZ 33–34/2020

                  DAS HISTORISCHE JUBILÄUM
                        Zur Karriere einer Zeitkonstruktion
                                            Winfried Müller

Als das EU-Parlament 2019 mehrheitlich dafür             schen Territorien ein Reformationsjubiläum aus,
stimmte, 2021 letztmalig zweimal im Jahr eine            dessen Beginn auf den 31. Oktober 1617 festgelegt
Zeitumstellung vorzunehmen, war diese Debatte            wurde. Es wurde also ein Jahrestag ins Zentrum
über die Sommerzeit eines der eher seltenen Bei­         der Erinnerung gestellt und zugleich wurde dieser
spiele dafür, dass „Zeit“ als eine von politischen       mit der Hervorhebung der 100. Wiederkehr des
Entscheidungen und gesellschaftlichem Konsens            Beginns der Reformation jubiläumszyklisch ge­
abhängige Kategorie erkennbar wird. Gemeinhin            taktet. 1617 war solch ein Jubiläum als Kulminati­
werden lebensweltliche Zeitkategorien eher als na­       onspunkt einer anniversarisch unterfütterten Er­
turwüchsig wahrgenommen. Tatsächlich aber be­            innerungskultur noch ein ziemliches Novum, das
wegen wir uns in exakt vermessenen Zeiträumen,           gleichzusetzen ist mit dem Durchbruch der mo­
in denen seit dem 19. Jahrhundert Standardzeiten         dernen historischen Jubiläumskultur.04
eingeführt und mehrere Staaten zu Zeitzonen zu­
sammengefasst wurden.01 Das innerhalb der Zeit­                   ENTWICKLUNGSPHASEN
zonen gültige Maß der Stunde hat dabei eben­                   DES HISTORISCHEN JUBILÄUMS
so seine eigene Geschichte02 wie die heute gültige
Jahreszählung „n. Chr.“ oder, in der säkularisier­                 Genese von Jubiläumszyklus
ten Variante, „nach unserer Zeitrechnung“. Und                       und Jubiläumsintervall
was die Tageszählung betrifft, dauerte es relativ        Betrachtet man die Geschichte des Jubiläums­
lange, bis sich die uns geläufige digitale, in Ziffern   zyklus, so ist zunächst die Tiefenschicht des Alten
ausgedrückte Datierung durchsetzte und damit in          Testaments mit Levitikus 25, 8–55 und das auf sie­
der Regel vom christlichen Jahres- und Heiligen­         ben Sabbatzyklen, also nach 49 Jahren, folgende
kalender abgeleitete Orientierungstage ablöste.          50. Jahr aufzurufen.05 In diesem sollte veräußerter
    Die moderne Datierung nach Jahr und Tag              Grundbesitz an seine alten Eigner fallen, und wer
ist allerdings die Voraussetzung dafür, dass his­        sich als Knecht verkauft hatte, durfte frei zu den
torische Erzählungen in Zahlen übersetzt wer­            Seinen zurückkehren. Dieses Jubeljahr sollte den
den können, mit denen Präzision und Faktizität           Israeliten bewusst machen, dass sie und ihr Ei­
gleichermaßen signalisiert werden, und die dann          gentum letztlich Jahwe selbst gehörten. Im christ­
wiederum eine eigene Suggestionskraft entfalten,         lichen Mittelalter wurde diese Erlasspraxis des
Narrative und Traditionen begründen. Ein promi­          Alten Testaments spirituell umgedeutet zur Ver­
nentes Beispiel hierfür ist der 31. Oktober 1517,        gebung von Sünden beziehungsweise der Befrei­
der Tag also, an dem Luther seine Thesen ange­           ung des Menschen aus der Knechtschaft der Sün­
schlagen haben soll und der allgemein für den Be­        de. Die Praxis der Hervorhebung des 50. Jahres
ginn der Reformation steht. Zwischenzeitlich be­         ging in der Wissenskultur des Mittelalters zwar
stritten, wurde erst jüngst wieder versucht, den         nicht ganz verloren, allerdings dominierte eine
legendären Thesenanschlag erneut zu authentifi­          Auffassung, die das Jubiläum aus chronologischen
zieren.03 Fakt bleibt allerdings, dass dieser in der     Zusammenhängen und vordefinierten Zeitrastern
protestantischen Erinnerungskultur des gesam­            herauslöste: „Immer dann, wenn dem Gläubigen
ten 16. Jahrhunderts keine Rolle spielte. Die Ge­        die Vergebung seiner Sünden zuteilwerde, sei für
burtsstunde des 31. Oktober als Reformationstag          ihn ein Jubelfest.“06 Worauf es bei der Entstehung
schlug erst 1617: Exakt 100 Jahre nach der Publi­        der modernen Jubiläumskultur also zunächst an­
kation der Thesen riefen die lutherischen und re­        kam, war die bewusste Engführung der zeitlich
formierten Landeskirchen in zahlreichen deut­            frei flottierenden Ablasspraxis mit dem Zeit­

10
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen APuZ

zyklus des 50. Jahres. Diese Koordination erfolgte                     sonale Jubiläumskultur habe dann Impulse für
im Jahr 1300 mit der Einführung des Heiligen Jah­                      die Universitäten gegeben,07 die in der Tat eine,
res durch Papst Bonifatius VIII.: An einem beson­                      wenn nicht gar die entscheidende Institution für
deren Ort, in Rom, wurde in jubiläumszyklischer                        die Entstehung des historischen Jubiläums waren.
Form zunächst alle 100, bald alle 50 und schließ­                      Für dessen Inkubationsphase dürfen wir freilich
lich alle 25 Jahre ein Zeitabschnitt als Gnadenzeit                    noch nicht von Jubiläumsfeierlichkeiten großen
für die Erteilung eines vollkommenen Ablasses                          Stils ausgehen, aber es häufen sich doch die ein
hervorgehoben. Diese Taktung war die genuine                           Jahrhundert- und Jubiläumsbewusstsein belegen­
Leistung des päpstlichen Heiligen Jahres, des bis                      den Artefakte, etwa ein auf den 100. Jahrestag der
heute im Italienischen so bezeichneten giubileo                        Universitätsgründung beziehungsweise -eröff­
universale. Allerdings handelte es sich bei diesem                     nung verweisendes Schmuckblatt in der Erfurter
vom Papsttum verwalteten frommen Ereignis um                           Universitätsmatrikel 1492 oder ein 1520 gedruck­
kein historisches Jubiläum, vielmehr haben wir es                      tes Vorlesungsprogramm in Rostock, in dem das
mit einem von geschichtlichen Ereignissen völlig                       100. Jahr explizit als Jubiläumsjahr („anno cen­
unabhängigen Zeitraster zu tun, das seit 1475 an                       tesimo jubilaeo“) bezeichnet wurde.08 Für kei­
die Quartale eines Jahrhunderts gebunden war:                          nes dieser Beispiele sind offizielle Jubiläumsfeiern
1475, 1500, 1525 … 2000.                                               nachweisbar, gleichwohl sind sie ein deutlicher
                                                                       Beleg dafür, dass im Übergang vom späten Mittel­
                    Inkubationsphase                                   alter zur Frühen Neuzeit in den Universitäten die
                des historischen Jubiläums                             Idee reifte, den Jubiläumszyklus für die Struktu­
Worauf es im Hinblick auf die moderne Jubilä­                          rierung der Eigengeschichte zu nutzen.
umskultur ankam, war also die Lösung des Zy­
klus von den Jahrhundertquartalen und die Ver­                                                  Take-off
knüpfung mit historischen Ereignissen. Diese                                                 und Etablierung
noch nicht systematisch erforschte Transformati­                       Wenn zuletzt von der Inkubationsphase des histo­
on des Jubiläums zum historischen Jubiläum lässt                       rischen Jubiläums gesprochen wurde, so deshalb,
sich zeitlich im späten 15. und frühen 16. Jahrhun­                    weil erst später öffentliche Inszenierungen mit der
dert verorten, wobei zuletzt in kirchenreforme­                        Mobilisierung weiter Teilnehmerkreise, Festreden,
rischen Kreisen des 15. Jahrhunderts begangene                         Festschriften und Dokumentationen hinzukamen.
Personaljubiläen als Wurzel der modernen Jubi­                         Vorreiter bei dieser Etablierung des modernen his­
läumskultur hervorgehoben wurden. Diese per­                           torischen Jubiläums waren ausgangs des 16. Jahr­
                                                                       hunderts die protestantischen Universitäten, die
                                                                       sich dabei dezidiert vom Heiligen Jahr und dem
01 Vgl. Gerald James Whitrow, Die Erfindung der Zeit, Ham-
                                                                       Ablasswesen der katholischen Kirche abgrenzten
burg 1991.
02 Vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stun-
                                                                       und den Jubiläumszyklus konfessionell aufluden.
de. Uhren und moderne Zeitrechnung, München 1992.                      Bei den frühen, durch Festakte belegbaren Uni­
03 Vgl. Benjamin Hasselhorn/Mirko Gutjahr, Tatsache! Die               versitätsjubiläen in Tübingen, Heidelberg, Witten­
Wahrheit über Luthers Thesenanschlag, Leipzig 2018.                    berg und Leipzig, wo 1578, 1587, 1602 und 1609
04 Im Überblick: Winfried Müller, Das historische Jubiläum.
                                                                       der 100. beziehungsweise der 200. Wiederkehr der
Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion, in: ders. (Hrsg.), Das
historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenie-
                                                                       Universitätseröffnung gedacht wurde, polemisier­
rungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster            ten die protestantischen Theologen in ihren Fest­
2004, S. 1–75; Paul Münch (Hrsg.), Jubiläum, Jubiläum … Zur            predigten und -reden nämlich einerseits scharf ge­
Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005;           gen das „papistische Jubeljahr“ als Entstellung der
Martin Sabrow (Hrsg.), Historische Jubiläen, o. O. [Leipzig] 2015;
                                                                       alttestamentlichen Tradition. Andererseits wurde
Franz M. Eybl/Stephan Müller/Annegret Pelz (Hrsg.), Jubiläum.
Literatur- und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Göttingen
2018. Zum nachfolgenden Phasenmodell vgl. Winfried Müller,             07 Vgl. Stefan Benz, Das personale Jubiläum. Zur Vorge-
Das historische Jubiläum als Motor der Public History, in: West-       schichte des institutionellen Jubiläums, in: Blätter für deutsche
fälische Forschungen 2019, S. 55–67.                                   Landesgeschichte 2016, S. 187–219.
05 Vgl. Bernhard Schimmelpfennig, Heiliges Jahr, in: Lexikon           08 Vgl. Wolfgang Eric Wagner, Die Erfindung des Universitäts-
des Mittelalters, Bd. 4, Stuttgart 1999, Sp. 2024 f.                   jubiläums im späten Mittelalter, in: Martin Kintzinger/Wolfgang
06 Nikolaus Paulus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter.            Eric Wagner/Marian Füssel (Hrsg.), Akademische Festkulturen
Vom Ursprunge bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Bd. 2,               vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Zwischen Inaugurationsfeier
Darmstadt 2000² [1922/23], S. 34.                                      und Fachschaftsparty, Basel 2019, S. 25–54.

                                                                                                                                      11
APuZ 33–34/2020

die eigengeschichtliche Nutzung des Jubiläums­                    Aneignung spielten ferner die Stadtjubiläen, de­
zyklus durch die protestantischen Universitäten                   ren Anfänge im ausgehenden 17. Jahrhundert lie­
als eine im Geiste christlicher Erneuerung vollzo­                gen; im erzgebirgischen Annaberg wurde bereits
gene Jubelfeier deklariert. Diese Aneignungsstra­                 1697 der Stadtgründung gedacht.12 Die große Zeit
tegie war die entscheidende Weichenstellung da­                   der bürgerlichen Jubiläumsinszenierungen wurde
für, dass die protestantischen Landeskirchen 1617                 gleichwohl erst das 19. Jahrhundert, als Dienst-,
mit dem ersten Reformationsjubiläum09 die sta­                    Amts- oder Firmenjubiläen13 zu Taktgebern der
bilisierende und identitätsstiftende Kraft histo­                 privaten und öffentlichen Festkultur wurden.
rischer Erinnerungsfeiern für sich nutzten. Die­                      Dieser Jubiläumsboom ist zum einen vor dem
ses wesentlich von Sachsen angestoßene und auf                    Hintergrund einer deutlichen Intensivierung von
eine reichsweite Öffentlichkeit abzielende jubilä­                Zeiterfahrung und -wahrnehmung zu sehen. Fes­
umszyklische Reformationsgedenken blieb dann                      te Dienstzeiten, die sich bei Beamten bis heute
wiederum für die katholische Erinnerungskultur                    im Jubiläumsdienstalter niederschlagen, der Aus­
nicht folgenlos. Die katholische Partei polemisier­               bau der öffentlichen Verwaltung mit der präzi­
te zunächst zwar gegen die evangelischen „Pseu­                   sen Dokumentation von Geburts- und Sterbe­
dojubiläen“ und beharrte damit auf der exklusiven                 tag, von Schuleintritt und Eheschließung – dies
Verbindung von Jubiläumszyklus und Heiligem                       alles präzisierte die Lebenszeit in einem bislang
Jahr. Diese Haltung wurde allerdings bereits nach                 nicht gekannten Ausmaß und arbeitete einem
wenigen Jahrzehnten von der Doppelstrategie                       an messbaren Zeitintervallen orientierten Ge­
überwunden, einerseits am Heiligen Jahr festzu­                   schichtsdenken zu. Zum anderen ist der Jubilä­
halten, andererseits den Jubiläumszyklus auch für                 umsboom des 19. Jahrhunderts aber auch auf
die Eigengeschichte katholischer Institutionen                    die gewaltigen politischen Umbrüche der soge­
einzusetzen. Voran ging hier der Jesuitenorden,                   nannten Sattelzeit um 1800 zurückzuführen. Die
der 1639/40 den 100. Jahrestag seiner Bestätigung                 Französische Revolution und das Ende des Alten
durch den Papst feierte. Nachdem die Speerspitze                  Reiches wurden vielfach als massiver Traditions­
der katholischen Reform das Eis gebrochen hat­                    verlust empfunden, und nicht zuletzt durch den
te, zogen auch die Klöster, Bistümer und nicht zu­                jubiläumszyklischen Rekurs auf die Vergangen­
letzt die Universitäten der Germania sacra mit ei­                heit sollte jene Treue zu den Institutionen wieder­
genen Jubiläumsfeiern nach.10                                     hergestellt werden, deren Auflösung Aufklärung
                                                                  und Revolution angelastet wurde.
                      Pluralisierung                                  Vor diesem Hintergrund setzte sich der zu
                     und Affirmation                              Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Säkulari­
Dieser Take-off der historischen Jubiläumskultur                  sation und das Ende der Reichskirche zunächst
war zunächst zwar vor allem von den Universitä­                   in die Defensive gedrängte Katholizismus über
ten und den Kirchen geprägt, aber schon seit dem                  Bistumsjubiläen oder die Entdeckung von Win­
17. Jahrhundert kündigte sich eine Pluralisierung                 fried Bonifatius als Apostel der Deutschen wir­
der Inszenierungshoheit an. Das wohl früheste                     kungsvoll in Szene. Parallel dazu erreichte im
Beispiel hierfür ist das an den 200. Jahrestag der                Protestantismus die Memoria Lutheri eine neue
Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Let­                     Dimension, etwa durch die Musealisierung Wit­
tern erinnernde Leipziger Buchdruckerjubiläum                     tenbergs14 und durch unzählige Denkmalsetzun­
von 1640, mit dem erstmals eine bürgerliche Be­                   gen mit dem 1868 enthüllten Wormser Luther­
rufsgruppe ein historisches Jubiläum veranstal­                   denkmal als Kulminationspunkt. Zu den Kirchen
tete.11 Eine wichtige Rolle bei der bürgerlichen                  gesellte sich im 19. Jahrhundert schließlich noch

09 Vgl. Wolfgang Flügel, Konfession und Jubiläum. Zur             12 Vgl. Ulrich Rosseaux/Wolfgang Flügel/Veit Damm (Hrsg.),
Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen    Zeitrhythmen und performative Akte in der städtischen Erinne-
1617–1830, Leipzig 2005.                                          rungs- und Repräsentationskultur zwischen Früher Neuzeit und
10 Vgl. Astrid Schwerhoff, Jubeljahre und Freudenfeiern. Studi-   Gegenwart, Dresden 2005.
en zum katholischen Jubiläum in der Frühen Neuzeit, Dissertati-   13 Vgl. Veit Damm, Selbstrepräsentation und Imagebildung.
on, Technische Universität Dresden 2020.                          Jubiläumsinszenierungen deutscher Banken und Versicherungen
11 Vgl. Monika Estermann, „O werthe Druckerkunst/Du Mutter        im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Leipzig 2007.
aller Kunst“. Gutenbergfeiern im Laufe der Jahrhunderte, Mainz    14 Vgl. Stefan Laube/Karl-Heinz Fix (Hrsg.), Lutherinszenierung
1999.                                                             und Reformationserinnerung, Leipzig 2002.

12
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen APuZ

die Traditionsmacht der Monarchie, die den in­                 schen Turnerschaft verstärkt als auch die „Erb­
stitutionellen Mechanismus des historischen Ju­                feindschaft“ gegenüber Frankreich reaktualisiert
biläums für sich entdeckte. Nachdem sie mit der                wurde. Mit Blick auf diese Überhitzung der Er­
Französischen Revolution zur Disposition ge­                   innerungsgemeinschaft wurde von einer nachge­
stellt worden war, hatte sie nun aufs Neue ihre                rade kriegstreibenden Rolle historischer Jubiläen
Legitimität und Funktionalität unter Beweis zu                 gesprochen.16 Der Erste Weltkrieg als „Urkata­
stellen. Zugleich mussten nach dem Ende des Al­                strophe des 20. Jahrhunderts“ leitete aber auch
ten Reiches innerhalb neu formierter Staatsgebie­              eine Transformation der Erinnerungskultur ein,
te verschiedene regionale und konfessionelle Kul­              indem die „Sites of Mourning“17 in den Vorder­
turen integriert werden. Vor diesem Hintergrund                grund gerückt wurden. Diese Entwicklung setzte
veranstalteten die deutschen Fürstenhäuser im­                 sich dann vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg
mer häufiger historische Jubiläumsfeiern, um in                und dem Holocaust fort. Das historische Jubilä­
der Bevölkerung monarchisches Bewusstsein und                  um konnte nicht mehr in der gewohnten Weise
Landesidentität gleichermaßen zu verankern: Re­                inszeniert werden. Nach dem nationalsozialisti­
gierungs- und Ehejubiläen von Monarchen sind                   schen Zivilisationsbruch ging es vielmehr um die
hier ebenso zu nennen wie die großen, 1880 be­                 Betonung des Neuanfangs, der mit der Formel
ziehungsweise 1889 von den Häusern Wittels­                    von der „Stunde Null“ auf den Punkt gebracht
bach und Wettin in Bayern und Sachsen veran­                   wurde. Dem auf ein Kontinuum des Erinnerns
stalteten Dynastiejubiläen.15 Diese monarchische               angewiesenen historischen Jubiläum schien da­
Jubiläumskultur des 19. Jahrhunderts war in                    mit die Basis entzogen. Freilich: Die Vergangen­
Deutschland einerseits einzelstaatlich-föderativ.              heit ließ sich nicht abschalten, und der instituti­
Gleichzeitig gab es aber auch eine auf den Pro­                onelle Mechanismus des historischen Jubiläums
zess der Nationsbildung verweisende Jubiläums­                 wurde auch in der Nachkriegszeit unvermindert
kultur, die sich in erster Linie mit den Symbolfi­             ausgelöst.18 Allerdings wurde dabei nun gerade
guren der Kulturnation, ihren Erfindern, Malern,               der Bruch mit alten Geschichtsbildern zum The­
Dichtern und Denkern verband – Johannes Gu­                    ma – in der Absicht, neue Identität zu stiften und
tenberg, Albrecht Dürer, bald dann auch Goethe                 neue Kontinuitäten zu erschließen. Im Zuge die­
und Schiller; die 1859 deutschlandweit stattfin­               ser Neukartierung der deutschen Geschichte sah
denden Feiern zu Schillers 100. Geburtstag waren               man 1948 beispielsweise den in der Vergangen­
eine der größten Jubiläumsveranstaltungen des                  heit negativ konnotierten und unter den Vor­
19. Jahrhunderts.                                              zeichen übersteigerter Frankophobie erinnerten
                                                               Westfälischen Frieden von 1648 in neuem Lichte
        Erweiterungen: Jubiläumszyklisches                     als positives Ergebnis einer internationalen Kon­
             Mahnen und Gedenken                               fliktbewältigungsstrategie. Vor allem aber bot
Wenn die Leistungen und Verdienste der Dynas­                  sich 1948 in beiden sich formierenden deutschen
tien und der „großen Söhne“ des Vaterlandes ju­                Teilstaaten die bislang nicht als jubiläumswür­
biläumszyklisch inszeniert wurden, so verweist                 dig empfundene 1848er Revolution für die Ela­
das auf die grundsätzlich affirmative Qualität                 borierung neuer, demokratischer Kontinuitätsli­
der Jubiläumskultur des 19. Jahrhunderts. Zu­                  nien in der deutschen Geschichte an. Nicht zu
gleich hatte diese exkludierenden Charakter, in­               Unrecht wird dieses Jubiläum als der „Beginn
dem sie Feindbilder generierte. Bestes Beispiel                deutsch-deutscher Geschichtspolitik“ apostro­
hierfür sind die Erinnerungsfeiern an die Leip­                phiert – einer „asymmetrisch verflochtenen Pa­
ziger Völkerschlacht von 1813 im Vorfeld des
Ersten Weltkriegs, als unter anderem 1913 im
                                                               16 Vgl. Johannes Burkhardt, Die kriegstreibende Rolle histori-
Rahmen der Einweihung des Völkerschlacht­                      scher Jubiläen im Dreißigjährigen Krieg und im Ersten Weltkrieg,
denkmals sowohl das nationale Gemeinschafts­                   in: ders. (Hrsg.), Krieg und Frieden in der historischen Gedächt-
bewusstsein durch einen zahlreiche deutsche                    niskultur. Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer
Erinnerungsorte streifenden Sternlauf der deut­                Argumente und Jubiläen von der Antike bis in die Gegenwart,
                                                               München 2000, S. 91–102.
                                                               17 Jay Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great
15 Vgl. Simone Mergen, Monarchiejubiläen im 19. Jahrhundert.   War in European Cultural History, Cambridge 1995.
Die Entdeckung des historischen Jubiläums für den monarchi-    18 Vgl. Martin Sabrow, Jahrestag und Jubiläum in der Zeit­
schen Kult in Sachsen und Bayern, Leipzig 2005.                geschichte, in: ders. (Anm. 4), S. 9–24, hier S. 16 ff.

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