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70. Jahrgang, 33–34/2020, 10. August 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen Achim Landwehr Frank Bösch MAGIE DER NULL IM BANN DER JAHRESTAGE Winfried Müller ZUR KARRIERE EINER Elke Gryglewski ZEITKONSTRUKTION GEDENKEN AN DEN HOLOCAUST: Jacqueline Nießer ∙ Juliane Tomann RITUAL UND REFLEXION GESCHICHTE IN DER ÖFFENTLICHKEIT Hedwig Richter ANALYSIEREN ÜBER GEDENKTAGE UND DEMOKRATIE Markus Drüding EINE GELEGENHEIT ZUM HISTORISCHEN LERNEN? ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen APuZ 33–34/2020 ACHIM LANDWEHR FRANK BÖSCH MAGIE DER NULL IM BANN DER JAHRESTAGE Zuweilen darf man den Eindruck haben, die Die derzeit begangenen historischen Jubiläen Bewusstwerdung über das Historische findet verengen unser Geschichtsbewusstsein. Denn in wesentlich mittels Jubiläen statt. Warum geden kurzen Abständen erinnern ähnliche Jahrestage ken wir bestimmten Geschehnissen nicht dann, an heroische Aufbrüche, große Männer und wenn sie an der Zeit wären, sondern wenn sie tragische Gewalt. Nötig ist deshalb eine kreative im Kalender stehen? Erweiterung der Perspektiven. Seite 04–09 Seite 29–33 WINFRIED MÜLLER ELKE GRYGLEWSKI ZUR KARRIERE EINER ZEITKONSTRUKTION GEDENKEN AN DEN HOLOCAUST: Das historische Jubiläum hat seine eigene RITUAL UND REFLEXION Geschichte, die bis ins 16. Jahrhundert „Gedenken an den Holocaust“ hat viele zurückreicht. Seither gewähren Jubiläums Facetten. Wer wie wo warum wem gedenkt, situationen Einsichten in zeittypische Motive ist nicht nur anlässlich von Gedenktagen eine bei der Aktualisierung und Inszenierung der relevante Frage. Grundsätzlich kann Gedenken Vergangenheit. nicht ohne historisches Wissen um die Ereignisse Seite 10–16 stattfinden. Seite 34–39 JACQUELINE NIEẞ ER · JULIANE TOMANN GESCHICHTE IN DER ÖFFENTLICHKEIT HEDWIG RICHTER ANALYSIEREN ÜBER GEDENKTAGE UND DEMOKRATIE Will man Jahrestage nicht nur als historisches, Nationale Gedenktage werden häufig mit sondern als Gegenwartsphänomen verstehen, martialischer und heroischer Ästhetik gefeiert. eignen sich dafür Public History und Ange Demokratische Erinnerung führt diese Tradition wandte Geschichte. Was können diese Ansätze weiter, weil sie von der Annahme geprägt ist, zu einem vertieften Verständnis von Jubiläen Demokratiegeschichte sei eine Chronik von beitragen? Gewalt. Wie könnte es besser gehen? Seite 17–22 Seite 40–45 MARKUS DRÜDING EINE GELEGENHEIT ZUM HISTORISCHEN LERNEN? Gedenktage und Jubiläen können für die Schülerinnen und Schüler ein Gegenstand historischen Lernens sein, der zum Verständnis der gegenwärtigen Geschichtskultur beiträgt. Hierzu bedarf es einer Didaktisierung dieser Feiertage. Seite 23–28
EDITORIAL Jahrestage seien wie „Flächenbombardements“, schrieb der Politologe Ivan Krastev in dieser Zeitschrift anlässlich des 100. Jahrestages der Russischen Revolution. Ihnen entkommen weder die Geschichtswissenschaften noch die historisch-politische Bildung. In diesem Jahr haben wir mit Themenheften bereits der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz und des Kriegsendes sowie der Entstehung der Vereinten Nationen vor 75 Jahren gedacht und, etwas vorzeitig, den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit begangen. Wir nutzen auch weniger etablierte Jahrestage, zuletzt 5 Jahre „Wir schaffen das“ oder im vergangenen Jahr 70 Jahre Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“. Bei zwei Anlässen haben wir aus politisch-bildnerischen Überle gungen heraus das Jahr vor dem Jahr besprochen („Vorkrieg 1913“, „1967“). Kritik an der „Jubiläumitis“ (Marko Demantowsky), an „Zeitgeschichte als Jubiläumsreigen“ (Martin Sabrow) wird immer wieder geäußert. Ein Ausstieg aus dem Jahrestagskarussell scheint aber nur schwer möglich und ist, je nach Anlass, auch nicht wünschenswert. Denn Jahrestage versprechen planbare Öffentlichkeit für historisches Wissen und bieten, insbesondere als institutiona lisierte Gedenktage, Staat und Gesellschaft Gelegenheit, innezuhalten. Ob damit stets historischer Erkenntnisgewinn und eine gründliche Selbstbefragung einher gehen, mag hingegen bezweifelt werden. Um die unerwünschten Folgen einer „Jahrestagisierung“ abzumildern, gilt es, Routinen bis hin zur Erstarrung beim Begehen der immergleichen Gedenktage und Jubiläen vorzubeugen. So wird etwa vorgeschlagen, den Kanon der Jahrestage zu erweitern, um marginalisierter Geschichte Raum zu geben. Dass das auch jenseits von einzelnen Tagen möglich ist, zeigen etwa der Black History Month oder der Queer History Month, die in einigen Städten stattfinden. Schließlich lässt sich zu jeder Zeit, an jedem Tag, in jedem Monat oder Jahr, fragen, für welche aktuellen Debatten und Probleme sich ein ver tiefter Blick in die Geschichte lohnen könnte. Anne Seibring 03
APuZ 33–34/2020 ESSAY MAGIE DER NULL Zum Jubiläumsfetisch Achim Landwehr Wir schreiben das Jahr 2020. Zweimal die Zwei, delt es sich also um eine Glaubensform – um den zweimal die Null. Eine jubiläumsbegünstigende Glauben an eine „Geschichte“, die unter anderem Jahreszahl. Hübsche palindromische Daten lassen dadurch beglaubigt wird, markanter Daten ausgie sich daraus basteln, wie der 02. 02. 2020. Beliebt bei big zu gedenken, sobald sie ein Alter erreicht ha Hochzeitspaaren, die wissen, wie bedeutsam sol ben, dem unser numerisches System eine hinrei che merkfähigen Daten sind. Sie beugen nicht nur chende Anzahl an Nullen zugedacht hat. der Gefahr vor, den Tag der eigenen Vermählung zu Angesichts dieser Ehrfurchtsregel mag man vergessen, sondern transportieren auch die wenig ausrufen: Ausgerechnet die Null! Ausgerech subtile Botschaft, diesem Datum sei eine ganz be net diese das Nichts bezeichnende Ziffer! Die sondere Bedeutung eigen. Wir scheinen uns kaum ses Monstrum von einem Zeichen, das etwas be wehren zu können gegen diesen Eindruck, dass hin zeichnen soll, das nicht bezeichnet werden kann, ter bestimmten Zahlen und Zahlenkombinationen weil es gar nicht existiert. Ausgerechnet in die tiefere Bedeutungen stecken als die oberflächlich ses Nichts, dessen kreisrunde Form an einen alles sichtbaren. Ist es denn Zufall, wenn das Wort zählen verschlingenden Höllenschlund gemahnen kann, auch im Verb erzählen vorkommt? Erzählen diese wird so viel Bedeutung gelegt. Ziffern denn nicht von untergründigen Sinnebenen, Ohne die Null sähe unsere Welt fraglos an die sich auf den ersten Blick nicht offenbaren? ders aus, und wahrlich nicht nur in jubiläums Selbst für weniger mystisch Veranlagte scheint geschichtlicher Hinsicht. Es hat eine Weile ge außer Frage zu stehen, dass insbesondere im Zeit dauert, bis diese Zahl im europäischen Kontext verlauf runden Zahlen eine besondere Relevanz zu etabliert werden konnte. Die griechischen und la kommt. Insofern kann es auch nicht verwundern, teinischen Zahlensysteme kannten die Null nicht, wenn das metrische System in der Gedenkkultur ei und das Christentum hatte aus theologischen nen unübersehbaren Siegeszug absolviert hat. Alle Gründen erhebliche Probleme mit der Bezeich Vielfachen von 5 oder 10 sind dazu geeignet, als Ju nung des Nichts – vor allem mit einem Nichts, biläum herzuhalten. Diesen Umstand dürfen wir das trotz seines Nichts-Seins bezeichnet werden einerseits der physischen Ausstattung des Homo und durch sein Vorhandensein erhebliche Unter sapiens zuschreiben. Dass Menschen üblicherwei schiede machen konnte, zum Beispiel als Platz se über zwei Hände mit jeweils fünf Fingern verfü halter an Dezimalstellen.01 gen, verleiht den Zahlen 5 und 10 eine gewisse Na türlichkeit und selbstverständliche Evidenz. Daher SCHATTENGLEICHE ist selbst das 35-jährige Bestehen der Metzgerei um GEGENWÄRTIGKEIT die Ecke einen Bericht in den Lokalnachrichten wert. Aber als jubiläumstechnische Ehrfurchtsregel Also zweimal die Zwei und zweimal die ominöse kann gelten: je mehr Nullen, desto besser. 100 Jah Null. Mit dieser Jahreszahl verbindet sich unter re sind schon eine Respekt gebietende Zahl, weil sie anderem der 100. Jahrestag des Versailler Vertrags die Grenzen üblicher Zeitzeugenschaft überschrei (10. Januar 1920), der 75. Jahrestag der Befrei tet. 1000 Jahre sind eine Zeitspanne, die das eigene ung des Konzentrations- und Vernichtungsla Vorstellungsvermögen bereits überfordert und als gers Auschwitz (27. Januar 1945), der 75. Jahres Zahl so übermächtig wirkt, dass sie – zumindest in tag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa nerlich – das Knie beugen lässt. Bei der aktuell zu (8. Mai 1945), ebenso der 75. Jahrestag der Atom beobachtenden historischen Jubiläumskultur han bombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki 04
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen APuZ (6. und 9. August 1945) und der 30. Jahrestag der Farben zu tauchen – weil die Möglichkeit des eige Deutschen Einheit (3. Oktober 1990). Nicht zu nen Überlebens qua Gedenken immerhin gegeben letzt aufgrund des 75-jährigen Endes des Zwei ist. Stellvertretend wird dieses Fortdauern über ten Weltkrieges darf auch das Jahr 2020 als ein be die eigene Existenz hinaus immer dann vollzogen, sonderes Gedenkjahr gelten. Wie schon die Jahre wenn ein Jubiläum begangen wird. 2018 (100 Jahre Ende des Ersten Weltkrieges), Wie groß das sozialpsychologische Bedürf 2017 (500 Jahre Reformation), 2014 (100 Jahre nis nach einer zumindest partiellen Aufhebung Beginn des Ersten Weltkrieges) … der Zeit ist, ließe sich volkswirtschaftlich verhält Man kann die nicht ganz unberechtigte Fra nismäßig leicht berechnen, würde man all die Ar ge stellen, wie unser Verhältnis von (und zu) Ge beitszeit, Arbeitskraft und finanziellen Aufwen schichte und Vergangenheit aussähe, wenn es das dungen addieren, die jährlich aufgebracht werden, Jubiläum nicht gäbe. Anders formuliert: Man darf um sowohl die Gründung des Kleingärtnervereins zuweilen den Eindruck haben, die Bewusstwer im Jahr Soundso als auch das Bestehen staatlicher dung über das Historische findet wesentlich (oder Institutionen seit diversen Jahrzehnten feierlich zu gar schon ausschließlich?) mittels solcher Gedenk begehen. Ein Homo oeconomicus müsste sich un veranstaltungen statt. Es ist schon häufiger festge weigerlich die Frage stellen, ob wirtschaftliche Res stellt worden, dass unsere Geschichtskultur jubilä sourcen nicht effektiver genutzt werden könnten. umsfixiert ist.02 Aber woher rührt diese Fixierung, Das Bauchgefühl sagt jedoch, dass es nicht we diese Attraktion der runden Jahreszahl, die Magie niger, sondern eher mehr Gedenkveranstaltun der Null? Warum gedenken wir bestimmten Ge gen anlässlich runder Jahreszahlen gibt. Vielleicht schehnissen nicht dann, wenn sie an der Zeit wä konnten wir uns also immer noch nicht von den Be ren, sondern wenn sie im Kalender stehen? dürfnissen befreien (aber wäre es denn überhaupt Giacomo Leopardi, ein italienischer Schrift eine Befreiung?), die sich seit alttestamentarischen steller des frühen 19. Jahrhunderts, hielt in seiner Zeiten mit dem Jubeln verbinden: sich in der Zeit Aphorismensammlung fest, dass Jahrestage des zu orientieren und sich von der Zeit zu befreien. wegen so beliebt seien, weil sie die Illusion näh ren, „als kehrten jene Dinge, die unwiederbring EINE RHYTHMISIERTE lich für immer dahin sind, ins Leben zurück und „STUNDE NULL“ wären, zwar schattengleich, gegenwärtig; dies aber gibt uns unendlichen Trost, es verbannt den Das alttestamentarische Jubelfest lässt sich als Gedanken der Zerstörung, des Auslöschens, der eine Vergegenwärtigung begreifen. Das hebrä uns so sehr widerstrebt, und spiegelt die Gegen ische Wort jobel bedeutet Widder und verweist wart jener Dinge vor, die wir uns wirklich anwe auf die Praxis, nach dem Ablauf von sieben mal send wünschen oder deren wir doch aus besonde sieben Jahren, also in jedem 50. Jahr, ein Erlass rem Anlaß gerne gedenken.“03 jahr zu begehen. In einem Jobeljahr sollten alle Bestimmter Ereignisse zu gedenken, soll nicht zu ihren Sippen und ihrem Grundbesitz zurück nur Erinnerung bewahren, nicht nur dem Ver kehren, Sklaven sollten freigelassen, Äcker nicht gessen vorbeugen, soll dem alles verschlingenden bestellt und verpfändetes Land zurückgegeben Wandel nicht nur ein Schnippchen schlagen, son werden (3. Buch Mose 25, 8–55). Das Blasen des dern auch ein wenig dabei helfen, die eigene Ver Widderhorns, des Schofar, war das akustische Sig gänglichkeit wenn schon nicht zu verhindern, so nal für ein solches Erlassjahr: eine „Stunde Null“, doch zumindest abzumildern und in freundlichere um die Zeit von Neuem beginnen zu lassen.04 Etymologisch verband sich über die Jahr hunderte der hebräische jobel mit dem lateini 01 Vgl. Brian Rotman, Signifying Nothing. The Semiotics of Zero, Stanford 1996; Robert Kaplan, Die Geschichte der Null, schen iubilare zum inzwischen praktizierten Ju München–Zürich 20042. biläum. Die römische Papstkirche bezog sich auf 02 Vgl. etwa Marko Demantowsky, Vom Jubiläum zur Jubilä- das alttestamentarische Vorbild, als Papst Bonifa umitis, in: Public History Weekly 11/2014, https://public-history- tius VIII. das Jahr 1300 zu einem Heiligen Jahr weekly.degruyter.com/2-2014-11/vom-jubilaeum-zur-jubilaeumitis; Martin Sabrow, Zeitgeschichte als Jubiläumsreigen, in: Merkur 789/2015, S. 43–54. 04 Vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum, Jubiläum, in: Friedrich 03 Giacomo Leopardi, Das Gedankenbuch. Aufzeichnungen Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart–Weimar eines Skeptikers, hrsg. v. Hanno Helbling, München 1985, S. 21. 2007, Sp. 52–56. 05
APuZ 33–34/2020 erklärte, in dem für Rompilger ein vollständiger erinnert, dass (Schöpfungs-)Zeit vergeht, sondern Sündenablass zu erlangen war.05 Die Heiligen dass sich Geschichte ereignet. Das mag auch eine Jahre sollten zunächst nach mosaischem Vorbild Begründung dafür sein, weshalb das historische Ju und streng mathematischer Teilbarkeit zunächst biläum eine stetig wachsende Bedeutung erfährt: alle 100, dann alle 50 Jahre stattfinden. Schon im Anstatt der Tatsache zu gedenken, dass Zeit (durch 15. Jahrhundert wurde der Rhythmus auf 25 Jah den Schöpfer) für uns gemacht und gegeben wird, re verkürzt – und falls nötig, wurde auch mal ein feiern wir den Umstand, selbst unsere Zeit und un Heiliges zwischendurch und außer der Reihe ein sere Geschichte zu machen. Und wenn sich dies auf gefügt.06 Diese Praxis zeigt aber schon eine andere vorteilhafte Weise zu einem geldwerten Vorteil ver Ausrichtung an. Neben die Aufhebung der Zeit, arbeiten lässt, werden sich wohl nur notorische Ka die Vergebung der Sünden und die runde Zahl trat pitalismuskritiker beschweren. nun auch die Ökonomisierung der Aufmerksam Das Teilprojekt Historisierung war im Rah keit. Für das Papsttum und die Stadt Rom waren men des Metaprojekts Aufklärung einst dazu an (und sind bis heute) die Heiligen Jahre ein gu getreten, religiöse Antworten nach dem „Woher tes Geschäft. Glücklich kann sich daher ein Ort kommen wir?“ („Und wo gehen wir hin?“) durch schätzen, der eine Institution beherbergt, die die eine empirisch fundierte Alternative abzulösen. Stellvertretung Gottes auf Erden samt mono Anstatt in der Vertikalen nach Auskünften zu su polisierter Heilsgarantie für sich beansprucht. chen, sah man sich nun in der Horizontalen um. Schon sehr früh manifestiert sich in der Praxis Aber ähnlich wie im Rahmen des Gesamtvorha der Jubiläumsfeierlichkeiten eine Einsicht, für die bens namens Aufklärung war wohl auch in der man wahrlich keine Marketingabteilung benötigt: Unterabteilung Historisierung lange Zeit nicht Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut, und Jubilä aufgefallen, dass an die Stelle der Fetischisierung en können zu ihrer Steuerung wirksam beitragen. göttlicher Schöpfermacht nun die Fetischisierung Vergangenheitsbewirtschaftung entwickelt sich zu des Historischen trat. einem lukrativen Geschäftsmodell.07 Das gelang noch besser und noch umfänglicher, IDENTITÄTEN IN DER als sich das Jubiläum von der kalendarischen Zeit RÜCKKOPPLUNGSSCHLEIFE ablöste und an die historische Zeit anheftete.08 Auch hierfür sind die Heiligen Jahre der Papstkirche be Die neue Fetischisierung, wie sie sich in der Vereh deutsam. Denn weil die protestantischen Kirchen rung der Null manifestiert, scheint sich immer wei nicht wie der Papst von der Garantie des Heils und ter in die Höhe zu schrauben. Jubiläen kommen dem Ablassversprechen profitieren konnten, muss sich selbst schon zuvor, weil die wichtigen Veröf ten sie ihre eigene Tradition begründen und auf Ge fentlichungen, Bücher, Fernsehdokumentationen schichte setzen. Das Phänomen des neuzeitlichen und Ausstellungen inzwischen deutlich vor dem historischen Jubiläums ist daher wohl mit dem ers eigentlichen Jubiläum auf dem Markt sein müssen, ten Reformationsjubiläum im Jahr 1617 anzuset um in der allgemeinen Reizüberflutung noch wahr zen.09 Seither wird nicht einfach an die Tatsache genommen zu werden. Rückkopplungsschleifen stellen sich ein, wenn nicht nur – wie im Falle des Luther- oder korrekter: Reformationsjubiläums 05 Vgl. Arndt Brendecke, Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Frankfurt/M.– 2017 geschehen – ein Jubiläumsgeschehen auf sich New York 1999. selbst zurückblickt,10 sich also schon selbst histo 06 Vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum, Heiliges Jahr, in: Jaeger risiert, sondern wenn diese Selbsthistorisierung so (Anm. 4), Bd. 5, Sp. 312–316. weit reicht, dass eine Jubiläumsfeierlichkeit selbst 07 Exemplarisch: Ralph Bollmann, Luther. Ein Sommermärchen. schon wieder Jubiläen gebiert.11 Millionen Besucher, Milliarden Umsatz: Das Reformationsju- biläum wird ein Riesengeschäft. Und jeder will dabei sein, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28. 8. 2016, S. 23. 10 Vgl. Hartmut Lehmann, 500 Jahre Reformation. Neuer- 08 Vgl. Winfried Müller, Vom „papistischen Jubeljahr“ zum his- scheinungen aus Anlass des Jubiläums, in: Historische Zeitschrift torischen Jubiläum, in: Paul Münch (Hrsg.), Jubiläum, Jubiläum … 1/2018, S. 85–131; Matthias Pohlig, Jubiläumsliteratur? Zum Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005, Stand der Reformationsforschung im Jahr 2017, in: Zeitschrift für S. 29–44. Historische Forschung 2/2017, S. 213–274. 09 Vgl. Thomas Kaufmann, Reformationsgedenken in der 11 Vgl. Hartmut Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Frühen Neuzeit. Bemerkungen zum 16. bis 18. Jahrhundert, in: Göttingen 2012. Dieses Buch ist fünf Jahre vor dem Reformations- Zeitschrift für Theologie und Kirche 3/2010, S. 285–324. jubiläum erschienen. 06
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen APuZ Gedenktage und Jubiläen sind also in der die da auch vor? Wenn Jubiläen von Daten und Lage, in unsere linearen Zeitmodelle retardieren Zahlen und Nullen abhängen, sind sie dann nur de Schleifen einzubauen, die eigentlich mehr irri für bestimmte Wirs von Bedeutung? tieren müssten, als sie das tatsächlich tun. Unter An dieser unscheinbaren Formulierung, dass der Ägide einer sich selbst als weitgehend säkular, wir das Jahr 2020 schreiben, lässt sich ersehen, wie weitgehend rational und weitgehend ökonomisch falsch der Gedanke ist, historische Jubiläen hätten verstehenden Kultur müssten regelmäßig wieder etwas mit historischer Rückvergewisserung oder kehrende Besinnungen auf Geschehnisse eigent gar geschichtlicher Bewusstseinsbildung zu tun. lich als Fremdkörper wirken. In die vermeintlich Dem ist selbstredend nicht so. Es geht vielmehr – eindeutige, homogene, unidirektionale Bewegung neben den bereits genannten Punkten – wesentlich der Zeit, aus der Vergangenheit kommend und um gegenwartszentrierte Identitätsproduktion. sich in die Zukunft bewegend, werden zirkulä Solcherart werden traditionelle Geschichtsbilder re Abzweigungen eingelassen. Der Zeitpfeil wird weitergetragen. Denn die historische Jubiläums mit kreisförmigen Ornamenten garniert. kultur ist nicht nur personenfixiert, weshalb es ir Eine „moderne“ Auffassung von Zeit scheint gendwie immer noch große (weiße, tote) Männer solcherart durch ein „traditionelles“ Zeitver sind, die Geschichte machen. Zusätzlich wird über ständnis in Unruhe gebracht zu werden. Denn, Jubiläen weiterhin in einer national aufgeladenen so meinen wir zu wissen, während sich „moder Manier gesprochen, wenn diese Jubiläen immer ne“ Gesellschaften linear in eine offene Zukunft noch und immer wieder daraufhin befragt werden, hineinbegeben, drehen sich „traditionelle“ Ge was sie denn im Guten wie im Schlechten für die sellschaften zirkulär im Kreis des Immerglei ses Kollektiv bewirkt haben. chen. Diese Entgegensetzung ordnet sich ein in Wie bedeutsam Gedenkveranstaltungen für die Kategorisierung des französischen Ethnolo die kollektive Identitätsbildung sind, lässt sich gen Claude Lévi-Strauss, der von „kalten“ und an dem kriegstreibenden Potenzial ersehen, das „heißen“ Gesellschaften gesprochen hat, von ihnen eigen ist.13 Ein Beispiel unter vielen ist denjenigen, die auf Beständigkeit Wert legen, die Rede von Slobodan Milošević anlässlich der und denjenigen, die Neuerungen bevorzugen.12 600-Jahr-Feier der Schlacht auf dem Amselfeld Das Beispiel Jubiläum zeigt – wie viele andere am 28. Juni 1989 – ein bedeutsames Ventil für Phänomene auch –, dass häufig Mischformen den serbischen Nationalismus und den folgenden zu beobachten sind, die vielleicht gerade erst Ausbruch des Jugoslawien-Krieges. die Dynamik provozieren, die man ausschließ lich der „modernen“ Existenzweise zuzurech ALTERNATIVE JUBILÄEN? nen geneigt ist. Neben die Fixierung auf rhythmisiert wieder Nun scheint der Eindruck nahezuliegen, ich woll kehrende Ereignisse und die Ökonomisierung der te am (historischen) Jubiläum kein gutes Haar las Aufmerksamkeit treten noch weitere Probleme sen. Dem möchte ich widersprechen (und damit im Kontext einer ausgefeilten Jubiläumskultur. mir selbst). Ich habe nichts gegen Jubiläen. Ich Der erste Satz meines Textes lautet: „Wir habe nur etwas gegen die dominierende Praxis schreiben das Jahr 2020.“ Das sollte man sich viel des Jubilierens, gegen ihre vorherrschenden Cha leicht auf der sprichwörtlichen Zunge zergehen rakterzüge der Kommerzialisierung, Personali lassen. Nicht, weil es sich bei dieser trivialen Aus sierung, Nationalisierung und Ereignisfixierung. sage um eine irgendwie herausragende Formulie Die Gefahr, die mit repetitiven Gedenktagen rung handeln würde, sondern weil sie selbstent verbunden ist, liegt auf der Hand. Wiederholung larvend ist. Denn in der Tat: Wir schreiben. Da ist kann zu Übermüdung führen, im schlimmsten ein Wir, das (für sich) festlegt (also festschreibt), Fall gar zu Ablehnung. Nachdem ein Thema sei dass nach einer bestimmten Zähl- und Datier- und Erzählweise nun ein bestimmtes Jahr sei. Und die anderen „Wirs“? Und die anderen 13 Vgl. Johannes Burkhardt, Die kriegstreibende Rolle histori- scher Jubiläen im Dreißigjährigen Krieg und im Ersten Weltkrieg, Zähl- und Datier- und Erzählweisen? Kommen in: ders. (Hrsg.), Krieg und Frieden in der historischen Gedächt- niskultur. Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer 12 Vgl. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt/M. Argumente und Jubiläen von der Antike bis in die Gegenwart, 1973. München 2000, S. 91–102. 07
APuZ 33–34/2020 nen Neuigkeitswert verloren hat, besteht die aku Mittelpunkt rücken, die uns heute etwas lehren te Gefahr, dass es nur noch als Pflichtübung abge könnte und nicht einer rhythmisierten Rück leistet wird, aber damit ein Gedenken der Inhalte kopplungsschleife gehorcht. gerade nicht mehr stattfindet. Ich bin mir gänzlich darüber im Klaren, dass Die weltweit etablierte Gedenkkultur, mit all eine alternative Jubiläumskultur schon deswegen ihren Spezifika und regionalen Eigenheiten, steht spinnert erscheinen muss, weil sie sich schwerlich also vor einem echten aufmerksamkeitsökono verkaufen lässt – aber ich will wenigstens nicht mischen Dilemma: Einerseits ist es gelungen, be auf die Möglichkeit verzichten, mir das einen stimmte Themen und Ereignisse über den Weg der Moment lang vorzustellen. Jubiläen fest in der Öffentlichkeit zu verankern, Ein interessantes Beispiel ist ausgerechnet ihnen regelmäßige mediale Berichterstattung zu der Internet-Konzern Google, der auf der Start kommen zu lassen und damit nicht zu einem ereig seite seiner Suchmaschine ab und an sogenannte nisabhängigen, sondern regelmäßig wiederkehren Google-Doodles platziert. Zu bestimmten An den Thema zu machen. Andererseits birgt gerade lässen wird das Google-Logo verändert, um die die regelmäßig wiederkehrende Behandlung eines Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die nicht Gedenkthemas die Gefahr jeder Routinisierung, dem Gedenkkalender gehorchen, sondern der dass nämlich Aufmerksamkeit schwindet, sobald Dringlichkeit eines Themas. Am 26. Juni 2020 sie in den immer gleichen Abständen zu den im wurde beispielsweise des 78. Geburtstages von mer gleichen Gegenständen eingefordert wird. Olive Morris gedacht, einer 1979 verstorbe Daher lohnt es sich, die Frage zu stellen, ob Ge nen britischen Aktivistin gegen Rassismus. Am denktage tatsächlich der angemessene und beste 23. Juni gab es einen Doodle zum 141. Geburts Weg sind, um Aufmerksamkeit für einen bestimm tag von Hudā Schaʿrāwī, einer ägyptischen Femi tes (historisches) Thema zu erzeugen, oder ob nicht nistin und Pionierin der Frauenbewegung. Solche andere Wege versucht werden sollten. Und es lohnt Google-Doodles haben etwas für sich, nämlich sich die Frage, ob andere Wege überhaupt möglich das eindeutige Überraschungsmoment. Die Frage sind. Denn Gedenktage funktionieren gerade we drängt sich auf, wer ist das, dem da gedacht wird? gen der Magie der Null, gerade wegen ihrer Vorher So gänzlich ohne Nullen und ohne bereits vorge sehbarkeit, gerade aufgrund der Tatsache, dass der formtes Jubiläumswissen? Aussage „100 Jahre Wasauchimmer“ an sich schon ein Nachrichtenwert zukommt, ganz unabhängig EINE THEORETISCHE davon, was dieses Wasauchimmer ist. Der histori HERAUSFORDERUNG sche Sachbuchmarkt zeigt es ja in aller Deutlichkeit: Einen erheblichen Teil seiner Produktion verdankt Vielleicht lauert in solchen Formen doch noch die er genau dieser routinisierten Gedenkkultur. eine oder andere Möglichkeit für Jubiläen – auch Wie wäre es also, Jubiläen zu feiern, die tat wenn ich mir relativ wenig Illusionen mache bezüg sächlich zu einer gegenwärtigen Beschäftigung lich ihrer tatsächlichen Nutzung. Denn die Bewirt mit vergangenen Zuständen passen, die uns heu schaftung des seltenen Guts namens Aufmerksam te auch inhaltlich etwas zu sagen haben – und die keit ist dann doch anders ausgestaltet und richtet sich nicht darauf beschränken, ein historisches sich nicht nach theoretischen Wünschbarkeiten. Früher jubiläumsmäßig solange auszusaugen, bis Aber wenn es diese Aufmerksamkeitsökono nichts mehr davon übrigbleibt? mien nicht gäbe, dann, ja dann … – dann würden Ich will daher gar nicht übersehen, dass es historische Jubiläen sich nicht darin erschöpfen, durchaus andere Möglichkeiten gibt, mit Jubilä entweder in einem präsentischen Sinn die Ver en umzugehen. Sie könnten genutzt werden, um gangenheit zur Beschreibung oder gar zur Bestä Themen zu ventilieren, die ansonsten eher im tigung der Gegenwart zu degradieren oder in ei Hintergrund verkümmern würden. nem antiquarischen Sinn diese Vergangenheit in Man könnte sich von einer Fixierung auf die ihrem separierten Eigenleben belassen zu wollen. Null lösen und Jubiläen in den Mittelpunkt stel Dann ließe sich dem Irritationspotenzial hin len, die nicht der runden Zahl gehorchen, die aber reichend Raum geben, das auch historische Jubilä zeigen, welcherart unsere Gegenwart mit ver en entfalten können. Mit anderen Worten: Wir wis gangenen Zeiten verstrickt ist. Man könnte eine sen nie, welche Möglichkeiten und Wirklichkeiten Aufmerksamkeitsökonomie um Jubiläen in den in den Vergangenheiten noch schlummern, von de 08
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen APuZ nen wir heute noch gar nichts ahnen, die uns aber gen bedacht würden, die Ereignisse und deren Ju in absehbarer oder auch fernerer Zukunft durchaus biläen mit sich bringen, wenn man heute schon beschäftigen können. Dieses Irritationspotenzial bedächte, welche Jubiläen zukünftig mit Blick vergangener Zeiten für eine Gegenwart muss man auf heutige Entscheidungen begangen würden, aber auch zulassen können, nicht zuletzt, indem wenn man sich fragte, ob auch in anderen Län man an das Vergangene nicht nur Fragen stellt, de dern Jubiläen begangen werden, die ein bestimm ren Antworten schon längst feststehen, sondern in tes Wir des Feierns für wert erachten. (Schließlich dem man sich die Frage stellt, welche Fragen man hat jede gefeierte Schlacht nicht nur einen Sieger, denn in einer Vergangenheit gestellt hat. sondern auch einen Verlierer.) Doch genau das geschieht viel zu selten. His torische Jubiläen werden vornehmlich als Sprung CODA brett benutzt, um vermeintlich historisch in formiert in die Vergangenheit einzutauchen; sie Wir schreiben bald das Jahr 2021. Auch das eine werden zur passiven Folie, um der Vergangenheit durchaus jubiläumsbegünstigende Jahreszahl. Auch flugs etwas zuzuschreiben, das sich in unserem ei daraus lassen sich hübsche palindromische Daten genen Hier und Jetzt ganz gut ausmacht. Wie bei formen. Vor allem aber werden im kommenden anderen Fremdheitserfahrungen, so geht es auch Jahr die heute noch so bedeutsamen und nach Auf bei Jubiläen häufig um Anpassung an die gegebe merksamkeit heischenden Jubiläen schon unbedeu nen (gegenwärtigen) Verhältnisse, aber nicht um die tend geworden sein und Staub angelegt haben. Verunsicherung durch das Fremde (Vergangene). Bis siebenmal sieben Jahre ins Land gezo Mir würde es bereits genügen, die Möglich gen sind, die historische Erinnerung wiederbe keit der Irritation durch das historische Jubiläum lebt werden kann, die letzte Gedenkveranstal zu seinem Recht kommen zu lassen. Denn ent tung schon so lange her ist, dass sich nur noch gegen subkutaner Einschätzungen ist es weit we die Alten daran erinnern können und der Pro niger klar, was ein Jubiläum auch und gerade in zess von Erinnerung und Erneuerung wieder theoretischer Hinsicht sein könnte, als man ge von vorne beginnen darf. Das Widderhorn kann meinhin vermuten würde. wieder hervorgeholt und geblasen werden. Und Wie sieht es beispielsweise aus mit dem Ver auch diesmal wird – fraglos mit großer Berechti hältnis von Einmaligkeit und Regelmäßigkeit? Wie gung – betont werden, dass diesem wie auch im ist es möglich, ein jubiläumsartig gefeiertes Ereig mer zu bezeichnenden historischen Ereignis, das nis begreifen, bezeichnen und sogar einordnen zu nun nicht mehr nur 50, sondern bereits 100 Jah können, obwohl es sich doch um eine Einzigartig re zurückliegt, gänzlich neue Bedeutungen abge keit handeln soll? Oder wie sieht es aus mit dem wonnen werden können. Und auch diesmal wird, Verhältnis von Gegenwärtigkeit und Nachträg nicht minder berechtigt, betont werden, wie be lichkeit? Wie ist es möglich, ein historisches Er deutsam dieses vergangene Ereignis für das Ver eignis als Jubiläum zu feiern, dessen Sich-Ereignen ständnis der Gegenwart ist. Und auch diesmal immer nur dadurch zum Thema gemacht werden wird diese Bedeutsamkeit durch eine nicht nur kann, dass man es einer schriftlichen, bildlichen hinreichende, sondern sogar überschüssige An oder sonstwie zeichenförmigen Beschreibung zu zahl medialer Angebote befriedigt werden. Und führt – und zwar immer erst im Nachhinein? Aus auch wenn dieses Gedenken mit dem Hauch ei diesen und einigen anderen Schwierigkeiten, die ner Ahnung versehen sein mag, all das geschehe einem das Jubiläum eigentlich aufgibt, ließe sich zum ersten Mal, so wird man doch wissen kön durchaus Kapital schlagen, um dem Verhältnis der nen, dass alles schon einmal geschehen ist, und Zeiten auf den Grund zu gehen, um zu eruieren, nun alles wieder von vorne beginnt. wie wir mit anderen Zeiten umgehen wollen. Jubiläen hätten das Potenzial, zu einer Inver sion der Zeiten zu führen. Als Knotenpunkt, als Relativum ohne eigene Substanz, ist es dazu in ACHIM LANDWEHR der Lage, das Verhältnis von Vergangenheit, Ge ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit genwart, Zukunft nicht nur immer wieder auszu und Dekan der Philosophischen Fakultät an der tarieren, sondern beständig infrage zu stellen. Das Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. wäre möglich, wenn auch die anderen Verzeitun achim.landwehr@hhu.de 09
APuZ 33–34/2020 DAS HISTORISCHE JUBILÄUM Zur Karriere einer Zeitkonstruktion Winfried Müller Als das EU-Parlament 2019 mehrheitlich dafür schen Territorien ein Reformationsjubiläum aus, stimmte, 2021 letztmalig zweimal im Jahr eine dessen Beginn auf den 31. Oktober 1617 festgelegt Zeitumstellung vorzunehmen, war diese Debatte wurde. Es wurde also ein Jahrestag ins Zentrum über die Sommerzeit eines der eher seltenen Bei der Erinnerung gestellt und zugleich wurde dieser spiele dafür, dass „Zeit“ als eine von politischen mit der Hervorhebung der 100. Wiederkehr des Entscheidungen und gesellschaftlichem Konsens Beginns der Reformation jubiläumszyklisch ge abhängige Kategorie erkennbar wird. Gemeinhin taktet. 1617 war solch ein Jubiläum als Kulminati werden lebensweltliche Zeitkategorien eher als na onspunkt einer anniversarisch unterfütterten Er turwüchsig wahrgenommen. Tatsächlich aber be innerungskultur noch ein ziemliches Novum, das wegen wir uns in exakt vermessenen Zeiträumen, gleichzusetzen ist mit dem Durchbruch der mo in denen seit dem 19. Jahrhundert Standardzeiten dernen historischen Jubiläumskultur.04 eingeführt und mehrere Staaten zu Zeitzonen zu sammengefasst wurden.01 Das innerhalb der Zeit ENTWICKLUNGSPHASEN zonen gültige Maß der Stunde hat dabei eben DES HISTORISCHEN JUBILÄUMS so seine eigene Geschichte02 wie die heute gültige Jahreszählung „n. Chr.“ oder, in der säkularisier Genese von Jubiläumszyklus ten Variante, „nach unserer Zeitrechnung“. Und und Jubiläumsintervall was die Tageszählung betrifft, dauerte es relativ Betrachtet man die Geschichte des Jubiläums lange, bis sich die uns geläufige digitale, in Ziffern zyklus, so ist zunächst die Tiefenschicht des Alten ausgedrückte Datierung durchsetzte und damit in Testaments mit Levitikus 25, 8–55 und das auf sie der Regel vom christlichen Jahres- und Heiligen ben Sabbatzyklen, also nach 49 Jahren, folgende kalender abgeleitete Orientierungstage ablöste. 50. Jahr aufzurufen.05 In diesem sollte veräußerter Die moderne Datierung nach Jahr und Tag Grundbesitz an seine alten Eigner fallen, und wer ist allerdings die Voraussetzung dafür, dass his sich als Knecht verkauft hatte, durfte frei zu den torische Erzählungen in Zahlen übersetzt wer Seinen zurückkehren. Dieses Jubeljahr sollte den den können, mit denen Präzision und Faktizität Israeliten bewusst machen, dass sie und ihr Ei gleichermaßen signalisiert werden, und die dann gentum letztlich Jahwe selbst gehörten. Im christ wiederum eine eigene Suggestionskraft entfalten, lichen Mittelalter wurde diese Erlasspraxis des Narrative und Traditionen begründen. Ein promi Alten Testaments spirituell umgedeutet zur Ver nentes Beispiel hierfür ist der 31. Oktober 1517, gebung von Sünden beziehungsweise der Befrei der Tag also, an dem Luther seine Thesen ange ung des Menschen aus der Knechtschaft der Sün schlagen haben soll und der allgemein für den Be de. Die Praxis der Hervorhebung des 50. Jahres ginn der Reformation steht. Zwischenzeitlich be ging in der Wissenskultur des Mittelalters zwar stritten, wurde erst jüngst wieder versucht, den nicht ganz verloren, allerdings dominierte eine legendären Thesenanschlag erneut zu authentifi Auffassung, die das Jubiläum aus chronologischen zieren.03 Fakt bleibt allerdings, dass dieser in der Zusammenhängen und vordefinierten Zeitrastern protestantischen Erinnerungskultur des gesam herauslöste: „Immer dann, wenn dem Gläubigen ten 16. Jahrhunderts keine Rolle spielte. Die Ge die Vergebung seiner Sünden zuteilwerde, sei für burtsstunde des 31. Oktober als Reformationstag ihn ein Jubelfest.“06 Worauf es bei der Entstehung schlug erst 1617: Exakt 100 Jahre nach der Publi der modernen Jubiläumskultur also zunächst an kation der Thesen riefen die lutherischen und re kam, war die bewusste Engführung der zeitlich formierten Landeskirchen in zahlreichen deut frei flottierenden Ablasspraxis mit dem Zeit 10
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen APuZ zyklus des 50. Jahres. Diese Koordination erfolgte sonale Jubiläumskultur habe dann Impulse für im Jahr 1300 mit der Einführung des Heiligen Jah die Universitäten gegeben,07 die in der Tat eine, res durch Papst Bonifatius VIII.: An einem beson wenn nicht gar die entscheidende Institution für deren Ort, in Rom, wurde in jubiläumszyklischer die Entstehung des historischen Jubiläums waren. Form zunächst alle 100, bald alle 50 und schließ Für dessen Inkubationsphase dürfen wir freilich lich alle 25 Jahre ein Zeitabschnitt als Gnadenzeit noch nicht von Jubiläumsfeierlichkeiten großen für die Erteilung eines vollkommenen Ablasses Stils ausgehen, aber es häufen sich doch die ein hervorgehoben. Diese Taktung war die genuine Jahrhundert- und Jubiläumsbewusstsein belegen Leistung des päpstlichen Heiligen Jahres, des bis den Artefakte, etwa ein auf den 100. Jahrestag der heute im Italienischen so bezeichneten giubileo Universitätsgründung beziehungsweise -eröff universale. Allerdings handelte es sich bei diesem nung verweisendes Schmuckblatt in der Erfurter vom Papsttum verwalteten frommen Ereignis um Universitätsmatrikel 1492 oder ein 1520 gedruck kein historisches Jubiläum, vielmehr haben wir es tes Vorlesungsprogramm in Rostock, in dem das mit einem von geschichtlichen Ereignissen völlig 100. Jahr explizit als Jubiläumsjahr („anno cen unabhängigen Zeitraster zu tun, das seit 1475 an tesimo jubilaeo“) bezeichnet wurde.08 Für kei die Quartale eines Jahrhunderts gebunden war: nes dieser Beispiele sind offizielle Jubiläumsfeiern 1475, 1500, 1525 … 2000. nachweisbar, gleichwohl sind sie ein deutlicher Beleg dafür, dass im Übergang vom späten Mittel Inkubationsphase alter zur Frühen Neuzeit in den Universitäten die des historischen Jubiläums Idee reifte, den Jubiläumszyklus für die Struktu Worauf es im Hinblick auf die moderne Jubilä rierung der Eigengeschichte zu nutzen. umskultur ankam, war also die Lösung des Zy klus von den Jahrhundertquartalen und die Ver Take-off knüpfung mit historischen Ereignissen. Diese und Etablierung noch nicht systematisch erforschte Transformati Wenn zuletzt von der Inkubationsphase des histo on des Jubiläums zum historischen Jubiläum lässt rischen Jubiläums gesprochen wurde, so deshalb, sich zeitlich im späten 15. und frühen 16. Jahrhun weil erst später öffentliche Inszenierungen mit der dert verorten, wobei zuletzt in kirchenreforme Mobilisierung weiter Teilnehmerkreise, Festreden, rischen Kreisen des 15. Jahrhunderts begangene Festschriften und Dokumentationen hinzukamen. Personaljubiläen als Wurzel der modernen Jubi Vorreiter bei dieser Etablierung des modernen his läumskultur hervorgehoben wurden. Diese per torischen Jubiläums waren ausgangs des 16. Jahr hunderts die protestantischen Universitäten, die sich dabei dezidiert vom Heiligen Jahr und dem 01 Vgl. Gerald James Whitrow, Die Erfindung der Zeit, Ham- Ablasswesen der katholischen Kirche abgrenzten burg 1991. 02 Vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stun- und den Jubiläumszyklus konfessionell aufluden. de. Uhren und moderne Zeitrechnung, München 1992. Bei den frühen, durch Festakte belegbaren Uni 03 Vgl. Benjamin Hasselhorn/Mirko Gutjahr, Tatsache! Die versitätsjubiläen in Tübingen, Heidelberg, Witten Wahrheit über Luthers Thesenanschlag, Leipzig 2018. berg und Leipzig, wo 1578, 1587, 1602 und 1609 04 Im Überblick: Winfried Müller, Das historische Jubiläum. der 100. beziehungsweise der 200. Wiederkehr der Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion, in: ders. (Hrsg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenie- Universitätseröffnung gedacht wurde, polemisier rungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster ten die protestantischen Theologen in ihren Fest 2004, S. 1–75; Paul Münch (Hrsg.), Jubiläum, Jubiläum … Zur predigten und -reden nämlich einerseits scharf ge Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005; gen das „papistische Jubeljahr“ als Entstellung der Martin Sabrow (Hrsg.), Historische Jubiläen, o. O. [Leipzig] 2015; alttestamentlichen Tradition. Andererseits wurde Franz M. Eybl/Stephan Müller/Annegret Pelz (Hrsg.), Jubiläum. Literatur- und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Göttingen 2018. Zum nachfolgenden Phasenmodell vgl. Winfried Müller, 07 Vgl. Stefan Benz, Das personale Jubiläum. Zur Vorge- Das historische Jubiläum als Motor der Public History, in: West- schichte des institutionellen Jubiläums, in: Blätter für deutsche fälische Forschungen 2019, S. 55–67. Landesgeschichte 2016, S. 187–219. 05 Vgl. Bernhard Schimmelpfennig, Heiliges Jahr, in: Lexikon 08 Vgl. Wolfgang Eric Wagner, Die Erfindung des Universitäts- des Mittelalters, Bd. 4, Stuttgart 1999, Sp. 2024 f. jubiläums im späten Mittelalter, in: Martin Kintzinger/Wolfgang 06 Nikolaus Paulus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter. Eric Wagner/Marian Füssel (Hrsg.), Akademische Festkulturen Vom Ursprunge bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Bd. 2, vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Zwischen Inaugurationsfeier Darmstadt 2000² [1922/23], S. 34. und Fachschaftsparty, Basel 2019, S. 25–54. 11
APuZ 33–34/2020 die eigengeschichtliche Nutzung des Jubiläums Aneignung spielten ferner die Stadtjubiläen, de zyklus durch die protestantischen Universitäten ren Anfänge im ausgehenden 17. Jahrhundert lie als eine im Geiste christlicher Erneuerung vollzo gen; im erzgebirgischen Annaberg wurde bereits gene Jubelfeier deklariert. Diese Aneignungsstra 1697 der Stadtgründung gedacht.12 Die große Zeit tegie war die entscheidende Weichenstellung da der bürgerlichen Jubiläumsinszenierungen wurde für, dass die protestantischen Landeskirchen 1617 gleichwohl erst das 19. Jahrhundert, als Dienst-, mit dem ersten Reformationsjubiläum09 die sta Amts- oder Firmenjubiläen13 zu Taktgebern der bilisierende und identitätsstiftende Kraft histo privaten und öffentlichen Festkultur wurden. rischer Erinnerungsfeiern für sich nutzten. Die Dieser Jubiläumsboom ist zum einen vor dem ses wesentlich von Sachsen angestoßene und auf Hintergrund einer deutlichen Intensivierung von eine reichsweite Öffentlichkeit abzielende jubilä Zeiterfahrung und -wahrnehmung zu sehen. Fes umszyklische Reformationsgedenken blieb dann te Dienstzeiten, die sich bei Beamten bis heute wiederum für die katholische Erinnerungskultur im Jubiläumsdienstalter niederschlagen, der Aus nicht folgenlos. Die katholische Partei polemisier bau der öffentlichen Verwaltung mit der präzi te zunächst zwar gegen die evangelischen „Pseu sen Dokumentation von Geburts- und Sterbe dojubiläen“ und beharrte damit auf der exklusiven tag, von Schuleintritt und Eheschließung – dies Verbindung von Jubiläumszyklus und Heiligem alles präzisierte die Lebenszeit in einem bislang Jahr. Diese Haltung wurde allerdings bereits nach nicht gekannten Ausmaß und arbeitete einem wenigen Jahrzehnten von der Doppelstrategie an messbaren Zeitintervallen orientierten Ge überwunden, einerseits am Heiligen Jahr festzu schichtsdenken zu. Zum anderen ist der Jubilä halten, andererseits den Jubiläumszyklus auch für umsboom des 19. Jahrhunderts aber auch auf die Eigengeschichte katholischer Institutionen die gewaltigen politischen Umbrüche der soge einzusetzen. Voran ging hier der Jesuitenorden, nannten Sattelzeit um 1800 zurückzuführen. Die der 1639/40 den 100. Jahrestag seiner Bestätigung Französische Revolution und das Ende des Alten durch den Papst feierte. Nachdem die Speerspitze Reiches wurden vielfach als massiver Traditions der katholischen Reform das Eis gebrochen hat verlust empfunden, und nicht zuletzt durch den te, zogen auch die Klöster, Bistümer und nicht zu jubiläumszyklischen Rekurs auf die Vergangen letzt die Universitäten der Germania sacra mit ei heit sollte jene Treue zu den Institutionen wieder genen Jubiläumsfeiern nach.10 hergestellt werden, deren Auflösung Aufklärung und Revolution angelastet wurde. Pluralisierung Vor diesem Hintergrund setzte sich der zu und Affirmation Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Säkulari Dieser Take-off der historischen Jubiläumskultur sation und das Ende der Reichskirche zunächst war zunächst zwar vor allem von den Universitä in die Defensive gedrängte Katholizismus über ten und den Kirchen geprägt, aber schon seit dem Bistumsjubiläen oder die Entdeckung von Win 17. Jahrhundert kündigte sich eine Pluralisierung fried Bonifatius als Apostel der Deutschen wir der Inszenierungshoheit an. Das wohl früheste kungsvoll in Szene. Parallel dazu erreichte im Beispiel hierfür ist das an den 200. Jahrestag der Protestantismus die Memoria Lutheri eine neue Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Let Dimension, etwa durch die Musealisierung Wit tern erinnernde Leipziger Buchdruckerjubiläum tenbergs14 und durch unzählige Denkmalsetzun von 1640, mit dem erstmals eine bürgerliche Be gen mit dem 1868 enthüllten Wormser Luther rufsgruppe ein historisches Jubiläum veranstal denkmal als Kulminationspunkt. Zu den Kirchen tete.11 Eine wichtige Rolle bei der bürgerlichen gesellte sich im 19. Jahrhundert schließlich noch 09 Vgl. Wolfgang Flügel, Konfession und Jubiläum. Zur 12 Vgl. Ulrich Rosseaux/Wolfgang Flügel/Veit Damm (Hrsg.), Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen Zeitrhythmen und performative Akte in der städtischen Erinne- 1617–1830, Leipzig 2005. rungs- und Repräsentationskultur zwischen Früher Neuzeit und 10 Vgl. Astrid Schwerhoff, Jubeljahre und Freudenfeiern. Studi- Gegenwart, Dresden 2005. en zum katholischen Jubiläum in der Frühen Neuzeit, Dissertati- 13 Vgl. Veit Damm, Selbstrepräsentation und Imagebildung. on, Technische Universität Dresden 2020. Jubiläumsinszenierungen deutscher Banken und Versicherungen 11 Vgl. Monika Estermann, „O werthe Druckerkunst/Du Mutter im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Leipzig 2007. aller Kunst“. Gutenbergfeiern im Laufe der Jahrhunderte, Mainz 14 Vgl. Stefan Laube/Karl-Heinz Fix (Hrsg.), Lutherinszenierung 1999. und Reformationserinnerung, Leipzig 2002. 12
Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen APuZ die Traditionsmacht der Monarchie, die den in schen Turnerschaft verstärkt als auch die „Erb stitutionellen Mechanismus des historischen Ju feindschaft“ gegenüber Frankreich reaktualisiert biläums für sich entdeckte. Nachdem sie mit der wurde. Mit Blick auf diese Überhitzung der Er Französischen Revolution zur Disposition ge innerungsgemeinschaft wurde von einer nachge stellt worden war, hatte sie nun aufs Neue ihre rade kriegstreibenden Rolle historischer Jubiläen Legitimität und Funktionalität unter Beweis zu gesprochen.16 Der Erste Weltkrieg als „Urkata stellen. Zugleich mussten nach dem Ende des Al strophe des 20. Jahrhunderts“ leitete aber auch ten Reiches innerhalb neu formierter Staatsgebie eine Transformation der Erinnerungskultur ein, te verschiedene regionale und konfessionelle Kul indem die „Sites of Mourning“17 in den Vorder turen integriert werden. Vor diesem Hintergrund grund gerückt wurden. Diese Entwicklung setzte veranstalteten die deutschen Fürstenhäuser im sich dann vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg mer häufiger historische Jubiläumsfeiern, um in und dem Holocaust fort. Das historische Jubilä der Bevölkerung monarchisches Bewusstsein und um konnte nicht mehr in der gewohnten Weise Landesidentität gleichermaßen zu verankern: Re inszeniert werden. Nach dem nationalsozialisti gierungs- und Ehejubiläen von Monarchen sind schen Zivilisationsbruch ging es vielmehr um die hier ebenso zu nennen wie die großen, 1880 be Betonung des Neuanfangs, der mit der Formel ziehungsweise 1889 von den Häusern Wittels von der „Stunde Null“ auf den Punkt gebracht bach und Wettin in Bayern und Sachsen veran wurde. Dem auf ein Kontinuum des Erinnerns stalteten Dynastiejubiläen.15 Diese monarchische angewiesenen historischen Jubiläum schien da Jubiläumskultur des 19. Jahrhunderts war in mit die Basis entzogen. Freilich: Die Vergangen Deutschland einerseits einzelstaatlich-föderativ. heit ließ sich nicht abschalten, und der instituti Gleichzeitig gab es aber auch eine auf den Pro onelle Mechanismus des historischen Jubiläums zess der Nationsbildung verweisende Jubiläums wurde auch in der Nachkriegszeit unvermindert kultur, die sich in erster Linie mit den Symbolfi ausgelöst.18 Allerdings wurde dabei nun gerade guren der Kulturnation, ihren Erfindern, Malern, der Bruch mit alten Geschichtsbildern zum The Dichtern und Denkern verband – Johannes Gu ma – in der Absicht, neue Identität zu stiften und tenberg, Albrecht Dürer, bald dann auch Goethe neue Kontinuitäten zu erschließen. Im Zuge die und Schiller; die 1859 deutschlandweit stattfin ser Neukartierung der deutschen Geschichte sah denden Feiern zu Schillers 100. Geburtstag waren man 1948 beispielsweise den in der Vergangen eine der größten Jubiläumsveranstaltungen des heit negativ konnotierten und unter den Vor 19. Jahrhunderts. zeichen übersteigerter Frankophobie erinnerten Westfälischen Frieden von 1648 in neuem Lichte Erweiterungen: Jubiläumszyklisches als positives Ergebnis einer internationalen Kon Mahnen und Gedenken fliktbewältigungsstrategie. Vor allem aber bot Wenn die Leistungen und Verdienste der Dynas sich 1948 in beiden sich formierenden deutschen tien und der „großen Söhne“ des Vaterlandes ju Teilstaaten die bislang nicht als jubiläumswür biläumszyklisch inszeniert wurden, so verweist dig empfundene 1848er Revolution für die Ela das auf die grundsätzlich affirmative Qualität borierung neuer, demokratischer Kontinuitätsli der Jubiläumskultur des 19. Jahrhunderts. Zu nien in der deutschen Geschichte an. Nicht zu gleich hatte diese exkludierenden Charakter, in Unrecht wird dieses Jubiläum als der „Beginn dem sie Feindbilder generierte. Bestes Beispiel deutsch-deutscher Geschichtspolitik“ apostro hierfür sind die Erinnerungsfeiern an die Leip phiert – einer „asymmetrisch verflochtenen Pa ziger Völkerschlacht von 1813 im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, als unter anderem 1913 im 16 Vgl. Johannes Burkhardt, Die kriegstreibende Rolle histori- Rahmen der Einweihung des Völkerschlacht scher Jubiläen im Dreißigjährigen Krieg und im Ersten Weltkrieg, denkmals sowohl das nationale Gemeinschafts in: ders. (Hrsg.), Krieg und Frieden in der historischen Gedächt- bewusstsein durch einen zahlreiche deutsche niskultur. Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer Erinnerungsorte streifenden Sternlauf der deut Argumente und Jubiläen von der Antike bis in die Gegenwart, München 2000, S. 91–102. 17 Jay Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great 15 Vgl. Simone Mergen, Monarchiejubiläen im 19. Jahrhundert. War in European Cultural History, Cambridge 1995. Die Entdeckung des historischen Jubiläums für den monarchi- 18 Vgl. Martin Sabrow, Jahrestag und Jubiläum in der Zeit schen Kult in Sachsen und Bayern, Leipzig 2005. geschichte, in: ders. (Anm. 4), S. 9–24, hier S. 16 ff. 13
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