Ausgabe Mai 2022 FORUM FRIEDENSETHIK in der Evangelischen Landeskirche in Baden - Ekiba

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Ausgabe Mai 2022 FORUM FRIEDENSETHIK in der Evangelischen Landeskirche in Baden - Ekiba
FFE                                                       Rundbrief 1/2022
                                                               Ausgabe Mai 2022
      FORUM FRIEDENSETHIK in der Evangelischen Landeskirche in Baden
                  FFE-Rundbrief (Print) ISSN 2198-6878            FFE-Rundbrief (Online) ISSN 2198-6886
      Leitungskreis: Christiane Drape-Müller, Dr. Dirk-M. Harmsen, Manfred Jeub, Felix Klinger, Peter-Michael Kuhn,
                     Johannes Maier, Helga Schmidt, Jürgen Stude, Dr. Wilhelm Wille

Editorial von Manfred Jeub
                                                                 Vaterland werden via ukrainischen Nationalismus
Dieser Rundbrief dokumentiert die Beiträge auf dem
                                                                 wieder hoffähig.
letzten Studientag, der im Jahr 2021 endlich wieder als
Präsenzveranstaltung stattfinden konnte. Und doch                Im kirchlichen Raum ist das Bild nicht besser. Auch
wirkt es wie aus einer anderen Zeit, wenn man seinen             hier wurde ein Zerrbild des Pazifismus aufgebaut, um
Titel heute liest: „Für eine neue Verständigung mit              sich dagegen mit Zynismus-Vorwürfen moralisch in
Russland“. Unser Anliegen ist von einer schrecklichen            Szene zu setzen. Amtskirchliche Erklärungen
Wirklichkeit, dem russischen Angriff auf die Ukraine             schwenkten von anfänglichem Sich-bedeckt-Halten
und den Folgen, überholt worden. Nein, auch wir ha-              bald in den politischen Mainstream ein, und Personen
ben mit diesem Krieg nicht gerechnet, aber wir haben,            in Leitungsämtern beeilten sich, Verständnis für Waf-
als dieses Thema – durch Corona dann aufgehalten –               fenlieferungen an die Ukraine zu bekunden. Militärde-
vor drei Jahren gewählt wurde, gefährliche Entwick-              kane waren wieder gefragt und tischten ihren Retro-
lungen im Verhältnis zwischen Russland und dem                   Cocktail aus Zwei-Reiche-Lehre und unerlöster Welt
Westen gesehen. Vielleicht ist der Beitrag von Vladis-           auf und auch in der akademischen Theologie konnten
lav Belov, dem Leiter des Zentrums für Deutschland-              die Bellizisten jetzt endlich laut sagen, was sie vom
forschungen am Europa Institut der Russischen Aka-               Ansatz des gerechten Friedens immer schon gehalten
demie der Wissenschaften, der gewiss nicht unautori-             hatten: Ponyhof-Theologie!
siert sprach, gar von dokumentarischem Wert.
                                                                 Dieses veränderte Klima hat uns veranlasst, für den
Elemente aus der Analyse der Konfliktursachen, die               Studientag 2022 eine kleine Änderung des Formats zu
auf dem Studientag geleistet wurde, sind in eine FFE-            wagen und den Akzent von der Vortagsveranstaltung
Erklärung zum Ukrainekrieg eingegangen, die auf der              auf eine Konsultation von Friedensorganisationen un-
Mitgliederversammlung am 24.3.2022 verabschiedet                 tereinander zu verschieben (s. Einladung auf S. 3)
wurde. Sie hat in der Flut der Stellungnahmen ihr ei-
genes Profil und bereits ein Echo bis hin zur Überset-           Beim Thema Israel-Palästina, dem sich noch im Vor-
zung ins Spanische.                                              feld der Weltversammlung der nächste Rundbrief
                                                                 zentral widmen soll, sah sich der Leitungskreis zu den
Durch den von Russland gegen die Ukraine entfessel-              beiden abgedruckten Pressemitteilungen wegen der
ten Krieg und die Reaktion darauf in unserem Land ist            einseitigen Berichterstattung in den Medien aktuell
Friedensengagement insgesamt empfindlich zurück-                 veranlasst.
geworfen und in die Defensive gedrängt worden. Bun-
deskanzler Scholz hat am 27.2.2022 unter Standing                Last not least die Bekanntgabe eines Ereignisses, das
Ovation im Bundestag einen politischen Kurswechsel               m. E. keinesfalls Privatsache ist, auch wenn es eine
(„Zeitenwende“) verkündet, der mit der deutschen Zu-             Person betrifft: Am 18. März wurde dem FFE-
rückhaltung im Militärischen endgültig bricht und eine           Gründungs- und Leitungskreismitglied Dirk Harmsen
gigantische Aufrüstung vorsieht. Orchestriert wird das           in Anwesenheit vieler Friedensfreunde in Karlsruhe
von Medien, die in einen Propagandamodus geschaltet              das Bundesverdienstkreuz verliehen. Mit dem Glück-
haben, gerade so, als führte unser Land bereits selbst           wunsch an ihn sei die Hoffnung verbunden, dass die
Krieg. Pazifistische Haltungen werden verächtlich ge-            darin sich ausdrückende Wertschätzung des Friedens-
macht (Sascha Lobo im Spiegel: „deutscher Lumpen-                engagements in diesen Zeiten viele ermutigen möge.
pazifismus“) und die Ostermärsche als die „fünfte Ko-
lonne Moskaus“ diffamiert (A. Graf Lambsdorff). Auf
einmal ist ein Freund-Feind-Denken zurück wie zu
Hoch-Zeiten des Kalten Krieges und längst erledigt
geglaubte Begriffe wie Ehre, Heldentum und Tod fürs
Ausgabe Mai 2022 FORUM FRIEDENSETHIK in der Evangelischen Landeskirche in Baden - Ekiba
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Inhalt

    Editorial von Manfred Jeub .......................................................................................... 1
    Einladung zum FFE-Studientag 2022 Die Friedensbewegung und die
    „Zeitenwende“ .............................................................................................................. 3
    Dokumentation des FFE-Studientages 2021 .............................................................. 4
    Begrüßung und Einführung von Dr. Dirk-M. Harmsen ............................................. 4
    Willy Brandts Entspannungspolitik – einst gestaltet – heute verspielt – künftig
    überlebensnotwendig. von Albrecht Müller ................................................................. 5
    Rückfall in den Kalten Krieg? Wege und Irrwege der deutschen und europäischen
    Ostpolitik nach dem Ende der Sowjetunion von Gernot Erler ................................. 14
    Russisch-deutsche Beziehungen. Quo vadis nach den Parlamentswahlen im
    September 2021 in beiden Ländern? von Dr. Vladislav Belov.................................. 20
    Mitgliederversammlung des Forum Friedensethik am 6.11.2021 in Karlsruhe
    Protokollnotizen von Christiane Drape-Müller .......................................................... 31
    FFE-Erklärung zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine verabschiedet von der
    Mitgliederversammlung am 24. März 2022 ................................................................ 35
    FFE-Pressemitteilung: Zum Tod von Desmond Tutu (27.12.2021) ....................... 37
    FFE-Pressemitteilung: Zum jüngst veröffentlichten Amnesty International
    Dossier ISRAEL’S APARTHEID AGAINST PALESTINIANS und seiner
    Aufnahme in Deutschland (03.02.2022) ................................................................... 38
    Ein Leserbrief an Publik Forum von unserem Leitungskreismitglied Peter Michael
    Kuhn, 15.2.2022 .......................................................................................................... 39
    Impressum .................................................................................................................. 40
Ausgabe Mai 2022 FORUM FRIEDENSETHIK in der Evangelischen Landeskirche in Baden - Ekiba
FFE                                                                                                           3

                    FFE                   FORUM FRIEDENSETHIK
                                          in der Evangelischen Landeskirche in Baden

                         Einladung zum FFE-Studientag 2022
            Die Friedensbewegung und die „Zeitenwende“

Das Klima für Friedensarbeit in unserem Land ist rauer geworden. Dem möchte der Studientag Rechnung tragen
durch ein etwas anderes Format, das den Akzent vom Vortrag auf die Beratung untereinander verschiebt. Nach
einem Eröffnungsreferat werden drei Podiumsgespräche stattfinden. Dazu haben wir über 20 Friedensorganisatio-
nen eingeladen, Vertreter zu entsenden. In Kleingruppen werden die Impulse aufgenommen.

Termin:              Samstag, 5. November 2021, 10.30 – 17.30 Uhr
Ort:                 Albert-Schweitzer-Saal an der Christus-Kirche in Karlsruhe,
                     Reinhold-Frank-Straße 48a (beim Mühlburger Tor)
Anfahrt              Straßenbahn vom Hauptbahnhof Vorplatz, Bahnsteig C mit der
                     Linie 3 (Richtung Rappenwört) ab 09:56, an 10:07 Uhr Haltestelle Mühlburger Tor,
                     Linie 3 (Richtung Daxlanden) ab 10:06, an 10:17 Uhr Haltestelle Mühlburger Tor,
                     Linie 2 (Richtung Knielingen-Nord) ab 10:07, an 10:22 Uhr Haltestelle Mühlburger Tor
Tagungsbeitrag:      20,00 EUR inkl. Mittagessen und Getränke
Anmeldung:           möglichst bald, spätestens 23. Oktober 2022, bei Dr. Dirk-M. Harmsen,
                     E-Mail: dmharm@web.de, Tel.: 0721-685289, Fax: 03212-1046739
Programm:

10.30 – 10.45        Eröffnung und Begrüßung Dr. Dirk-M. Harmsen

10.45 – 11.30        Pazifismus mit offenen Augen
                     Impulsvortrag von Prof. Dr. Olaf Müller, Humboldt-Universität Berlin

11.30 – 12.15        Podium 1
                     Friedensbewegung und Pazifismus. Was sind unsere Motive und ethischen Grundla-
                     gen?

12.15 – 13.00        Kleingruppenarbeit

13.00 – 14.00        Mittagessen

14.00 – 15.00        Podium 2
                     Rollback, Freund-Feind-Denken, Militarisierung. Wie analysieren und beurteilen wir
                     die politische Entwicklung
15:00 – 15:15        Kaffeepause
15.15 – 16.00        Kleingruppenarbeit
16.00 – 17:30        Podium 3
                     Welche Herausforderungen und Perspektiven sehen wir für unser Friedensengage-
                     ment?
17.30                Verabschiedung – Raum für Verabredungen

                                                          Veranstalter:
                   Forum Friedensethik (FFE) in der Evangelischen Landeskirche in Baden, in Kooperation mit
                              Arbeitsstelle Frieden im Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe,
                              Bezirksstelle für Evangelische Erwachsenenbildung (eeb) Karlsruhe,
                                      pax christi Diözesanverband im Erzbistum Freiburg
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Dokumentation des FFE-Studientages 2021
Begrüßung und Einführung von Dr. Dirk-M. Harmsen

Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zu unserem
Studientag, der sich dem Thema widmet „Für                 des NATO-Russland-Rats vom Mai 2002 abge-
eine neue Verständigung mit Russland“. An-                 schlossen und (zunächst) beendet.
wesend sind nicht nur Mitglieder des FFE, son-             Wie wurde weiter eskaliert? Kurz vor Beginn der
dern viele Gäste, die am Thema interessiert sind.
                                                           jüngsten NATO-Konferenz der Verteidigungsmi-
Gerade diesen gilt mein besonderer Gruß. Sie               nister am 21. Und 22. Oktober 2021 hat die deut-
werden gleich merken, weshalb.                             sche Noch-Verteidigungsministerin in einem In-
Zunächst jedoch möchte ich mit Ihnen allen ei-             terview des Deutschlandfunks1 auf folgende
nige sorgenvolle Gedanken teilen.                          Frage geantwortet:

Das Thema dieses Studientags wollten wir be-               Frage: „Die Agentur Reuters berichtet heute
reits im vergangenen Jahr diskutieren, allerdings          Früh, dass die NATO über regionale Abschre-
hat uns die Pandemie einen Strich durch alle un-           ckungsszenarien für die baltische und auch die
sere Vorbereitungen gemacht: Wir mussten in                Schwarzmeer-Region nachdenke, auch möglich-
Quarantäne und die Veranstaltung absagen.                  erweise im Luftraum mit Nuklearwaffen. Ist das
                                                           der Weg der NATO?
Seit Beginn dieses Jahrtausends können wir eine
stetige Verschlechterung der Beziehungen zwi-              Kramp-Karrenbauer: Das ist der Weg der Ab-
schen den sogenannten westlichen Staaten und               schreckung. Wir müssen Russland gegenüber
der Russischen Föderation beobachten. Wir stre-            sehr deutlich machen, dass wir am Ende – und
ben einem Tiefpunkt der diplomatischen Bezie-              das ist ja auch die Abschreckungsdoktrin – bereit
hungen zu, der uns alle vermutlich mit zuneh-              sind, auch solche Mittel einzusetzen, damit es
mender Sorge erfüllt.                                      vorher abschreckend wirkt und niemand auf die
                                                           Idee kommt, etwa die Räume über dem Baltikum
Die NATO hat Anfang Oktober 2021 acht russi-               oder im Schwarzmeer NATO-Partner anzugrei-
schen Diplomaten ihre Akkreditierung entzogen,             fen.
weil sie als Mitglieder der russischen Vertretung
bei der NATO auch für den Geheimdienst gear-               Das ist der Kerngedanke der NATO, dieses
beitet haben sollen. (Als ob Militärattachés und           Bündnisses, und das wird angepasst auf das ak-
ihre Mitarbeiter, egal ob vom Osten oder vom               tuelle Verhalten Russlands. Wir sehen insbeson-
Westen, nicht alle Spione sind). Beschlossen               dere Verletzungen des Luftraums über den balti-
wurde zudem, die Maximalgröße der russischen               schen Staaten, aber auch zunehmende Übergrif-
Mission zu reduzieren. Statt 20 dürften künftig nur        figkeiten rund um das Schwarze Meer.“
noch zehn Personen akkreditiert sein.                      Kaum zu glauben: unsere Verteidigungsministe-
Als Reaktion hierauf hat Russland ab Anfang No-            rin droht mit dem Einsatz von Kernwaffen, wie sie
vember die Arbeit seiner ständigen Vertretung              in Büchel auf dem deutschen Luftwaffen-Flieger-
bei der NATO in Brüssel eingestellt. Auch die Ar-          horst in der Eifel lagern, von US-amerikanischen
beit des NATO-Informationsbüros in Moskau                  Soldaten bewacht werden und im Ernstfall von
wurde beendet. Zudem darf die NATO-                        deutschen Kampfflugzeugen in die von den USA
Militärmission in Moskau nicht weiterarbeiten.             festgelegten Ziele geflogen werden sollen.
Zum 1. November wurde ihren Mitarbeitern die               So, und jetzt kommt, weshalb ich unsere Gäste
Akkreditierungen entzogen.                                 bitte, aufmerksam zuzuhören. Wir wissen, dass
Damit ist ein Kapitel gegenseitiger Vertrauensbil-         es einige Städtepartnerschaften zwischen
dung zwischen West und Ost durch Gründung                  Deutschland und Russland gibt. Diese

1
    Vgl. Kramp-Karrenbauer (CDU): „Russland ist eine
    große Herausforderung geworden“ https://www.deutsch-
    landfunk.de/nato-strategie-kramp-karrenbauer-cdu-
    russland-ist-eine.694.de.html?dram:article_id=504531
Ausgabe Mai 2022 FORUM FRIEDENSETHIK in der Evangelischen Landeskirche in Baden - Ekiba
FFE                                                                                                    5

zivilgesellschaftlichen Organisationen haben wir         interessantes und sehr wichtiges Thema, das al-
über diese Tagung informiert und sie eingeladen.         lerdings komplett in den Bereich des Bundes-
Und Sie haben unsere Einladung angenommen.               oder gar NATO-Angelegenheiten fällt. Auf kom-
                                                         munaler Ebene Einfluss auf die große Politik zu
Der Zufall ließ eine Delegation aus Karlsruhe            nehmen, ist nur am Rande und in Nuancen sinn-
Ende September zur Partnerstadt Krasnodar fah-           voll und möglich. Es bleibt deshalb fraglich, ob die
ren zur Pflege der Städtepartnerschaft, die seit         Thematik bei einem Austausch mit der russi-
29 Jahren aktiv ist. In der StadtZeitung Karlsruhe       schen Partnerstadt angesprochen werden kann.
erschien am 1. Oktober 2021 ein Bericht des De-          Einzelne Aspekte könnten eventuell bei geeigne-
legationsleiters, Stadtrat Aljoscha Löffler, dem ich     ter Gelegenheit im Kontext ausgetauscht wer-
am 4. Oktober eine Mail schrieb mit folgendem            den.“ (Zitat Ende)
Inhalt: (Zitat) Das Forum Friedensethik (FFE) in
der Evangelischen Landeskirche in Baden hat              Zurück zu meinem Brief an Stadtrat Löffler. Wäre
maßgeblich an der Erstellung einer Studie mitge-         es denkbar, dass Sie, unsere Gäste, die im Rah-
arbeitet, die Szenarien entwickelt hat unter dem         men von Städtepartnerschaften mit verschiede-
Titel "Sicherheit neu denken. Von der militäri-          nen Städten in Russland Kontakt haben, Bot-
schen zur zivilen Sicherheitspolitik - Ein Szenario      schafter der deutschen Zivilgesellschaft werden
bis zum Jahr 2040". Die Studie wurde 2018 ab-            und Ihre russischen Gesprächspartner über die
geschlossen und als Buch und in Kurzfassung              deutsche „Initiative Sicherheit neu denken“ infor-
veröffentlicht. Inzwischen ist die Kurzfassung in        mieren und sie anregen, die entwickelten Szena-
mehrere Sprachen übersetzt worden: englisch,             rien auch in Russland bekannt zu machen und
französisch, niederländisch, russisch (die russi-        dadurch das zu realisieren, was die Botschafter
sche Kurzfassung hänge ich an. Sie könnten sie           unserer Regierungen nicht zustande bringen,
auch an Ihre Gesprächspartner*innen in Krasno-           nämlich Gespräche über eine Zivilisierung der Si-
dar senden und mitteilen, dass es hier in                cherheitspolitik zu beginnen? Eine neue Verstän-
Deutschland eine "Initiative Sicherheit neu den-         digung mit Russland. Wir, Mitglieder des FFE,
ken" gibt, die sich für die Verbreitung dieses frie-     helfen Ihnen gerne dabei. Sprechen Sie mich an,
denspolitischen Ansatzes einsetzt. Diese Initia-         meine Mail-Adresse steht auf dem Programm-
tive, in der ich auch mitarbeite, könnte beispiels-      Flyer, der Ihnen vorliegt. Soweit das Wort an un-
weise bei dem nächsten Treffen der Städtepart-           sere Gäste.
nerschaft die russischen Delegierten in diese Ge-
dankenwelt einführen). (Zitat Ende).                     Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Und jetzt geht es
                                                         zu den drei Vorträgen dieses Morgens.
Der für das Protokoll und für Städtepartnerschaf-
ten zuständige Verantwortliche in der Karlsruher
Stadtverwaltung schrieb mir mit Datum vom 29.
Oktober mit Betreff „Ihr Anliegen an Herrn Stadt-
rat Aljoscha Löffler leicht kritisch Folgendes: (Zi-
tat) „Sicher handelt es sich hier um ein

Willy Brandts Entspannungspolitik – einst gestaltet – heute ver-
spielt – künftig überlebensnotwendig. von Albrecht Müller
1950 hatte ich die Aufgabe übernommen, meinen da-        ältesten Sohn verloren. In Frankreich. Aber das hatte
mals 80-jährigen kranken Großvater täglich zu besu-      bei ihm nicht bewirkt, dem Krieg gegen unseren Nach-
chen und ihm ein stärkendes Getränk zuzubereiten. Er     barn abzuschwören.
war Bauer von Beruf und nie im Krieg, aber er war        Heute lebe ich 12 km von der französischen Grenze
kriegsbegeistert und zeigte mir deshalb stolz eine Il-   entfernt. Und wenn wir Deutschen nicht gerade wie im
lustrierte mit großen Bildern aus dem Siebziger-Krieg    vergangenen Jahr vom Wahn der Coronapolitik ge-
des vorletzten Jahrhunderts. Und er warb dafür, die      packt werden und die Grenzen zum Elsass schließen,
Deutschen sollten demnächst wieder in den Krieg zie-     dann leben wir friedlich und in vielem gemeinsam mit
hen. Gegen die Welschen, die Wackes, die Franzosen.      Elsässern und anderen Franzosen zusammen. Nie-
Im Ersten Weltkrieg hatte mein Großvater seinen          mand käme heute auf die Idee, 2 Prozent mehr für
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Rüstung und die atomare Teilhabe der Bundesrepublik
zu verlangen, um gegen Frankreich gut gerüstet zu
sein. Aber wir rüsten gegen den anderen großen Nach-
barn im Osten auf. Und unsere Noch-Verteidigungs-
ministerin begleitet diese Aufrüstung wie mein Groß-
vater vor 70 Jahren mit martialischen Worten. Man
müsse Russland den Einsatz militärischer Mittel an-
drohen – so Kramp-Karrenbauer in einem Interview
mit dem Deutschlandfunk am 21. Oktober.

Warum verstehen wir uns mit dem einen Volk und ge-
gen das andere rüsten wir auf und zeigen ihm zur Ab-
schreckung unser Waffenarsenal? Warum führen wir
überhaupt Kriege? Warum haben wir nicht beherzigt,
was gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und danach
von vielen wiederholt und uns Kindern quasi einge-
bläut worden war: Nie wieder Krieg!

Mein Heimatdorf liegt genau zwischen Mannheim und
Heilbronn, und auch zwischen Bruchsal und Pforz-
heim im Südwesten und Würzburg im Nordosten. Den
feuerroten Himmel über allen fünf brennenden Städten
habe ich als 6-Jähriger nachts gesehen. Unser Bahnhof    Mitten in der heißen Phase des Kalten Krieges, aus-
wurde bombardiert. Nachbarn starben. Und dann kam        gangs der Fünfzigerjahre, hatte der Regierende Bür-
das ganze Elend der Ausgebombten und der Flücht-         germeister von Berlin, Willy Brandt, einen kleinen
linge, der Kriegerwitwen, der Kriegswaisen und der       Kreis von Menschen um sich geschart, die vom Kalten
Kriegsheimkehrer: Anti-Kriegs-Lehrmaterial am lau-       Krieg und von der Politik der Stärke und Abschre-
fenden Band.                                             ckung wegwollten. Der spätere Chef des Bundeskanz-
                                                         leramtes, Horst Grabert, der zu diesem Kreis gehörte,
Nie wieder Krieg – auch der Politiker Gustav Heine-      hat mir später einmal davon erzählt.
mann und mit ihm ein paar andere Politiker wie zum
Beispiel Erhard Eppler hatten das beherzigt und grün-    Von den neuen Überlegungen berichteten Willy
deten Anfang der Fünfzigerjahre die Gesamtdeutsche       Brandt und sein Pressesprecher Egon Bahr im Som-
                                                         mer 1963 auf einer Tagung der Evangelischen Akade-
Volkspartei, die GVP. Sie wollten auf Wiederbewaff-
nung und den Beitritt zur NATO verzichten und dafür      mie in Tutzing. „Wandel durch Annäherung“ hieß die
                                                         Formel damals. Damit war gemeint, dass man im da-
die deutsche Einheit erreichen. Unrealistisch war das
nicht. Aber die Mehrheit der Deutschen war damals        maligen Westen eine Veränderung im Osten, also in
schon aufgehetzt gegen die Russen. Wir kennen das        der DDR, in der Sowjetunion, in Tschechien, in Polen,
                                                         in Ungarn usw. erreichen wollte und erwartete, wenn
CDU-Plakat vom Bundestagswahlkampf 1953 – mit
optisch perfekter Hetze, in der Tradition schon lange    die fanatische Konfrontation durch Zusammenarbeit
geübter Hetze gegen das Slawische.                       ersetzt würde.

                                                         Daraus wurde dann – zunächst vorsichtig beginnend
Das Plakat wurde später übrigens auch von der NPD
verwendet.                                               mit der Regierungsbeteiligung der SPD in der Großen
                                                         Koalition ab 1966 und im Streit mit dem damaligen
Die Propaganda wurde von Konservativen und ehema-        Bundeskanzler Kiesinger und der CDU/CSU – die
ligen Nazis freudig aufgegriffen. Sie verfing. Wir ge-   neue Ostpolitik. Das sollte heißen Verständigung,
hörten fortan zu den Guten und verachteten die Sla-      Versöhnung und dann Vertrags-, Entspannungs- und
wen, die Russen, und alles, was östlich von uns lag.     Friedenspolitik. Es ging nicht richtig voran in der da-
Die Propaganda war perfekt gemacht. Die GVP hatte        maligen Großen Koalition, aber es kam dann die Bun-
bei der Bundestagswahl 1953 auch deshalb keine           destagswahl 1969. Sie war entscheidend für den Be-
Chance und blieb weit unter der 5-Prozent-Hürde.         ginn der Entspannungspolitik. Ich hatte das Glück, ab
                                                         August 1968 mit dabei zu sein, zunächst als Reden-
Damit war diese Chance zu einem frühen Friedens-         schreiber des Bundeswirtschaftsministers, dann als
schluss auch mit den osteuropäischen Ländern vertan.     Mitwirkender bei der Planung des Wahlkampfes 1969
                                                         und nach der Wahl verantwortlich für den Wahlkampf
Der Kalte Krieg kam richtig auf Touren.                  1972.
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Der am 21. Oktober 1969 gewählte Bundeskanzler           Ich war damals Sprecher der Parlamentarischen Lin-
Brandt verkündete im Deutschen Bundestag bei seiner      ken in der SPD-Bundestagsfraktion und hatte das Ver-
ersten Regierungserklärung am 28.10.1969:                gnügen, mit Egon Bahr zusammen an der Endfassung
                                                         des Berliner Programm-Entwurfs zu arbeiten. Das be-
Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, ….          traf auch den sicherheitspolitischen und außenpoliti-
Im Innern und nach außen.                                schen Teil.
Gute Nachbarn von allen, nicht nur von Franzosen,
                                                         Viele Zeitgenossinnen und -genossen kennen und wis-
auch von den Polen, auch von den Holländern und den
                                                         sen nicht, was in diesem Programm steht. Wahrschein-
Tschechen, und den Russen.
                                                         lich ist auch vieles in Ihrem Kreis nicht bekannt. Des-
Die neue Ostpolitik wurde ab 1970 in Verträgen mit       halb zitiere ich einige wichtige Aussagen:
Moskau, mit Warschau, mit Prag praktisch umgesetzt.
                                                         Schon die Überschrift des einschlägigen Kapitels
In den Verträgen wurde der sogenannte Gewaltver-
                                                         weist den Weg:
zicht vereinbart.
                                                         III. Frieden in gemeinsamer Sicherheit.
Dann kamen die neuen Partner 1975 in der Konferenz
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der         Ich zitiere aus dem Text:
KSZE, zusammen. Daraus wurde später die OSZE.                        •   Der Krieg darf kein Mittel der Politik
Es gab immer auch Rückschläge – zum Beispiel die                         sein; dies gilt erst recht im Zeitalter
sogenannten SS 20 der Sowjetunion und die Antwort:                       atomarer, chemischer und biologi-
die Nachrüstung. Aber insgesamt kamen der Dialog                         scher Massenvernichtungswaffen.
und die Zusammenarbeit zwischen West und Ost vo-                     •   Frieden bedeutet nicht nur das
ran. Diese Politik fand dann 1989 mit dem Mauerfall                      Schweigen der Waffen, Frieden be-
und 1990 mit der Charta von Paris einen krönenden                        deutet auch das Zusammenleben der
Abschluss.                                                               Völker ohne Gewalt, Ausbeutung
Die Präambel der Charta von Paris wäre auch heute                        und Unterdrückung. Friedenspolitik
noch wegweisend:                                                         umfasst auch Zusammenarbeit der
                                                                         Völker in Fragen der Ökonomie,
„Wir, die Staats- und Regierungschefs der Teilneh-                       Ökologie, Kultur und Menschen-
merstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusam-                      rechte.
menarbeit in Europa, sind in einer Zeit tiefgreifenden
Wandels und historischer Erwartungen in Paris zu-        Gemeinsame Sicherheit
sammengetreten. Das Zeitalter der Konfrontation und
                                                                     •   Ost und West haben den Versuch, Si-
der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklä-
ren, daß sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung                     cherheit gegeneinander zu errüsten,
                                                                         mit immer mehr Unsicherheit be-
und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit
                                                                         zahlt.
sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von
Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker         Ein wahres Wort auch für heute.
und die Kraft der Ideen der Schlußakte von Helsinki                  •   Kein Land in Europa kann heute si-
bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie,                     cherer sein als der mögliche Gegner.
des Friedens und der Einheit an.“                                        Jeder muss also schon im eigenen In-
Die treibende Kraft der Entspannungspolitik war in                       teresse Mitverantwortung überneh-
Deutschland und in Europa die Sozialdemokratie.                          men für die Sicherheit des anderen.
Heute kaum zu glauben.                                                   Darauf beruht das Prinzip gemeinsa-
                                                                         mer Sicherheit. Es verlangt, dass jede
Das Berliner Grundsatzprogramm der SPD von                               Seite der anderen Existenzberechti-
1989 – wegweisend                                                        gung und Friedensfähigkeit zubilligt.
                                                         Wegweisende Sätze sind das. Und weiter gehts:
Hinzuweisen bleibt noch auf ein wichtiges und verges-
sen gemachtes Ereignis des Jahres 1989: Die Partei-                  •   Unser Ziel ist es, die Militärbünd-
tagsdelegierten der SPD trafen sich am 20. Dezember,                     nisse durch eine europäische Frie-
also anderthalb Monate nach dem Mauerfall, in Berlin                     densordnung abzulösen.
zur Verabschiedung eines neuen Grundsatzpro-
gramms, des Berliner Grundsatzprogramms.
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Sie haben richtig gehört: Nicht nur der Warschauer        Es gab die erwähnten Verträge. Es gab Regeln für den
Pakt, auch die NATO soll aufgelöst werden. Das ist        Umgang miteinander:
jedenfalls das Ziel.
                                                          Wichtig war, sich in die Lage des Partners und frühe-
            •   Der Umbruch in Osteuropa verrin-          ren Gegners im Osten versetzen zu können.
                gert die militärische und erhöht die
                politische Bedeutung der Bündnisse        Wichtig war, immer darauf zu achten, kein Misstrauen
                und weist ihnen eine neue Funktion        zu säen und stattdessen Vertrauen zu bilden. Dafür
                zu: Sie müssen, bei Wahrung der           wurde ein etwas bürokratisches Wort kreiert: „vertrau-
                Stabilität, ihre Auflösung und den        ensbildende Maßnahmen“. Die Praxis entsprach den
                Übergang zu einer europäischen            Vorgaben und Überlegungen, zum Beispiel:
                Friedensordnung organisieren. Dies
                eröffnet auch die Perspektive für das     Egon Bahr, der die Verträge im Auftrag der Bundes-
                Ende der Stationierung amerikani-         regierung aushandelte, hatte eine besonders vertrau-
                scher und sowjetischer Streitkräfte       ensvolle Atmosphäre und Zusammenarbeit mit seinem
                außerhalb ihrer Territorien in Eu-        Verhandlungspartner und späteren sowjetischen Bot-
                ropa.                                     schafter in Bonn, Walentin Falin, aufgebaut.

            •   Die Bundeswehr hat ihren Platz im         Bundeskanzler Willy Brandt hat am 7. Dezember 1970
                Konzept gemeinsamer Sicherheit.           mit dem Kniefall in Warschau ein Vertrauenskapital
                Sie hat ausschließlich der Landesver-     geschaffen, von dem wir vermutlich bis heute zehren.
                teidigung zu dienen.

            •   Die europäische Gemeinschaft ist ein
                Baustein einer regional gegliederten
                Weltgesellschaft. Sie ist eine Chance
                für den Frieden und die soziale De-
                mokratie. Ganz Europa muss eine
                Zone des Friedens werden.
Ganz Europa!

Dann heißt es auch noch zu Europa,
            •   Die europäische Gemeinschaft soll
                durch eine gemeinsame Außenpolitik
                dem Frieden dienen, ihren Völkern         Vergleichen Sie diesen Vorgang mal mit dem zuvor
                in internationalen Beziehungen mehr       gezeigten Plakat der CDU von 1953. Hier wird der
                Gewicht verleihen und der Konfron-        Unterschied zwischen der Politik der Abschreckung
                tation der Weltmächte entgegenwir-        und Stärke einerseits und der Versöhnungs- und Ent-
                ken. Die historische Perspektive der      spannungspolitik andererseits visuell und markant
                EG liegt nicht darin, eine eigene         sichtbar.
                Vormachtrolle zu übernehmen. Statt
                in militärischer Stärke findet sie ihre   1971 erhielt Willy Brandt den Friedensnobelpreis. Das
                Identität als weltweit gefragter Part-    war wiederum eine enorm vertrauensbildende Ent-
                ner für Handel und Industrie, für         scheidung.
                Technik und Wissenschaft, für eine
                intakte Umwelt und eine dauerhafte        Die Spitzenpolitiker wie auch ihre Mitarbeiterinnen
                Entwicklung der Dritten Welt.             und Mitarbeiter gingen vertrauensvoll und freund-
                                                          schaftlich mit den Partnern im Osten um. Auch mit
So und ähnlich geht es weiter. Als Sozialdemokrat im      vielleicht nebensächlichen Gesten des Zusammenle-
Herzen muss man sich schämen, dass die eigene Partei      bens:
ihre eigenen Erkenntnisse und Willenserklärungen seit
1990 so außer Acht gelassen hat.                          1970-1972 war ich für die Öffentlichkeitsarbeit und
                                                          die Wahlkämpfe der SPD verantwortlich. Dazu ge-
Wichtig: vertrauensbildende Maßnahmen                     hörte auch, Meinungsumfragen zu veranlassen und
                                                          den Überblick über Meinungsumfragen insgesamt zu
Noch einmal zurück zum Konzept der Ost- und Ver-
                                                          behalten. Eines Tages meldete sich in meinem Büro
ständigungspolitik.
                                                          ein Legationsrat der sowjetischen Botschaft mit
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Namen Abraschkin. Ob er mich mal besuchen könne.          Stellen Sie sich vor, Sie seien ein US-amerikanischer
Er berichtete mir beim ersten Treffen, dass er bei der    Stratege vom Kaliber Zbigniew Brzeziński und hätten
Sowjetischen Botschaft dafür verantwortlich sei, peri-    gerade ein Buch in Arbeit, in dem Sie eine Strategie
odisch nach Moskau zu melden, wie es um die Mei-          der Vorherrschaft für die aus Ihrer Sicht einzige Welt-
nungslage des deutschen Volkes stünde. Deshalb            macht, die USA, entwickelt. Dann wäre klar, dass
würde er sich gerne öfter mit mir treffen. Ich willigte   Russland aus Europa hinauskomplimentiert werden
ein und informierte ihn dann regelmäßig vom Stand         muss und keine Weltmacht bleiben darf.
der Meinung des deutschen Volkes, insbesondere dar-
über, ob unsere Ostpolitik eine Mehrheit hat.             Stellen Sie sich vor, Sie seien Pole oder Balte aus dem
                                                          dortigen eher konservativen bis rechten Lager und Sie
Zur Vertrauensbildung, die ein wichtiges Element der      seien der Meinung, Ihr Volk hätte noch ein paar Rech-
Friedenspolitik war, gehörte damals auch die unkom-       nungen mit den Russen offen. Dann würden Sie die
plizierte Zusammenarbeit mit Medien aus dem Ost-          Entspannungspolitik so schnell wie möglich loswer-
block. Davon will ich auch deshalb berichten, weil        den wollen.
heute die Lage so viel anders ist. Die Politikerinnen
und Politiker der sozialliberalen Koalition verkehrten    Stellen Sie sich vor, Sie seien bei der NATO in Brüs-
nicht nur mit den Offiziellen von der Botschaft, son-     sel tätig oder auch nur Teil einer der NATO-
dern auch mit sowjetischen Journalisten auf völlig        Streitkräfte und ihr beruflicher Aufstieg sei sowohl
normale und menschliche Weise. Es gibt Fotos von          mit der Existenz als auch der weiteren Ausdehnung
Willy Brandt im Wahlkampf-Sonderzug in der Runde          der NATO verbunden, dann würden Sie selbstver-
deutscher und ausländischer Journalisten, unter ande-     ständlich gegen die Auflösung der NATO Front ma-
ren mit dem russischen Journalisten Grigoriew.            chen und Sie würden sogar dafür eintreten, dass ihr
                                                          Operationsbereich nach Osten ausgedehnt wird. Und
Zu unserer Volleyball-Mannschaft auf dem Bonner           Sie würden außerdem dafür eintreten, dass die Bun-
Venusberg gehörten neben deutschen auch sowjeti-          deswehr und die NATO insgesamt ihren Operations-
sche Journalisten. Heute hingegen werden die Mitar-       bereich weltweit ausdehnen und Auslandseinsätze zur
beiterinnen und Mitarbeiter des russischen Mediums        Gewohnheit werden.
RT Deutsch wie Aussätzige behandelt.
                                                          Stellen Sie sich vor, Sie würden zu einem neokonser-
Dabei schwingt mit, was wir in jenen Zeiten erlebt ha-    vativen Thinktank des Westens, zum Beispiel zu Strat-
ben, als von Feindsendern die Rede war.                   for von George Friedman, gehören und seien wie Ihre
                                                          Kolleginnen und Kollegen überzeugt davon, dass un-
An diesem kleinen Beispiel können Sie sehen, wie          sere Demokratie wunderbar ist und dass wir die Auf-
weit heruntergekommen wir inzwischen sind.                gabe hätten, überall auf der Welt durch Regime
                                                          Change dafür zu sorgen, dass Ihre Ideologie zum
„Heute verspielt“                                         Durchbruch kommt und realisiert wird. Dann käme
heißt es mit Recht in dem mir gestellten Thema.           auch Russland auf die Tagesordnung. Es ist ja oft un-
                                                          ausgesprochen so, dass westliche Kreise meinen, nicht
Wie kam es zum Abschied von der Vertragspolitik           nur in Syrien oder Libyen oder im Irak sei ein Regime
und Verständigungspolitik gegenüber Russland?             Change notwendig, auch in Russland!

Vorweg die Anmerkung: Es fing nicht mit dem Kon-          Stellen Sie sich vor, Sie würden die Erfahrung ge-
flikt in der Ukraine, nicht mit dem Maidan und auch       macht haben (wie einige in Ihrem Umfeld), dass man
nicht mit der sogenannten Annexion der Krim an. Das       sein Einkommen und Vermögen dann besonders
war eher schon der Schlusspunkt einer fatalen Fehlent-    schnell und effektiv vermehren kann, wenn man auf
wicklung.                                                 das Vermögen anderer zugreifen kann. Dann würden
                                                          Sie in Russland eine überaus attraktive Ansammlung
Ja, es ist unglaublich viel an Kapital der Verständi-     von Vermögenswerten, von Rohstoffen und Lände-
gung und der Vertrauensbildung verspielt worden.          reien sehen. Und dann würden Sie es gerne so einrich-
Wie das geschehen ist, will ich jetzt berichten:          ten, wie das im Ansatz zu Zeiten des Präsidenten
                                                          Jelzin in den neunziger Jahren war: Da haben westli-
Stellen Sie sich vor, Sie seien der Chef eines Rüs-       che Regierungen und westliche Kreise und westliche
tungsbetriebs und würden verfolgen, wie die Strategie     Konzerne in Russland zugegriffen, zusammen mit den
der Abschreckung durch die gegenseitige Erklärung         dortigen Oligarchen und Ausbeutern. Das Russland
ehemaliger Feinde auf Gewaltverzicht abgelöst wird.       Jelzins war zwar ein bisschen chaotisch, aber sehr hilf-
Sie hätten diese Politik als geschäftsschädigend be-      reich für die eigene Vermögensmehrung. Und ange-
trachtet.                                                 sichts dieser in jeder Hinsicht lukrativen Jelzin-Zeit
Ausgabe Mai 2022 FORUM FRIEDENSETHIK in der Evangelischen Landeskirche in Baden - Ekiba
10                                                                                                    FFE
muss Putin als ein Typ betrachtet werden, den man                        Anatolien so wiederherzustellen, wie
schnellstens loswerden muss. Ein Weg zu diesem Ziel                      es in der Hochzeit der römischen Aus-
ist die Agitation. Deshalb nennen sie Putin gerne einen                  dehnung gewesen sei.“
Machthaber, einen Autokraten und – in der Steige-
rungsform – einen Diktator.                                      Gemeint ist damit eine Linie von Finnland bis
                                                                 zum Schwarzen Meer. Links, also westlich
Sie finden übrigens zu den Verhältnissen in der Jelzin-          dieser Linie, leben die Guten, rechts die Bö-
Zeit gute Informationen in Naomi Kleins großem                   sen.
Buch: Schock-Strategie.
                                                                 Im weiteren Verlauf ist dann auch praktisch
Es gab einige markante Stationen der Wiederbele-                 im Geist von Bratislava verfahren worden: In
bung der Konfrontation zwischen dem Westen und                   den Ländern an der Grenze zu Russland wer-
Russland.                                                        den NATO-Manöver abgehalten, dorthin wird
                                                                 schweres Kriegsmaterial transportiert und
Auf einige will ich hinweisen:                                   wieder zurück. Flugzeuge werden in die Nähe
                                                                 der russischen Grenze verlagert. Russland
     •   Helmut Kohl, der hierzulande auch nach dem              wird in vielfältiger Weise als Feind betrachtet.
         Fall der Mauer und geistig auf der Basis der
         Charta von Paris bis 1998 regierte, kam nach        •   Eine beachtliche Rolle spielte auch der im
         Auskunft seines Parteifreundes und Parla-               März 1999 begonnene Kosovo-Krieg. Dieser
         mentarischen Staatssekretärs im Verteidi-               galt einem Freund Russlands, Rest-Jugosla-
         gungsministerium Willy Wimmer (CDU) oft                 wien. Insbesondere sollte aber damit eine
         aufgewühlt von Besuchen aus den USA zu-                 Bresche für die Erweiterung des Einsatzge-
         rück. Er hat dort feststellen müssen, dass die          bietes der NATO und auch der Bundeswehr
         Regierenden in den USA sich schon bald                  geschlagen werden. In dem erwähnten Papier
         nach 1990 von den Bekenntnissen der Zu-                 der Konferenz von Bratislava gibt es auch
         sammenarbeit und der friedlichen Koexistenz             dazu einen unmissverständlichen Text, die
         absetzten.                                              Nummer 6:
     •   Nato-Osterweiterung. Das war 1990 nicht                         „Unbeschadet der anschließenden le-
         vorgesehen. 1997 wurden Polen, Tschechien                       galistischen Interpretation der Euro-
         und Ungarn der Beitritt angeboten. Danach                       päer, nach der es sich bei dem erwei-
         weiteren. Heute gehören nahezu alle Staaten                     terten Aufgabenfeld der NATO über
         an der Grenze zu Russland der NATO an.                          das Vertragsgebiet hinaus bei dem
                                                                         Krieg gegen Jugoslawien um einen
     •   Die seit 1997 vollzogene NATO-                                  Ausnahmefall gehandelt habe, sei es
         Osterweiterung entspricht nicht dem Geist                       selbstverständlich ein Präzedenzfall,
         der Übereinkunft von 1990 und der Charta                        auf den sich jeder jederzeit berufen
         von Paris. Russland muss es so empfinden,                       könne und auch werde.“
         dass die Ausdehnung der NATO gegen Russ-
         land gerichtet ist. Dafür spricht auch folgen-      •   Es ging dann weiter mit dem Versuch, die
         der Vorgang:                                            Ukraine in die EU einzubinden und der
                                                                 NATO anzunähern. Die USA investierten in
     •   Vom 28. bis zum 30. April 2000 fand in Bra-             der Ukraine 5 Milliarden $ – 5 Milliarden,
         tislava eine vom State Department und dem               nicht 5 Millionen – für den Aufbau von
         American Enterprise Institute arrangierte und           NGOs, für Propaganda und Wühlarbeit. Alles
         getragene Konferenz statt. Sie diente erkenn-           gegen Russland – so musste man es aus Mos-
         bar dem Versuch, Russland aus Europa hin-               kauer Sicht sehen.
         aus zu drängen. Willy Wimmer hat dem da-
         maligen Bundeskanzler Gerhard Schröder am        Die Abkehr von der Entspannungspolitik und die
         2.5.2000 einen Brief geschrieben und darin       Hinwendung zu einer neuen Politik der Konfronta-
         die Beschlüsse dieser Konferenz festgehal-       tion mit Russland ist von den Treibern dieser Ent-
         ten. Siehe dazu wikipedia.org/wiki/Bratis-       wicklung bei 2 wichtigen Pfeilern unserer politi-
         lava-Konferenz . In Ziffer 7 heißt es:           schen Willensbildung abgesichert worden:

                 „Es gelte, bei der jetzt anstehenden        1. Bei den Parteien, die Träger der Entspan-
                 NATO-Erweiterung die räumliche Si-             nungspolitik waren.
                 tuation zwischen der Ostsee und
FFE                                                                                                       11

    2. Bei den Medien                                    offensichtlich peinlich, dass sie mehr wussten als Pu-
                                                         tin. Zum Beleg verweise ich auf eine Aufnahme eines
In der SPD, also bei der Initiatorin der Entspannungs-   Teils der Regierungsbank während der erwähnten Pas-
politik, finden Sie nicht mehr viel vom Geist eines      sage in der Rede von Putin am 25.9.2001:
Willy Brandt. Er wird zwar ständig gefeiert und wer
etwas auf sich hält, lässt sich gerne mit dem Brandt-    Der deutsche Außenminister Joschka Fischer und der
Monument im Willy-Brandt-Haus ablichten, aber die        Innenminister Schily und auch die Justizministerin
entscheidenden Akteure, vielleicht mit der Ausnahme      Herta Däubler-Gmelin brachten mit ihrer Körperspra-
des Fraktionsvorsitzenden Mützenich, sind anders un-     che deutlich zum Ausdruck, was sie von dem Angebot
terwegs.                                                 des russischen Präsidenten halten: nichts, weil die
                                                         USA untersagt hatten, darauf einzugehen.
Das gilt mindestens genauso für die Bündnis-Grünen.
Die kommen zwar von der Friedensbewegung. Aber           Wahrscheinlich ist die Fehleinschätzung der Lage
sie sind offenbar nachhaltig von den Realos und At-      durch die Verantwortlichen Russlands auch ein Grund
lantikern unterwandert. Fücks, Joschka Fischer,          dafür, dass sie später umso enttäuschter waren. Das
Baerbock, Özdemir, Göring-Eckart – den Geist der         war dann zum Beispiel erkennbar in Putins Rede auf
Friedenspolitik muss man mit der Lupe suchen. Die        der Sicherheitskonferenz in München im Jahre 2007.
Spitzenkandidatin Baerbock wurde offensichtlich von      Die Russen hatten die Hand ausgestreckt und diese
Atlantikern ausgeguckt. Auf Substanz kam es dabei        war zurückgeschlagen worden. Jetzt gilt nicht mehr
offensichtlich nicht an, Hauptsache gegen Russland.      das Projekt „Gemeinsame Sicherheit“. Jetzt gilt Ab-
                                                         schreckung und Politik der Stärke und das Denken im
Bei den Medien ist die entspannungsfeindliche Linie      Freund-Feind-Schema.
offensichtlich systematisch verankert worden. Spie-
gel, Zeit, Süddeutsche Zeitung – allesamt Medien, die    Da ich auf ein langes Leben zurückblicke und oben-
mit der Entspannungspolitik der sechziger und siebzi-    drein früh politisch und vor allem friedenspolitisch in-
ger Jahre eng verwoben waren, wurden gekippt. Die        teressiert war, habe ich das ganze Auf und Ab und Auf
„Anstalt des ZDF“ brachte am 29.4.2014 ein exzellen-     und Ab auch persönlich so erlebt. Und oft wundere ich
tes Stück – ein Tafel-Stück mit der Zuordnung bedeu-     mich heute über markante Wiederholungen. Zum Bei-
tender deutscher Journalisten zu atlantischen Interes-   spiel über die Vorstellung und den moralischen Nie-
sen. Transatlantische Swingerclubs, wie Max Uthoff       dergang einer Verteidigungsministerin aus dem Saar-
meinte. Hier ist der einschlägige Ausschnitt: y-         land. Frau Kramp-Karrenbauer redet als gewesene
outube.com/watch?v=1LONPFtP1GY                           Verteidigungsministerin so wie ihre Vorläufer von der
                                                         Jungen Union und dem RCDS (Ring Christlich-De-
Die Verantwortlichen in Russland haben den Auf-          mokratischer Studenten) in den fünfziger und Anfang
bau der neuen Front an ihrer Westgrenze erstaun-         der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Sie ver-
lich lange nicht wahrgenommen oder nicht ernst           mag wahrscheinlich auch gar nicht anders zu denken
genommen. Dazu nur ein Indiz von vielen:                 als in Kategorien von Freund und Feind, von Abschre-
                                                         ckung und Politik der Stärke und der Drohung mit mi-
Präsident Putin hat noch am 25. September 2001, also     litärischer Gewalt.
ein Jahr und 5 Monate nach der Konferenz in Bratis-
lava im Deutschen Bundestag eine insgesamt freund-       Eine neue Entspannungspolitik ist dringend not-
liche Rede gehalten. Er hat eine Zusammenarbeit in       wendig. Sie ist überlebensnotwendig, wie es im
einer die Kontinente übergreifenden Völkergemein-        Thema heißt
schaft, von Lissabon bis Wladiwostok, angeboten und
dafür geworben. Das war erstaunlich, denn auch dem       Sie ist notwendig, weil es ohne neue Verständigung
russischen Präsidenten musste zu diesem Zeitpunkt        und ohne einen Abbau der Spannungen und der gegen-
bekannt sein, wes Geistes Kind die Akteure im Westen     seitigen Rüstungen ausgesprochen gefährlich werden
sind. Sie setzten nicht mehr auf Kooperation, sondern    kann.
auf Konfrontation, auf Abschreckung und Politik der
Stärke, und ganz deutlich auf den Ausschluss Russ-       Die Kriegsgefahr ist größer geworden. Das will ich
lands aus der Gemeinschaft Europas.                      an 11 Punkten, an 11 Risiken für den Frieden,
                                                         sichtbar machen:
Die damals in Deutschland verantwortlichen Politike-
rinnen und Politiker haben diesen Abschied von der           1. Der erste ist die erwähnte Feststellung, dass
entspannungspolitischen Linie vermutlich nicht aus              die Werbung für den militärischen Einsatz,
innerer Überzeugung vertreten, sondern auf Geheiß               dass Kriegstreiberei wieder hoffähig
des großen Verbündeten im Westen. Und es war ihnen
12                                                                                               FFE
         geworden ist. Kriege zu führen wird als             Zünder für einen Konflikt bei uns in Europa
         selbstverständlicher Teil der Politik betrach-      sein. Damit sind wir eng verwoben mit allem,
         tet.                                                was sich zwischen USA und China und zwi-
                                                             schen USA und Formosa und China abspielt.
     2. Es gibt unter den Menschen geringeren Wi-
        derstand gegen Kriege. Das hat viel damit zu      8. So wie wir erfolgreich daraufsetzen konnten,
        tun, dass die meisten heute lebenden Men-            dass die Strategie des „Wandel durch Annä-
        schen keine unmittelbare Kriegserfahrung             herung“ dazu führen könnte und wird, dass
        mehr haben, nicht mehr haben können. Da-             sich in Russland, in der Sowjetunion und im
        mit schwindet auch die Angst und die Sorge,          Warschauer Pakt Kräfte durchsetzen, die
        es könnte zu einem Krieg kommen. Kriege              Konflikte friedlich lösen wollen und auf ge-
        werden ja auch tatsächlich geführt.                  meinsame Sicherheit in Europa setzen, so
                                                             kann umgekehrt die neue Konfrontation zu
     3. Die Regime Change-Absichten der USA und              inneren Veränderungen in Russland führen,
        einiger Gefolgsleute sind höchst gefährlich,         die uns dem heißen Konflikt näherbringen.
        gerade wenn sie wie im Falle der Ukraine ein         Das wäre dann „Schlimmer Wandel durch
        Land in der Nähe Russlands betreffen, oder           Konfrontation“.
        Russland selbst.
                                                             Ich muss mich oft verteidigen, weil ich in Pu-
     4. Die sogenannte Annexion der Krim oder –              tin anders als die Mehrheit der Beobachter und
        wie Russlands sagt – die Eingliederung der           der Agitatoren im Westen nicht das Per-se-
        Krim in die Russische Föderation und die             Schlechte sehe. Ich frage mich voller Sorge,
        kriegerischen Auseinandersetzungen in der            was und wer danach kommt. Woher wissen
        Ostukraine können zu Kriegen führen. Die             wir, woher wissen die streitbaren Agitatoren
        Ukraine will die Krim zurückhaben und rüs-           des Westens, dass Friedlicheres, Besseres,
        tet auf. Russland will sich darauf nicht ein-        Kooperationbereiteres nachkommt? Und:
        lassen. Eine immer wiederkehrende Gelegen-           Glaubt hier jemand, dass der Westen sicher
        heit zur militärischen Aggression.                   sein kann, bei einem personellen Wechsel ei-
                                                             nen vernünftigeren Außenminister präsentiert
     5. Im heutigen Ost-West-Konflikt gibt es viele          zu bekommen, als der jetzige Außenminister
        verschiedene Akteure und es gibt viele Gele-
                                                             Lawrow das ist? Ich habe den Eindruck, dass
        genheiten und Möglichkeiten, an denen sich           hierzulande und im gesamten Westen Spieler-
        militärische Konflikte entzünden können. Die         naturen unterwegs sind.
        baltischen Staaten, die Ukraine, die Balkan-
        staaten, die Rüstungswirtschaft bei uns, in       9. Europa, genauer gesagt, die Europäische
        den USA, in Großbritannien, irgendwelche             Union und ihre Organe und Einrichtungen
        rechts konservativ denkenden Funktionäre –           und einzelne Länder können, mehr als wir
        sie alle können zündeln und die Ursache von          bisher gedacht haben, zur Ursache und zum
        kleinen und größer werdenden Konflikten              Katalysator kriegerischer Konflikte werden.
        werden. Im Oktober 2021 konnten wir übri-            Diese Feststellung mag Sie irritieren. Aber
        gens beispielhaft beobachten, wie Konflikte          beachten Sie bitte zwei Vorgänge, auf die ich
        hochgeschaukelt werden: die NATO ver-                hinweisen will und muss:
        langt, dass acht russische Mitarbeiter der rus-
        sischen Botschaft bei der NATO das Land              Erster Vorgang: Die deutsche Bundeskanz-
        verlassen, Russland schließt daraufhin seine         lerin Merkel und der französische Präsident
        NATO-Botschaft, Kramp-Karrenbauer macht              Macron hatten im Juni 2021 ein EU-
        ihre erwähnte feindselige Bemerkung, der             Gipfeltreffen mit Putin vorgeschlagen – als
        deutsche Militärattache wird in Moskau ein-          Beitrag zur Entspannungspolitik sozusagen.
        bestellt usw.                                        Zur Reaktion zitiere ich der Einfachheit halber
                                                             die     FAZ     vom       24.    Juni     2021
     6. Es gibt russische Minderheiten in mehreren           https://www.faz.net/aktuell/politik/aus-
        möglichen Konfliktregionen. Wenn unter               land/balten-entsetzt-ueber-merkels-vorstoss-
        diesen ein Blutbad angerichtet wird, dann            fuer-gipfel-mit-putin-17406020.html
        steht der Krieg vor der Tür.
                                                                     Soll die Europäische Union ein Gip-
     7. Ein möglicher Konflikt der USA und seiner                    feltreffen mit Wladimir Putin abhal-
        Verbündeten in Ostasien kann auch der                        ten? Bundeskanzlerin Angela Merkel
FFE                                                                                               13

          und der französische Präsident Em-                       aufdecken und Menschenrechtsakti-
          manuel Macron wollen das. Sie haben                      visten unterstützen
          damit am Donnerstag erheblichen
          Wirbel beim Europäischen Rat verur-              Und weiter heißt es in der offiziellen Pres-
          sacht. Denn ihr Vorschlag landete erst           semitteilung des Europäischen Parlaments:
          in letzter Minute auf dem Tisch der                      Die EU soll sich gegen die aggres-
          Regierungschefs, und er legte so-                        sive Politik des Kremls wehren und
          gleich die Bruchlinien in Europa of-
                                                                   gleichzeitig den Grundstein für eine
          fen, wenn es um Russland geht: im                        Zusammenarbeit mit einem künfti-
          Westen viel Unterstützung, im Osten                      gen demokratischen Russland le-
          helles Entsetzen.                                        gen.
  Die osteuropäischen EU-Mitglieder haben
  diesen Vorstoß abgeblockt. In der EU sind                        Bei der Bewertung des Stands der Be-
  Mehrheiten sichtbar, die sich gegen Freund-                      ziehungen zwischen der EU und
  schaft mit Russland wenden.                                      Russland macht das Europäische Par-
                                                                   lament deutlich, dass es „zwischen
  Das wurde in einer berichtenden Sendung des                      dem russischen Volk und dem russi-
  ZDF noch einmal besonders deutlich. Merkels                      schen Regime von Präsident Putin als
  und Macrons Initiative wurde in Brüssel quasi                    stagnierende autoritäre Kleptokratie,
  auf den Kopf gestellt. Ich zitiere das ZDF:                      angeführt von einem Präsidenten auf
                                                                   Lebenszeit, umgeben von einem
          EU-Gipfel in Brüssel-                                    Kreis von Oligarchen unterscheidet“.
          Härterer Kurs gegenüber Russland                         Die Abgeordneten betonen jedoch,
          beschlossen                                              dass eine demokratische Zukunft für
                                                                   Russland möglich ist und dass der Rat
          25.06.2021 05:30 Uhr                                     eine EU-Strategie für dieses Szenario
          Mit der Androhung neuer Wirt-                            annehmen muss, die auch ein „breites
          schaftssanktionen will die EU ihre                       Angebot an Anreizen und Bedingun-
          Gangart gegenüber Russland ver-                          gen für die Stärkung von Tendenzen
          schärfen. Merkels Vorschlag für Spit-                    hin zu Freiheit und Demokratie im In-
          zentreffen mit Putin erbrachte keine                     land enthält.“
          Einigung.                                                Der Text wurde mit 494 Stimmen bei
  Der zweite Vorgang: Die neue Feindseligkeit                      103 Gegenstimmen und 72 Enthaltun-
  statt neuer Entspannung zeigte sich dann                         gen angenommen.
  kurze Zeit später noch in einem Beschluss des    Daraus muss man wohl schließen: eine neue Ver-
  Europäischen Parlaments. Dort wurde Mitte        ständigung mit Russland ist zusammen mit der
  September 2021 beschlossen – ich zitiere         Mehrheit in EU-Europa mit hoher Wahrschein-
  Teile einer Pressemitteilung des europäischen    lichkeit nicht möglich. Eine bittere Erkenntnis.
  Parlaments:
                                                   Die Mehrheit der EU-Staaten wird nach meinem Ein-
  Abgeordnete fordern neue EU-Strategie zur        druck von den USA gesteuert und im Inneren gerade
  Förderung der Demokratie in Russland             in osteuropäischen Staaten von antirussischen Kräften
      o   Die EU muss zwischen dem russi-          mitbestimmt. Das sind 2 Probleme, die man gerade bei
          schen Volk und dem russischen Re-        entspannungspolitischen Überlegungen beachten
          gime unterscheiden                       sollte. Deshalb gibt es gute Gründe, sicherheitspoli-
                                                   tisch wichtige Entscheidungen nicht in die Hände der
      o   Zusammenarbeit mit Partnerländern        EU zu legen.
          und der Zivilgesellschaft intensivie-
          ren, um pro-demokratische Tenden-        Man muss so insgesamt leider feststellen, dass die Eu-
          zen in Russland zu stärken               ropäische Union im Zusammenhang mit der Osterwei-
                                                   terung der EU und der NATO zur Belastung für eine
      o   Nötigenfalls Sanktionen verhängen,       „neue Verständigung mit Russland“ geworden ist.
          Ströme „schmutzigen Geldes“
14                                                                                                   FFE
Mein Fazit: Wenn wir Verständigung und Frieden mit       auch ausgesprochen gerne in Frieden mit Frankreich,
Russland wollen, müssen wir uns aus der Umklamme-        mit den Niederlanden und anderen Partnern und Nach-
rung und Fremdbestimmung durch westliche, durch          barn in Europa leben wollen.
US-amerikanische und europäische Partner lösen. Das
ist die bittere Wahrheit.                                Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein – nach
                                                         Westen wie nach Osten.
Wir werden auch den USA und der NATO sagen müs-
sen: Wir wollen Freunde sein und bleiben, auch mit
ihnen, aber wir wollen künftig keine Waffenbrüder
mehr bleiben und sein, wenn es gegen Russland geht
und auch nicht gegen China. Wir verständigen uns lie-
ber mit den Russen als sie zu bekriegen, so wie wir ja

Rückfall in den Kalten Krieg? Wege und Irrwege der deutschen
und europäischen Ostpolitik nach dem Ende der Sowjetunion von
Gernot Erler
I. Russland und der Westen: Ein Rückblick                dem rassenideologischen Vernichtungsplan des “Un-
                                                         ternehmen Barbarossa“, der die minderwertige slawi-
Russland und den Westen verbindet eine über 1000         sche Rasse zurückdrängen und eliminieren wollte, um
Jahre alte wechselhafte Geschichte. Russische Schul-     “deutschen Lebensraum“ im Osten zu schaffen. In der
kinder lernen, dass der Großfürst Alexander Newskij      Bilanz waren 27 Millionen Kriegstote und unermess-
1242 in der Schlacht auf dem Peipussee den Deut-         liche Zerstörungen in der Sowjetunion zu beklagen.
schen Orden besiegt und damit auf Distanz gehalten       Doch am Ende stand der sowjetische Sieg im “Großen
hat. Sie lernen aber auch, dass Peter der Große Anfang   Vaterländischen Krieg“, bis heute das wichtigste iden-
des 18. Jahrhunderts das “Fenster zum Westen“ geöff-     titätsstiftende Ereignis für das gegenwärtige Russland.
net hat. Katharina die Große, Zarin deutscher Her-       Aber es gab auch das, was ich das “Wunder der Ver-
kunft, regierte über 30 Jahre zwischen 1762 und 1792     söhnung“ nenne, nämlich auf sowjetischer Seite die
und rief deutsche Kolonisten an die Wolga, die dort      Bereitschaft zum Neuanfang anstelle einer Perpetuie-
auf Dauer siedelten und die Kultur der “Russlanddeut-    rung der Feindschaft mit Deutschland und den Deut-
schen“ begründeten. Im 19. Jahrhundert begann in         schen. Weltpolitisch wurde fortan das Verhältnis zwi-
Russland die Auseinandersetzung zwischen “Westlern       schen der Sowjetunion und dem Westen vom “Kalten
und Slawophilen“ über die richtige Zukunft des Lan-      Krieg“ und der Blockkonfrontation geprägt. 1945 tra-
des. Die einen setzen auf das westeuropäische Vor-       ten die Vereinigten Staaten als Weltmacht und Gegen-
bild, die anderen auf eine eigenständige Entwicklung     spieler zur Sowjetunion auf die politische Bühne. Es
im Sinne des ursprünglichen Slawentums. Eine Fort-       begann die Zeit der bipolaren Weltordnung. Deutsch-
setzung dieser Diskussion lässt sich bis in die Gegen-   land blieb angesichts der Kriegsverbrechen zunächst
wart verfolgen. Im Übrigen ist das 19. Jahrhundert ge-   ausgegrenzt. Konrad Adenauer gelang es aber, das
prägt von deutscher Begeisterung für die russische Li-   Misstrauen abzubauen und Deutschland über die
teratur, besonders für Autoren wie Fedor                 Westintegration in den Vorläufer der EU und in die
Dostojewskij, Leo Tolstoj und Iwan Turgenjew.            NATO wieder zum Partner zu machen. Es dauerte bis
                                                         1970, dass mit der Ost- und Entspannungspolitik von
Das 20. Jahrhundert bringt mit den beiden Weltkrie-      Willy Brandt, Egon Bahr und Walter Scheel Vertrauen
gen riesige Verluste für Russland, wobei der 1. Welt-    auch im Osten wieder gewonnen wurde. Und ohne
krieg auch die Türen für die Oktoberrevolution von       dieses Vertrauen wäre es nicht zum 2+4-Vertrag von
1917 öffnete. Verlierer waren am Ende Deutschland        1990 gekommen, der zur Wiedervereinigung Deutsch-
(Stichwort Vertrag von Versailles) ebenso wie Russ-      lands führte. Diese hatte einen Helden: Michail Gor-
land (Frieden von Brest- Litowsk). Aber das alles wird   batschow, der beliebteste russische Politiker in
überschattet von der Tragödie des 2. Weltkriegs mit      Deutschland. Aber wenig später, im Dezember 1991,
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