Ausgabe Mai 2022 FORUM FRIEDENSETHIK in der Evangelischen Landeskirche in Baden - Ekiba
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FFE Rundbrief 1/2022 Ausgabe Mai 2022 FORUM FRIEDENSETHIK in der Evangelischen Landeskirche in Baden FFE-Rundbrief (Print) ISSN 2198-6878 FFE-Rundbrief (Online) ISSN 2198-6886 Leitungskreis: Christiane Drape-Müller, Dr. Dirk-M. Harmsen, Manfred Jeub, Felix Klinger, Peter-Michael Kuhn, Johannes Maier, Helga Schmidt, Jürgen Stude, Dr. Wilhelm Wille Editorial von Manfred Jeub Vaterland werden via ukrainischen Nationalismus Dieser Rundbrief dokumentiert die Beiträge auf dem wieder hoffähig. letzten Studientag, der im Jahr 2021 endlich wieder als Präsenzveranstaltung stattfinden konnte. Und doch Im kirchlichen Raum ist das Bild nicht besser. Auch wirkt es wie aus einer anderen Zeit, wenn man seinen hier wurde ein Zerrbild des Pazifismus aufgebaut, um Titel heute liest: „Für eine neue Verständigung mit sich dagegen mit Zynismus-Vorwürfen moralisch in Russland“. Unser Anliegen ist von einer schrecklichen Szene zu setzen. Amtskirchliche Erklärungen Wirklichkeit, dem russischen Angriff auf die Ukraine schwenkten von anfänglichem Sich-bedeckt-Halten und den Folgen, überholt worden. Nein, auch wir ha- bald in den politischen Mainstream ein, und Personen ben mit diesem Krieg nicht gerechnet, aber wir haben, in Leitungsämtern beeilten sich, Verständnis für Waf- als dieses Thema – durch Corona dann aufgehalten – fenlieferungen an die Ukraine zu bekunden. Militärde- vor drei Jahren gewählt wurde, gefährliche Entwick- kane waren wieder gefragt und tischten ihren Retro- lungen im Verhältnis zwischen Russland und dem Cocktail aus Zwei-Reiche-Lehre und unerlöster Welt Westen gesehen. Vielleicht ist der Beitrag von Vladis- auf und auch in der akademischen Theologie konnten lav Belov, dem Leiter des Zentrums für Deutschland- die Bellizisten jetzt endlich laut sagen, was sie vom forschungen am Europa Institut der Russischen Aka- Ansatz des gerechten Friedens immer schon gehalten demie der Wissenschaften, der gewiss nicht unautori- hatten: Ponyhof-Theologie! siert sprach, gar von dokumentarischem Wert. Dieses veränderte Klima hat uns veranlasst, für den Elemente aus der Analyse der Konfliktursachen, die Studientag 2022 eine kleine Änderung des Formats zu auf dem Studientag geleistet wurde, sind in eine FFE- wagen und den Akzent von der Vortagsveranstaltung Erklärung zum Ukrainekrieg eingegangen, die auf der auf eine Konsultation von Friedensorganisationen un- Mitgliederversammlung am 24.3.2022 verabschiedet tereinander zu verschieben (s. Einladung auf S. 3) wurde. Sie hat in der Flut der Stellungnahmen ihr ei- genes Profil und bereits ein Echo bis hin zur Überset- Beim Thema Israel-Palästina, dem sich noch im Vor- zung ins Spanische. feld der Weltversammlung der nächste Rundbrief zentral widmen soll, sah sich der Leitungskreis zu den Durch den von Russland gegen die Ukraine entfessel- beiden abgedruckten Pressemitteilungen wegen der ten Krieg und die Reaktion darauf in unserem Land ist einseitigen Berichterstattung in den Medien aktuell Friedensengagement insgesamt empfindlich zurück- veranlasst. geworfen und in die Defensive gedrängt worden. Bun- deskanzler Scholz hat am 27.2.2022 unter Standing Last not least die Bekanntgabe eines Ereignisses, das Ovation im Bundestag einen politischen Kurswechsel m. E. keinesfalls Privatsache ist, auch wenn es eine („Zeitenwende“) verkündet, der mit der deutschen Zu- Person betrifft: Am 18. März wurde dem FFE- rückhaltung im Militärischen endgültig bricht und eine Gründungs- und Leitungskreismitglied Dirk Harmsen gigantische Aufrüstung vorsieht. Orchestriert wird das in Anwesenheit vieler Friedensfreunde in Karlsruhe von Medien, die in einen Propagandamodus geschaltet das Bundesverdienstkreuz verliehen. Mit dem Glück- haben, gerade so, als führte unser Land bereits selbst wunsch an ihn sei die Hoffnung verbunden, dass die Krieg. Pazifistische Haltungen werden verächtlich ge- darin sich ausdrückende Wertschätzung des Friedens- macht (Sascha Lobo im Spiegel: „deutscher Lumpen- engagements in diesen Zeiten viele ermutigen möge. pazifismus“) und die Ostermärsche als die „fünfte Ko- lonne Moskaus“ diffamiert (A. Graf Lambsdorff). Auf einmal ist ein Freund-Feind-Denken zurück wie zu Hoch-Zeiten des Kalten Krieges und längst erledigt geglaubte Begriffe wie Ehre, Heldentum und Tod fürs
2 FFE Inhalt Editorial von Manfred Jeub .......................................................................................... 1 Einladung zum FFE-Studientag 2022 Die Friedensbewegung und die „Zeitenwende“ .............................................................................................................. 3 Dokumentation des FFE-Studientages 2021 .............................................................. 4 Begrüßung und Einführung von Dr. Dirk-M. Harmsen ............................................. 4 Willy Brandts Entspannungspolitik – einst gestaltet – heute verspielt – künftig überlebensnotwendig. von Albrecht Müller ................................................................. 5 Rückfall in den Kalten Krieg? Wege und Irrwege der deutschen und europäischen Ostpolitik nach dem Ende der Sowjetunion von Gernot Erler ................................. 14 Russisch-deutsche Beziehungen. Quo vadis nach den Parlamentswahlen im September 2021 in beiden Ländern? von Dr. Vladislav Belov.................................. 20 Mitgliederversammlung des Forum Friedensethik am 6.11.2021 in Karlsruhe Protokollnotizen von Christiane Drape-Müller .......................................................... 31 FFE-Erklärung zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine verabschiedet von der Mitgliederversammlung am 24. März 2022 ................................................................ 35 FFE-Pressemitteilung: Zum Tod von Desmond Tutu (27.12.2021) ....................... 37 FFE-Pressemitteilung: Zum jüngst veröffentlichten Amnesty International Dossier ISRAEL’S APARTHEID AGAINST PALESTINIANS und seiner Aufnahme in Deutschland (03.02.2022) ................................................................... 38 Ein Leserbrief an Publik Forum von unserem Leitungskreismitglied Peter Michael Kuhn, 15.2.2022 .......................................................................................................... 39 Impressum .................................................................................................................. 40
FFE 3 FFE FORUM FRIEDENSETHIK in der Evangelischen Landeskirche in Baden Einladung zum FFE-Studientag 2022 Die Friedensbewegung und die „Zeitenwende“ Das Klima für Friedensarbeit in unserem Land ist rauer geworden. Dem möchte der Studientag Rechnung tragen durch ein etwas anderes Format, das den Akzent vom Vortrag auf die Beratung untereinander verschiebt. Nach einem Eröffnungsreferat werden drei Podiumsgespräche stattfinden. Dazu haben wir über 20 Friedensorganisatio- nen eingeladen, Vertreter zu entsenden. In Kleingruppen werden die Impulse aufgenommen. Termin: Samstag, 5. November 2021, 10.30 – 17.30 Uhr Ort: Albert-Schweitzer-Saal an der Christus-Kirche in Karlsruhe, Reinhold-Frank-Straße 48a (beim Mühlburger Tor) Anfahrt Straßenbahn vom Hauptbahnhof Vorplatz, Bahnsteig C mit der Linie 3 (Richtung Rappenwört) ab 09:56, an 10:07 Uhr Haltestelle Mühlburger Tor, Linie 3 (Richtung Daxlanden) ab 10:06, an 10:17 Uhr Haltestelle Mühlburger Tor, Linie 2 (Richtung Knielingen-Nord) ab 10:07, an 10:22 Uhr Haltestelle Mühlburger Tor Tagungsbeitrag: 20,00 EUR inkl. Mittagessen und Getränke Anmeldung: möglichst bald, spätestens 23. Oktober 2022, bei Dr. Dirk-M. Harmsen, E-Mail: dmharm@web.de, Tel.: 0721-685289, Fax: 03212-1046739 Programm: 10.30 – 10.45 Eröffnung und Begrüßung Dr. Dirk-M. Harmsen 10.45 – 11.30 Pazifismus mit offenen Augen Impulsvortrag von Prof. Dr. Olaf Müller, Humboldt-Universität Berlin 11.30 – 12.15 Podium 1 Friedensbewegung und Pazifismus. Was sind unsere Motive und ethischen Grundla- gen? 12.15 – 13.00 Kleingruppenarbeit 13.00 – 14.00 Mittagessen 14.00 – 15.00 Podium 2 Rollback, Freund-Feind-Denken, Militarisierung. Wie analysieren und beurteilen wir die politische Entwicklung 15:00 – 15:15 Kaffeepause 15.15 – 16.00 Kleingruppenarbeit 16.00 – 17:30 Podium 3 Welche Herausforderungen und Perspektiven sehen wir für unser Friedensengage- ment? 17.30 Verabschiedung – Raum für Verabredungen Veranstalter: Forum Friedensethik (FFE) in der Evangelischen Landeskirche in Baden, in Kooperation mit Arbeitsstelle Frieden im Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe, Bezirksstelle für Evangelische Erwachsenenbildung (eeb) Karlsruhe, pax christi Diözesanverband im Erzbistum Freiburg
4 FFE Dokumentation des FFE-Studientages 2021 Begrüßung und Einführung von Dr. Dirk-M. Harmsen Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zu unserem Studientag, der sich dem Thema widmet „Für des NATO-Russland-Rats vom Mai 2002 abge- eine neue Verständigung mit Russland“. An- schlossen und (zunächst) beendet. wesend sind nicht nur Mitglieder des FFE, son- Wie wurde weiter eskaliert? Kurz vor Beginn der dern viele Gäste, die am Thema interessiert sind. jüngsten NATO-Konferenz der Verteidigungsmi- Gerade diesen gilt mein besonderer Gruß. Sie nister am 21. Und 22. Oktober 2021 hat die deut- werden gleich merken, weshalb. sche Noch-Verteidigungsministerin in einem In- Zunächst jedoch möchte ich mit Ihnen allen ei- terview des Deutschlandfunks1 auf folgende nige sorgenvolle Gedanken teilen. Frage geantwortet: Das Thema dieses Studientags wollten wir be- Frage: „Die Agentur Reuters berichtet heute reits im vergangenen Jahr diskutieren, allerdings Früh, dass die NATO über regionale Abschre- hat uns die Pandemie einen Strich durch alle un- ckungsszenarien für die baltische und auch die sere Vorbereitungen gemacht: Wir mussten in Schwarzmeer-Region nachdenke, auch möglich- Quarantäne und die Veranstaltung absagen. erweise im Luftraum mit Nuklearwaffen. Ist das der Weg der NATO? Seit Beginn dieses Jahrtausends können wir eine stetige Verschlechterung der Beziehungen zwi- Kramp-Karrenbauer: Das ist der Weg der Ab- schen den sogenannten westlichen Staaten und schreckung. Wir müssen Russland gegenüber der Russischen Föderation beobachten. Wir stre- sehr deutlich machen, dass wir am Ende – und ben einem Tiefpunkt der diplomatischen Bezie- das ist ja auch die Abschreckungsdoktrin – bereit hungen zu, der uns alle vermutlich mit zuneh- sind, auch solche Mittel einzusetzen, damit es mender Sorge erfüllt. vorher abschreckend wirkt und niemand auf die Idee kommt, etwa die Räume über dem Baltikum Die NATO hat Anfang Oktober 2021 acht russi- oder im Schwarzmeer NATO-Partner anzugrei- schen Diplomaten ihre Akkreditierung entzogen, fen. weil sie als Mitglieder der russischen Vertretung bei der NATO auch für den Geheimdienst gear- Das ist der Kerngedanke der NATO, dieses beitet haben sollen. (Als ob Militärattachés und Bündnisses, und das wird angepasst auf das ak- ihre Mitarbeiter, egal ob vom Osten oder vom tuelle Verhalten Russlands. Wir sehen insbeson- Westen, nicht alle Spione sind). Beschlossen dere Verletzungen des Luftraums über den balti- wurde zudem, die Maximalgröße der russischen schen Staaten, aber auch zunehmende Übergrif- Mission zu reduzieren. Statt 20 dürften künftig nur figkeiten rund um das Schwarze Meer.“ noch zehn Personen akkreditiert sein. Kaum zu glauben: unsere Verteidigungsministe- Als Reaktion hierauf hat Russland ab Anfang No- rin droht mit dem Einsatz von Kernwaffen, wie sie vember die Arbeit seiner ständigen Vertretung in Büchel auf dem deutschen Luftwaffen-Flieger- bei der NATO in Brüssel eingestellt. Auch die Ar- horst in der Eifel lagern, von US-amerikanischen beit des NATO-Informationsbüros in Moskau Soldaten bewacht werden und im Ernstfall von wurde beendet. Zudem darf die NATO- deutschen Kampfflugzeugen in die von den USA Militärmission in Moskau nicht weiterarbeiten. festgelegten Ziele geflogen werden sollen. Zum 1. November wurde ihren Mitarbeitern die So, und jetzt kommt, weshalb ich unsere Gäste Akkreditierungen entzogen. bitte, aufmerksam zuzuhören. Wir wissen, dass Damit ist ein Kapitel gegenseitiger Vertrauensbil- es einige Städtepartnerschaften zwischen dung zwischen West und Ost durch Gründung Deutschland und Russland gibt. Diese 1 Vgl. Kramp-Karrenbauer (CDU): „Russland ist eine große Herausforderung geworden“ https://www.deutsch- landfunk.de/nato-strategie-kramp-karrenbauer-cdu- russland-ist-eine.694.de.html?dram:article_id=504531
FFE 5 zivilgesellschaftlichen Organisationen haben wir interessantes und sehr wichtiges Thema, das al- über diese Tagung informiert und sie eingeladen. lerdings komplett in den Bereich des Bundes- Und Sie haben unsere Einladung angenommen. oder gar NATO-Angelegenheiten fällt. Auf kom- munaler Ebene Einfluss auf die große Politik zu Der Zufall ließ eine Delegation aus Karlsruhe nehmen, ist nur am Rande und in Nuancen sinn- Ende September zur Partnerstadt Krasnodar fah- voll und möglich. Es bleibt deshalb fraglich, ob die ren zur Pflege der Städtepartnerschaft, die seit Thematik bei einem Austausch mit der russi- 29 Jahren aktiv ist. In der StadtZeitung Karlsruhe schen Partnerstadt angesprochen werden kann. erschien am 1. Oktober 2021 ein Bericht des De- Einzelne Aspekte könnten eventuell bei geeigne- legationsleiters, Stadtrat Aljoscha Löffler, dem ich ter Gelegenheit im Kontext ausgetauscht wer- am 4. Oktober eine Mail schrieb mit folgendem den.“ (Zitat Ende) Inhalt: (Zitat) Das Forum Friedensethik (FFE) in der Evangelischen Landeskirche in Baden hat Zurück zu meinem Brief an Stadtrat Löffler. Wäre maßgeblich an der Erstellung einer Studie mitge- es denkbar, dass Sie, unsere Gäste, die im Rah- arbeitet, die Szenarien entwickelt hat unter dem men von Städtepartnerschaften mit verschiede- Titel "Sicherheit neu denken. Von der militäri- nen Städten in Russland Kontakt haben, Bot- schen zur zivilen Sicherheitspolitik - Ein Szenario schafter der deutschen Zivilgesellschaft werden bis zum Jahr 2040". Die Studie wurde 2018 ab- und Ihre russischen Gesprächspartner über die geschlossen und als Buch und in Kurzfassung deutsche „Initiative Sicherheit neu denken“ infor- veröffentlicht. Inzwischen ist die Kurzfassung in mieren und sie anregen, die entwickelten Szena- mehrere Sprachen übersetzt worden: englisch, rien auch in Russland bekannt zu machen und französisch, niederländisch, russisch (die russi- dadurch das zu realisieren, was die Botschafter sche Kurzfassung hänge ich an. Sie könnten sie unserer Regierungen nicht zustande bringen, auch an Ihre Gesprächspartner*innen in Krasno- nämlich Gespräche über eine Zivilisierung der Si- dar senden und mitteilen, dass es hier in cherheitspolitik zu beginnen? Eine neue Verstän- Deutschland eine "Initiative Sicherheit neu den- digung mit Russland. Wir, Mitglieder des FFE, ken" gibt, die sich für die Verbreitung dieses frie- helfen Ihnen gerne dabei. Sprechen Sie mich an, denspolitischen Ansatzes einsetzt. Diese Initia- meine Mail-Adresse steht auf dem Programm- tive, in der ich auch mitarbeite, könnte beispiels- Flyer, der Ihnen vorliegt. Soweit das Wort an un- weise bei dem nächsten Treffen der Städtepart- sere Gäste. nerschaft die russischen Delegierten in diese Ge- dankenwelt einführen). (Zitat Ende). Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Und jetzt geht es zu den drei Vorträgen dieses Morgens. Der für das Protokoll und für Städtepartnerschaf- ten zuständige Verantwortliche in der Karlsruher Stadtverwaltung schrieb mir mit Datum vom 29. Oktober mit Betreff „Ihr Anliegen an Herrn Stadt- rat Aljoscha Löffler leicht kritisch Folgendes: (Zi- tat) „Sicher handelt es sich hier um ein Willy Brandts Entspannungspolitik – einst gestaltet – heute ver- spielt – künftig überlebensnotwendig. von Albrecht Müller 1950 hatte ich die Aufgabe übernommen, meinen da- ältesten Sohn verloren. In Frankreich. Aber das hatte mals 80-jährigen kranken Großvater täglich zu besu- bei ihm nicht bewirkt, dem Krieg gegen unseren Nach- chen und ihm ein stärkendes Getränk zuzubereiten. Er barn abzuschwören. war Bauer von Beruf und nie im Krieg, aber er war Heute lebe ich 12 km von der französischen Grenze kriegsbegeistert und zeigte mir deshalb stolz eine Il- entfernt. Und wenn wir Deutschen nicht gerade wie im lustrierte mit großen Bildern aus dem Siebziger-Krieg vergangenen Jahr vom Wahn der Coronapolitik ge- des vorletzten Jahrhunderts. Und er warb dafür, die packt werden und die Grenzen zum Elsass schließen, Deutschen sollten demnächst wieder in den Krieg zie- dann leben wir friedlich und in vielem gemeinsam mit hen. Gegen die Welschen, die Wackes, die Franzosen. Elsässern und anderen Franzosen zusammen. Nie- Im Ersten Weltkrieg hatte mein Großvater seinen mand käme heute auf die Idee, 2 Prozent mehr für
6 FFE Rüstung und die atomare Teilhabe der Bundesrepublik zu verlangen, um gegen Frankreich gut gerüstet zu sein. Aber wir rüsten gegen den anderen großen Nach- barn im Osten auf. Und unsere Noch-Verteidigungs- ministerin begleitet diese Aufrüstung wie mein Groß- vater vor 70 Jahren mit martialischen Worten. Man müsse Russland den Einsatz militärischer Mittel an- drohen – so Kramp-Karrenbauer in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 21. Oktober. Warum verstehen wir uns mit dem einen Volk und ge- gen das andere rüsten wir auf und zeigen ihm zur Ab- schreckung unser Waffenarsenal? Warum führen wir überhaupt Kriege? Warum haben wir nicht beherzigt, was gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und danach von vielen wiederholt und uns Kindern quasi einge- bläut worden war: Nie wieder Krieg! Mein Heimatdorf liegt genau zwischen Mannheim und Heilbronn, und auch zwischen Bruchsal und Pforz- heim im Südwesten und Würzburg im Nordosten. Den feuerroten Himmel über allen fünf brennenden Städten habe ich als 6-Jähriger nachts gesehen. Unser Bahnhof Mitten in der heißen Phase des Kalten Krieges, aus- wurde bombardiert. Nachbarn starben. Und dann kam gangs der Fünfzigerjahre, hatte der Regierende Bür- das ganze Elend der Ausgebombten und der Flücht- germeister von Berlin, Willy Brandt, einen kleinen linge, der Kriegerwitwen, der Kriegswaisen und der Kreis von Menschen um sich geschart, die vom Kalten Kriegsheimkehrer: Anti-Kriegs-Lehrmaterial am lau- Krieg und von der Politik der Stärke und Abschre- fenden Band. ckung wegwollten. Der spätere Chef des Bundeskanz- leramtes, Horst Grabert, der zu diesem Kreis gehörte, Nie wieder Krieg – auch der Politiker Gustav Heine- hat mir später einmal davon erzählt. mann und mit ihm ein paar andere Politiker wie zum Beispiel Erhard Eppler hatten das beherzigt und grün- Von den neuen Überlegungen berichteten Willy deten Anfang der Fünfzigerjahre die Gesamtdeutsche Brandt und sein Pressesprecher Egon Bahr im Som- mer 1963 auf einer Tagung der Evangelischen Akade- Volkspartei, die GVP. Sie wollten auf Wiederbewaff- nung und den Beitritt zur NATO verzichten und dafür mie in Tutzing. „Wandel durch Annäherung“ hieß die Formel damals. Damit war gemeint, dass man im da- die deutsche Einheit erreichen. Unrealistisch war das nicht. Aber die Mehrheit der Deutschen war damals maligen Westen eine Veränderung im Osten, also in schon aufgehetzt gegen die Russen. Wir kennen das der DDR, in der Sowjetunion, in Tschechien, in Polen, in Ungarn usw. erreichen wollte und erwartete, wenn CDU-Plakat vom Bundestagswahlkampf 1953 – mit optisch perfekter Hetze, in der Tradition schon lange die fanatische Konfrontation durch Zusammenarbeit geübter Hetze gegen das Slawische. ersetzt würde. Daraus wurde dann – zunächst vorsichtig beginnend Das Plakat wurde später übrigens auch von der NPD verwendet. mit der Regierungsbeteiligung der SPD in der Großen Koalition ab 1966 und im Streit mit dem damaligen Die Propaganda wurde von Konservativen und ehema- Bundeskanzler Kiesinger und der CDU/CSU – die ligen Nazis freudig aufgegriffen. Sie verfing. Wir ge- neue Ostpolitik. Das sollte heißen Verständigung, hörten fortan zu den Guten und verachteten die Sla- Versöhnung und dann Vertrags-, Entspannungs- und wen, die Russen, und alles, was östlich von uns lag. Friedenspolitik. Es ging nicht richtig voran in der da- Die Propaganda war perfekt gemacht. Die GVP hatte maligen Großen Koalition, aber es kam dann die Bun- bei der Bundestagswahl 1953 auch deshalb keine destagswahl 1969. Sie war entscheidend für den Be- Chance und blieb weit unter der 5-Prozent-Hürde. ginn der Entspannungspolitik. Ich hatte das Glück, ab August 1968 mit dabei zu sein, zunächst als Reden- Damit war diese Chance zu einem frühen Friedens- schreiber des Bundeswirtschaftsministers, dann als schluss auch mit den osteuropäischen Ländern vertan. Mitwirkender bei der Planung des Wahlkampfes 1969 und nach der Wahl verantwortlich für den Wahlkampf Der Kalte Krieg kam richtig auf Touren. 1972.
FFE 7 Der am 21. Oktober 1969 gewählte Bundeskanzler Ich war damals Sprecher der Parlamentarischen Lin- Brandt verkündete im Deutschen Bundestag bei seiner ken in der SPD-Bundestagsfraktion und hatte das Ver- ersten Regierungserklärung am 28.10.1969: gnügen, mit Egon Bahr zusammen an der Endfassung des Berliner Programm-Entwurfs zu arbeiten. Das be- Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, …. traf auch den sicherheitspolitischen und außenpoliti- Im Innern und nach außen. schen Teil. Gute Nachbarn von allen, nicht nur von Franzosen, Viele Zeitgenossinnen und -genossen kennen und wis- auch von den Polen, auch von den Holländern und den sen nicht, was in diesem Programm steht. Wahrschein- Tschechen, und den Russen. lich ist auch vieles in Ihrem Kreis nicht bekannt. Des- Die neue Ostpolitik wurde ab 1970 in Verträgen mit halb zitiere ich einige wichtige Aussagen: Moskau, mit Warschau, mit Prag praktisch umgesetzt. Schon die Überschrift des einschlägigen Kapitels In den Verträgen wurde der sogenannte Gewaltver- weist den Weg: zicht vereinbart. III. Frieden in gemeinsamer Sicherheit. Dann kamen die neuen Partner 1975 in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der Ich zitiere aus dem Text: KSZE, zusammen. Daraus wurde später die OSZE. • Der Krieg darf kein Mittel der Politik Es gab immer auch Rückschläge – zum Beispiel die sein; dies gilt erst recht im Zeitalter sogenannten SS 20 der Sowjetunion und die Antwort: atomarer, chemischer und biologi- die Nachrüstung. Aber insgesamt kamen der Dialog scher Massenvernichtungswaffen. und die Zusammenarbeit zwischen West und Ost vo- • Frieden bedeutet nicht nur das ran. Diese Politik fand dann 1989 mit dem Mauerfall Schweigen der Waffen, Frieden be- und 1990 mit der Charta von Paris einen krönenden deutet auch das Zusammenleben der Abschluss. Völker ohne Gewalt, Ausbeutung Die Präambel der Charta von Paris wäre auch heute und Unterdrückung. Friedenspolitik noch wegweisend: umfasst auch Zusammenarbeit der Völker in Fragen der Ökonomie, „Wir, die Staats- und Regierungschefs der Teilneh- Ökologie, Kultur und Menschen- merstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusam- rechte. menarbeit in Europa, sind in einer Zeit tiefgreifenden Wandels und historischer Erwartungen in Paris zu- Gemeinsame Sicherheit sammengetreten. Das Zeitalter der Konfrontation und • Ost und West haben den Versuch, Si- der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklä- ren, daß sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung cherheit gegeneinander zu errüsten, mit immer mehr Unsicherheit be- und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit zahlt. sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker Ein wahres Wort auch für heute. und die Kraft der Ideen der Schlußakte von Helsinki • Kein Land in Europa kann heute si- bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, cherer sein als der mögliche Gegner. des Friedens und der Einheit an.“ Jeder muss also schon im eigenen In- Die treibende Kraft der Entspannungspolitik war in teresse Mitverantwortung überneh- Deutschland und in Europa die Sozialdemokratie. men für die Sicherheit des anderen. Heute kaum zu glauben. Darauf beruht das Prinzip gemeinsa- mer Sicherheit. Es verlangt, dass jede Das Berliner Grundsatzprogramm der SPD von Seite der anderen Existenzberechti- 1989 – wegweisend gung und Friedensfähigkeit zubilligt. Wegweisende Sätze sind das. Und weiter gehts: Hinzuweisen bleibt noch auf ein wichtiges und verges- sen gemachtes Ereignis des Jahres 1989: Die Partei- • Unser Ziel ist es, die Militärbünd- tagsdelegierten der SPD trafen sich am 20. Dezember, nisse durch eine europäische Frie- also anderthalb Monate nach dem Mauerfall, in Berlin densordnung abzulösen. zur Verabschiedung eines neuen Grundsatzpro- gramms, des Berliner Grundsatzprogramms.
8 FFE Sie haben richtig gehört: Nicht nur der Warschauer Es gab die erwähnten Verträge. Es gab Regeln für den Pakt, auch die NATO soll aufgelöst werden. Das ist Umgang miteinander: jedenfalls das Ziel. Wichtig war, sich in die Lage des Partners und frühe- • Der Umbruch in Osteuropa verrin- ren Gegners im Osten versetzen zu können. gert die militärische und erhöht die politische Bedeutung der Bündnisse Wichtig war, immer darauf zu achten, kein Misstrauen und weist ihnen eine neue Funktion zu säen und stattdessen Vertrauen zu bilden. Dafür zu: Sie müssen, bei Wahrung der wurde ein etwas bürokratisches Wort kreiert: „vertrau- Stabilität, ihre Auflösung und den ensbildende Maßnahmen“. Die Praxis entsprach den Übergang zu einer europäischen Vorgaben und Überlegungen, zum Beispiel: Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die Perspektive für das Egon Bahr, der die Verträge im Auftrag der Bundes- Ende der Stationierung amerikani- regierung aushandelte, hatte eine besonders vertrau- scher und sowjetischer Streitkräfte ensvolle Atmosphäre und Zusammenarbeit mit seinem außerhalb ihrer Territorien in Eu- Verhandlungspartner und späteren sowjetischen Bot- ropa. schafter in Bonn, Walentin Falin, aufgebaut. • Die Bundeswehr hat ihren Platz im Bundeskanzler Willy Brandt hat am 7. Dezember 1970 Konzept gemeinsamer Sicherheit. mit dem Kniefall in Warschau ein Vertrauenskapital Sie hat ausschließlich der Landesver- geschaffen, von dem wir vermutlich bis heute zehren. teidigung zu dienen. • Die europäische Gemeinschaft ist ein Baustein einer regional gegliederten Weltgesellschaft. Sie ist eine Chance für den Frieden und die soziale De- mokratie. Ganz Europa muss eine Zone des Friedens werden. Ganz Europa! Dann heißt es auch noch zu Europa, • Die europäische Gemeinschaft soll durch eine gemeinsame Außenpolitik dem Frieden dienen, ihren Völkern Vergleichen Sie diesen Vorgang mal mit dem zuvor in internationalen Beziehungen mehr gezeigten Plakat der CDU von 1953. Hier wird der Gewicht verleihen und der Konfron- Unterschied zwischen der Politik der Abschreckung tation der Weltmächte entgegenwir- und Stärke einerseits und der Versöhnungs- und Ent- ken. Die historische Perspektive der spannungspolitik andererseits visuell und markant EG liegt nicht darin, eine eigene sichtbar. Vormachtrolle zu übernehmen. Statt in militärischer Stärke findet sie ihre 1971 erhielt Willy Brandt den Friedensnobelpreis. Das Identität als weltweit gefragter Part- war wiederum eine enorm vertrauensbildende Ent- ner für Handel und Industrie, für scheidung. Technik und Wissenschaft, für eine intakte Umwelt und eine dauerhafte Die Spitzenpolitiker wie auch ihre Mitarbeiterinnen Entwicklung der Dritten Welt. und Mitarbeiter gingen vertrauensvoll und freund- schaftlich mit den Partnern im Osten um. Auch mit So und ähnlich geht es weiter. Als Sozialdemokrat im vielleicht nebensächlichen Gesten des Zusammenle- Herzen muss man sich schämen, dass die eigene Partei bens: ihre eigenen Erkenntnisse und Willenserklärungen seit 1990 so außer Acht gelassen hat. 1970-1972 war ich für die Öffentlichkeitsarbeit und die Wahlkämpfe der SPD verantwortlich. Dazu ge- Wichtig: vertrauensbildende Maßnahmen hörte auch, Meinungsumfragen zu veranlassen und den Überblick über Meinungsumfragen insgesamt zu Noch einmal zurück zum Konzept der Ost- und Ver- behalten. Eines Tages meldete sich in meinem Büro ständigungspolitik. ein Legationsrat der sowjetischen Botschaft mit
FFE 9 Namen Abraschkin. Ob er mich mal besuchen könne. Stellen Sie sich vor, Sie seien ein US-amerikanischer Er berichtete mir beim ersten Treffen, dass er bei der Stratege vom Kaliber Zbigniew Brzeziński und hätten Sowjetischen Botschaft dafür verantwortlich sei, peri- gerade ein Buch in Arbeit, in dem Sie eine Strategie odisch nach Moskau zu melden, wie es um die Mei- der Vorherrschaft für die aus Ihrer Sicht einzige Welt- nungslage des deutschen Volkes stünde. Deshalb macht, die USA, entwickelt. Dann wäre klar, dass würde er sich gerne öfter mit mir treffen. Ich willigte Russland aus Europa hinauskomplimentiert werden ein und informierte ihn dann regelmäßig vom Stand muss und keine Weltmacht bleiben darf. der Meinung des deutschen Volkes, insbesondere dar- über, ob unsere Ostpolitik eine Mehrheit hat. Stellen Sie sich vor, Sie seien Pole oder Balte aus dem dortigen eher konservativen bis rechten Lager und Sie Zur Vertrauensbildung, die ein wichtiges Element der seien der Meinung, Ihr Volk hätte noch ein paar Rech- Friedenspolitik war, gehörte damals auch die unkom- nungen mit den Russen offen. Dann würden Sie die plizierte Zusammenarbeit mit Medien aus dem Ost- Entspannungspolitik so schnell wie möglich loswer- block. Davon will ich auch deshalb berichten, weil den wollen. heute die Lage so viel anders ist. Die Politikerinnen und Politiker der sozialliberalen Koalition verkehrten Stellen Sie sich vor, Sie seien bei der NATO in Brüs- nicht nur mit den Offiziellen von der Botschaft, son- sel tätig oder auch nur Teil einer der NATO- dern auch mit sowjetischen Journalisten auf völlig Streitkräfte und ihr beruflicher Aufstieg sei sowohl normale und menschliche Weise. Es gibt Fotos von mit der Existenz als auch der weiteren Ausdehnung Willy Brandt im Wahlkampf-Sonderzug in der Runde der NATO verbunden, dann würden Sie selbstver- deutscher und ausländischer Journalisten, unter ande- ständlich gegen die Auflösung der NATO Front ma- ren mit dem russischen Journalisten Grigoriew. chen und Sie würden sogar dafür eintreten, dass ihr Operationsbereich nach Osten ausgedehnt wird. Und Zu unserer Volleyball-Mannschaft auf dem Bonner Sie würden außerdem dafür eintreten, dass die Bun- Venusberg gehörten neben deutschen auch sowjeti- deswehr und die NATO insgesamt ihren Operations- sche Journalisten. Heute hingegen werden die Mitar- bereich weltweit ausdehnen und Auslandseinsätze zur beiterinnen und Mitarbeiter des russischen Mediums Gewohnheit werden. RT Deutsch wie Aussätzige behandelt. Stellen Sie sich vor, Sie würden zu einem neokonser- Dabei schwingt mit, was wir in jenen Zeiten erlebt ha- vativen Thinktank des Westens, zum Beispiel zu Strat- ben, als von Feindsendern die Rede war. for von George Friedman, gehören und seien wie Ihre Kolleginnen und Kollegen überzeugt davon, dass un- An diesem kleinen Beispiel können Sie sehen, wie sere Demokratie wunderbar ist und dass wir die Auf- weit heruntergekommen wir inzwischen sind. gabe hätten, überall auf der Welt durch Regime Change dafür zu sorgen, dass Ihre Ideologie zum „Heute verspielt“ Durchbruch kommt und realisiert wird. Dann käme heißt es mit Recht in dem mir gestellten Thema. auch Russland auf die Tagesordnung. Es ist ja oft un- ausgesprochen so, dass westliche Kreise meinen, nicht Wie kam es zum Abschied von der Vertragspolitik nur in Syrien oder Libyen oder im Irak sei ein Regime und Verständigungspolitik gegenüber Russland? Change notwendig, auch in Russland! Vorweg die Anmerkung: Es fing nicht mit dem Kon- Stellen Sie sich vor, Sie würden die Erfahrung ge- flikt in der Ukraine, nicht mit dem Maidan und auch macht haben (wie einige in Ihrem Umfeld), dass man nicht mit der sogenannten Annexion der Krim an. Das sein Einkommen und Vermögen dann besonders war eher schon der Schlusspunkt einer fatalen Fehlent- schnell und effektiv vermehren kann, wenn man auf wicklung. das Vermögen anderer zugreifen kann. Dann würden Sie in Russland eine überaus attraktive Ansammlung Ja, es ist unglaublich viel an Kapital der Verständi- von Vermögenswerten, von Rohstoffen und Lände- gung und der Vertrauensbildung verspielt worden. reien sehen. Und dann würden Sie es gerne so einrich- Wie das geschehen ist, will ich jetzt berichten: ten, wie das im Ansatz zu Zeiten des Präsidenten Jelzin in den neunziger Jahren war: Da haben westli- Stellen Sie sich vor, Sie seien der Chef eines Rüs- che Regierungen und westliche Kreise und westliche tungsbetriebs und würden verfolgen, wie die Strategie Konzerne in Russland zugegriffen, zusammen mit den der Abschreckung durch die gegenseitige Erklärung dortigen Oligarchen und Ausbeutern. Das Russland ehemaliger Feinde auf Gewaltverzicht abgelöst wird. Jelzins war zwar ein bisschen chaotisch, aber sehr hilf- Sie hätten diese Politik als geschäftsschädigend be- reich für die eigene Vermögensmehrung. Und ange- trachtet. sichts dieser in jeder Hinsicht lukrativen Jelzin-Zeit
10 FFE muss Putin als ein Typ betrachtet werden, den man Anatolien so wiederherzustellen, wie schnellstens loswerden muss. Ein Weg zu diesem Ziel es in der Hochzeit der römischen Aus- ist die Agitation. Deshalb nennen sie Putin gerne einen dehnung gewesen sei.“ Machthaber, einen Autokraten und – in der Steige- rungsform – einen Diktator. Gemeint ist damit eine Linie von Finnland bis zum Schwarzen Meer. Links, also westlich Sie finden übrigens zu den Verhältnissen in der Jelzin- dieser Linie, leben die Guten, rechts die Bö- Zeit gute Informationen in Naomi Kleins großem sen. Buch: Schock-Strategie. Im weiteren Verlauf ist dann auch praktisch Es gab einige markante Stationen der Wiederbele- im Geist von Bratislava verfahren worden: In bung der Konfrontation zwischen dem Westen und den Ländern an der Grenze zu Russland wer- Russland. den NATO-Manöver abgehalten, dorthin wird schweres Kriegsmaterial transportiert und Auf einige will ich hinweisen: wieder zurück. Flugzeuge werden in die Nähe der russischen Grenze verlagert. Russland • Helmut Kohl, der hierzulande auch nach dem wird in vielfältiger Weise als Feind betrachtet. Fall der Mauer und geistig auf der Basis der Charta von Paris bis 1998 regierte, kam nach • Eine beachtliche Rolle spielte auch der im Auskunft seines Parteifreundes und Parla- März 1999 begonnene Kosovo-Krieg. Dieser mentarischen Staatssekretärs im Verteidi- galt einem Freund Russlands, Rest-Jugosla- gungsministerium Willy Wimmer (CDU) oft wien. Insbesondere sollte aber damit eine aufgewühlt von Besuchen aus den USA zu- Bresche für die Erweiterung des Einsatzge- rück. Er hat dort feststellen müssen, dass die bietes der NATO und auch der Bundeswehr Regierenden in den USA sich schon bald geschlagen werden. In dem erwähnten Papier nach 1990 von den Bekenntnissen der Zu- der Konferenz von Bratislava gibt es auch sammenarbeit und der friedlichen Koexistenz dazu einen unmissverständlichen Text, die absetzten. Nummer 6: • Nato-Osterweiterung. Das war 1990 nicht „Unbeschadet der anschließenden le- vorgesehen. 1997 wurden Polen, Tschechien galistischen Interpretation der Euro- und Ungarn der Beitritt angeboten. Danach päer, nach der es sich bei dem erwei- weiteren. Heute gehören nahezu alle Staaten terten Aufgabenfeld der NATO über an der Grenze zu Russland der NATO an. das Vertragsgebiet hinaus bei dem Krieg gegen Jugoslawien um einen • Die seit 1997 vollzogene NATO- Ausnahmefall gehandelt habe, sei es Osterweiterung entspricht nicht dem Geist selbstverständlich ein Präzedenzfall, der Übereinkunft von 1990 und der Charta auf den sich jeder jederzeit berufen von Paris. Russland muss es so empfinden, könne und auch werde.“ dass die Ausdehnung der NATO gegen Russ- land gerichtet ist. Dafür spricht auch folgen- • Es ging dann weiter mit dem Versuch, die der Vorgang: Ukraine in die EU einzubinden und der NATO anzunähern. Die USA investierten in • Vom 28. bis zum 30. April 2000 fand in Bra- der Ukraine 5 Milliarden $ – 5 Milliarden, tislava eine vom State Department und dem nicht 5 Millionen – für den Aufbau von American Enterprise Institute arrangierte und NGOs, für Propaganda und Wühlarbeit. Alles getragene Konferenz statt. Sie diente erkenn- gegen Russland – so musste man es aus Mos- bar dem Versuch, Russland aus Europa hin- kauer Sicht sehen. aus zu drängen. Willy Wimmer hat dem da- maligen Bundeskanzler Gerhard Schröder am Die Abkehr von der Entspannungspolitik und die 2.5.2000 einen Brief geschrieben und darin Hinwendung zu einer neuen Politik der Konfronta- die Beschlüsse dieser Konferenz festgehal- tion mit Russland ist von den Treibern dieser Ent- ten. Siehe dazu wikipedia.org/wiki/Bratis- wicklung bei 2 wichtigen Pfeilern unserer politi- lava-Konferenz . In Ziffer 7 heißt es: schen Willensbildung abgesichert worden: „Es gelte, bei der jetzt anstehenden 1. Bei den Parteien, die Träger der Entspan- NATO-Erweiterung die räumliche Si- nungspolitik waren. tuation zwischen der Ostsee und
FFE 11 2. Bei den Medien offensichtlich peinlich, dass sie mehr wussten als Pu- tin. Zum Beleg verweise ich auf eine Aufnahme eines In der SPD, also bei der Initiatorin der Entspannungs- Teils der Regierungsbank während der erwähnten Pas- politik, finden Sie nicht mehr viel vom Geist eines sage in der Rede von Putin am 25.9.2001: Willy Brandt. Er wird zwar ständig gefeiert und wer etwas auf sich hält, lässt sich gerne mit dem Brandt- Der deutsche Außenminister Joschka Fischer und der Monument im Willy-Brandt-Haus ablichten, aber die Innenminister Schily und auch die Justizministerin entscheidenden Akteure, vielleicht mit der Ausnahme Herta Däubler-Gmelin brachten mit ihrer Körperspra- des Fraktionsvorsitzenden Mützenich, sind anders un- che deutlich zum Ausdruck, was sie von dem Angebot terwegs. des russischen Präsidenten halten: nichts, weil die USA untersagt hatten, darauf einzugehen. Das gilt mindestens genauso für die Bündnis-Grünen. Die kommen zwar von der Friedensbewegung. Aber Wahrscheinlich ist die Fehleinschätzung der Lage sie sind offenbar nachhaltig von den Realos und At- durch die Verantwortlichen Russlands auch ein Grund lantikern unterwandert. Fücks, Joschka Fischer, dafür, dass sie später umso enttäuschter waren. Das Baerbock, Özdemir, Göring-Eckart – den Geist der war dann zum Beispiel erkennbar in Putins Rede auf Friedenspolitik muss man mit der Lupe suchen. Die der Sicherheitskonferenz in München im Jahre 2007. Spitzenkandidatin Baerbock wurde offensichtlich von Die Russen hatten die Hand ausgestreckt und diese Atlantikern ausgeguckt. Auf Substanz kam es dabei war zurückgeschlagen worden. Jetzt gilt nicht mehr offensichtlich nicht an, Hauptsache gegen Russland. das Projekt „Gemeinsame Sicherheit“. Jetzt gilt Ab- schreckung und Politik der Stärke und das Denken im Bei den Medien ist die entspannungsfeindliche Linie Freund-Feind-Schema. offensichtlich systematisch verankert worden. Spie- gel, Zeit, Süddeutsche Zeitung – allesamt Medien, die Da ich auf ein langes Leben zurückblicke und oben- mit der Entspannungspolitik der sechziger und siebzi- drein früh politisch und vor allem friedenspolitisch in- ger Jahre eng verwoben waren, wurden gekippt. Die teressiert war, habe ich das ganze Auf und Ab und Auf „Anstalt des ZDF“ brachte am 29.4.2014 ein exzellen- und Ab auch persönlich so erlebt. Und oft wundere ich tes Stück – ein Tafel-Stück mit der Zuordnung bedeu- mich heute über markante Wiederholungen. Zum Bei- tender deutscher Journalisten zu atlantischen Interes- spiel über die Vorstellung und den moralischen Nie- sen. Transatlantische Swingerclubs, wie Max Uthoff dergang einer Verteidigungsministerin aus dem Saar- meinte. Hier ist der einschlägige Ausschnitt: y- land. Frau Kramp-Karrenbauer redet als gewesene outube.com/watch?v=1LONPFtP1GY Verteidigungsministerin so wie ihre Vorläufer von der Jungen Union und dem RCDS (Ring Christlich-De- Die Verantwortlichen in Russland haben den Auf- mokratischer Studenten) in den fünfziger und Anfang bau der neuen Front an ihrer Westgrenze erstaun- der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Sie ver- lich lange nicht wahrgenommen oder nicht ernst mag wahrscheinlich auch gar nicht anders zu denken genommen. Dazu nur ein Indiz von vielen: als in Kategorien von Freund und Feind, von Abschre- ckung und Politik der Stärke und der Drohung mit mi- Präsident Putin hat noch am 25. September 2001, also litärischer Gewalt. ein Jahr und 5 Monate nach der Konferenz in Bratis- lava im Deutschen Bundestag eine insgesamt freund- Eine neue Entspannungspolitik ist dringend not- liche Rede gehalten. Er hat eine Zusammenarbeit in wendig. Sie ist überlebensnotwendig, wie es im einer die Kontinente übergreifenden Völkergemein- Thema heißt schaft, von Lissabon bis Wladiwostok, angeboten und dafür geworben. Das war erstaunlich, denn auch dem Sie ist notwendig, weil es ohne neue Verständigung russischen Präsidenten musste zu diesem Zeitpunkt und ohne einen Abbau der Spannungen und der gegen- bekannt sein, wes Geistes Kind die Akteure im Westen seitigen Rüstungen ausgesprochen gefährlich werden sind. Sie setzten nicht mehr auf Kooperation, sondern kann. auf Konfrontation, auf Abschreckung und Politik der Stärke, und ganz deutlich auf den Ausschluss Russ- Die Kriegsgefahr ist größer geworden. Das will ich lands aus der Gemeinschaft Europas. an 11 Punkten, an 11 Risiken für den Frieden, sichtbar machen: Die damals in Deutschland verantwortlichen Politike- rinnen und Politiker haben diesen Abschied von der 1. Der erste ist die erwähnte Feststellung, dass entspannungspolitischen Linie vermutlich nicht aus die Werbung für den militärischen Einsatz, innerer Überzeugung vertreten, sondern auf Geheiß dass Kriegstreiberei wieder hoffähig des großen Verbündeten im Westen. Und es war ihnen
12 FFE geworden ist. Kriege zu führen wird als Zünder für einen Konflikt bei uns in Europa selbstverständlicher Teil der Politik betrach- sein. Damit sind wir eng verwoben mit allem, tet. was sich zwischen USA und China und zwi- schen USA und Formosa und China abspielt. 2. Es gibt unter den Menschen geringeren Wi- derstand gegen Kriege. Das hat viel damit zu 8. So wie wir erfolgreich daraufsetzen konnten, tun, dass die meisten heute lebenden Men- dass die Strategie des „Wandel durch Annä- schen keine unmittelbare Kriegserfahrung herung“ dazu führen könnte und wird, dass mehr haben, nicht mehr haben können. Da- sich in Russland, in der Sowjetunion und im mit schwindet auch die Angst und die Sorge, Warschauer Pakt Kräfte durchsetzen, die es könnte zu einem Krieg kommen. Kriege Konflikte friedlich lösen wollen und auf ge- werden ja auch tatsächlich geführt. meinsame Sicherheit in Europa setzen, so kann umgekehrt die neue Konfrontation zu 3. Die Regime Change-Absichten der USA und inneren Veränderungen in Russland führen, einiger Gefolgsleute sind höchst gefährlich, die uns dem heißen Konflikt näherbringen. gerade wenn sie wie im Falle der Ukraine ein Das wäre dann „Schlimmer Wandel durch Land in der Nähe Russlands betreffen, oder Konfrontation“. Russland selbst. Ich muss mich oft verteidigen, weil ich in Pu- 4. Die sogenannte Annexion der Krim oder – tin anders als die Mehrheit der Beobachter und wie Russlands sagt – die Eingliederung der der Agitatoren im Westen nicht das Per-se- Krim in die Russische Föderation und die Schlechte sehe. Ich frage mich voller Sorge, kriegerischen Auseinandersetzungen in der was und wer danach kommt. Woher wissen Ostukraine können zu Kriegen führen. Die wir, woher wissen die streitbaren Agitatoren Ukraine will die Krim zurückhaben und rüs- des Westens, dass Friedlicheres, Besseres, tet auf. Russland will sich darauf nicht ein- Kooperationbereiteres nachkommt? Und: lassen. Eine immer wiederkehrende Gelegen- Glaubt hier jemand, dass der Westen sicher heit zur militärischen Aggression. sein kann, bei einem personellen Wechsel ei- nen vernünftigeren Außenminister präsentiert 5. Im heutigen Ost-West-Konflikt gibt es viele zu bekommen, als der jetzige Außenminister verschiedene Akteure und es gibt viele Gele- Lawrow das ist? Ich habe den Eindruck, dass genheiten und Möglichkeiten, an denen sich hierzulande und im gesamten Westen Spieler- militärische Konflikte entzünden können. Die naturen unterwegs sind. baltischen Staaten, die Ukraine, die Balkan- staaten, die Rüstungswirtschaft bei uns, in 9. Europa, genauer gesagt, die Europäische den USA, in Großbritannien, irgendwelche Union und ihre Organe und Einrichtungen rechts konservativ denkenden Funktionäre – und einzelne Länder können, mehr als wir sie alle können zündeln und die Ursache von bisher gedacht haben, zur Ursache und zum kleinen und größer werdenden Konflikten Katalysator kriegerischer Konflikte werden. werden. Im Oktober 2021 konnten wir übri- Diese Feststellung mag Sie irritieren. Aber gens beispielhaft beobachten, wie Konflikte beachten Sie bitte zwei Vorgänge, auf die ich hochgeschaukelt werden: die NATO ver- hinweisen will und muss: langt, dass acht russische Mitarbeiter der rus- sischen Botschaft bei der NATO das Land Erster Vorgang: Die deutsche Bundeskanz- verlassen, Russland schließt daraufhin seine lerin Merkel und der französische Präsident NATO-Botschaft, Kramp-Karrenbauer macht Macron hatten im Juni 2021 ein EU- ihre erwähnte feindselige Bemerkung, der Gipfeltreffen mit Putin vorgeschlagen – als deutsche Militärattache wird in Moskau ein- Beitrag zur Entspannungspolitik sozusagen. bestellt usw. Zur Reaktion zitiere ich der Einfachheit halber die FAZ vom 24. Juni 2021 6. Es gibt russische Minderheiten in mehreren https://www.faz.net/aktuell/politik/aus- möglichen Konfliktregionen. Wenn unter land/balten-entsetzt-ueber-merkels-vorstoss- diesen ein Blutbad angerichtet wird, dann fuer-gipfel-mit-putin-17406020.html steht der Krieg vor der Tür. Soll die Europäische Union ein Gip- 7. Ein möglicher Konflikt der USA und seiner feltreffen mit Wladimir Putin abhal- Verbündeten in Ostasien kann auch der ten? Bundeskanzlerin Angela Merkel
FFE 13 und der französische Präsident Em- aufdecken und Menschenrechtsakti- manuel Macron wollen das. Sie haben visten unterstützen damit am Donnerstag erheblichen Wirbel beim Europäischen Rat verur- Und weiter heißt es in der offiziellen Pres- sacht. Denn ihr Vorschlag landete erst semitteilung des Europäischen Parlaments: in letzter Minute auf dem Tisch der Die EU soll sich gegen die aggres- Regierungschefs, und er legte so- sive Politik des Kremls wehren und gleich die Bruchlinien in Europa of- gleichzeitig den Grundstein für eine fen, wenn es um Russland geht: im Zusammenarbeit mit einem künfti- Westen viel Unterstützung, im Osten gen demokratischen Russland le- helles Entsetzen. gen. Die osteuropäischen EU-Mitglieder haben diesen Vorstoß abgeblockt. In der EU sind Bei der Bewertung des Stands der Be- Mehrheiten sichtbar, die sich gegen Freund- ziehungen zwischen der EU und schaft mit Russland wenden. Russland macht das Europäische Par- lament deutlich, dass es „zwischen Das wurde in einer berichtenden Sendung des dem russischen Volk und dem russi- ZDF noch einmal besonders deutlich. Merkels schen Regime von Präsident Putin als und Macrons Initiative wurde in Brüssel quasi stagnierende autoritäre Kleptokratie, auf den Kopf gestellt. Ich zitiere das ZDF: angeführt von einem Präsidenten auf Lebenszeit, umgeben von einem EU-Gipfel in Brüssel- Kreis von Oligarchen unterscheidet“. Härterer Kurs gegenüber Russland Die Abgeordneten betonen jedoch, beschlossen dass eine demokratische Zukunft für Russland möglich ist und dass der Rat 25.06.2021 05:30 Uhr eine EU-Strategie für dieses Szenario Mit der Androhung neuer Wirt- annehmen muss, die auch ein „breites schaftssanktionen will die EU ihre Angebot an Anreizen und Bedingun- Gangart gegenüber Russland ver- gen für die Stärkung von Tendenzen schärfen. Merkels Vorschlag für Spit- hin zu Freiheit und Demokratie im In- zentreffen mit Putin erbrachte keine land enthält.“ Einigung. Der Text wurde mit 494 Stimmen bei Der zweite Vorgang: Die neue Feindseligkeit 103 Gegenstimmen und 72 Enthaltun- statt neuer Entspannung zeigte sich dann gen angenommen. kurze Zeit später noch in einem Beschluss des Daraus muss man wohl schließen: eine neue Ver- Europäischen Parlaments. Dort wurde Mitte ständigung mit Russland ist zusammen mit der September 2021 beschlossen – ich zitiere Mehrheit in EU-Europa mit hoher Wahrschein- Teile einer Pressemitteilung des europäischen lichkeit nicht möglich. Eine bittere Erkenntnis. Parlaments: Die Mehrheit der EU-Staaten wird nach meinem Ein- Abgeordnete fordern neue EU-Strategie zur druck von den USA gesteuert und im Inneren gerade Förderung der Demokratie in Russland in osteuropäischen Staaten von antirussischen Kräften o Die EU muss zwischen dem russi- mitbestimmt. Das sind 2 Probleme, die man gerade bei schen Volk und dem russischen Re- entspannungspolitischen Überlegungen beachten gime unterscheiden sollte. Deshalb gibt es gute Gründe, sicherheitspoli- tisch wichtige Entscheidungen nicht in die Hände der o Zusammenarbeit mit Partnerländern EU zu legen. und der Zivilgesellschaft intensivie- ren, um pro-demokratische Tenden- Man muss so insgesamt leider feststellen, dass die Eu- zen in Russland zu stärken ropäische Union im Zusammenhang mit der Osterwei- terung der EU und der NATO zur Belastung für eine o Nötigenfalls Sanktionen verhängen, „neue Verständigung mit Russland“ geworden ist. Ströme „schmutzigen Geldes“
14 FFE Mein Fazit: Wenn wir Verständigung und Frieden mit auch ausgesprochen gerne in Frieden mit Frankreich, Russland wollen, müssen wir uns aus der Umklamme- mit den Niederlanden und anderen Partnern und Nach- rung und Fremdbestimmung durch westliche, durch barn in Europa leben wollen. US-amerikanische und europäische Partner lösen. Das ist die bittere Wahrheit. Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein – nach Westen wie nach Osten. Wir werden auch den USA und der NATO sagen müs- sen: Wir wollen Freunde sein und bleiben, auch mit ihnen, aber wir wollen künftig keine Waffenbrüder mehr bleiben und sein, wenn es gegen Russland geht und auch nicht gegen China. Wir verständigen uns lie- ber mit den Russen als sie zu bekriegen, so wie wir ja Rückfall in den Kalten Krieg? Wege und Irrwege der deutschen und europäischen Ostpolitik nach dem Ende der Sowjetunion von Gernot Erler I. Russland und der Westen: Ein Rückblick dem rassenideologischen Vernichtungsplan des “Un- ternehmen Barbarossa“, der die minderwertige slawi- Russland und den Westen verbindet eine über 1000 sche Rasse zurückdrängen und eliminieren wollte, um Jahre alte wechselhafte Geschichte. Russische Schul- “deutschen Lebensraum“ im Osten zu schaffen. In der kinder lernen, dass der Großfürst Alexander Newskij Bilanz waren 27 Millionen Kriegstote und unermess- 1242 in der Schlacht auf dem Peipussee den Deut- liche Zerstörungen in der Sowjetunion zu beklagen. schen Orden besiegt und damit auf Distanz gehalten Doch am Ende stand der sowjetische Sieg im “Großen hat. Sie lernen aber auch, dass Peter der Große Anfang Vaterländischen Krieg“, bis heute das wichtigste iden- des 18. Jahrhunderts das “Fenster zum Westen“ geöff- titätsstiftende Ereignis für das gegenwärtige Russland. net hat. Katharina die Große, Zarin deutscher Her- Aber es gab auch das, was ich das “Wunder der Ver- kunft, regierte über 30 Jahre zwischen 1762 und 1792 söhnung“ nenne, nämlich auf sowjetischer Seite die und rief deutsche Kolonisten an die Wolga, die dort Bereitschaft zum Neuanfang anstelle einer Perpetuie- auf Dauer siedelten und die Kultur der “Russlanddeut- rung der Feindschaft mit Deutschland und den Deut- schen“ begründeten. Im 19. Jahrhundert begann in schen. Weltpolitisch wurde fortan das Verhältnis zwi- Russland die Auseinandersetzung zwischen “Westlern schen der Sowjetunion und dem Westen vom “Kalten und Slawophilen“ über die richtige Zukunft des Lan- Krieg“ und der Blockkonfrontation geprägt. 1945 tra- des. Die einen setzen auf das westeuropäische Vor- ten die Vereinigten Staaten als Weltmacht und Gegen- bild, die anderen auf eine eigenständige Entwicklung spieler zur Sowjetunion auf die politische Bühne. Es im Sinne des ursprünglichen Slawentums. Eine Fort- begann die Zeit der bipolaren Weltordnung. Deutsch- setzung dieser Diskussion lässt sich bis in die Gegen- land blieb angesichts der Kriegsverbrechen zunächst wart verfolgen. Im Übrigen ist das 19. Jahrhundert ge- ausgegrenzt. Konrad Adenauer gelang es aber, das prägt von deutscher Begeisterung für die russische Li- Misstrauen abzubauen und Deutschland über die teratur, besonders für Autoren wie Fedor Westintegration in den Vorläufer der EU und in die Dostojewskij, Leo Tolstoj und Iwan Turgenjew. NATO wieder zum Partner zu machen. Es dauerte bis 1970, dass mit der Ost- und Entspannungspolitik von Das 20. Jahrhundert bringt mit den beiden Weltkrie- Willy Brandt, Egon Bahr und Walter Scheel Vertrauen gen riesige Verluste für Russland, wobei der 1. Welt- auch im Osten wieder gewonnen wurde. Und ohne krieg auch die Türen für die Oktoberrevolution von dieses Vertrauen wäre es nicht zum 2+4-Vertrag von 1917 öffnete. Verlierer waren am Ende Deutschland 1990 gekommen, der zur Wiedervereinigung Deutsch- (Stichwort Vertrag von Versailles) ebenso wie Russ- lands führte. Diese hatte einen Helden: Michail Gor- land (Frieden von Brest- Litowsk). Aber das alles wird batschow, der beliebteste russische Politiker in überschattet von der Tragödie des 2. Weltkriegs mit Deutschland. Aber wenig später, im Dezember 1991,
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