Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der Schweiz - Working Paper, Andreas Rieger, Juni 2021 - Unia

 
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Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der Schweiz - Working Paper, Andreas Rieger, Juni 2021 - Unia
Arbeitgeber- und
Wirtschaftsverbände
in der Schweiz
Working Paper, Andreas Rieger, Juni 2021

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Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der Schweiz - Working Paper, Andreas Rieger, Juni 2021 - Unia
Impressum

Autor: Andreas Rieger
Redaktion: Katja Signer Hofer, Karina Peters
Layout: Katja Signer Hofer
Titelbild: Medienkonferenz Wirtschaft für die Bilateralen, 7.1.2009, keystone
Druck: Unia
Auflage: 500 Ex.

Zu beziehen bei:
Unia Zentralsekretariat
Postfach
3000 Bern 16
www.unia.ch/publikationen

Bern, Juni 2021

2
Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der Schweiz - Working Paper, Andreas Rieger, Juni 2021 - Unia
Inhaltsverzeichnis

Vorwort                                                      4

1.    Einleitung                                             5

2.    Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der Schweiz    6

3.    Umfragen über Branchenverbände 2007 und 2020           8

4.    Einzelne Verbände in den Branchen und Regionen        11

5.    Entwicklung und Politik der Dachorganisationen        20
5.1   Schweizerischer Arbeitgeberverband SAV                20
5.2   Schweizerische Gewerbeverband SGV                     24
5.3   Economiesuisse (ES), ehemals Vorort                   27

6.    Gescheiterte SVPisierung der Arbeitgeberverbände      32

7.    Stabiler Organisationsgrad – Erosion der Verbände?    34

8.    Thesen zum Ausblick                                   38

Anhang                                                      41
Literatur                                                   41
Tabelle Branchenverbände                                    42

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Vorwort

Verbände verlieren an Bedeutung, lesen wir immer       wurde vielmehr darauf spekuliert, diese zu schwä-
wieder in den Medien. Das Zeitalter der Globalisie-    chen.
rung und Liberalisierung würden ihnen den Boden
unter den Füssen wegnehmen. Dieses Urteil trifft       Aber auch einzelne Branchenverbände der Arbeit-
sowohl Arbeitgeberorganisationen wie auch Ge-          geber haben versucht, aus der Sozialpartnerschaft
werkschaften. Aber es handelt sich um ein Vorur-       und den GAV auszusteigen und diese auszuhöh-
teil. Zwar knirscht es manchmal im Gebälk der Ver-     len. Bisher konnten wir die meisten dieser Angriffe
bände und bei vielen ist es zu einem grösseren         abwehren. Zum Glück. So auch diejenigen auf das
Wandel der Strukturen gekommen. Aber an Be-            Rentenalter 60 im Bauhauptgewerbe, den Ver-
deutung haben die Verbände nicht verloren, weder       such, die Unia aus dem GAV der Maschinen-
in der Gestaltung der Wirtschaft und ihrer Bran-       industrie zu stossen oder die mehrfach angedrohte
chen. Noch wenn es darum geht, beim Staat Ein-         Kündigung des L-GAV Gastgewerbe.
fluss zu nehmen. Dies haben wir gerade 2020 wäh-
rend der Corona-Krise gesehen, als Gewerkschaf-        Ich werde immer wieder gefragt, ob es ein Klischee
ten und Arbeitgeberverbände eine wesentliche           sei, dass an die Stelle von sozialpartnerschaftlich
Rolle beim Schaffen und Gestalten der Notmass-         eingestellten Patrons heute harte globale Manager
nahmen gespielt haben.                                 getreten seien. Natürlich muss man sich vor sol-
                                                       chen Vereinfachungen hüten. Rücksichtslose Ar-
Als Gewerkschaft kennen wir die Arbeitgeber- und       beitgeber gehören seit je her zum Kapitalismus.
Wirtschaftsverbände sehr gut. Die Unia hat mit         Tatsächlich hat sich in den letzten drei Jahrzehn-
ihnen gegen 300 Gesamtarbeitsverträge ausge-           ten das Klima für die Arbeitnehmenden in den Be-
handelt. In vielen paritätischen Kommissionen und      trieben und an den Verhandlungstischen verhärtet.
tripartiten Gremien arbeiten wir mit den Arbeitge-     Wenn ich mit älteren Gewerkschaftskolleg*innen
bern eng und erfolgreich zusammen. Dabei gibt es       rede, erzählen sie häufig, wie sie früher manche
natürlich klare Interessengegensätze. Als Gewerk-      Probleme unkompliziert im Gespräch mit den Ar-
schaft müssen wir auch in der Lage sein, Ausei-        beitgebern lösen konnten. Heute ist das seltener
nandersetzungen zu führen, denn geschenkt wird         so.
den Arbeitnehmenden nichts. Ohne eine starke,
organisierte Arbeitnehmerschaft gibt es keine So-      Es ist wichtig, dass wir die Entwicklungen in Arbeit-
zialpartnerschaft auf Augenhöhe.                       geberverbänden gut kennen und mögliche Verän-
                                                       derungen einschätzen können. Nur wenn wir die
Genauso braucht es gut organisierte Arbeitgeber.       Strukturen und Strategien der Arbeitgeber und ih-
Natürlich wünschen wir uns auch vernünftige und        rer Verbände verstehen, können wir eine wirksame
kompetente Partner, die verstehen, dass faire kol-     Gewerkschaftsstrategie entwickeln. Deren Ziel ist
lektivvertraglich vereinbarte Arbeitsbedingungen       eine nachhaltige Wirtschafts- und GAV-Politik, wel-
auch im Interesse der anständigen Unternehmen          che Arbeitsplätze sichert, den Werkplatz gegen-
sind. Leider ist das nicht immer der Fall. Besonders   über dem Finanzplatz stärkt und den ökologischen
die Dachverbände der Arbeitgeber und der Wirt-         Umbau vorantreibt. Die vorliegende Analyse von
schaft wurden zeitweise von ideologischen oder         Andreas Rieger leistet einen wertvollen Beitrag für
parteipolitisch geprägten Überlegungen geleitet.       eine bessere Kenntnis der Arbeitgeber- und Wirt-
So zum Beispiel als es darum ging, die «Massen-        schaftsverbände.
einwanderungsinitiative» der SVP abzuwehren.
Statt auf eine Stärkung der Flankierenden Mass-        Vania Alleva, Unia-Präsidentin
nahmen zur Personenfreizügigkeit zu setzen,

4
1. Einleitung

Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände gehö-                        danach in den «Thesen zu den Arbeitgeberorgani-
ren wohl zu den mächtigsten Organisationen, wel-                      sationen 2007» zusammengefasst. Zwölf Jahre
che Wirtschaft und Politik der Schweiz bestimmen.                     danach erhielt der Autor von der Unia-Geschäfts-
Die Anzahl fundierter Analysen über die Entwick-                      leitung den Auftrag, eine solche Umfrage zu wie-
lung dieser Verbände in den letzten Jahrzehnten                       derholen und auszuwerten. Das Resultat liegt jetzt
steht jedoch im umgekehrten Verhältnis zu deren                       in den Kapiteln 3 und 4 vor.
Bedeutung. Die Wirtschaftsverbände und ihre pro-
minenten Exponenten finden zwar in den Medien                         Gleichzeitig wurde nun die Analyse für das vorlie-
eine relativ grosse Beachtung, wenn es um ein-                        gende «Working Paper» breiter in die Entwicklung
zelne Alltagsereignisse, Tagespolitik und Konjunk-                    der gesamten Verbandslandschaft eingebettet und
tur geht. Umfassendere Analysen und Bücher über                       die Entwicklung der Dachorganisationen der Ar-
diese Verbände füllen aber nur eine kleine Ecke in                    beitgeber in den letzten Jahrzehnten untersucht.
einem Büchergestell 1 – eine kleinere als die Bü-                     Dabei sind erstmals Berechnungen des Organisa-
cher über die Gewerkschaften. Die wenigen Unter-                      tionsgrades angestellt worden (Kapitel 7). Im letz-
suchungen betreffen zudem vor allem die Dachor-                       ten Kapitel folgt sodann der Versuch einer Syn-
ganisationen und die grössten Branchenverbände                        these, mit Schlussfolgerungen für die gewerk-
der Industrie, während die Verbände des Dienst-                       schaftliche Arbeit.
leistungssektors und des Baugewerbes kaum ana-
lysiert sind.                                                         Dank gehört zuerst den branchenverantwortlichen
                                                                      Gewerkschaftssekretär*innen, die bei der Umfrage
Auch die Gewerkschaften haben wenig schriftliche                      mitgemacht haben. Zudem weiteren Personen,
Analysen produziert, obwohl immer wieder Diskus-                      welche mit vielen Hinweisen zur Arbeit beigetragen
sionen über die Entwicklung der Arbeitgeberorga-                      haben: Vania Alleva, Pierre Eichenberger, Chris-
nisationen geführt und Thesen über sie aufgestellt                    tian Koller, Daniel Lampart, Roland Kreuzer, Da-
werden. Stichworte dieser Diskussion waren unter                      niel Oesch, Vasco Pedrina und Paul Rechsteiner.
anderem: Verbandsflucht und Mitgliederschwund
bei Arbeitgeberorganisationen, Abkehr von Ge-
samtarbeitsverträgen und Sozialpartnerschaft, un-
bedeutende Arbeitgeberverbände im Tertiärsektor,
junge und ausländische Manager ohne Interesse
an Verbänden und Übernahme Verbandsspitzen
durch SVPisierte Patrons. Viele dieser Diskussio-
nen werden ohne vertiefte Grundlagen geführt,
meist auf Basis einzelner Ereignisse.

Gute Kenntnisse der einzelnen Branchenverbände
der Arbeitgeber sind durchaus vorhanden, nämlich
bei den branchenverantwortlichen Sekretär*innen
der Gewerkschaften. In der Unia hatte der Autor
bei ihnen bereits 2006/07 eine Umfrage gemacht.
Die Resultate und Schlussfolgerungen hat er

1
    Bis zum 2. Weltkrieg ist die Geschichte der Arbeitgeberorganisationen teilweise aufgearbeitet. Über die Zeit danach sind die Ar-
    beiten jedoch seltener (siehe: Humair (2012)).

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2. Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der
   Schweiz

Die Unternehmerverbände haben historisch meh-                          Der Schweizerische Gewerbeverband (SGV)
rere Funktionen:                                                       versucht für seine Klientel der gewerblichen Be-
■ Beeinflussen wirtschaftlicher Regulierungen,                         triebe beide Funktionen abzudecken. Auch diese
    wie Zulassung von Betrieben, technische Nor-                       Dachverbände haben ihre regionalen Strukturen,
    men, Handels- und Zollpolitik, Forschungspo-                       schwach beim Arbeitgeberverband, historisch stär-
    litik, Preisregulierung und Subventionen.                          ker beim Vorort (kantonale Industrie- und Handels-
■ Gegenmacht zu Gewerkschaften, wie Streik-                            kammern), am stärksten beim Gewerbeverband.
    kassen zum Unterstützen von bestreikten Fir-
    men und schwarze Listen zum Abwehren von                           Höhepunkt der Verbandsmacht waren die 1960er
    Streikführern waren erste Anlässe, um Arbeit-                      und Anfänge der 1970er-Jahre. Die inlandorientier-
    geberorganisationen zu gründen.                                    ten Verbände hatten das entscheidende Wort in al-
■ Regulieren des Arbeitsmarkts und des Ar-                             len Regulierungen des schweizerischen Binnen-
    beitsvertragsrechts; Aushandeln und Ab-                            marktes, während die Verbände in exportorientier-
    schliessen von Kollektivverträgen (GAV).                           ten Branchen einerseits die internen Regulierun-
■ Bildungs- und Weiterbildungspolitik sowie ei-                        gen prägten, wie Exportrisikogarantie oder For-
    gene Bildungsangebote.                                             schungspolitik, und andererseits die Aussenwirt-
■ Dienstleistungen an Mitglieder.                                      schaftspolitik bestimmten. In beiden Sektoren wa-
                                                                       ren die Verbände zudem Träger oder entschei-
Historisch waren diese Funktionen zum Teil in zwei                     dende Macht in der beruflichen Aus- und Weiterbil-
Organisationstypen aufgeteilt: Wirtschaftsver-                         dung. Hier, wie auch in anderen Bereichen, über-
bände, welche sich insbesondere mit der Regulie-                       nahmen die Verbände zum Teil staatliche Aufga-
rung der Branchen und der gesamten Ökonomie                            ben: Normendefinitionen, Prüfungen, Kontrolle,
befassen, und Arbeitgeberverbände, welche die                          Einhaltung, Sorgfaltspflicht, Durchführung von So-
Interessen bezüglich den Arbeitsbeziehungen und                        zialversicherungen (AHV-Ausgleichskassen, Kin-
dem Arbeitsmarkt vertreten. In der Schweiz han-                        derzulagen), Schiedsgerichte, Handelsgerichte
delt es sich jedoch bei der Mehrzahl der Verbände                      und mehr. Oder aber die Verbände hatten Mitbe-
um Mischtypen.                                                         stimmungsrechte über staatliche Leistungen, wie
                                                                       Exportrisikogarantie. Deshalb wurde bezüglich der
Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände sind we-                          Schweiz oft von einem liberal-korporatistischen 2
sentlich nach Branchen strukturiert. Innerhalb der                     Modell gesprochen.
Branchengliederung gibt es oft die regionale oder
kantonale Gliederung.                                                  Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände der
                                                                       Branchen hatten traditionell meist einen recht ho-
Zusammengefasst sind die Arbeitgeber- und Wirt-                        hen Organisationsgrad zwischen fünfzig und hun-
schaftsverbände in drei nationalen Dachorganisa-                       dert Prozent. Die Mitgliedschaft förderte das Wis-
tionen. Der Schweizerische Arbeitgeberverband                          sen über die Regulierungen der Branche und er-
(SAV) konzentriert sich auf die Fragen der Arbeits-                    möglichte Einflussnahme auf Veränderungen. Sie
beziehungen, wie Arbeitsgesetz, Sozialversiche-                        bot auch einen vergünstigten Bezug von Leistun-
rungen, Aus- und Weiterbildung. Economiesuisse                         gen, zum Beispiel Weiterbildung oder Sozialversi-
(ES) (vormals Vorort) bündelt die wirtschaftspoliti-                   cherungen. Viele Verbände waren relativ reich, un-
schen Interessen der Branchen und Unternehmen.                         ter anderem, da ihre Immobilien und Reserven in

2
    Katzenstein, Peter (1985), Corporatism and Change: Austria, Switzerland and the politics of Industry. Korporatismus ist hier nicht
    im ständestaatlichen Sinne von Mussolini und Franco gemeint, sondern als System der engen Interessenvertretung und Regulie-
    rung mittels Verbandsorganisationen. Siehe dazu Kapitel 7.

6
der langen Hochkonjunktur an Wert gewannen,             Vertragspartnerschaft wurde geschwächt, der
aber auch dank Einnahmen aus Vollzugs- und Ver-         GAV-Abdeckungsgrad sank unter 50 Prozent. Vor
waltungskosten, etwa AHV- und Familienaus-              diesem Hintergrund war vermehrt von einer «Ero-
gleichskassen.                                          sion des Korporatismus» und von einem Nieder-
                                                        gang der Arbeitgeberverbände und der Sozialpart-
Ein Teil der Branchenverbände der Arbeitgeber,          nerschaft die Rede.
aber nie alle, pflegten ein sozialpartnerschaftliches
Verhältnis zu den Gewerkschaften. Das heisst, sie       Nach dem Überwinden der langen Krise der
waren an Gesamtarbeitsverträgen (GAV) beteiligt.        1990er-Jahre und der Rezession 2002 haben sich
Wo GAV bestanden, wurde die Regulierung dich-           die meisten Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
ter, unter anderem durch die Einführung von Be-         jedoch wieder aufgefangen, wie wir in der Folge
rufsbeiträgen an die Verbände, wie durch paritäti-      sehen werden. Die Verbände passten sich der ver-
sche Bildungseinrichtungen. Ein anderer Teil der        änderten Situation an. Unter anderem, indem sie
Verbände blieb aber immer ohne GAV, darunter            ihre Apparate und Dienstleistungen modifizierten
der Verband der Warenhäuser, der Versicherungs-         oder neue aufbauten. Auch der Abdeckungsgrad
verband oder der Bauernverband.3                        der GAV stieg wieder über 50 Prozent.

Ab Mitte der 1970er- bis Anfang der 2000er-Jahre        Ähnliches geschah in anderen Ländern Europas,
kam es zu mehreren Veränderungen:                       wo der Strukturwandel den Verbänden der Unter-
■ Viele Branchen wurden durch Krise/Struktur-           nehmen ebenfalls zugesetzt hat. Vom «überra-
   umbrüche dezimiert. Damit verkleinerte sich          schenden Überleben der Arbeitgeberorganisatio-
   auch die Anzahl und Grösse der Mitglieds-Un-         nen» sprechen Brandl und Lehr, nachdem sie Ver-
   ternehmen der Verbände.                              bände in mehreren Ländern Europas untersucht
■ Einige Branchenregulierungen wurden mit der           hatten.4
   Politik der Deregulierung aufgelöst.
■ Die Aussenhandelspolitik wurde liberalisiert          Analysieren wir also genauer, wie sich die Schwei-
   (GATT, WTO).                                         zer Landschaft der Arbeitgeber- und Wirtschafts-
■ GAV-Partnerschaften wurden brüchiger, ei-             verbände in den letzten Jahrzehnten entwickelt
   nige GAV aufgelöst/aufgekündigt, etwa in der         hat.
   Keramikindustrie, im Detailhandel oder der
   Presse.
■ Interessengegensätze innerhalb der Arbeitge-
   ber wurden schärfer: Kleine versus Grosse;
   Binnen- versus Exportwirtschaft; Realwirt-
   schaft versus Finanzwirtschaft.
■ Traditionelle Netzwerke der Arbeitgeber wur-
   den ausgedünnt, wie das dichte Netzwerk der
   gegenseitigen Vertretung in den Verwaltungs-
   räten.
■ Die Generation der Patrons, welche seit den
   1950er-Jahren die Verbände geführt hatte,
   trat aus den Unternehmen ab und machte
   Chicago-Boys aus St. Gallen und vermehrt
   auch aus angelsächsischen Ländern Platz.

Resultat waren Mitgliederverluste und Defizite in
den Verbandskassen. Einige wenige Verbände
lösten sich auf, wie der der Keramikindustrie, an-
dere fusionierten, etwa Bekleidung und Textil,
ASM und VSM. Es kam zu vermehrten Auseinan-
dersetzungen zwischen Konkurrenzverbänden,
wie Swissmem und Swissmechanic sowie Gastro-
suisse    und     Hotelleriesuisse.  Die    GAV-

3
    Rieger/Ackermann (2013).
4
    Brandl/Lehr (2016).

                                                                                                        7
3. Umfragen über Branchenverbände 2007 und 2020

Im Jahr 2007 hat die Gewerkschaft Unia bei den                     ■    Ihre politische Orientierung bleibt wider-
branchenverantwortlichen Sekretär*innen eine                            sprüchlich: Deregulierung versus neue Regu-
Umfrage über den Zustand der Arbeitgeberorgani-                         lierung zum Eigennutz der Branche.
sationen durchgeführt. Erfasst wurden damals 24                    ■    Die GAV-Vertragspartnerschaft bleibt möglich.
Branchen mit Schwergewicht bei Industrie und                            Sie erfordert jedoch seitens der Gewerkschaf-
Bau-/Ausbau sowie fünf Branchen des Dienstleis-                         ten ein Kräfteverhältnis gegenüber grösseren
tungssektors. Die Auswertung der Befragung                              Widerständen gegen GAV und Gewerkschaf-
zeigte: Die meisten Verbände waren 2007 wieder                          ten, gegenüber dem Versuch zur Flexibilisie-
stabilisiert, nachdem sie im Gefolge der Krisen der                     rung der GAV und dem Versuch zur Diszipli-
1990er-Jahre sowie 2002/3 Mitglieder- und Ein-                          nierung der Gewerkschaften.
nahmenverluste hatten hinnehmen müssen. Einige
Verbände mussten ihre Beiträge reduzieren, um                      Anfang 2020 hat der Autor im Auftrag der Unia eine
ihre Mitglieder zu halten. Viele erneuerten und pro-               neue Umfrage und ergänzende Recherchen
fessionalisierten ihre Dienstleistungen. Eine Aus-                 durchgeführt. Die erfassten Branchen wurden auf
nahme war der Schweizerische Detaillistenver-                      mehr als 40 erweitert, 6 insbesondere sind mehr
band. Er war völlig verarmt und stand vor seinem                   Verbände des Dienstleistungssektors, der graphi-
Ende.                                                              schen Industrie und der Medien erfasst. Erweitert
                                                                   wurden auch die Fragen, insbesondere bezüglich
In den meisten Branchen waren die – auch für die                   Organisationsgrad und Dienstleistungen.
Arbeitgeberorganisationen wichtigen – GAV-Ver-
hältnisse relativ stabil, vermehrt auch gestützt                   Die wichtigsten Erkenntnisse aus der Umfrage
durch ihre Allgemeinverbindlichkeitserklärung                      vom Jahr 2020 sind die folgenden:
(AVE). Der Gesamtabdeckungsgrad aller GAV war
wieder etwas angestiegen und lag leicht über 50                    a.    Verbandsorganisation stabilisiert
Prozent. In einigen Branchen, wie im Bauhaupt-                     Die untersuchten Branchenverbände sind in den
und Gastgewerbe drohten die Arbeitgeber aller-                     letzten Jahren organisationell stabil geblieben. Ei-
dings immer wieder, den GAV zu kündigen, zu fle-                   nige sind sogar gewachsen, etwa in der Logistik,
xibilisieren und die Unia raus zu drängen. Neu kon-                der Gesundheit oder der Banken. Einzig der schon
statierte die Umfrage von 2007 den Versuch der                     seit längerem geschwächte Schweizerische Detail-
SVP, Führungspositionen in den Verbänden zu be-                    listenverband löste sich auf. Der Organisations-
setzen und deren politische Linie zu bestimmen.                    grad ist relativ hoch. Schauen wir nur die Verbände
                                                                   mit Arbeitgeberfunktion an, liegt er durchschnittlich
Die Resultate der Umfrage von 2007 wurden in                       bei etwa 50 Prozent (Anzahl der Beschäftigten bei
Thesen5 synthetisiert. Die letzte These fasst kurz                 den Verbandsmitgliedern bezogen auf den Organi-
zusammen:                                                          sationsbereich7). Höhere Organisationsgrade gibt
■ Die Arbeitgeberverbände sind dank Spar-                          es in einigen gewerblichen Bereichen mit guten
   massnahmen und Umstrukturierungen nicht                         und günstigen Dienstleistungen. Ebenso in Teilen
   zerfallen. Sie sind zum Teil sogar gestärkt.                    der Industrie. Aber auch bei den Banken.

5
    Unia (2007).
6
    Die in der zweiten Umfrage erfassten Branchenverbände machen gegen 80 Prozent aller mittelgrossen und grossen überregiona-
    len Verbände aus. Überdurchschnittlich erfasst ist der Sekundärsektor. Weniger erfasst wurden Verbände, welche vor allem auf
    kantonaler Ebene bestehen; diese sind insbesondere in der Romandie wichtig.
7
    Zur Berechnung des Organisationsgrades siehe Kapitel 7.

8
Organisationsgrad von Branchenverbänden                             b. Apparat und Dienstleistungen
Organisationsgrad                                                   Die Branchenverbände weisen unterschiedlich
Verband
80% und mehr
                                                                    grosse Apparate auf. Der Arbeitgeberverband der
Gastrosuisse (Restaurants, Cafés)                                   Banken hat gerade mal drei Angestellte, trotz ei-
Verband Banken Schweiz
                                                                    nem GAV mit 70 000 Unterstellten. Gastrosuisse
Swissstaffing (Temporärarbeit)
VSM (Medien)                                                        hat demgegenüber 120 Angestellte. Der Unter-
Convention Patronale (Uhren)                                        schied ist vor allem in den Dienstleistungen be-
Baumeisterverband SBV
60% bis 80%                                                         gründet und in der Frage, ob der Verband nur Ar-
Hotelleriesuisse                                                    beitgeber- oder Wirtschaftsorganisation oder bei-
Allpura (Reinigung)
VSSU (Sicherheit)                                                   des ist. Der Arbeitgeberverband der Banken berät
Swisstec (Gebäudetechnik)                                           zum Beispiel nur arbeitsrechtlich zum GAV. Wirt-
VSSM (Schreinereien)
ASTAG (Strassentransport)                                           schaftspolitik und Weiterbildung betreibt der
40 bis 60%                                                          Schwesterverband SuisseFinance, der einen star-
Swissmem (Maschinen)
ScienceIndustries (Pharma)                                          ken Apparat braucht für die vielfältige Lobbytätig-
Curaviva (Heime)                                                    keit (Bankenregulierungen!) und für die Beratung
VISCOM (graph. Industrie)
JardinSuisse (Gartenbau)                                            in spezifischen aussenwirtschaftlichen Fragen. Die
Holzbau Schweiz                                                     meisten Verbände sind Arbeitgeberverband und
unter 40%
Swissretail (Detailhandel)
                                                                    Wirtschaftsverband zugleich. Sie bieten eine grös-
Senesuisse (Heime)                                                  sere Palette von Dienstleistungen an, die wenn
Swissmechanic (Maschinen)
                                                                    möglich, exklusiv für Mitglieder zugänglich sind. 8
Spedlog (Logistik)
ASPS (Spitex)                                                       Fast alle Verbände bieten Rechtsberatung und tra-
Lesebeispiel Gastrosuisse: Die Betriebe, welche Mitglied bei        gen bei zur beruflichen Weiterbildung. Viele sind
Gastrosuisse sind, beschäftigten 80% aller Arbeit-
nehmenden im Organisationsbereich des Verbands (d.h.
                                                                    Träger (oder in der Trägerschaft) von Weiterbil-
Restaurants, Cafés).                                                dungszentren. Zu einem grösseren Apparat führen
                                                                    auch die Angebote bei den Sozialversicherungen,
Wichtige Faktoren, welche die Organisierung der                     wie AHV-Zweigstellen,9 Familienausgleichskassen
Arbeitgeber fördern, sind:                                          (FAK), BVG-Versicherung oder Krankentaggeld.
■ Das Bestehen eines GAV, welcher in der                            Einige Verbände beraten auch bezüglich der Be-
   Branche bedeutungsvoll ist.                                      triebsführung, insbesondere zu branchenspezifi-
■ Starke Stellung der dualen Berufsbildung. Der                     schen Aspekten. Oder sie übernehmen sogar die
   Arbeitgeberverband ist bei der Regulierung                       Finanzverwaltung. Zum Beispiel Gastrosuisse bie-
   der Berufslehren und der höheren Berufsbil-                      tet alle erwähnten Dienstleistungen an und kommt
   dung prägend mit dabei.                                          auf 120 Mitarbeitende. Hotelleriesuisse hat 80 und
■ Gute und günstige Dienstleistungen.                               der eher kleine Verband Swisstec hat 70 Ange-
■ Die Lobbytätigkeit gegenüber Behörden und                         stellte.
   Politik ist für Unternehmen wichtig.

Verbandsapparat und Dienstleistungen
Verband                                           Anzahl Verbandsangestellte        Wichtigste Dienstleistungen
Gastrosuisse                                      120                               RB, A&WB, SV
Baumeisterverband                                 60                                RB, A&WB, SV, FAR
Swissmem (Maschinenindustrie)                     94                                RB, A&WB
Hotelleriesuisse                                  80                                RB, A&WB, SV
Holzbau Schweiz                                   23                                RB, A&WB
Swisstec (Gebäudetechnik)                         60                                RB, A&WB
Swisstaffing (Temporärarbeit)                     27                                RB, WB, SV
Swissmecanic (Maschinen)                          19                                A&WB
VISCOM (graph. Industrie)                         17                                A&WB
Convention Patronale (Uhren)                      8                                 A&WB
Allpura (Reinigung)                               7                                 RB, A&WB
VSSU (Sicherheit)                                 10                                B, A&WB
VSSM (Schreinereien)                              80                                RB, A&WB
Curaviva (Heime)                                  11                                RB, WB
ASTAG (Strassentransport)                         40                                RB, A&WB, SV
Banken Schweiz                                    3                                 RB
Legende: RB: Beratung, Rechtsberatung; A&WB: Aus-, Weiterbildung; SV: Sozialversicherungen

8
    Unter dem Titel «Mit Nutzen verbunden» beschrieb die NZZ diesen Aspekt ausführlich, 29.8.2013.
9
    Zur Geschichte der Arbeitgeberverbände und der AHV-Verwaltung: Eichenberger, Pierre (2016), Mainmise sur l’état social.

                                                                                                                              9
GAV-Partnerschaft
Verband                                        GAV-Partner        AVE                 Anzahl GAV-Unterstellte
Gastrosuisse                                   JA                 JA                  170’000
Baumeisterverband                              JA                 JA                  74’000
Swissmem (Maschinenindustrie)                  JA                 Nein                100’000
Hotelleriesuisse                               JA                 JA                  65’000
Holzbau Schweiz                                JA                 JA                  15’000
Swisstec (Gebäudetechnik)                      JA                 JA                  23’000
Swissstaffing (Temporärarbeit)                 JA                 JA                  100'000 (Stichtag)
Swissmecanic (Maschinen)                       Nein
VISCOM (graph. Industrie)                      JA                 Nein                3’500
Convention Patronale (Uhren)                   JA                 Nein                51’000
Allpura (Reinigung)                            JA                 JA                  62’000
VSSU (Sicherheit)                              JA                 JA                  22’000
VSSM (Schreinereien)                           JA                 JA                  18’000
Curaviva (Heime)                               Nein
ASTAG (Strassentransport)                      JA                 Nein                23’000
Banken Schweiz                                 JA                 Nein                70’000
Swissretail (Handel)                           Nein

Die Finanzierung der Apparate erfolgt natürlich nur                d. GAV und Konflikte
zu einem Teil durch die Mitgliederbeiträge. Ein Teil               Eine Minderheit der in der Umfrage erfassten Ar-
der Dienstleistungen, darunter die Betriebsbera-                   beitgeberverbände hat weiterhin keine GAV mit
tung, sind kostenpflichtig. Ein Teil der Dienstleis-               Gewerkschaften unterzeichnet. Dies gilt insbeson-
tungen ist für die Verbände sogar lukrativ. Auch die               dere für den Gesundheitsbereich, den Handel, die
Beiträge aus den GAV stützen natürlich die Appa-                   Logistik und andere. In einigen dieser Branchen
rate der Arbeitgeber, vor allem bezüglich der beruf-               gab es traditionell gar keine Gewerkschaften mit
lichen Weiterbildung. Aber nur wenige Verbände                     nennenswertem Organisationsgrad, welche GAV
würden ohne GAV nicht überleben.                                   gefordert haben. Im Handel weigert sich die Mehr-
                                                                   heit der Arbeitgeber historisch gegen GAV.
c.      Politische Ausrichtung
Die Umfrage von 2007 konstatierte: «Waren die                      Wo es GAV gibt, stehen die Arbeitgeberverbände
meisten Verbände traditionell mehrheitlich in frei-                gemäss der Umfrage meist klar dazu und wollen
sinniger Hand, erodiert nun der Freisinn und macht                 nicht aussteigen. Zum Teil ist es gelungen, die Gel-
vermehrt der SVP oder SVP-ähnlichen Exponen-                       tungsbereiche der GAV noch leicht auszubauen.
ten Platz.» 10 2020 hatte zwar die FDP das Heft                    Zum Beispiel für Kleinbetriebe und Teilzeitange-
kaum wieder in der Hand. Die SVP konnte aber                       stellte. In Branchen wie Bau, Gastgewerbe, graphi-
nicht deren früheren Platz übernehmen. Starke Po-                  sche Industrie oder Medien kann man von einer
sitionen dürfte die SVP derzeit fast nur noch bei                  «Konfliktpartnerschaft» reden. Das heisst, perio-
Gastrosuisse besetzen. SVP-Exponenten gibt es                      disch brechen Auseinandersetzungen auf, in wel-
aber in mehreren eher gewerblichen Verbänden,                      chen auch mit Kündigung der GAV gedroht wird.
etwa Metallbau, Allpura, VISCOM oder SMGV. Al-                     Fast immer wird jedoch wieder ein Kompromiss ge-
lerdings ohne dominierenden Parteieinfluss auszu-                  funden. Einen lang andauernden vertragslosen Zu-
üben. Die Offensive der SVP, mit welcher diese                     stand (seit 2005!) gibt es nur mit dem Verband
das Heft in den Arbeitgeberverbänden in die Hand                   Schweizer Medien (VSM) in der Deutschschweiz.
nehmen wollten, hat offensichtlich nicht gefruchtet                In einigen Branchen starten die Arbeitgeber immer
(siehe auch Kapitel 6). Viele, vor allem kleinere und              mal wieder einen Versuch, die wenig handzahme
mittlere Verbände, scheinen zudem ziemlich unpo-                   Unia aus den GAV raus zu drängen. Gelungen ist
litisch zu funktionieren. Ihre politische Lobbytätig-              dies letztlich nur 2004 aus Anlass der Fusion von
keit ist oft sehr beschränkt und betrifft nur sehr                 SMUV, GBI, VHTL und unia zur neuen Unia und
branchenspezifische Fragen. Die grossen politi-                    zwar bezüglich einigen GAV der ehemaligen VHTL
schen Themen überlassen sie dem Dachverband                        (GAV Migros, kantonale GAV der ASTAG).
und bei Kontroversen nehmen sie kaum Stellung.

10
     Namentlich erwähnt wurden 2007 als unter SVP-Einfluss stehend: Baumeisterverband, Maler- & Gipserverband, Swissmecanic,
     Gastrosuisse, Hotelleriesuisse, ASTAG.

10
4. Einzelne Verbände in den Branchen und Regionen

4.1       Der Baumeisterverband (SBV)                                Präsidenten gewählt, verstand sich Messmer als
Der Baumeisterverband ist die traditionell starke                    Speerspitze der Unternehmerschaft gegen die ag-
Organisation für das Bauhauptgewerbe. Er ist so-                     gressive GBI/Unia. Dies 2002 im Kampf um den
wohl Arbeitgeber- wie auch Wirtschaftsverband. In                    frühzeitigen Altersrücktritt (FAR) und erneut
der langen Krise der 1990er-Jahre ist das Bau-                       2007/08 im Kampf um die Aushöhlung des LMV.
hauptgewerbe sowohl bezüglich Anzahl Betriebe                        Dabei stützte sich Messmer vor allem auf die klei-
wie Beschäftigter um etwa einen Drittel dezimiert                    neren Unternehmer. Die Grossen zogen sich ten-
worden. In den letzten 15 Jahren nahm insbeson-                      denziell aus den zentralen Gremien des SBV zu-
dere die Anzahl der Betriebe wieder deutlich zu, da                  rück. Messmer setzte im vertragslosen Zustand
immer mehr Tätigkeiten an Subunternehmer aus-                        Anfang 2008 darauf, dass die Unia finanziell vom
gelagert wurden. Von ihnen sind viele nicht mehr                     LMV (Rückerstattung der Berufsbeiträge an die
im Verband organisiert. So sind heute im SBV nur                     Bauarbeiter) abhängig sei – eine Fehleinschät-
noch gut 50 Prozent der Betriebe Mitglied. Der Or-                   zung. Der SBV litt unter dem Ausfall des Parifonds
ganisationsgrad bezüglich der Beschäftigten bleibt                   mehr und war nach kurzer Zeit wieder bereit, einen
aber bei rund 80 Prozent, da die grösseren Be-                       Parifonds einzurichten. Letztlich ist Messmer beide
triebe im SBV Mitglied sind. 11 Mit rund 60 Ver-                     Male an der Mobilisierungsfähigkeit der Bauarbei-
bandsangestellten gehört der SBV zu den grossen                      ter und der Unia aufgelaufen. Aber auch öffentlich
Arbeitgeberorganisationen. Dies hat mit der brei-                    stand der SBV eher im Abseits, da die Bauarbeiter
ten Palette von Dienstleistungen zu tun, die teils                   mit ihrer harten Arbeit grosse Sympathie genies-
mit dem GAV zusammenhängen, wie die Bildung,                         sen. Aber auch nach dem Präsidium von Werner
teils aber unabhängig davon sind, wie unter ande-                    Messmer wurde der SBV aus der Erfahrung nicht
rem die Sozialversicherungen.                                        klug und versucht unter dem Präsidium von Gian-
                                                                     Luca Lardi (FDP) den Einfluss der Unia zu stutzen.
Historisch lebt die Branche in einer «Konfliktpart-                  Mit aktiver Unterstützung des SBV wurde ab 2014
nerschaft» zwischen SBV und Gewerkschaften,                          zudem versucht, eine arbeitgebernahe Gewerk-
wobei die Konfliktivität seit Mitte der 1980er-Jahren                schaft aufzubauen, um die Front der Gewerkschaf-
wieder zugenommen hat. Periodisch kommt es zu                        ten Unia und Syna zu spalten. Dieses Projekt
Streit um Lohn und GAV. Gleichzeitig gibt es aber                    musste 2019 erfolglos abgebrochen werden.
auch immer wieder eine gute Zusammenarbeit in
wirtschaftspolitischen Belangen, zum Beispiel Im-                    Das Verhältnis von SBV und Gewerkschaften ist
pulsprogramme des Bundes, bezüglich der Ar-                          zweifellos eng. Doch bildet es keinen symbioti-
beitssicherheit und der Kontrollen (ISAB, etc.) und                  schen Korporatismus, in welchem beide Parteien
auch in der beruflichen Weiterbildung, wie Sprach-                   völlig voneinander abhängig wären. Der LMV ist
kurse.                                                               ein wichtiger Faktor, der den SBV auf nationaler
                                                                     Ebene zusammenhält. Aber es ist nicht so, dass
Ab 2002 war der SBV unter dem Präsidium von                          dieser auf Gedeih und Verderb von den paritäti-
Werner Messmer ein Beispiel der SVPisierung, ob-                     schen Geldern abhängig wäre. Wie auch umge-
wohl er FDP-Nationalrat war. Messmer mobilisierte                    kehrt die Unia einen längeren vertragslosen Zu-
vor seiner Wahl zum Präsidenten im SVP-Stil die                      stand ohne GAV-Gelder durchaus überleben kann,
kleinen Bauunternehmer gegen die bisherige Ver-                      wie die Erfahrung zeigte.
bandsspitze, die sich immer wieder von der GBI
über den Tisch habe ziehen lassen. Zum

11
     Auch der Organisationsgrad der Gewerkschaften ist hoch und liegt bei etwa 75 Prozent.

                                                                                                                     11
Das Projekt der Neukonstituierung wurde in den
                                                      ersten Jahren stark ideologisch überhöht. Berater
                                                      und Chefideologe war dabei der schillernde Pro-
                                                      fessor Ernst A. Brugger, den Holzbau Schweiz zum
                                                      Begleiten des Prozesses engagierte. Auch die So-
                                                      zialpartnerschaft sollte zur korporatistischen «Ge-
                                                      meinschaft» werden, in welcher es keine Interes-
                                                      sengegensätze mehr gebe. Entsprechende Be-
                                                      stimmungen im GAV waren jedoch zum Glück
                                                      nicht AVE-erklärbar. Unterdessen ist die Ideologie
                                                      mehr dem Pragmatismus gewichen. Auf dem Hin-
                                                      tergrund des Programms «Holz hat Zukunft» wur-
                                                      den grosse Anstrengungen gemacht bei der beruf-
                                                      lichen Weiterbildung, beim Gesundheitsschutz und
                                                      bei der nachhaltigen Produktion, welche die Unia
                                                      durchaus unterstützen konnte. Der GAV mit einem
                                                      hohen Berufsbeitrag von 0,6 Prozent trug dazu we-
                                                      sentlich bei. Der Verband hat mitgewirkt, dass
                                                      Schweizer Unternehmen auf den grünen Trend
                                                      aufspringen konnten und die Branche stark
                                                      wächst.

4.2   Holzbau Schweiz
Die Holzbauer (Zimmerleute) waren traditionell Teil
des Baumeisterverbands. Sie traten 2002 aus und
gründeten einen neuen Verband, insbesondere um
nicht für den FAR bezahlen zu müssen. Die GBI         4.3   Die Detailhandelsbranche
wollte dies nicht hinnehmen und blieb erst aus-       In der riesigen Branche des Detailhandels mit rund
serhalb der Verhandlungen für einen neuen GAV         300 000 Beschäftigten zeigt sich, dass Arbeitge-
Holzbau. Später stieg die GBI/Unia aber in die Ver-   berorganisationen auch scheitern können. Tradi-
handlungen ein und konnte den vorgesehenen            tionell gab es in der Branche eine Dreiteilung der
Vertrag noch in mehreren Punkten verbessern, be-      Verbände:
vor er 2010 abgeschlossen wurde. Holzbau              ■ Die kleinen Detaillisten schufen den Schwei-
Schweiz ist das Beispiel einer Neu-Konstituierung         zerischen Detaillistenverband SDV, ähnlich
eines Verbandes mit dem Ziel, sich wirtschaftlich         anderen gewerblichen Branchen. Dabei blieb
und auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren und pro-        jedoch die Hauptaktivität auf der kantonalen
filieren. «Holz hat Zukunft» war ein geschicktes          Ebene. GAV gab es nur kantonal, wenn über-
Programm.                                                 haupt.
                                                      ■ Die Warenhäuser Jelmoli, Loeb und Manor
                                                          schlossen sich gesamtschweizerisch im Wa-
                                                          renhausverband zusammen. Zusammenge-
                                                          setzt aus Grossbetrieben brauchte der Ver-
                                                          band keine Dienstleistungen anzubieten.
                                                          Seine Funktion begrenzte sich auf Lobbyis-
                                                          mus in Bundesbern. Der Verband, resp. des-
                                                          sen grosse Patrons, waren gewerkschafts-
                                                          feindlich und wehrten sich immer gegen den
                                                          Abschluss von GAV.
                                                      ■ Migros und Coop waren selbstgenügsam,
                                                          sie brauchten keinen Verband. Sie machten
                                                          ihre Lobby-Arbeit selber. Migros hatte bis
                                                          2018 sogar ihren eigenen, effizienten Lobbyis-
                                                          ten in Bern, Martin Schläpfer. Beide haben
                                                          auch je ihren GAV.

12
Als nach dem Jahr 2000 doch vermehrt Fragen der                       der Kleinen, er spielt allerdings neben Coop und
Handelspolitik, wie Parallelimporte, und des Ar-                      Migros sowie den Warenhäusern nur die zweite
beitsgesetzes, wie Abend- und Sonntagsarbeit, in                      oder dritte Geige. In Genf gibt es auch, mit Unter-
Bundesbern auf der Agenda waren, gründeten                            brüchen, einen AVE-GAV. Geschwächt gibt es den
Migros und Coop zusammen mit Denner die IG                            Verband noch in anderen Kantonen der Romandie,
Detailhandel. Diese ist kein umfassender Arbeit-                      wo zum Teil neue Gruppierungen entstehen, wie
geberverband, mehr eine begrenzte wirtschaftspo-                      der Trade Club VD.
litische Interessengemeinschaft. Aber die IG De-
tailhandel ist Mitglied im SAV.                                       Neben dem Detaillistenverband gab es traditionell
                                                                      und gibt es auch heute viele Fachverbände: Buch-
Diese Gründung förderte die Neupositionierung bei                     handel (SBVV, in der Umfrage miterfasst), Apothe-
der Konkurrenz. Der Warenhausverband wurde er-                        ken, Drogerien, etc. Als Arbeitgeberverband kon-
weitert als Swiss Retail konstituiert. Ihm gehören                    stituiert haben sich im VTSS die Betreiber der
unterdessen neben der Manor-Gruppe und Loeb                           Tankstellenshops (wesentlich die Erdölvereini-
über 30 weitere Unternehmen an, so Aldi, C&A,                         gung). Eine Renaissance erlebte der VSV, der Ver-
IKEA, Landi, Lidl, Spar, Volg, u.a. Sie beschäftigen                  band des Versandhandels. Früher eher unbe-
insgesamt 46 000 Arbeitnehmende (15 Prozent                           deutend (traditionelle Versandhäuser wie Vögele,
Organisationsgrad). Ständerätin Karin Keller-                         Ackermann etc.) bekommt der VSV nun mit der Di-
Sutter war mehrere Jahre Präsidentin, Nationalrä-                     gitalisierung neue Bedeutung. Fast alle grossen
tin Christa Markwalder ist ihre Nachfolgerin.                         und mittelgrossen Online-Händler, wie Zalando,
                                                                      Brack oder Digitec, sind dabei. Anfang 2020 hat
                                                                      der VSV fusioniert mit dem seit langem bestehen-
                                                                      den Verband der Filialunternehmungen. Zusam-
                                                                      men bilden sie neu den Handelsverband.Swiss.
                                                                      Mehrere seiner Mitglieder sind auch bei Swiss
                                                                      Retail dabei. Die Umgruppierung der Arbeitgeber
                                                                      in Detailhandel dürfte noch nicht abgeschlossen
                                                                      sein.

                                                                      Angesichts dieser fragmentierten Situation mit nur
                                                                      geringer Verbreitung der GAV hat die Unia schon
                                                                      vor längerem den grossen Unternehmen der Bran-
                                                                      che vorgeschlagen, in einem ersten Schritt einen
                                                                      GAV für die grössten zehn bis 20 Unternehmen ab-
                                                                      zuschliessen, um diesen danach via Allgemeinver-
                                                                      bindlichkeits-Erklärung auf die mittleren Unterneh-
                                                                      men auszuweiten. Sehr selbstbezogen waren je-
                                                                      doch weder Coop noch Migros daran interessiert.

Der Schweizerischer Detaillistenverband SDV                           4.4     Swissmem
ist dagegen verarmt und 2014 aufgelöst worden.                        Swissmem ist der am besten erforschte Branchen-
Einige kantonale Sektionen der Deutschschweiz                         verband in der Schweiz.12 Das ist nicht zufällig. Der
ereilte das gleiche Schicksal. Die Verbandsverant-                    frühere ASM (Arbeitgeberverband) und der VSM
wortlichen waren – bedrängt von den Grossunter-                       (Wirtschaftsverband) waren jahrzehntelang die
nehmen – offensichtlich unfähig, eigene Verbands-                     stärksten      Unternehmerorganisationen          der
dienstleistungen zu entwickeln und eine Rolle in                      Schweiz. In der Zeit der «Golden Ages» war die
kantonalen Geschichten wie den Ladenöffnungs-                         Metall- und Maschinenindustrie die potenteste
zeiten, u.a. zu spielen. Die Aufkündigung von kan-                    Branche mit dem wertmässig grössten Exportan-
tonalen GAV, welche bis in die 1990er-Jahre mit                       teil. Ein enges korporatistisches Geflecht ver-
der VHTL bestanden, trug zum Niedergang der                           knüpfte den Verband einerseits mit staatlichen
kantonalen Verbände sicher bei. Ein Gegenbei-                         Stellen, wie dem Aussenwirtschaftsamt oder BIGA,
spiel ist Genf, hier gibt es weiterhin den Verband                    andererseits mit den Gewerkschaften mittels dem

12
     Siehe die sehr gute Analyse über der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis in die 1990er-Jahre: Widmer (2012), La coordination patro-
     nale face à la financiarisation.

                                                                                                                                 13
GAV. Die Präsidenten oder Vizepräsidenten von                     Die Schwächung war auch materieller, finanzieller
VSM und ASM waren meist tonangebend im Vorort                     Natur. Eine Antwort auf die verminderten Ver-
und im Arbeitgeberverband. Im Schweizer Arbeit-                   bandsressourcen war die Fusion von ASM und
geberverband SAV konnte diese Dominanz sowohl                     VSM zu Swissmem. Der ASM bleibt als Arbeitge-
im Präsidium wie auch bei der Direktionsfunktion                  berverein und Vertragspartner des GAV jedoch
noch sehr lange aufrechterhalten bleiben. Politisch               aufrechterhalten. Eine Mitgliedschaft in Swissmem
war und ist Swissmem immer mit dem Freisinn ver-                  ist aber möglich, ohne beim ASM dabei zu sein.
bunden.13                                                         Das heisst, die GAV-Unterstellung ist freiwillig (OT-
                                                                  Modell). Eine zweite Antwort war die mit einer Aus-
                                                                  trittsdrohung verbundene Neuverhandlung des
                                                                  Mitgliederbeitrags mit Economiesuisse in den Jah-
                                                                  ren 2005/06. Als dritte Antwort gab es ein Sparpro-
                                                                  gramm innerhalb von Swissmem. Als es dann mit
                                                                  der Branche wieder aufwärts ging – zeitweise stieg
                                                                  die Beschäftigung im MEM-Bereich wieder –
                                                                  konnte sich Swissmem als Organisation stabilisie-
                                                                  ren. Und nachdem die Finanzwirtschaft 2008/09 ih-
                                                                  ren grössten Crash gebaut hatte, konnte Swiss-
                                                                  mem, zusammen mit anderen Industriebranchen,
                                                                  auch in Economiesuisse mit Hans Hess als Vize-
                                                                  präsident das Gewicht wieder ausbauen und die
                                                                  Dominanz der Finanzwirtschaft etwas zurückdrän-
                                                                  gen. Wie eng die Verbandelung von Verbänden
                                                                  und Verwaltung/Politik ist, zeigte sich einmal mehr
                                                                  2019 in der Wahl von Stefan Brupbacher, General-
                                                                  sekretär des Wirtschaftsdepartements unter Jo-
                                                                  hann Schneider-Ammann zum neuen Direktor von
                                                                  Swissmem.
Die wirtschaftlichen Krisen von 1974ff, 1980f, 1991
bis 1997, 2002 trafen die Branche jeweils stark,                  Der Branchen-GAV bleibt für Swissmem weiterhin
ebenso die Aufwertungen des Schweizer Fran-                       wichtig. Dies wegen dem Arbeitsfrieden, der ein
kens. Sie dezimierten die Betriebe und die Wert-                  klarer Standortvorteil ist, und wegen der Verläss-
schöpfung, sodass schliesslich die MEM-Branche                    lichkeit und guten Planbarkeit der Arbeitsbedin-
ihren Spitzenplatz bezüglich Wertschöpfung verlor.                gungen. Schwer erträglich war für Swissmem die
Die Liberalisierung des Welthandels machte die bi-                Tatsache, dass die Gewerkschaft SMUV ab Ende
lateralen, staatlich arrangierten Aussenhandelsbe-                der 1990erJahre und dann die Unia ab 2005 unter
ziehungen weniger wichtig, an welchen der VSM                     dem Druck von Massenentlassungen und Ver-
stark beteiligt gewesen war. Der globale Trend zur                schlechterungen der Arbeitsbedingungen den Ar-
«Finanzialisierung» erfasste auch die MEM-Bran-                   beitsfrieden zu relativieren begannen. Es folgten
che. Die Unternehmen wurden vermehrt dem Dik-                     periodisch Versuche, die Unia zu disziplinieren und
tat von Aktionärsgruppen, von Riders und Schaka-                  zu isolieren. Dies durch das Fördern der anderen
len ausgesetzt. Die enge Verknüpfung der indust-                  Vertragspartner insbesondere der arbeitgeberhöri-
riellen Grossunternehmen mit den Schweizer                        gen «Angestellte Schweiz». Dieser Verband wurde
Grossbanken, welche ihren Ausdruck in einem                       aber 2017/18 wegen Falschangaben seiner Mit-
dichten Vertretungsnetz in den Verwaltungsräten                   gliederzahlen überführt. Die Versuche blieben er-
fand, erodierte. Im Vorort verbündeten sich die                   folglos, der Unia gelang es 2013, als Effekt der ge-
Vertreter*innen der Finanzwirtschaft mit der Che-                 werkschaftlichen Mindestlohn-Kampagne, Min-
mie- und Pharmabranche. Diese Entwicklungen                       destlöhne im GAV durchzusetzen. Das war ein
schwächten zweifellos das Gewicht des früher fast                 «historischer» Schritt. In den Verhandlungen 2018
allmächtigen VSM/ASM. Auch der Organisations-                     konnten die Gewerkschaften nochmals materielle
grad dürfte in dieser Zeit gesunken sein.                         Verbesserungen im GAV durchsetzen.

                                                                  Ein Zeichen des Verlusts der Hegemonie von
                                                                  Swissmem war das Wachstum des in der MEM-

13
     Direktoren: Hasler, Daum, Brupbacher (ehem. Generalsekretär FDP!); Präsidenten: Schneider-Ammann, Hess.

14
Branche ursprünglich unbedeutenden Konkurrenz-                         Arbeitnehmenden versuchten mit einzelnen
verbands Swissmechanic. Dieser Verband hat                             Streiks Krisenverluste wieder wettzumachen. Aus
nun einen Organisationsgrad erreicht, der immer-                       diesem Hintergrund wurde im Mai 1937 das ge-
hin etwa die Hälfte jenes von Swissmem beträgt.                        samtschweizerische Friedensabkommen für die
Bei Swissmechanic organisieren sich kleinere Be-                       Uhrenindustrie abgeschlossen, einige Monate vor
triebe, die nicht immer im Schatten der Grossen                        der Maschinenindustrie.15 Aus ihm entwickelte sich
stehen und keinem GAV unterstellt sein wollen.                         in den Folgejahren der GAV für die Uhrenbranche.
Und auch kleinere Mitgliederbeiträge zahlen. Frü-                      Die Arbeitgeber gründeten erst im Zusammenhang
her war von einer SVP-Nähe die Rede, auch SVP-                         mit dem GAV-Abschluss einen Arbeitgeberver-
Spuhler war einige Jahre im Vorstand. Heute                            band, die Convention patronale de l’industrie
stimmt das weniger, die Funktionsträger sind eher                      horologère (CP). 16 Mit der Ausweitung der im
in der FDP. Swissmechanic ist bezüglich der Zu-                        GAV regulierten Domänen wurden auch die Aufga-
sammenarbeit pragmatisch. So kam es zu gemein-                         ben der CP breiter: Aus- und Weiterbildung, Ar-
samen Auftritten mit der Unia zur SNB- und zur                         beitssicherheit und Gesundheit sowie Sozialversi-
KMU-Branchenpolitik.                                                   cherungen (AHV- und Familienausgleichkasse).
                                                                       Auf dem GAV gründet zudem der Paritätischer
                                                                       Fonds Fondation de prévoyance de l’industrie hor-
4.5       Uhrenindustrie                                               logère Suisse (PREVHOR). Er leistet Beiträge für
Die Uhrenindustrie ist eine der grossen Industrie-                     die berufliche Weiterbildung. Vor allem aber wer-
branchen in der Schweiz, zeitweise die Nummer                          den hier Gewerkschaftsmitgliedern Geldbeträge
zwei hinter der MEM-Industrie. Die Branche zeich-                      gutgeschrieben, welche sie bei Erreichen des Ren-
net sich seit den Anfängen durch eine dichte Orga-                     tenalters ausbezahlt bekommen. Für langjährige
nisierung in vielfältigen Wirtschaftsverbänden                         Beschäftigte in GAV-Betrieben können sich Alters-
aus. Mit ihnen vertraten die Unternehmer ihre Inte-                    beiträge von bis zu 50 000 Franken ergeben.
ressen gegenüber dem Staat, wie Aussenhandel,
Schutz der Swissmade-Marke oder Ausbildung.
Sie sorgten für die Selbstregulierung verschiede-
ner technologischen Qualitätsnormen und spra-
chen sich auch bezüglich der Abwehr der Gewerk-
schaften ab. Denn die Arbeiternehmenden hatten
ihrerseits eine starke Organisierungstradition.

In der tiefen Krise der 1930er Jahre entstand ein
ausserordentlich starkes korporatistisches Sys-
tem. Mit dem «Uhrenstatut» regulierte der Bund die
Branche staatlich. Dazu zählt die Bewilligungs-
pflicht für neue oder erweiterte Betriebe sowie Min-
destpreise und -mengen. Das «Uhrenkartell» der
Grossbetriebe schloss sich 1931 in einem gemein-
samen Konzern zusammen, der Allgemeine
Schweizerische Uhrenindustrie AG (ASUAG), wel-
che das Monopol der Uhrwerkproduktion besass.
In ihrem Verwaltungsrat nahmen auch Vertreter*in-
nen des Bundes und der Gewerkschaft Einsitz. Auf
dem Terrain schlossen sich schliesslich Arbeitge-
ber und Arbeitnehmende in «Berufsgemeinschaf-
ten» zusammen.14

                                                                       Der Organisationsgrad des Arbeitsgeberverbands
1937 war die Weltwirtschaftskrise überwunden und
                                                                       wie auch der Abdeckungsgrad des GAV ist traditi-
die Industrieproduktion zog wieder an. Die
                                                                       onell hoch und liegt bei 86 Prozent, in Genf gegen

14
     Kohler (2007), La convention de la paix sociale du 15 mai 1937: génèse et évolution, In: Rennwald et autres, La convention col-
     lective de travail de l’horologerie, Evénement Syndicale.
15
     Ebenda.
16
     Die CP ist eine Dachorganisation von fünf Unterverbänden: Ass. p. horlogerie et microtechnique (APHM, Bienne), Ass. p. indus-
     tries Arc horloger (apiah, La Chaux-de-Fonds), Ass. fabricants d’horlogerie Genève, Vaud Valais (UFGVV, Genève), Ass. P. du
     Swatch Group (Bienne), Ass. fabricants suisses d’aiguilles de montres (Neuchâtel).

                                                                                                                                  15
95 Prozent, andernorts unter 80 Prozent. Nicht or-     und Regionalbanken (inkl. Raiffeisen) und den auf
ganisiert/unterstellt sind eher kleinere Betriebe.     internationale Vermögensverwaltung fokussierten
                                                       übrigen Banken. Die Raiffeisenbank ist kürzlich
Spätestens mit der Krise der Uhrenindustrie in den     ausgetreten, da sie sich nicht mehr vertreten sieht.
1970er- und 80er-Jahren zerfiel das korporatis-        Die meisten Banken bleiben aber im Verband. Dies
tisch-protektionistische System, nicht jedoch die      hängt auch mit den Verbandsleistungen zusam-
starken Unternehmensverbände. Diese schlossen          men:                                        Swiss-
sich 1982 in der Fédération de l’industrie horo-       Finance spielt eine wichtige Rolle in der Berufsbil-
logère suisse (FH) zusammen. Diese ist eine            dung – mit eigenem Institut in der Weiterbildung.
Dachorganisation von vier, vor allem regional defi-    Gleichzeitig hat der Verband zum Verhindern
nierten Unterverbänden, in welchen wiederum            staatlicher Regulierung die Aufgabe übernommen,
viele Spartenorganisationen bestehen. Die Bran-        die Einhaltung der «Sorgfaltspflicht» seiner Mit-
che blieb feingliedrig organisiert und hat einen ho-   gliedsbanken zu überwachen. Swissbanking über-
hen Organisationsgrad von über 90 Prozent. Da in       nimmt damit eine parastaatliche Aufgabe – klassi-
der letzten Zeit einige kleine Unternehmen schlies-    sches Beispiel des Fortbestehens von Korporatis-
sen mussten oder von grösseren Unternehmen ge-         mus in der neoliberalen Ära. Das ist mit ein Grund
schluckt wurden, steigt der Organisationsgrad eher     für den hohen Organisationsgrad und den starken
als dass er sinkt. Denn die Grossen sind alle in der   Verbandsapparat von 53 Angestellten.
FH organisiert. Dominiert werden die Verbände
durch die vier starken Gruppen der Uhrenunter-         Als Arbeitgeberverband verstand sich die Bankier-
nehmen: Swatch Group, Richemont, Rolex und             vereinigung jedoch nie. Der GAV, welcher früher
LVMH (Zenith u.a.). Die FH hat ein starkes Gewicht     recht detailliert Löhne festgelegt hatte, wurde ein-
auch im Dachverband Economiesuisse und                 zelunterzeichnet von den Grossbanken, einigen
ebenso gegenüber dem Staat. Hier hat die FH            Kantonalbanken und weiteren Einzelbanken. Um
wichtige Interessen zu vertreten: Aussenhandels-       diesen GAV besser verwalten zu können, wurde
politik, denn FH ist sehr interessiert an Freihan-     2009 neu der Arbeitgeberverband Banken AGV
delsabkommen wie mit China, jetzt mit Indonesien.      aus der Taufe gehoben. Mitglieder waren ur-
Ebenso vital für die Branche ist eine angepasste       sprünglich all die 52 Banken, welche sich dem
gesetzliche Regulierung der Swissness. Zum Teil        GAV unterstellen. Neu hinzugekommen ist seit
durch den Verband selbstorganisiert ist die Festle-    2016 die gesamtarbeitsvertragliche Vereinbarung
gung eines dichten Systems von technischen             Arbeitszeit (VAZ), welche für einen Teil der Ange-
(Qualitäts-) Normen. International bemüht sich FH,     stellten die Dokumentation der Arbeitszeit flexibili-
dass den geschäftsmässigen Uhrenfälschungen            siert, wie es durch das Anpassen der Verordnung
das Handwerk gelegt wird. Schliesslich koordiniert     1 zum Arbeitsgesetz aufgrund eines Kompromis-
FH einen Teil des Marketings und die Verkaufsprä-      ses der Sozialpartner möglich wurde. 119 Unter-
senz der Schweizer Firmen im Ausland. Für all          nehmen – darunter auch einige Nicht-Banken wie
diese Tätigkeiten verfügt FH über einen recht star-    die Mobiliar-Versicherung – unterstehen nur dieser
ken Apparat mit 34 Vollzeitstellen, hinzu kommen       Vereinbarung. Damit hat sich nun aber der Organi-
weitere Stellen in Unterorganisationen.                sationsgrad des AGV stark vergrössert und beträgt
                                                       über 90 Prozent. Hinzu kommen einige wenige
                                                       Banken, die ebenfalls im AGV organisiert sind,
4.6   Die Bankenbranche                                aber keinen der beiden GAV unterzeichnet haben.
Die frühere Bankiervereinigung, heute mit Na-          Es ist ein interessantes Beispiel, wie eine Deregu-
men Swissbanking, ist ein traditionsreicher klas-      lierung des Arbeitsrechts zu einer Re-Regulierung
sischer Wirtschaftsverband der Bankenbranche,          im gesamtarbeitsvertraglichen Bereich führen
der heute auch in Economiesuisse ein wichtiger         kann und die Organisierung der Arbeitgeber und
Player ist. In den letzten Jahren spielte Swissban-    deren Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
king eine wichtige Rolle in der gesamten Diskus-       fördert.
sion um die Finanzmarktregulierung und um die
Relativierung des Bankgeheimnisses. Dies mit ei-
genständiger Lobbyarbeit, wie auch via Economie-
suisse.
Dabei kam es immer wieder zu internen Spannun-
gen: Einerseits zwischen den kleinen Privatbanken
und den Grossbanken, andererseits zwischen den
               binnenmarktorientierten    Kantonal-

16
Der relativ hohe Bildungsbeitrag, welcher via den
                                                        GAV erhoben wird, spülte einiges Geld in den pa-
                                                        ritätischen Fonds, mit welchem nun Weiterbildung
                                                        organisiert wird. Unter anderem: Sprachkurse für
                                                        ungelernte Migrant*innen sowie das Qualifizieren
                                                        zur «Spezialreiniger*in» mit etwas höherem Lohn
                                                        und die Einführung einer neuen Lehre als Gebäu-
                                                        dereiniger*in EFZ. Langsam kommt die Branche
                                                        nun weg vom «Schmuddel»-Image. Dank einem
                                                        kleinen, aber reellen Organisationsgrad der Ge-
                                                        werkschaften und dank punktuellen (Streik-) Aktio-
                                                        nen von der Unia konnte auch ein gewisses Kräf-
                                                        teverhältnis geschaffen werden. Damit konnten im
                                                        Rahmen von mehrjährigen Lohnabschlüssen die
                                                        Reallöhne substanziell erhöht werden, weit stärker
                                                        als im vergleichbaren Gastgewerbe.

                                                        Die Gründung des umfassenderen Arbeitgeberver-
                                                        bands Allpura – deren Mitgliedsbetriebe in der
                                                        Deutschschweiz 45 000 Personen beschäftigen –
                                                        und der Abschluss eines GAV waren also strategi-
4.7   Allpura                                           sche Schritte, welche die Etablierung einer neuen
In der Reinigungsbranche gab es bis in die 1980er-      Branche mit neuen Geschäftsmodellen ermöglich-
Jahre in verschiedenen Kantonen kleine Arbeitge-        ten. Strategisch richten sich die Grossen nun be-
berverbände und kleine GAV. Dies änderte sich mit       reits auf das «Facility Management» aus: Hier wer-
dem allgemeinen Trend zum Outsourcing der Rei-          den mit der Reinigung auch gleich die Hauswar-
nigung. Spezialisierte Firmen übernahmen Auf-           tung und Haustechnik übernommen, womit sich
träge, welche bisher von firmeneigenem Personal         ein grosser Geschäftsbereich eröffnet. Der GAV
erledigt wurden. Von Anfang an waren in diesem          konnte jedoch bisher noch nicht auf diesen Bereich
Geschäft einige grössere Firmen dabei, insbeson-        ausgeweitet werden.
dere der Multi ISS. Sie errechneten ein Milliarden-
potential an Aufträgen, wenn alle öffentlichen Ver-
waltungen, Schulen, Spitäler, alle privaten Immo-
bilienfirmen, Industrien, etc. die Reinigung ausglie-
dern würden. Hindernis für die massenhafte Aus-
gliederung war jedoch das schlechte Image der
Reinigungsfirmen, welche traditionell nur Hunger-
löhne zahlten. Bei Auslagerungen musste das Per-
sonal dann von der Gemeindefürsorge unterstützt
werden. Hellsichtig waren ISS und einige andere
grössere Unternehmen deshalb in den 1990er-
Jahren bereit, einen überregionalen Arbeitgeber-
verband zu gründen und einen neuen allgemein-
verbindlich erklärten GAV aus der Taufe zu heben,
um damit die Reinigungsbranche «hoffährig» zu
machen. Die GBI war bereit dafür Hand zu bieten,
vorausgesetzt die Arbeitsbedingungen im GAV
seien akzeptabel und das Lohnniveau würde suk-
zessive angehoben. ISS wie GBI wussten sodann
aus den Erfahrungen in Deutschland, welche Dum-
pingwelle mit der Personenfreizügigkeit gerade in
der Reinigung auf die Schweiz zukommen könnte.
Deshalb musste der GAV unbedingt AVE-erklärt
und sein Einhalten kontrolliert werden. Dies war die
Grundlage für den Aufbau eines stärkeren Arbeit-
geberverbandes für die Deutschschweiz, Allpura.

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4.8   Der Gesundheitssektor                             Senesuisse ist ein älterer Verband von privaten
Beispiel einer mehrheitlich erneuerten Organisie-       Alters- und Pflegeheimen. Neu sind aber auch zum
rung der Arbeitgeber ist das Gesundheitswesen,          Teil kommunale Träger, wie städtische Heime Zü-
insbesondere die Spitäler, die Alters- und Pflege-      rich, Mitglied. Viele Angeschlossene sind auch bei
heime und die SPITEX. Früher waren die meisten          Curaviva dabei (Doppelmitgliedschaft).
dieser Institutionen getragen von der öffentlichen
Hand, von Kantonen und Gemeinden sowie von              H+ ist der grosse Verband der Spitäler in der
Stiftungen. Viele privat organisierte Institutionen     Schweiz. Er hat einen hohen Organisationsgrad
lehnten sich eng an ihre jeweiligen Gemeinden und       und umfasst alle drei grösseren Spitalträgergrup-
Subventionsgebenden an. Deshalb gab es in die-          pen: die noch staatlichen Kantons- und Stadtspitä-
sem Bereich kaum Arbeitgeberorganisationen.             ler sowie die noch staatlich kontrollierten, aber pri-
Eine Ausnahme macht Senesuisse, welche traditi-         vatrechtlich getragenen Spitäler und die Privatspi-
onell privatwirtschaftlich getragene Heime organi-      täler. Während die erste Gruppe keinen Bedarf an
sierte.                                                 einer Arbeitgeberorganisation sieht, drängen die
                                                        beiden andern darauf, dass H+ sich mehr und
Jetzt sind in dieser Branche vermehrt private, ge-      mehr auch als Arbeitgeberorganisation versteht.
winnorientierte Anbieter tätig. Viele sind gemeinde-    H+ ist bereits Mitglied im SAV.
übergreifend organisiert, einige Ketten auch kan-
tonsübergreifend. Für sie ist es wichtig, starke Ver-   Die ASPS ist ein wachsender Verband im ambu-
bände gegenüber Gemeinden, Kantonen, Bund               lanten Spitex-Bereich.
und Krankenkassen aufzubauen. Und auch gegen-
über den Forderungen der Angestellten und ihren         Alle diese Verbände sind vermehrt mit Gewerk-
Gewerkschaften, welche sich langsam, aber sicher        schaften und gewerkschaftsähnlichen Berufsver-
zu Wort melden. Aber auch nichtgewinnorientierte        bänden konfrontiert, welche mit Forderungen nach
Institutionen sind im Zeitalter von New Public Ma-      höheren Löhnen oder GAV auftreten. In der Ro-
nagement vermehrt auf einem Markt tätig, müssen         mandie gibt es unterdessen schon mehrere GAV
sich mit Krankenkassen, mit Subventionsgeben-           mit insgesamt über 30 000 Unterstellten, ebenso
den etc. rumschlagen. Für die Interessenvertre-         im Tessin mit ca. 3000 Unterstellten. Deshalb müs-
tung in diesem Feld braucht es den Zusammen-            sen sich die Verbände mehr und mehr auch als Ar-
schluss der einzelnen Heime in Verbänden.               beitgeberverbände verstehen. Curaviva und H+
                                                        sind Mitglied beim Schweizerischen Arbeitgeber-
Curaviva ist der grosse Verband für die gesamte         verband, Senesuisse beim Schweizerischen Ge-
Branche der Alters- und Pflegeheime und hat ei-         werbeverband. H+ ist stark am Lobbyieren für eine
nen sehr hohen Organisationgrad. Curaviva orga-         Flexibilisierung des ArG (Ruhezeiten!) und konnte
nisiert auch die meisten Behindertenheime und ei-       in der Covid-19-Krise das SECO zeitweise um den
nen Teil der Kinderheime. Der Verband ist Mitglied      Finger wickeln. Curaviva tastet sich langsam heran
im SAV.                                                 an die Rolle eines «Sozialpartners» gegenüber
                                                        den sich gewerkschaftlich organisierenden Beleg-
                                                        schaften.

                                                        4.9   Regionale und kantonale Verbände
                                                        Die Verbandslandschaft der Wirtschaft ist trotz
                                                        starkem Schweizer Föderalismus stark national
                                                        oder zumindest überkantonal geprägt. In der
                                                        Deutschschweiz spielen kantonale Verbände nur
                                                        im Gewerbe eine Rolle, insbesondere im Ausbau-
                                                        und im Gastgewerbe. Früher hatten kantonale Ver-
                                                        bände der Industrie, des Detailhandels und des
                                                        Transports noch eine stärkere Stellung, die jedoch
                                                        geschwunden ist. Dies zeigt sich auch bei GAV, die
                                                        mehrheitlich entweder gesamtschweizerisch oder
                                                        deutschschweizerisch (zum Teil zusammen mit
                                                        dem Tessin) strukturiert sind.

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