B&k Berichte und Kommentare - Evangelisch erneuern
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bk M it R J 19. dem el a Se e ig hr pt in De io es em ge am s au Berichte und ta n ta b leg il ge g er ten ge un 202 Fl f & n g 0 yer G ew Kommentare al t? 2/2020 • Was macht Corona mit uns? • Die Zehn Quellen des Aufbruchs • Der Landesbischof kommentiert die Zehn Quellen • Frieden zwischen Juden und Arabern ist möglich • Vor 200 Jahren: Friedrich Engels • Vor 75 Jahren: Hiroshima Arbeitskreis Evangelische Erneuerung
2 Inhalt 3 Editorial 4 Was macht Corona mit uns? Die Pandemie ist hier und viele Fragen offen 8 Habermas zu Corona 9 Ruhig und solidarisch das Notwendige tun. Theologie in Zeiten von Covid 19 / Von Hans-Gerhard Koch 12 Nach Corona zurück zur Tagesordnung? Interview mit Karl Georg Haubelt 15 Die Zehn Quellen werden zehn/ Von Martin Kleineidam 19 Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm zu den Zehn Quellen des Aufbruchs 21 Dialog statt Konflikt – BDS, Kairos Palästina und die EKD / Von Lutz Taubert 23 Frieden zwischen Juden und Arabern ist möglich / Interview mit der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München 25 Schluss mit Krieg – Der Muttertag im Wandel der Zeiten / Von Marlene Faltermaier-Jahn und Silvia Weißhaar 27 Das Stuttgarter Schuldbekenntnis, die alten Nazis und die Mitläufer / Von Hans-Gerhard Koch 28 Seit‘ an Seit‘ mit Karl Marx – Der Geburtstag von Friedrich Engels jährt sich zum 200. Mal / Von Hans-Gerhard Koch 29 Hiroshima – Äußerstes Mittel der Friedenssicherung? / Von Hans-Willi Büttner 31 Kirchen – Klimaneutral bis 2050? / Von Gerhard Monninger 32 Bericht aus dem Leitenden Team 33 Berichte aus den Regionalgruppen 35 Impressum 36 Das Letzte: Denkbarer Denkmalsturz / Von Lutz Taubert
Editorial 3 Corona-Redaktionskonferenz. Dieses Heft entstand aus- schließlich auf elektronischem Weg. Juni 2020 mit und nach Covid-19: Vielleicht gehört Liebe Leserin, lieber Leser, zu den Nebenwirkungen des Virus ein dass man den Ursachen der Corona- gewisser Auflösungseffekt, was unsere Pandemie auf den Grund gehen muss, Trägheitsmomente betrifft. Es kribbelt um den Schaden zu begrenzen und hof- Spannung in mir. Darum unsere Diskus- fentlich beenden zu können, ist klar. Und sionsbeiträge, die kritischen Einwürfe, wie gehe ich als gläubiger Mensch damit die Zuspitzungen, z. B.: um? Zum Glück hatte ich in jungen Jah- Juden und Palästinenser im Dialog. ren einen gütigen Gemeindepfarrer, der Ohne starre Fronten und mit den wich- nicht hereingefallen ist auf die Gottes- tigen Zwischentönen. gerichtsdeuter, wenn mal wieder etwas Lernen aus der Vergangenheit. Vor 75 Schlimmes die Lande in Aufruhr versetzte. Jahren fielen in Japan die Atombomben. Ich begriff, was Glaube ausmacht: wach Vor 200 Jahren wurde Friedrich Engels sein, das Leben sehen, wie es ist, und geboren, einer der sich nicht abfinden praktisch reagieren mit Gottes- und Men- wollte mit dem Elend unter den Menschen. schenliebe. Was dabei herauskommt, ist Die „Zehn Quellen des Aufbruchs“, eine nicht immer eindeutig klar, sondern darf quasi kirchliche Verlautbarung des AEE, und muss wohl Platz schaffen, um die sind zehn Jahre alt geworden. Geister zu unterscheiden. Lassen Sie sich anregen und mitnehmen! Glaube, Theologie, Kirche und Gesellschaft Ihr Hans-Willi Büttner
4 Corona Die Pandemie ist hier und viele Fragen offen Was macht Corona mit uns? „Wie verändert Corona Politik und Gesellschaft, Kirche, Ihr persönliches Lebensum- feld?“ Unsere Umfrage unter evangelischen Christen in Bayern war bewusst offen formuliert, und so hatte ein jeder, eine jede der Befragten die Möglichkeit, aus per- sönlicher Betroffenheit oder/und quasi als Kommentator der Weltlage zu antworten. Herausgekommen ist ein Sammel-Essay von einer geradezu spannenden Vielfalt. Ein bunter Strauß von Selbstbeobachtungen, Reflexionen und Deutungen, Vermutungen und offenen Fragen. lt mittel der Landeskirche treibt mich um. Elke Zimmermann, Nun stehen wir als Landessynode mögli- Journalistin (evange- cherweise früher als befürchtet vor Ent- lische Funkagentur) scheidungen, die niemand gerne treffen und Mitglied der mag: Wo muss gekürzt werden? Deshalb bayerischen Landes- hoffe und bete ich, dass sich die Wirt- synode, München: schaft möglichst bald wieder erholen Als ich am 9. März mei- wird. Aber viel wichtiger ist, dass schnell nen Kalender ansah, ein Medikament oder ein Impfstoff ge- betete ich darum, dass wenigstens einer gen Covid-19 gefunden wird und mög- meiner vielen Termine abgesagt würde. lichst wenig Menschen darunter leiden. Neben meiner Vollzeitarbeit standen noch der Kommunalwahlkampf, ein KV- Tag, ein Drehtermin am Sonntag, sowie Heiko Kernstock, mein Sprachkurs, ein Besuch bei der Rummelsberger Kosmetikerin und das erste Treffen der Diakon und Diplom- neu gewählten Landessynodalen beim theologe, Heilsbronn: Regionalbischof auf dem Plan. Am Don- Geld oder Leben? nerstag, dem 12. März, waren alle Ter- Gott sei Dank leben mine gestrichen. So gründlich war noch wir in der „reichen“ nie ein Gebet von mir erhört worden. Bundesrepublik und Für die neue Landessynode war Coro- unser tägliches und gesellschaftliches na eine Vollbremsung. Immer noch ist Leben ist doch viel komplexer. die alte Besetzung im Amt, muss einen Dennoch zeigte mir die Krise existen- Nachtragshaushalt erstellen, um krisen- ziell: Danke, lieber Gott, dass ich leben bedingte Verluste einigermaßen abzu- und atmen kann und dass von mir kein federn. Der Gedanke an einbrechende direkter Angehöriger verstarb. Die Sache Steuereinnahmen und fehlende Geld- mit dem Leben scheint geklärt. Doch das
Corona 5 politisch-wirtschaftlich scheinbar alles entdeckt und neben Nachteilen – ins-be- entscheidende Geld: Welche Konse- sondere für die geisteswissenschaftli- quenzen sind daraus zu ziehen? chen Fächer, denen eine „barrierefreie Die soziale Kontaktsperre machte uns Diskussionskultur“ fehlt – viele Vorteile allen bewusst, wir leben nicht allein. der ZOOM-Seminare wahrgenommen. Die Wertschätzung und Freundlichkeit Die Kirchengemeinden sind in die digi- unserer Mitmenschen tut uns in der tale Sphäre gestürzt worden und haben Seele gut. Wir profitieren von der Arbeit da interessante Erfahrungen gemacht. der anderen (vor Ort und weltweit). Wir Hunderte Gottesdienstteilnehmer beim praktizieren Solidarität. „digitalen“ Abendmahl am Gründonners- Darum lasst uns in Menschen (und in tag, wunderschöne Gottesdienstüber- unsere gemeinsame Zukunft) investie- tragungen in Radio und Fernsehen, der ren. In eine staatliche Infrastruktur, die tägliche Gruß vom Seelsorger im Sonnen- den Einzelnen mündig macht und am aufgang. Pastorale Arbeit wird auch on- demokratischen Streit teilnehmen lässt. line gehen und diese digitale Entfernung Konkret: Wie wir mit Schwachen, Min- zwingt uns Theologen und Pfarrerinnen, derprivilegierten, mit der Würde der persönlicher zu werden in Sprache und anderen und unseres Gegenübers um- Performance. Ein Abenteuer! gehen, daran zeigt sich, woran unser Herz hängt. Oder, mit anderen Worten, Erwin Schelbert, ob uns letztlich Geld oder Leben wich- Studiengesellschaft tiger ist. für Friedensfor- Johanna Haberer, schung, München: evangelische Theologin, Ich hoffe, dass nach Journalistin und Profes- Corona sich in allen sorin für Christliche Pu- Lebensbereichen et- blizistik in Erlangen: was verändern wird, Ich erkenne, wie unend- weil ein neues Be- lich viel Zeit ich in Zügen wusstsein über die Verletzbarkeit des verbracht habe und bin Menschen hoffentlich zu einer neuen froh über die vorübergehende Sess- Wertschätzung menschlichen Lebens haftigkeit. Die Gesellschaft wird durch führt. die Erfahrungen mit den neuen Online- Als friedensbewegter Mensch (Projekt- Arbeitsformen langfristig viel flexiblere gruppe Münchner Sicherheitskonferenz Varianten von Arbeit entfalten. verändern) sehe ich nur die Notwendig- Das wird spannend und wird die Balance keit, das Virus zu bekämpfen, nicht je- zwischen Beruf und Familie leichter ma- doch Menschen, zumal keine akute Be- chen, wird den Straßenverkehr entlasten, drohungslage für uns besteht. Wenn die Büroräume verbilligen. Rüstungsausgaben 2019 weltweit um Wir an der Uni haben die Online-Lehre 3,6 Prozent, in Deutschland sogar um 10
6 Corona Prozent gestiegen sind, wäre Corona ein und so haben wir Telefon und gelbe Brief- Anlass, sie jetzt drastisch zu kürzen und post benutzt. U. a. habe ich eine Telefon- das Geld besser in die Bekämpfung der kette initiiert. Das kommt gut an, Rück- Pandemie und in Gesundheitsvorsorge meldungen zeigen mir, dass die Leute sich zu investieren. In seiner Osterbotschaft schon richtig auf die Telefonate freuen; forderte der Papst: „Die Welt braucht und auch die Verbundenheit unterein- Brot statt Waffen.“ Im konziliaren Pro- ander wächst. zess wurde deutlich, dass die Trias Frie- Was sich auch verändert hat, ist die Art den, Gerechtigkeit und Bewahrung der und Weise, wie Entscheidungen getrof- Schöpfung zusammengehört. Darum fen werden, nämlich von oben nach darf es jetzt kein Zurück zu einem für unten, und ich lerne: Ich bin ganz unten. Klima und Mensch zerstörerischen Wirt- Nicht ich entscheide, sondern Staats- schaften und Konsumverhalten geben. regierung, Landeskirche, Dekan, Ge- Dafür will ich mich verstärkt einsetzen. schäftsführer. Ich hoffe, das ändert sich auch wieder! Heike Komma, Diplom-Religions- Gernot Sittner, pädagogin bei der ehemaliger Chefre- Gesamtkirchen- dakteur der Süd- gemeinde Bayreuth: deutschen Zeitung, Viel hat sich geändert: München: Aus dem Kirchplatz- Die Frage kommt zu treff, in dem ich ar- früh, denn die Ant- beite, einem Haus, in dem Menschen wort hängt von der ein und aus gehen, einander begegnen, Antwort auf eine Reihe weiterer, offener lernen und lachen, weinen und einander Fragen ab: Wird es einen Impfstoff ge- trösten, ist ein stilles Haus geworden. ben – und wenn ja, wann und für wen? Die Flure sind leer. Wird vorher noch eine zweite Infekti- Doch nun soll hoffentlich bald wieder onswelle kommen? Wie gravierend wer- Leben in unsere Räume und Gänge kom- den die wirtschaftlichen Schäden sein? men, schrittweise werden wir wieder Wie stark wird sie jeder Einzelne spü- öffnen. Doch es wird anders sein: Hygiene- ren? Und wie diszipliniert werden sich regeln und Maßnahmen bringen Verän- die Menschen verhalten, sollten die Be- derungen in den Abläufen unserer Kur- schränkungen verschärft oder gelockert se, den Begegnungsmöglichkeiten und oder gar aufgehoben werden? Werden den Mahlzeiten. wir als Gesellschaft, wird die Politik die In den letzten Wochen habe ich versucht, Corona-Krise auch als eine Chance zu Kontakt zu halten. Die allermeisten un- Reformen begreifen – und nutzen? Zu serer Stammgäste haben kein Internet Reformen in erster Linie, was unsere
Corona 7 Wertschätzung sozialer Berufe (nicht zu- nachhaltig daran festhalten wird, dass letzt in Euro) angeht? Wird sich unsere Verzicht und Umsteuern möglich sind. Gesellschaft, wird sich jeder Einzelne – Aber vielleicht nützt doch eine Erinne- sei es notgedrungen, sei es aus freien rung an den Einfallsreichtum, der diese Stücken – dazu durchringen, seine Le- Zeit reich gemacht hat. bensweise so zu verändern, dass der Kli- mawandel und die Umweltzerstörung, Luisa Taubert, Religi- wenn schon nicht angehalten, so zumin- onswissenschaftlerin dest spürbar gebremst werden? Lauter und Sozialarbeiterin, offene Fragen. München: Ich arbeite im Bereich Sieglinde Klemm, der Radikalisierungs- ehemalige Rektorin prävention und Demo- des Predigerseminars kratieförderung. Nürnberg: Mit unseren Bildungsprogrammen sind Zu Beginn der Krise wir an Schulen unterwegs. Wegen der erlebte ich im per- Schulschließungen ging und geht das sönlichen Umfeld fast derzeit nicht mehr. Gleichzeitig sehe ich eine Erleichterung: durch rassistische Übergriffe und men- Viele Verpflichtungen wurden abgesagt, schenfeindliche Verschwörungstheorien es gab freie Nachmittage und Abende… in Zusammenhang mit Corona leider Mit Verwunderung und einem leicht wieder einmal mehr bestätigt, wie wichtig ironischen Lächeln bemerkte ich, dass unsere Arbeit ist. Die globalisierte Welt, solch ein kleiner Virus eine so große und Demokratie, der Rechtsstaat und natür- verunsichernde Wirkung auf das globale lich auch die Pandemie: All das sind hoch- Geschehen hat. Es wurde deutlich, dass komplexe Phänomene. Verschwörungs- wir zwar handeln müssen, die Folgen theoretiker/innen und Populist/innen aber nur schwer abschätzen können. bieten erst mal bestechend einfache Mit Achtung habe ich die Informations- Erklärungen und Lösungen für all das. politik und das besonnene Handeln der Hat jemand aufgrund der Kontaktbe- Kirchen erlebt. Ein großer Aufwand an schränkungen wenig sozialen Kontakt Überlegungen und Maßnahmen machte und ist viel im Internet auf entsprechen- eine andere, dennoch sinnvolle Weiter- den Seiten unterwegs, ist die Gefahr, in führung der Arbeit möglich. Das habe so ein Weltbild zu rutschen, besonders ich vor allem im Bereich der Seelsorge groß. Deshalb bin ich froh, dass jetzt mitvollziehen können: Statt im persön- wieder langsam die Schulen, Bildungs- lichen Gespräch suchten verunsicherte einrichtungen und Orte sozialer Arbeit Menschen am Telefon Halt und Struktur. öffnen. Denn auch menschenfeindliche Ich bin nicht sicher, ob die Gesellschaft Einstellungen sind eine Bedrohung für
8 Corona unsere Gesellschaft, die bekämpft und Habermas und Sokrates: abgewendet werden muss. Soviel Wissen über Paul Kleineidam, Student Assistant der Nichtwissen! Universitätsmedizin Corona, das hat unsere Umfrage erge- Mannheim: ben, ist ein neuartiger, einzigartiger, ein- Die Corona-Pandemie schneidender Prozess, der uns total be- wird einen negativen trifft, privat und öffentlich, national und Einfluss auf die Welt- global. Unsicherheit aber darüber, wie wirtschaft haben, es die Pandemie uns tatsächlich und lang- wird viele Firmen- und Privatinsolven- fristigt betrifft. Gesundheitliche Folgen zen geben, die Arbeitslosenquote wird und Gefahren der Pandemie mögen sich weltweit steigen. Durch das Aufnehmen allmählich abzeichnen, unabsehbar aber neuer Staatsschulden wird die finan- sind die sozialen und wirtschaftlichen zielle Handlungsfähigkeit vieler Volks- Folgen. Jürgen Habermas, deutscher wirtschaften verringert werden. Dieser Philosoph und So- Schritt ist zwar notwendig, bedroht aber ziologe, nach Co- auch das seit der Finanzkrise 2008 stark rona befragt, ant- angeschlagene internationale Wirt- wortete dies: „Die schafts- und Finanzsystem. wirtschafts- und so- Die Probleme werden insbesondere zialwissenschaftli- spätere Generationen belasten, da sie chen Experten soll- es sein werden, die die Altschulden ten sich mit Pro- ihrer Eltern- und Großelterngeneration gnosen zurück- abbezahlen müssen. Der finanzielle halten. Eines kann Handlungsspielraum der kommenden man sagen: So viel Wissen über unser Generationen wird dadurch verkleinert Nichtwissen und über den Zwang, unter werden. Unsicherheit handeln und leben zu müs- Diese Schulden können die Handlungs- sen, gab es noch nie.“ Eigentlich eine ur- fähigkeit von Staaten, Unternehmen, alte Weisheit, die wir anderswoher ken- Kreditinstituten und/oder Individuen nen: „Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß“, stark einschränken und ganze Volks- sagte Sokrates in seiner Verteidigungs- wirtschaften in den Ruin treiben. Diese rede vor dem Athener Volksgerichtshof, Schulden sind Investitions-, Innovations- und er wies den vermeintlich Wissen- und Effizienzbremsen! den nach, dass sie auch nichts wissen. Das sei auch heute allen Bescheid- und Fragen: lt Besserwissern in Sachen Corona gesagt. lt
Theologie 9 Ruhig und solidarisch das Notwendige tun Theologie in Zeiten von Covid 19 / Von Hans-Gerhard Koch Kirche lebte im Homeoffice – da blieb „Ein weltloses Heil könnte nur eine heil- viel Zeit für Theologie. lose Welt zur Folge haben.“ (Ziff. 101). So Ganz früh meldete sich Ralf Frisch, Pro- ist es, immer noch. fessor an der Evangelischen Hochschule Natürlich gibt es theologisch viel Schlim- Nürnberg und Theologischer Referent meres. der bayerischen Landessynode. Etwa die US-Megakirchen, in denen das Kurz und, wie er selbst meint, von mir Virus mit Exorzismus bekämpft wird. böswillig vergröbert ist seine Theologie: Und mit „Fasst euch an den Händen ...“. Im Zeichen einer existenziellen Krise Gerade haben wir in den USA erlebt, kommt eine „öffentliche Theologie“, die wohin das führt: zu Kühl-Lkws vor den den Anschluss an die Gesellschaft sucht, Krankenhäusern, in denen sich die Lei- das Leben möglichst menschlich zu ge- chen stapeln. stalten sucht und die Anstrengungen der Die Fernseh-Hirten mit den Maßanzü- Politik mitträgt, an ihr Ende. Wir sollten gen werden sicher bald umschalten, es einsehen, dass Gott unbegreiflich ist und gibt ja noch die „Gericht Gottes“-Schub- dass alles auch böse enden kann. Frisch lade, in der schöne Anleitungen für Kri- empfiehlt mehr Spiritualität und den senzeiten zu finden sind. Das Coronavi- Weg nach innen. Einzig im religiösen Er- rus hat seine Ursache wahlweise in der lebnis können wir, wenn schon nicht die Homosexualität, im Islam, im Jüngsten Welt, dann doch wenigstens uns selber Tag oder im allgemeinen Unglauben. retten. Er spricht von der Weisheit der Präsident Trump lässt sich trotz offenba- lutherischen Zwei-Reiche-Lehre und ren Versagens mit der Bibel in der Hand gibt deshalb die Zuständigkeit für das vor einer Kirche fotografieren, vor der Wohl der Menschen großzügig an den er vorher friedliche Demonstranten nie- Staat ab. derknüppeln ließ. Die im Weißen Haus Dafür kann Frisch sich nicht unbedingt angestellte Fernsehpredigerin Paula auf Martin Luther berufen. Der hat im- White sagt dazu: „Wer Nein zu Trump mer erklärt, Gott habe in beiden „Re- sagt, sagt Nein zu Gott.“ Auch so kann gierweisen“, in der Kirche und in der man der Realität und dem Nachdenken Welt, das Heil und das Wohl der Men- über ihre Ursachen entgehen. schen im Sinn. Nur die Methoden seien anders. Entsprechend schrieb das Sozi- Es gibt, zum Glück, auch eine Kirche, die alwort der EKD „Für eine Zukunft in So- sich nicht zum Krisengewinnler macht lidarität und Gerechtigkeit“ von 1997: oder die Krise sogar herbeisehnt, son-
10 Theologie dern ruhig und solidarisch das Not- Ich glaube, wir brauchen keine Krisen- wendige tut. Das Notwendige ist: die Theologie. Ihre Alarmrufe werden sich Ausgangsbeschränkungen beachten, tele- abnutzen, wenn das Leben weitergeht. fonieren, lernen, die sozialen Medien zu Denn es geht weiter, wie schon nach der nutzen. Nachbarschaftshilfe organisieren, Sintflut. Gott hat den Regenbogen über Gespräche und Grüße über den Garten- die Erde gesetzt, damit nicht aufhöre zaun, Musik vom Balkon, vom Fenster, Saat und Ernte, Frost und Hitze. oder im Internet, offene Kirchen. Nur der Prophet Jona hat sich ge- Also alles das, was vernünftige und wünscht, dass die große Katastrophe Corona-Abendmahl in St. Lukas München: Es muss trotz strikter Beachtung der Hygiene-Standards nicht aus- fallen. Alle bleiben an ihrem Platz, Paare können beieinandersitzen, Einzelpersonen halten den gebotenen Abstand zueinander. Sanctus und Agnus Dei singt der Kantor. © Christine Weiß warmherzige Menschen auch sonst ma- kommt. Aber als er es sich gerade be- chen, vor, während und hoffentlich auch quem gemacht hatte unter dem Rizi- noch nach der Krise. nusbaum, um den Weltuntergang zu Dietrich Bonhoeffer, weiß Gott krisener- betrachten, kam der Wurm und ließ den fahren, hat gesagt: „Mag sein, dass der Rizinus verdorren. Jüngste Tag morgen anbricht, dann wol- Nein, der Wurm ist drin in einer Theolo- len wir gern die Arbeit für eine bessere gie, die von der Krise lebt und versucht, Zukunft aus der Hand legen, vorher aber sich in eine angeblich „höhere“ Realität nicht.“ (Widerstand und Ergebung, DBW zu flüchten, wo immer die dann liegt. 8, S. 36) Die Corona-Krise hat sich in der Welt,
Theologie 11 wie sie leider ist, entwickelt, durch Fehl- sollten. Wir haben als Kirche neue Mög- entscheidungen Verantwortlicher ver- lichkeiten gelernt, Menschen nahezu- schärft und wird hoffentlich durch Mut, kommen, und sollten überlegen, was Solidarität und Klugheit vieler bewältigt davon in die Zukunft führt. werden. Danach wird wichtig sein, aus Wir haben auch unsere Grenzen kennen- der Krise zu lernen, für die nächste Krise, gelernt. Beerdigungen im 15-Minuten- damit das Leben weitergeht. Takt und ohne persönlichen Abschied, Vielleicht haben wir gelernt, dass nicht Besuchsverbote im Seniorenheim oder Börsenjongleure und Banken system- Krankenhaus, das Verstummen unserer relevant sind, sondern Krankenschwes- Chöre – das alles ist hoffentlich bald vor- tern, Intensivstationen und Kassiere- bei. rinnen. Dass wir unser Sozialsystem Covid-19 ist sicher noch nicht vorbei, kostendeckend statt gewinnbringend, auch wenn die Zahlen klein werden. An- von den Bedürfnissen der Schwächsten derswo auf der Welt schlägt Covid-19 her gestalten müssen – im eigenen In- erst richtig zu. Ich bete für alle die, die teresse auch der Stärksten. die Krise mit voller Wucht trifft, und viel härter als mich. Geld, so haben wir vielleicht gelernt, ist Ich denke an die Elendslager in Grie- in jeder Menge da, nur oft nicht da, wo chenland, Syrien oder Libyen, den nach es hingehört. wie vor verzweifelten Kampf der Ärzte Vielleicht wird das Jahr 2020 das Jahr und Schwestern in den Corona-Intensiv- sein, in dem der weltweite Siegeszug des stationen, an die Menschen, denen die Finanzkapitalismus endgültig zu Ende wirtschaftliche Existenz wegbricht. Ich ist. Die „Finanzkrise“ von 2008 hat uns denke an sie, betend, und helfe ein biss- für diese Einsicht offenbar noch nicht chen, wo ich kann. gereicht. Dass Corona ausgerechnet das Denn, noch mal Bonhoeffer: „Unser Welt-Finanzzentrum New York so schwer Christsein wird heute nur in zweierlei trifft, ist weiß Gott kein Grund zur Scha- bestehen: im Beten und im Tun des Ge- denfreude, aber zum Nachdenken. rechten unter den Menschen. Alles Den- Vielleicht lernen „wir“, vor allem die an ken, Reden und Organisieren in den Din- den Schalthebeln der Macht, dass die gen des Christentums muss neu geboren geldgetriebene Lebensweise keine Zu- werden aus diesem Beten und diesem kunft hat und das nächste Coronavirus Tun.“ (DBW Bd 8, S. 435) schon vor der Tür steht, wenn wir so weiter machen. Vielleicht lernen wir, wenn jetzt wieder „gelockert“ wird, dass wir bei unserer Achtsamkeit, unserer Disziplin und un- serer Hilfsbereitschaft nicht nachlassen
12 Corona Nach Corona zurück zur Tagesordnung? Geht nicht! Kirche und Corona: Dazu ein Interview mit Karl Georg Haubelt, der in Kirche und Politik aktiv ist. Haubelt, Diplom-Verwaltungswirt, ist Hochschullehrer an der Hochschule Hof, Mitglied der Landessynode und des Landessynodalausschusses. Er ist aktiv in der SPD und der evangelischen Kirche. absehbar, wie sich die Pandemie in Bayern © SPD Tirschenreuth ausbreitet. Berichte aus anderen Teilen der Welt, in denen gerade Gottesdienste zum Epizentrum der Seuche geworden waren, haben uns da sicherlich ebenfalls ins Nachdenken gebracht. In Abwägung der Schutzgüter untereinander – du hörst hier natürlich den Rechtswissenschaftler heraus – haben wir uns auch rückbli- ckend als ELKB meiner Ansicht nach völ- Karl Georg Haubelt lig richtig verhalten. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass all das, was jetzt nicht stattfindet, auch nicht unbedingt nötig war. Wirk- lich? b&k: Unsere Kirche hat sich voll hinter die Nein. Hier widerspreche ich ganz heftig. staatlichen Maßnahmen zur Eindäm- Stell dir mal vor, wir würden etwa künf- mung der Covid-19-Pandemie gestellt. tig auf Präsenzgottesdienste, Besuche, Haben wir vielleicht des Guten zu viel Chorproben, aber auch Weiterbildungs- getan? angebote oder Kundgebungen verzich- Haubelt: Das glaube ich nicht. Wir haben ten… Aber sicherlich wird es „nach Co- weder auf unsere grundgesetzlich ge- rona“ auch eine Zeit der Reflexion geben schützte Religionsfreiheit verzichtet, noch müssen, in der wir unsere in den letzten haben wir uns als Kirche in die unsicht- Wochen gemachten Erkenntnisse noch bare Nische zurückgezogen. Die vorüber- einmal ganz neu bewerten müssen. gehende Einstellung von Präsenzgottes- diensten war ein Gebot der Nächstenlie- Neben den harten Einschränkungen des be. Insbesondere in den ersten Wochen kirchlichen Lebens droht der ELKB auch Ende März war ja auch überhaupt nicht ein finanzieller Aderlass. Es ist (Stand Mai)
Corona 13 mit Einnahmeausfällen und Sonderbe- tion als die Landeskirche, selbst wenn lastungen von 135 Mio. € zu rechnen. natürlich Kollekten derzeit auch vor Ort Droht uns eine neue „Giftliste“ von Ein- wegfallen. Genau hinschauen werden sparungen wie 2003, und wen wird es wir in der Landessynode bei den landes- besonders treffen? weiten Diensten selber. Aufgaben fallen Eine „Giftliste“ ist gerade nicht vorgesehen. ja nicht weg, wenn Geld weniger wird. Als gute Haushalter des uns ja von den Die Folgen der Kurzarbeit wirken sich Kirchensteuerzahlerinnen und -zahlern nicht nur bei den Steuereinnahmen aus, anvertrauten Geldes müssen wir aber sondern vor allem und viel mehr bei den natürlich verantwortungsvoll agieren. Das Arbeitnehmern. Hier sind also verstärkte heißt für mich zum Beispiel schon, dass Einsätze in Aufgabenbereichen wie KDA, es völlig angebracht war, angesichts der afa und Diakonie absehbar. massiven Steuereinbrüche einen Nach- tragshaushalt aufzulegen. Unsere Kirchen- Gerade haben wir mit „Profil und Kon- verfassung hat da in weiser Voraussicht zentration“ (PuK) einen Prozess der Instrumente vorgesehen, auf die wir in Neuausrichtung in Gang gebracht. Wird der völlig unvorhersehbaren Pandemie- „Profil“ künftig vor allem vom Geld be- Situation zurückgreifen konnten. Wich- stimmt werden und eine „Konzentra- tig ist für mich aber auch in der Zukunft tion“ auf den kirchlichen Normalbetrieb das klare Signal, dass wir selbst in Krisen- mit sich bringen? zeiten als Kirche verlässlich handeln. Vor Das sehe ich derzeit nicht. Mit PuK hat allem gegenüber den Menschen, die bei die letzte Landessynode vielmehr wirk- uns beschäftigt sind. Aber auch gegen- lich gute Vorarbeit geleistet. Wir haben über den Kirchengemeinden, mit denen meiner Meinung nach vor allem theolo- wir ja im gemeinsamen Steuerverbund gisch reflektiert, und das Geld spielt erst sind. Wie weise stellt sich nachträglich eine nachgeordnete Rolle. Aber natür- unsere in Bad Reichenhall getroffene Ent- lich hast du recht, dass verfügbare Mit- scheidung der Landessynode heraus, tel eine Voraussetzung für unser kirch- dass die Kirchengemeinden feste Zuwei- liches Handeln sind. sungen unabhängig vom Steuerertrag erhalten. Damals wurden die Befürwor- Die Corona-Krise ist ein gesellschaftli- ter angegriffen, weil hier möglicherwei- cher Einschnitt, wie wir ihn noch nie hat- se den Gemeinden Geld zugunsten des ten. Wird es danach nach einer Schreck- landesweiten Diensts weggenommen sekunde weitergehen wie vorher, oder werden könnte Dies war der unter- siehst du die Chance eines neuen Auf- schwellig und auch offen geäußerte bruchs in unserer Gesellschaft? Verdacht. Heute hört man von den da- Nach Corona kann es nicht mehr einfach maligen Kritikern nichts mehr. Unsere zur Tagesordnung zurückgehen. Da sind Gemeinden sind jedenfalls erst einmal zu viele Dinge geschehen. Viel Gutes hat in einer deutlich entspannteren Situa- sich entwickelt, das auch nach der Pan-
14 Corona demie-Situation erhalten werden kann. menten infrage gestellt. Man denke Ich denke da kirchlich zum Beispiel an nur an die Demonstrationen, bei denen gute Erfahrungen und Formate im Be- Rechtsradikale nur zu gerne auf den Zug reich des Internets. Gesamtgesellschaft- von Esoterikern und Impfgegnern aufge- lich sehe ich aber auch die zunehmen- sprungen sind. Hier suche ich auch für de Gefahr der Polarisierung. Menschen mich immer noch nach Antworten, wie hören einander immer weniger zu, ver- die Spaltung der Gesellschaft wieder in antwortlich getroffene Entscheidungen ein soziales Miteinander geführt werden der Politik werden mit grotesken Argu- kann. Interview: HG Koch Es ist ja nur Geld! guten Jahren angesparten finanziellen Spielraum jetzt nutzt und versucht, mit Die ELKB und die Corona-Krise einem Nachtragshaushalt den Laden am Von Hans-Gerhard Koch Laufen zu halten. Es wäre kontraproduk- tiv, nach der Corona-Krise noch eine Fi- nanzkrise herbeizureden. Man reibt sich die Augen: Wurde vor Natürlich ist das noch nicht das Ende Jahren und Jahrzehnten immer darüber der Geschichte. Kaufmännisch betrach- geunkt, dass unsere Kirche auf eine Mit- tet läuft die ELKB in ein dickes Minus in glieder- und Finanzkrise zulaufe und dass der Bilanz. Wenn das wieder ausgegli- das böse enden würde, wenn man nicht chen werden soll, wird die Frage sein, spart, so übt sich die Kirchenleitung jetzt wo dann doch gespart wird. Projekte in Zuversicht. in die Zukunft verschieben – welche? 95 Millionen Euro weniger Kirchensteu- Immobilien oder Personal? Warme Wor- ern 2020? Kein Problem. Fast 30 Millio- te für die Pflegekräfte oder mehr Geld? nen Mehrbedarf für leere Tagungshäu- Kürzungen nur bei den Jungen oder fair ser und von Insolvenz bedrohte soziale verteilt? Bei den der Gesellschaft zuge- Dienstleister? Na klar, ist doch nötig! So- wandten Diensten oder bei den Kirchen- gar die Partnerkirchen, bei denen Corona gemeinden? gerade erst seinen Höhepunkt erreicht, Diese Fragen wird die Synode beantwor- sind im Blick. ten müssen. Geld spielt keine Rolle, scheint es. Gut Und die „ausstrahlungsstarke Kirche der so, meine ich. Geld sollte nie ein Zweck Zukunft“, von der der Landesbischof in sein, sondern nur ein Mittel. Und sparen der Pressemitteilung zum Nachtrags- ist gute Tradition der schwäbischen Haus- haushalt spricht, gibt es noch längst frau, aber wenn sie ihre Spargroschen nicht. Die wäre auch nicht mit Geld al- unter der Matratze versteckt, bewirkt lein zu sichern, sondern vor allem mit das erst mal gar nichts. einer entschlossenen Zuwendung an die Es ist gut, wenn unsere Kirche den in den corona-gebeutelte Welt.
Evangelische Erneuerung 15 Die Zehn Quellen werden zehn Von Martin Kleineidam www.aee-online.de/sites/www.aee-online. de/files/dokumente/Zehn%20Quellen% 20des% „Quelle bedeutet für uns Leben, Erfrischung, Ermutigung und Klarheit.“ So leiten die „Zehn Quellen des Aufbruchs“ zehn Thesen ein, die der AEE im Oktober 2010 verab- schiedet hat. Nach zehn Jahren äußern sich drei Autoren zu dem Thesenpapier. Was hat sich seither zum Guten verändert, was hat an Dramatik zugenommen? Im Beitrag auf Seite 19 nimmt auch unser Landesbischof zu den Zehn Quellen Stellung. 1. Ein Kommentar von Hans-Gerhard Koch zu unterwerfen. „Systemrelevant“ sind Die „Zehn Quellen für Erneuerung von plötzlich ganz andere Menschen und Kirche und Gesellschaft“ sind nach 10 Dinge. „Ökonomie“ muss jetzt neu defi- Jahren keineswegs abgestanden. Sie niert werden. sprudeln frisch wie am ersten Tag, ge- Als der „Lockdown“ unseren Geschwin- rade in der Zeitenwende, die wir gera- digkeits- und Konsumwahn jäh bremste, de durch Corona erleben. Ich gehe den konnten wir der Frage nach dem Sinn Quellen 1 bis 10 entlang: des Ganzen nicht mehr ausweichen. Wir merken, dass es ein Irrglaube war, Und haben wir „Müden“ nicht auch auf- alles dem Diktat der geringsten Kosten geatmet?
16 Evangelische Erneuerung Erst „Fridays for Future“ und dann die ge- es ist ein prophetischer Text. Warum ist schlossenen Schulen und Kitas, aber auch er – wenn wir ehrlich sind – nahezu un- die Vereinsamung der „Risikogruppen“ gehört verhallt? haben uns gezeigt, dass das Verhältnis Jesus sagte, zu seiner Zeit: „Ich sage euch, der Generationen neu bestimmt werden wenn diese schweigen, so werden die muss und dass wir Fragen des Miteinan- Steine schreien“ (Lukas 19,39–40) ders nur gemeinsam beantworten kön- nen. 2. Nach zehn Jahren Bilanz ziehen – von Friedlicher ist die Welt in den 10 Jahren Richard Gelenius seit 2010 nicht geworden, und auch bei In den vergangenen zehn Jahren seit der uns in Deutschland wachsen Hass und Formulierung der Zehn Quellen hat sich Gewalt. Hatten wir die Opfer immer im die Evangelische Volkskirche unter dem Blick? mutigen Engagement von EKD-Präsident Man hat uns offensichtlich betrogen, als Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm man uns sagte, dass kein Geld für Arme positiv entwickelt. und für die Bewahrung der Schöpfung da Sie hat sich zu den jeweiligen aktuellen sei, und dass eine „Schwarze Null“ das oder dauerhaften Themen wie Antisemi- Ziel staatlichen Handelns sein müsse. tismus, Rassismus, Rechtspopulismus, Plötzlich werden Billionen verteilt, nur Rechtsextremismus und weiteren Un- damit die Wirtschaft nicht stehen bleibt. gerechtigkeiten mit Aussagen und der Ist es Zeit, auf Vorrang für die Armen Beteiligung an Solidaritätsaktionen deut- und für eine bewohnbare Erde zu drin- lich zu Wort gemeldet. Gerade jetzt in gen? der Zeit der Corona-Krise hat sie an die Auch unsere Kirche beschließt einen 150 ungünstige Situation der Bezahlung und Millionen schweren Nachtragshaushalt. Wertschätzung der Pflegekräfte im sta- Gleichzeitig verändert sie rasant ihre Ge- tionären und ambulanten Bereich erin- stalt. Liebe, Gerechtigkeit und Spirituali- nert. tät online? Was haben wir wirklich ge- Mit der Vereinbarung, zusammen mit braucht von dem, was wir jetzt bleiben „Sea-Watch 4“ ein kirchliches Rettungs- lassen? Und wen haben wir vielleicht schiff zu erwerben, um damit hilflose auch neu erreicht? Und, wenn alle den Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu ret- Krisenmanagern zujubeln, bestehen wir ten, hat sie ein deutliches Zeichen der auf Partizipation, erst recht? Nächstenliebe gesetzt. Gier und Geiz sind es, die eine Pandemie Vor Ort hat es die letzten zehn Jahre eine ermöglicht haben. Privatisierung und eine bessere Verzahnung der Kirchengemeinde falsch verstandene Globalisierung haben mit den jeweiligen Einrichtungen der Menschenopfer gefordert, am meisten Diakonie gegeben. Dies ist ein wichtiges dort, wo sie auf die Spitze getrieben Zeichen der Umsetzung von biblischem wurden. Auftrag zur naheliegenden Tat. Ein gutes All das steht schon in den „Zehn Quellen“, Bespiel sind die über 50 Vesperkirchen,
Evangelische Erneuerung 17 die in den Wintermonaten ein wertvol- 3. Trotz Schwierigkeiten Freude und les Sozialprojekt zugunsten von Armen Fröhlichkeit bewahren – von Martin und Bedürftigen sind. Kleineidam Die gelegentlichen Erinnerungen von Die „Zehn Quellen“ haben wir vom Lei- Kirchenoberen, die die völlig überzo- tenden Team des AEE damals in Stein genen Gehälter von Aufsichtsräten der bei Nürnberg entlang der Zehn Gebo- Wirtschaft und die Boni-Zahlungen an- te formuliert. Hart haben wir zunächst mahnen, sind leider ohne Widerhall ge- an den Formulierungen gefeilt. Das tat blieben. auch die Mitgliederversammlung, bis Durch den Zusammenschluss von Evan- sie das Thesenpapier im Oktober 2010 gelischen Missionseinrichtungen in Bay- verabschiedete. Es tut nun gut, einmal ern ist das Centrum Mission EineWelt Rückschau zu halten, um sich nicht in in Neuendettelsau neu belebt worden. Pessimismus und Resignation zu verlie- Erfreulich ist der Nothilfefonds für Men- ren, aber auch, um sich nicht selbst et- schen in Partnerkirchen mit Corona-Pro- was vorzumachen. blemen. Die Beziehung zur äußeren Mis- Die Thesen lassen den Klimawandel be- sion und ihren Partnerschaften scheint reits anklingen. Der Anteil der erneuer- in letzter Zeit in den Kirchengemeinden baren Energien am deutschen Strommix etwas rückläufig zu sein. Die nur spora- liegt inzwischen bei rund 50 Prozent. Das disch angebotenen, aber vorgeschriebe- war damals kaum vorstellbar, gleichwohl nen Gemeindeversammlungen wären hoffte man damals auf eine Energiewen- eine gute Möglichkeit, diesen Bereich de bis 2020, die wiederum verschoben der Mission wieder mehr zu verdeutli- wird. chen. Der Mindestlohn wurde angehoben, Mit der 2018 erstmaligen Chance, nur doch das Phänomen der Schwarzarbeit per Briefwahl den Kirchenvorstand zu bleibt. Die Corona-Pandemie deckt hin- wählen, wurde die Gelegenheit ge- gegen ohne Schonung auf, wo Arbeits- nutzt, weitere bisher kirchenferne Ge- bedingungen mit Finanzierungs- und meindemitglieder für Belange und Hygiene-Mängeln bestehen: in Schlacht- Sorgen der Ortsgemeinde zu inter- höfen, bei der Spargelernte, im Gesund- essieren. Umfangreiches und hoch- heitssektor… wertiges Infomaterial war vorhanden. Damals gab es noch kein Fukushima. In- Auch die seitens der Leitungsgremien zwischen ist der Ausstieg aus der Atom- der ELKB den Gemeinden und Dekanaten energie beschlossene Sache. „verordneten“ neuen Wege zur Umset- zung ihres Auftrags sind nicht immer mit Die „Zehn Quellen“ wollten Gesellschaft Wohlwollen aufgenommen worden und und Kirche ermutigen, sich zu beteiligen. brauchen noch eine Zeit des Reifens und Fridays for Future hat die Jugend zum Verstehens, auch für Betroffene, die teil- Einsatz für den Erhalt der Schöpfung weise mit Recht Nachteile sehen. und der Artenvielfalt gebracht. Doch
18 Evangelische Erneuerung in Brasilien wird weiterhin Urwald im selskandal lässt grüßen. Ständig muss Großmaßstab vernichtet und die Flug- man vor Missbrauch auf der Hut sein. gastzahlen stiegen in Deutschland vor Prüfen, prüfen und nochmals prüfen ist der Corona-Krise von Jahr zu Jahr trotz angesagt. Im Blick auf eine Kirche und des Wissens ob der Klimaschädlich- Theologie des konziliaren Prozesses sind keit von Flugzeugen. Auch die Größe Buße und Bußtage immer noch Stiefkin- der Kreuzfahrtschiffe und Pkws (SUV) der. So können sich weltweit und auch stieg ins Gigantomanische. Mit Deut- in der Kirche Narzist*innen entwickeln. lichkeit kann man heute sagen, das Die „Zehn Quellen“ könnten Anhalt ge- Motto „Global denken, lokal handeln“ ben, die Erneuerung als Kraft, die aus hat die Umweltbewegung beinahe in „Um- der Buße erwächst, zu entdecken. weltecken“ von Gemeindebriefen abge- 2015 – war da was? Flüchtlingsbewe- drängt. Heute muss es heißen: „Global gungen haben 2015 den Westen heraus- und lokal denken und handeln“. Mit an- gefordert. Es kam und kommt zu Klima- deren Worten: Individualethik und Sozial- fluchtbewegungen, die Klimatologen ethik, persönliche Lebensstil-Fragen und und Futurologen vorausgesagt haben. sozial-ökologische (Welt-)Politik gehören Abschottungsmaßnahmen und Flücht- zusammen. Denn Massenkonsum und lingshilfe wechseln sich infolgedessen Massentourismus griffen weltweit um ab. Der Schlingerkurs lässt an der Durch- sich. Freizügigkeit und Reisefreiheit wur- schlagskraft der Grundwerte in Europa den unter der Hand zum Libertinismus. und Deutschland zweifeln. Dem Rechts- Der Suche nach Erholung gilt es entgegen- populismus gibt das Fehlen an Klarheit zukommen und den Alltag, die Arbeits- und Orientierung dagegen immer wie- welt und die Umwelt in Stadt und Land der Auftrieb. so zu gestalten, dass die Menschen in Erfreulich ist das Bemühen in der Kirche der Ferienzeit nicht mehr in Scharen die um ein Miteinander der Berufsgruppen. Heimat fliehen müssen. Es gilt, Möglich- Allerdings werden Demokratiedefizite in keiten zu schaffen, den Arbeitsalltag über unserer Kirche gerade da spürbar. das Jahr ohne Schmerzmittel oder Alko- Insgesamt zeigt die Corona-Krise aber hol zu überstehen. Rückbau von Straßen auch, dass Solidarität und Nächstenliebe und Renaturierung, Abbau von Stress- im Alltag immer noch greifen. Das erfreut faktoren und Privatisierungswahn könn- doch sehr. Die „Zehn Quellen“ erfrischen ten neue Stichworte sein. weiterhin. Sie ermutigen Kirche und Ge- Im Bereich der Wirtschaft gibt es viele sellschaft, an der Seite der Bedrängten nachhaltige Anlageformen für Investitio- zu bleiben, Ohnmachtssituationen aus- nen. Die Entwicklung erfreut, aber man zuhalten und gemeinsam zu besprechen, muss ständig prüfen. Unter den angeb- Reformen anzugehen bzw. weiterzufüh- lich „nachhaltigen“ Wertpapieren gibt ren und – trotz mancher Schwierigkei- es Schwindler. Sie lassen sich flankieren ten bei der Durchsetzung – Freude und von politischen Doppelspielern. Der Die- Fröhlichkeit nicht zu verlieren.
Evangelische Erneuerung 19 Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm zu den Zehn Quellen des Aufbruchs Das Bild vom Auszug braucht eine Ergänzung Bei manchem, was der AEE vor zehn Jahren in den Blick genommen hat, hat es Fort- schritte gegeben, bei anderen Themen ist die Bilanz ambivalent. Das Bild des Auszugs die Ambivalenzen zu be- aus Ägypten gibt dem geben, die mit Leitungs- vor zehn Jahren erschie- handeln immer verbun- nenen AEE-Papier über den sind. Gerade bei die „Zehn Quellen“ einer Institution wie seine Grundmelodie. der Kirche ist es immer Und die Vision vom leichter, die Defizite zu Auszug aus dem Ge- benennen, also deut- wohnten könnte heute lich zu machen, was nicht aktueller sein. man hinter sich lassen Unser Prozess „Profil will, als gangbare Wege und Konzentration“ zu etwas Neuem zu ent- hat genau diese Ziel- wickeln und Mehrhei- richtung. ten dafür zu finden. Trotzdem braucht das Wer kirchenleitende Ent- Bild des Auszugs eine scheidungen zu treffen Ergänzung. Es geht hat, muss genau das auch um klare Vorstel- tun. Bei manchem, was lungen davon, wohin der AEE-Text vor zehn wir ziehen wollen und wie wir im gelob- Jahren in den Blick genommen hat, sind ten Land zusammenleben wollen. wir in den zehn Jahren weitergekommen. Dabei braucht es das Vertrauen, dass Die Möglichkeit der öffentlichen Seg- Gott uns auf dem richtigen Weg führt nung gleichgeschlechtlicher Partner- und leitet, auch wenn dieser Weg schaften gehört ebenso dazu wie die manchmal ganz anders sein kann, als ethische Gestaltung unserer Geldanla- wir vorher dachten. Der Grund dafür, gen oder das Klimakonzept. dass ich mich vor ebenfalls zehn Jahren Bei anderen Themen ist die Bilanz ambi- entschlossen habe, für das Bischofsamt valent. Der Prozess „Miteinander der Be- zu kandidieren, war der Wille, die Kirche rufsgruppen“ bedeutet einen großen positiv zu gestalten und mich dafür in all Schritt in Richtung eines solidarischen
20 Evangelische Erneuerung Miteinanders der Mitarbeitenden in der Kirche. In der Umsetzung muss er sich Die Zehn Quellen - erst bewähren. Das partnerschaftliche Leseprobe Arbeiten von Haupt- und Ehrenamtlichen bleibt eine Gestaltungsaufgabe überall Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus in der Kirche. Ägyptenland geführt hat, aus der Knecht- Auch wenn die „Zehn Quellen“ den Kampf schaft. (5. Mos. 5,6) gegen sexuelle Ausbeutung von Frauen Das Bild des Auszugs aus den gewohnten und Kindern weltweit schon thematisie- Strukturen hat den AEE von Anfang an ge- ren, fand das Thema sexualisierte Ge- leitet. Das wandernde Gottesvolk ist ange- walt in dem Papier noch nicht die Auf- wiesen auf Quellen in der Wüste. „Quelle“ merksamkeit, die es schon damals ver- bedeutet für uns Leben, Erfrischung, Er- dient gehabt hätte. Wir haben uns in mutigung und Klarheit. In der Wüste der dieser Hinsicht inzwischen unwiderruf- Fragen und Probleme, vor die wir und lich auf den Weg gemacht. die gesamte Welt gestellt sind, wollen Auch im Hinblick auf die öffentlich disku- wir uns an den Quellen der Bibel erfri- schen, den Weg weisen lassen und ande- tierten Themen ist der Befund ambiva- ren Orientierung geben. Der Arbeitskreis lent. Im Hinblick auf die Begrenzung des Evangelische Erneuerung (AEE) war Klimawandels und ein gerechteres Welt- von Anfang an eine Bewegung, die Ge- wirtschaftssystem hat die Bewegung sellschaft und Kirche stets ermutigt, den „Fridays for Future“ für eine öffentliche Aufbruch aus Verkrustungen zu frischen Aufmerksamkeit gesorgt, die zu errei- Quellen hin zu wagen. Er hat eine lange chen uns als Kirchen bisher nie gelungen Geschichte der gesellschaftlichen Einmi- war. Gleichzeitig darf man feststellen, schung. „Nicht süß, aber erfrischend“ ist dass dieser Erfolg all denen – auch im Leitmotiv des AEE. AEE – mitzuverdanken ist, die seit Jahr- zehnten, etwa im Konziliaren Prozess für Die zehn Quellen Gerechtigkeit, Frieden und die Bewah- 1. Quelle für Opfer der Ökonomisierung rung der Schöpfung, den Boden dafür 2. Quelle für Erstarrte bereitet haben. Ob die damit verbun- 3. Quelle für Müde 4. Quelle für Generationen denen Ziele in der Politik endlich umge- 5. Quelle für Opfer von Gewalt setzt werden, ist noch offen. 6. Quelle für Liebende Es braucht immer wieder Anstöße zum 7. Quelle für Betrogene Weiterdenken für eine Kirche, die von 8. Quelle für Gedemütigte ihrem Selbstverständnis dazu bestimmt 9. Quelle der Erneuerung für das eigene ist, sich ständig zu verändern und zu er- Haus der Kirche neuern. Der AEE hat dazu immer wichti- 10. Quelle für die Opfer von Gier und ge Anstöße gegeben. Und das soll auch Geiz so bleiben.
Frieden 21 BDS, Kairos Palästina und die EKD Dialog statt Konflikt Die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe 1933, dass die Entrechtung der Juden im München (die im folgenden Beitrag auf Nationalsozialismus einen Bekenntnis- Seite 23 zu Wort kommt) steht für eine fall darstelle, weshalb die Kirche „dem Idee – nämlich Versöhnung und Ver- Rad in die Speichen fallen“ müsse. Die ständigung –, die im Verlauf des israe- Kampagne fragte: „Kann man Kirche und lisch-palästinensischen Konflikts immer Christ sein und gleichzeitig zur Entrech- schwerer umzusetzen scheint. Im Ge- tung des Palästinensischen Volkes und genteil: Durch das Vorhaben der Regie- dem Missbrauch der Bibel zur Rechtfer- rung Netanjahu, einen Teil der Westbank tigung des Landraubs schweigen?“ Kai- zu annektieren, scheint der Streit in eine neue Runde zu geraten. Vor diesem Hintergrund wird eine kirchliche Kampagne „Kairos Palästina“ noch vor dem 1. Juli (das wäre ein mögliches Datum der geplan- ten Annexion) aktiv werden und u. a. in Mahnwachen vor den Landeskirchenäm- tern der EKD einen Brief „Schrei nach Hoffnung“ aus Palästina veröffentlichen und übergeben. Darin wer- 1948 fliehen arabische Palästinenser von Galiläa in den Libanon © wikimedia commons den die Bischöfe, Kirchen- leitungen und Synoden aufgerufen, sich für die Sache der Palä- ros nimmt für sich in Anspruch, sie sei stinenser einzusetzen: „Wir können nicht „die Stimme einer Mehrheit der Welt- Gott dienen und gleichzeitig zur Unter- christenheit, gegen die sich die Kirchen drückung der Palästinenser schweigen!“ in Deutschland bis jetzt weitgehend ab- Kairos – ein religiös-philosophischer Be- geschottet hat“. griff für den günstigen Zeitpunkt einer Entscheidung. Die Kampagne Kairos nimmt Das ist eine deutliche Aufforderung an Bezug auf Dietrich Bonhoeffers Aufruf die Kirchen, sich stärker für die Sache
22 Frieden der Palästinenser zu positionieren. Die Zivilgesellschaft aus dem Jahr 2005. Die EKD tritt im Nahostkonflikt offiziell für BDS-Kampagne will Waren aus Israel boy- eine Zweistaatenlösung ein, „die die vor- kottieren und so Druck auf den Staat Is- behaltlose Anerkennung des Existenz- rael ausüben und den Staat Israel wirt- rechts Israels durch alle Seiten und ein schaftlich, kulturell und politisch isolieren. sicheres Leben der Menschen in Israel Israel müsse die „Okkupation und Koloni- genauso einschließt wie einen palästi- sierung allen arabischen Landes“ beenden, nensischen Staat, der den Menschen in das „Grundrecht seiner arabisch-palästi- Palästina ein selbstbestimmtes Leben nensischen Bürger auf volle Gleichheit“ ermöglicht“. Sie nennt das „eine doppel- anerkennen und „das Recht der palästi- te Solidarität mit dem Staat Israel und nensischen Flüchtlinge auf eine Rück- dem palästinensischen Volk“. kehr in ihre Heimat und zu ihrem Eigen- Kairos Palästina bezeichnet die Beset- tum gemäß UN-Resolution 194 schützen zung der Palästinensergebiete „als Sün- und fördern“. de gegen Gott und die Menschen“. Der Aufruf ist von palästinensischen Chri- Die weltweite Kampagne wird von bald sten verfasst und von vielen bekannten 200 überwiegend palästinensischen Orga- Theologen Europas, auch Deutschlands, nisationen, aber auch von Solidaritäts- unterzeichnet. gruppen wie eben der Münchner Dialog- Zumal in Deutschland, und zumal in un- gruppe, auch von vielen Einzelpersonen, seren Kirchen wird die Positionierung im auch Prominenten und Künstlern getra- Nahostkonflikt immer mehr im Stil einer gen und unterstützt. Doch sie wird auch harten Pro-und-Kontra-Debatte geführt. als einseitig gegen den israelischen Staat Und vor dem Hintergrund des „histori- gerichtet eingeschätzt. Der deutsche schen Versagens der Evangelischen Kir- Bundestag hat BDS in einem förmlichen che gegenüber den Juden“ (so in einem Beschluss, parteiübergreifend, als an- EKD-Papier) schwingt stets die Frage mit: tisemitisch verurteilt. Auch die EKD hat Wann wird Kritik an der israelischen Po- sich mit BDS erst jüngst beschäftigt und litik antisemitisch? Es ist eine Kampagne kam zu einem zweigeteilten Urteil: Einer- mit dem Kürzel „BDS“, die die proisrae- seits lehnt sie Boykottmaßnahmen gegen lischen Gruppen einerseits und die pro- Israel ab und beteiligt sich nicht an ent- palästinensischen auf der anderen Seite sprechenden Projekten im Rahmen der mehr und mehr trennt (und zu der sich BDS-Kampagne. Andererseits unterstreicht sowohl die Jüdisch-Palästinensische Dia- sie als Anliegen des BDS-Gründungsauf- loggruppe als auch Kairos Palästina aus- rufs von 2005 das Bekenntnis zu Gewalt- drücklich bekennen): freiheit, den Einsatz für Menschenrechte „BDS“ steht für Boycott, Divestment and und das Ziel eines gerechten Friedens in Sanctions und geht zurück auf einen inter- Israel und Palästina. lt nationalen Aufruf der palästinensischen
Frieden 23 Die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe München: Frieden zwischen Juden und Arabern ist möglich Die Regierung Netanjahu trifft Vorkehrungen, einen Teil der Westbank zu annektieren. Die EKD kritisiert diese Pläne und fürchtet, dass der angestrebte Friedensprozess damit endgültig zum Erliegen kommt. Nicht nur „vor Ort“ in Nahost, sondern weltweit neh- men die Spannungen etwa zwischen propalästinensischen Gruppen einerseits und den Vertretern jüdischer Gemeinden andererseits zu. Wir, der AEE, möchten an dieser Stelle einer Initiative Gehör verschaffen, die sich um Verständigung und friedlichen Interes- sensausgleich zwischen Juden und Palästinensern bemüht: die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe München, mit deren Sprechern Judith Bernstein und Riyad Helow unser AEE-Mitglied Bernd Wintermann folgendes Gespräch führte: b&k: Frau Bernstein, Herr Helow, wie Palästina nach Brüssel kam. Der Name kam es zur Gründung der Dialoggruppe? „Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe“ wurde gewählt, weil nur Palästinenser Judith Bernstein und Riyad Helow: Die und Juden – die nicht alle einen israeli- Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe schen Pass hatten – aufgenommen wur- München geht auf die Ausstrahlung eines den. Dokumentarfilms zum israelisch-palästi- nensischen Konflikt zurück. Sie wurde im Wie muss man sich die Arbeit Ihrer Jahr 1985 von einem im Flüchtlingslager Gruppe konkret vorstellen? bei Jerusalem aufgewachsenen Palästinen- Während die meisten Gruppen nur eine ser und einem jüdischen Ehepaar aus Seite des Konflikts repräsentieren, ist die Belgien, alle in München lebend, gegrün- Dialoggruppe eine gemischte Gruppe. Wir unterstützen Initiativen und Gruppen aus der Friedensszene beider Völker. So waren von israelisch-jüdischer Seite die Professoren Moshe Zimmermann und Gadi Algazi, der ehemalige Sprecher der Knes- set Avraham Burg, der Journalist Gideon Levy, die Filmemacher Dror Dayan und det. Fuad Hamdan fand in München eine Yoram Feldman, von palästinensischer neue Heimat, während das Ehepaar Jules Seite der frühere Botschafter in Berlin und Larissa Gruszow über Polen und Salah Abdel-Shafi, der Knesset-Abge-
24 Frieden ordnete Asmi Bischara, die Filmemacher lästinensischen Widerstandskampagne Mohammad Bakri („Jenin, Jenin“) und „Boykott, Desinvestitionen und Sank- Mohammed Alatar („Jerusalem – the tionen“ (BDS). Der Stadtratsbeschluss East Side Story“ und zuletzt „Broken“) gegen BDS vom Dezember 2017 rich- sowie Vertreter von „Combatants for tet sich vor allem gegen die Jüdisch- Peace“ und der israelisch-palästinensischen Palästinensische Dialoggruppe, die seitdem verleumdet wird. Der Vortrag im Münchener Gasteig über Jerusalem löste heftige Proteste aus. Unser Eintreten für die Gleichstellung der Pa- lästinenser in Israel „Zwei Staaten, eine Heimat“ ist das Programm einer Friedens- und Palästina wird als initiative von Israelis und Palästinensern im Nahen Osten Vorwand benutzt, um Berichte über die Situa- „Genfer Initiative“ bei uns zu Gast. tion in den seit 1967 besetzten palästi- nensischen Gebieten im Westjordanland, Welche Ziele möchten Sie mit Ihrer Ar- in Ost-Jerusalem und Gaza zu unterbin- beit erreichen und welchen Schwierig- den. Dass BDS eine Reaktion auf die is- keiten begegnen Sie dabei? raelische Politik und auf das Versagen Gegenüber deutschen Einrichtungen der europäischen Regierungen darstellt, und Behörden kämpfen wir um die An- wird wohlweislich verschwiegen. erkennung jener Gruppen, die sich in Is- rael/Palästina für Demokratie und Recht Woraus schöpfen Sie Hoffnung, dass einsetzen. Deshalb wurden unsere Ver- Ihre Arbeit trotzdem sinnvoll ist und zu anstaltungen durch Interventionen der hie- positiven Ergebnissen führen wird? sigen Israelitischen Kultusgemeinde und In weiten Teilen der Münchner Öffent- in ihrem Gefolge der Stadt München er- lichkeit und darüber hinaus genießen schwert. Bisweilen mussten Gerichte Ver- wir trotz allem Ansehen und Vertrau- bote von Veranstaltungen durch einst- en. Denn die „Dialoggruppe“ bietet den weilige Verfügungen aufheben. Die Presse Beweis, dass Frieden zwischen Israelis berichtete über unsere Arbeit selten, und Palästinensern, zwischen Juden und dafür über die Bemühungen, sie zu ver- Arabern möglich ist. hindern. Das Gespräch führte Bernd Wintermann Können Sie ein Beispiel dafür nennen? vom Leitenden Team des AEE. Eine Zäsur bildete unsere Unterschrift unter einen Aufruf zur gewaltlosen pa-
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