B&k Berichte und Kommentare - Evangelisch erneuern

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2/2020

         • Was macht Corona mit uns?
         • Die Zehn Quellen des Aufbruchs
         •   Der Landesbischof kommentiert
             die Zehn Quellen
         • Frieden zwischen Juden
             und Arabern ist möglich
         • Vor 200 Jahren: Friedrich Engels
         • Vor 75 Jahren: Hiroshima

  Arbeitskreis
  Evangelische
  Erneuerung
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2                Inhalt

3    Editorial
4    Was macht Corona mit uns? Die Pandemie ist hier und viele Fragen offen
8    Habermas zu Corona
9    Ruhig und solidarisch das Notwendige tun. Theologie in Zeiten von
     Covid 19 / Von Hans-Gerhard Koch
12   Nach Corona zurück zur Tagesordnung? Interview mit Karl Georg Haubelt
15   Die Zehn Quellen werden zehn/ Von Martin Kleineidam
19   Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm zu den Zehn Quellen des Aufbruchs
21   Dialog statt Konflikt – BDS, Kairos Palästina und die EKD /
     Von Lutz Taubert
23   Frieden zwischen Juden und Arabern ist möglich / Interview mit der
     Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München
25   Schluss mit Krieg – Der Muttertag im Wandel der Zeiten /
     Von Marlene Faltermaier-Jahn und Silvia Weißhaar
27   Das Stuttgarter Schuldbekenntnis, die alten Nazis und die Mitläufer /
     Von Hans-Gerhard Koch
28   Seit‘ an Seit‘ mit Karl Marx – Der Geburtstag von Friedrich Engels jährt
     sich zum 200. Mal / Von Hans-Gerhard Koch
29   Hiroshima – Äußerstes Mittel der Friedenssicherung? /
     Von Hans-Willi Büttner
31   Kirchen – Klimaneutral bis 2050? / Von Gerhard Monninger
32   Bericht aus dem Leitenden Team
33   Berichte aus den Regionalgruppen
35   Impressum
36   Das Letzte: Denkbarer Denkmalsturz / Von Lutz Taubert
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Editorial                    3

                                                        Corona-Redaktionskonferenz.
                                                        Dieses Heft entstand aus-
                                                        schließlich auf elektronischem
                                                                                  Weg.

                                Juni 2020    mit und nach Covid-19: Vielleicht gehört
Liebe Leserin, lieber Leser,                 zu den Nebenwirkungen des Virus ein
dass man den Ursachen der Corona-            gewisser Auflösungseffekt, was unsere
Pandemie auf den Grund gehen muss,           Trägheitsmomente betrifft. Es kribbelt
um den Schaden zu begrenzen und hof-         Spannung in mir. Darum unsere Diskus-
fentlich beenden zu können, ist klar. Und    sionsbeiträge, die kritischen Einwürfe,
wie gehe ich als gläubiger Mensch damit      die Zuspitzungen, z. B.:
um? Zum Glück hatte ich in jungen Jah-        Juden und Palästinenser im Dialog.
ren einen gütigen Gemeindepfarrer, der       Ohne starre Fronten und mit den wich-
nicht hereingefallen ist auf die Gottes-     tigen Zwischentönen.
gerichtsdeuter, wenn mal wieder etwas         Lernen aus der Vergangenheit. Vor 75
Schlimmes die Lande in Aufruhr versetzte.    Jahren fielen in Japan die Atombomben.
Ich begriff, was Glaube ausmacht: wach       Vor 200 Jahren wurde Friedrich Engels
sein, das Leben sehen, wie es ist, und       geboren, einer der sich nicht abfinden
praktisch reagieren mit Gottes- und Men-     wollte mit dem Elend unter den Menschen.
schenliebe. Was dabei herauskommt, ist        Die „Zehn Quellen des Aufbruchs“, eine
nicht immer eindeutig klar, sondern darf     quasi kirchliche Verlautbarung des AEE,
und muss wohl Platz schaffen, um die         sind zehn Jahre alt geworden.
Geister zu unterscheiden.                    Lassen Sie sich anregen und mitnehmen!
Glaube, Theologie, Kirche und Gesellschaft                       Ihr Hans-Willi Büttner
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4              Corona

Die Pandemie ist hier und viele Fragen offen

Was macht Corona mit uns?
„Wie verändert Corona Politik und Gesellschaft, Kirche, Ihr persönliches Lebensum-
feld?“ Unsere Umfrage unter evangelischen Christen in Bayern war bewusst offen
formuliert, und so hatte ein jeder, eine jede der Befragten die Möglichkeit, aus per-
sönlicher Betroffenheit oder/und quasi als Kommentator der Weltlage zu antworten.
Herausgekommen ist ein Sammel-Essay von einer geradezu spannenden Vielfalt. Ein
bunter Strauß von Selbstbeobachtungen, Reflexionen und Deutungen, Vermutungen und
offenen Fragen.                                                                    lt

                                               mittel der Landeskirche treibt mich um.
                 Elke Zimmermann,
                                               Nun stehen wir als Landessynode mögli-
                 Journalistin (evange-
                                               cherweise früher als befürchtet vor Ent-
                 lische Funkagentur)
                                               scheidungen, die niemand gerne treffen
                 und Mitglied der
                                               mag: Wo muss gekürzt werden? Deshalb
                 bayerischen Landes-
                                               hoffe und bete ich, dass sich die Wirt-
                 synode, München:
                                               schaft möglichst bald wieder erholen
                 Als ich am 9. März mei-
                                               wird. Aber viel wichtiger ist, dass schnell
                 nen Kalender ansah,
                                               ein Medikament oder ein Impfstoff ge-
betete ich darum, dass wenigstens einer
                                               gen Covid-19 gefunden wird und mög-
meiner vielen Termine abgesagt würde.
                                               lichst wenig Menschen darunter leiden.
Neben meiner Vollzeitarbeit standen
noch der Kommunalwahlkampf, ein KV-
Tag, ein Drehtermin am Sonntag, sowie                             Heiko Kernstock,
mein Sprachkurs, ein Besuch bei der                               Rummelsberger
Kosmetikerin und das erste Treffen der                            Diakon und Diplom-
neu gewählten Landessynodalen beim                                theologe, Heilsbronn:
Regionalbischof auf dem Plan. Am Don-                             Geld oder Leben?
nerstag, dem 12. März, waren alle Ter-                            Gott sei Dank leben
mine gestrichen. So gründlich war noch                            wir in der „reichen“
nie ein Gebet von mir erhört worden.                              Bundesrepublik und
Für die neue Landessynode war Coro-            unser tägliches und gesellschaftliches
na eine Vollbremsung. Immer noch ist           Leben ist doch viel komplexer.
die alte Besetzung im Amt, muss einen          Dennoch zeigte mir die Krise existen-
Nachtragshaushalt erstellen, um krisen-        ziell: Danke, lieber Gott, dass ich leben
bedingte Verluste einigermaßen abzu-           und atmen kann und dass von mir kein
federn. Der Gedanke an einbrechende            direkter Angehöriger verstarb. Die Sache
Steuereinnahmen und fehlende Geld-             mit dem Leben scheint geklärt. Doch das
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Corona                  5

politisch-wirtschaftlich scheinbar alles       entdeckt und neben Nachteilen – ins-be-
entscheidende Geld: Welche Konse-              sondere für die geisteswissenschaftli-
quenzen sind daraus zu ziehen?                 chen Fächer, denen eine „barrierefreie
Die soziale Kontaktsperre machte uns           Diskussionskultur“ fehlt – viele Vorteile
allen bewusst, wir leben nicht allein.         der ZOOM-Seminare wahrgenommen.
Die Wertschätzung und Freundlichkeit           Die Kirchengemeinden sind in die digi-
unserer Mitmenschen tut uns in der             tale Sphäre gestürzt worden und haben
Seele gut. Wir profitieren von der Arbeit      da interessante Erfahrungen gemacht.
der anderen (vor Ort und weltweit). Wir        Hunderte Gottesdienstteilnehmer beim
praktizieren Solidarität.                      „digitalen“ Abendmahl am Gründonners-
Darum lasst uns in Menschen (und in            tag, wunderschöne Gottesdienstüber-
unsere gemeinsame Zukunft) investie-           tragungen in Radio und Fernsehen, der
ren. In eine staatliche Infrastruktur, die     tägliche Gruß vom Seelsorger im Sonnen-
den Einzelnen mündig macht und am              aufgang. Pastorale Arbeit wird auch on-
demokratischen Streit teilnehmen lässt.        line gehen und diese digitale Entfernung
Konkret: Wie wir mit Schwachen, Min-           zwingt uns Theologen und Pfarrerinnen,
derprivilegierten, mit der Würde der           persönlicher zu werden in Sprache und
anderen und unseres Gegenübers um-             Performance. Ein Abenteuer!
gehen, daran zeigt sich, woran unser
Herz hängt. Oder, mit anderen Worten,                               Erwin Schelbert,
ob uns letztlich Geld oder Leben wich-                              Studiengesellschaft
tiger ist.                                                          für Friedensfor-
                 Johanna Haberer,                                   schung, München:
                 evangelische Theologin,                            Ich hoffe, dass nach
                 Journalistin und Profes-                           Corona sich in allen
                 sorin für Christliche Pu-                          Lebensbereichen et-
                 blizistik in Erlangen:                             was verändern wird,
                 Ich erkenne, wie unend-                            weil ein neues Be-
                 lich viel Zeit ich in Zügen   wusstsein über die Verletzbarkeit des
                 verbracht habe und bin        Menschen hoffentlich zu einer neuen
froh über die vorübergehende Sess-             Wertschätzung menschlichen Lebens
haftigkeit. Die Gesellschaft wird durch        führt.
die Erfahrungen mit den neuen Online-          Als friedensbewegter Mensch (Projekt-
Arbeitsformen langfristig viel flexiblere      gruppe Münchner Sicherheitskonferenz
Varianten von Arbeit entfalten.                verändern) sehe ich nur die Notwendig-
Das wird spannend und wird die Balance         keit, das Virus zu bekämpfen, nicht je-
zwischen Beruf und Familie leichter ma-        doch Menschen, zumal keine akute Be-
chen, wird den Straßenverkehr entlasten,       drohungslage für uns besteht. Wenn die
Büroräume verbilligen.                         Rüstungsausgaben 2019 weltweit um
Wir an der Uni haben die Online-Lehre          3,6 Prozent, in Deutschland sogar um 10
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6                  Corona

Prozent gestiegen sind, wäre Corona ein        und so haben wir Telefon und gelbe Brief-
Anlass, sie jetzt drastisch zu kürzen und      post benutzt. U. a. habe ich eine Telefon-
das Geld besser in die Bekämpfung der          kette initiiert. Das kommt gut an, Rück-
Pandemie und in Gesundheitsvorsorge            meldungen zeigen mir, dass die Leute sich
zu investieren. In seiner Osterbotschaft       schon richtig auf die Telefonate freuen;
forderte der Papst: „Die Welt braucht          und auch die Verbundenheit unterein-
Brot statt Waffen.“ Im konziliaren Pro-        ander wächst.
zess wurde deutlich, dass die Trias Frie-      Was sich auch verändert hat, ist die Art
den, Gerechtigkeit und Bewahrung der           und Weise, wie Entscheidungen getrof-
Schöpfung zusammengehört. Darum                fen werden, nämlich von oben nach
darf es jetzt kein Zurück zu einem für         unten, und ich lerne: Ich bin ganz unten.
Klima und Mensch zerstörerischen Wirt-         Nicht ich entscheide, sondern Staats-
schaften und Konsumverhalten geben.            regierung, Landeskirche, Dekan, Ge-
Dafür will ich mich verstärkt einsetzen.       schäftsführer. Ich hoffe, das ändert sich
                                               auch wieder!
                     Heike Komma,
                     Diplom-Religions-                            Gernot Sittner,
                     pädagogin bei der                            ehemaliger Chefre-
                     Gesamtkirchen-                               dakteur der Süd-
                     gemeinde Bayreuth:                           deutschen Zeitung,
                     Viel hat sich geändert:                      München:
                     Aus dem Kirchplatz-                          Die Frage kommt zu
                     treff, in dem ich ar-                        früh, denn die Ant-
beite, einem Haus, in dem Menschen                                wort hängt von der
ein und aus gehen, einander begegnen,          Antwort auf eine Reihe weiterer, offener
lernen und lachen, weinen und einander         Fragen ab: Wird es einen Impfstoff ge-
trösten, ist ein stilles Haus geworden.        ben – und wenn ja, wann und für wen?
Die Flure sind leer.                           Wird vorher noch eine zweite Infekti-
Doch nun soll hoffentlich bald wieder          onswelle kommen? Wie gravierend wer-
Leben in unsere Räume und Gänge kom-           den die wirtschaftlichen Schäden sein?
men, schrittweise werden wir wieder            Wie stark wird sie jeder Einzelne spü-
öffnen. Doch es wird anders sein: Hygiene-     ren? Und wie diszipliniert werden sich
regeln und Maßnahmen bringen Verän-            die Menschen verhalten, sollten die Be-
derungen in den Abläufen unserer Kur-          schränkungen verschärft oder gelockert
se, den Begegnungsmöglichkeiten und            oder gar aufgehoben werden? Werden
den Mahlzeiten.                                wir als Gesellschaft, wird die Politik die
In den letzten Wochen habe ich versucht,       Corona-Krise auch als eine Chance zu
Kontakt zu halten. Die allermeisten un-        Reformen begreifen – und nutzen? Zu
serer Stammgäste haben kein Internet           Reformen in erster Linie, was unsere
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Corona                   7

Wertschätzung sozialer Berufe (nicht zu-     nachhaltig daran festhalten wird, dass
letzt in Euro) angeht? Wird sich unsere      Verzicht und Umsteuern möglich sind.
Gesellschaft, wird sich jeder Einzelne –     Aber vielleicht nützt doch eine Erinne-
sei es notgedrungen, sei es aus freien       rung an den Einfallsreichtum, der diese
Stücken – dazu durchringen, seine Le-        Zeit reich gemacht hat.
bensweise so zu verändern, dass der Kli-
mawandel und die Umweltzerstörung,                               Luisa Taubert, Religi-
wenn schon nicht angehalten, so zumin-                           onswissenschaftlerin
dest spürbar gebremst werden? Lauter                             und Sozialarbeiterin,
offene Fragen.                                                   München:
                                                                 Ich arbeite im Bereich
                     Sieglinde Klemm,                            der Radikalisierungs-
                     ehemalige Rektorin                          prävention und Demo-
                     des Predigerseminars                        kratieförderung.
                     Nürnberg:               Mit unseren Bildungsprogrammen sind
                     Zu Beginn der Krise     wir an Schulen unterwegs. Wegen der
                     erlebte ich im per-     Schulschließungen ging und geht das
                     sönlichen Umfeld fast   derzeit nicht mehr. Gleichzeitig sehe ich
                     eine Erleichterung:     durch rassistische Übergriffe und men-
Viele Verpflichtungen wurden abgesagt,       schenfeindliche Verschwörungstheorien
es gab freie Nachmittage und Abende…         in Zusammenhang mit Corona leider
Mit Verwunderung und einem leicht            wieder einmal mehr bestätigt, wie wichtig
ironischen Lächeln bemerkte ich, dass        unsere Arbeit ist. Die globalisierte Welt,
solch ein kleiner Virus eine so große und    Demokratie, der Rechtsstaat und natür-
verunsichernde Wirkung auf das globale       lich auch die Pandemie: All das sind hoch-
Geschehen hat. Es wurde deutlich, dass       komplexe Phänomene. Verschwörungs-
wir zwar handeln müssen, die Folgen          theoretiker/innen und Populist/innen
aber nur schwer abschätzen können.           bieten erst mal bestechend einfache
Mit Achtung habe ich die Informations-       Erklärungen und Lösungen für all das.
politik und das besonnene Handeln der        Hat jemand aufgrund der Kontaktbe-
Kirchen erlebt. Ein großer Aufwand an        schränkungen wenig sozialen Kontakt
Überlegungen und Maßnahmen machte            und ist viel im Internet auf entsprechen-
eine andere, dennoch sinnvolle Weiter-       den Seiten unterwegs, ist die Gefahr, in
führung der Arbeit möglich. Das habe         so ein Weltbild zu rutschen, besonders
ich vor allem im Bereich der Seelsorge       groß. Deshalb bin ich froh, dass jetzt
mitvollziehen können: Statt im persön-       wieder langsam die Schulen, Bildungs-
lichen Gespräch suchten verunsicherte        einrichtungen und Orte sozialer Arbeit
Menschen am Telefon Halt und Struktur.       öffnen. Denn auch menschenfeindliche
Ich bin nicht sicher, ob die Gesellschaft    Einstellungen sind eine Bedrohung für
B&k Berichte und Kommentare - Evangelisch erneuern
8                 Corona

unsere Gesellschaft, die bekämpft und         Habermas und Sokrates:
abgewendet werden muss.
                                               Soviel Wissen über
                   Paul Kleineidam,
                   Student Assistant der
                                                 Nichtwissen!
                   Universitätsmedizin      Corona, das hat unsere Umfrage erge-
                   Mannheim:                ben, ist ein neuartiger, einzigartiger, ein-
                   Die Corona-Pandemie      schneidender Prozess, der uns total be-
                   wird einen negativen     trifft, privat und öffentlich, national und
                   Einfluss auf die Welt-   global. Unsicherheit aber darüber, wie
                   wirtschaft haben, es     die Pandemie uns tatsächlich und lang-
wird viele Firmen- und Privatinsolven-      fristigt betrifft. Gesundheitliche Folgen
zen geben, die Arbeitslosenquote wird       und Gefahren der Pandemie mögen sich
weltweit steigen. Durch das Aufnehmen       allmählich abzeichnen, unabsehbar aber
neuer Staatsschulden wird die finan-        sind die sozialen und wirtschaftlichen
zielle Handlungsfähigkeit vieler Volks-     Folgen. Jürgen Habermas, deutscher
wirtschaften verringert werden. Dieser      Philosoph und So-
Schritt ist zwar notwendig, bedroht aber    ziologe, nach Co-
auch das seit der Finanzkrise 2008 stark    rona befragt, ant-
angeschlagene internationale Wirt-          wortete dies: „Die
schafts- und Finanzsystem.                  wirtschafts- und so-
Die Probleme werden insbesondere            zialwissenschaftli-
spätere Generationen belasten, da sie       chen Experten soll-
es sein werden, die die Altschulden         ten sich mit Pro-
ihrer Eltern- und Großelterngeneration      gnosen        zurück-
abbezahlen müssen. Der finanzielle          halten. Eines kann
Handlungsspielraum der kommenden            man sagen: So viel Wissen über unser
Generationen wird dadurch verkleinert       Nichtwissen und über den Zwang, unter
werden.                                     Unsicherheit handeln und leben zu müs-
Diese Schulden können die Handlungs-        sen, gab es noch nie.“ Eigentlich eine ur-
fähigkeit von Staaten, Unternehmen,         alte Weisheit, die wir anderswoher ken-
Kreditinstituten und/oder Individuen        nen: „Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß“,
stark einschränken und ganze Volks-         sagte Sokrates in seiner Verteidigungs-
wirtschaften in den Ruin treiben. Diese     rede vor dem Athener Volksgerichtshof,
Schulden sind Investitions-, Innovations-   und er wies den vermeintlich Wissen-
und Effizienzbremsen!                       den nach, dass sie auch nichts wissen.
                                            Das sei auch heute allen Bescheid- und
Fragen: lt                                  Besserwissern in Sachen Corona gesagt.
                                                                                       lt
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Theologie                    9

                  Ruhig und solidarisch
                  das Notwendige tun
           Theologie in Zeiten von Covid 19 / Von Hans-Gerhard Koch
Kirche lebte im Homeoffice – da blieb        „Ein weltloses Heil könnte nur eine heil-
viel Zeit für Theologie.                     lose Welt zur Folge haben.“ (Ziff. 101). So
Ganz früh meldete sich Ralf Frisch, Pro-     ist es, immer noch.
fessor an der Evangelischen Hochschule       Natürlich gibt es theologisch viel Schlim-
Nürnberg und Theologischer Referent          meres.
der bayerischen Landessynode.                Etwa die US-Megakirchen, in denen das
Kurz und, wie er selbst meint, von mir       Virus mit Exorzismus bekämpft wird.
böswillig vergröbert ist seine Theologie:    Und mit „Fasst euch an den Händen ...“.
Im Zeichen einer existenziellen Krise        Gerade haben wir in den USA erlebt,
kommt eine „öffentliche Theologie“, die      wohin das führt: zu Kühl-Lkws vor den
den Anschluss an die Gesellschaft sucht,     Krankenhäusern, in denen sich die Lei-
das Leben möglichst menschlich zu ge-        chen stapeln.
stalten sucht und die Anstrengungen der      Die Fernseh-Hirten mit den Maßanzü-
Politik mitträgt, an ihr Ende. Wir sollten   gen werden sicher bald umschalten, es
einsehen, dass Gott unbegreiflich ist und    gibt ja noch die „Gericht Gottes“-Schub-
dass alles auch böse enden kann. Frisch      lade, in der schöne Anleitungen für Kri-
empfiehlt mehr Spiritualität und den         senzeiten zu finden sind. Das Coronavi-
Weg nach innen. Einzig im religiösen Er-     rus hat seine Ursache wahlweise in der
lebnis können wir, wenn schon nicht die      Homosexualität, im Islam, im Jüngsten
Welt, dann doch wenigstens uns selber        Tag oder im allgemeinen Unglauben.
retten. Er spricht von der Weisheit der      Präsident Trump lässt sich trotz offenba-
lutherischen Zwei-Reiche-Lehre und           ren Versagens mit der Bibel in der Hand
gibt deshalb die Zuständigkeit für das       vor einer Kirche fotografieren, vor der
Wohl der Menschen großzügig an den           er vorher friedliche Demonstranten nie-
Staat ab.                                    derknüppeln ließ. Die im Weißen Haus
Dafür kann Frisch sich nicht unbedingt       angestellte Fernsehpredigerin Paula
auf Martin Luther berufen. Der hat im-       White sagt dazu: „Wer Nein zu Trump
mer erklärt, Gott habe in beiden „Re-        sagt, sagt Nein zu Gott.“ Auch so kann
gierweisen“, in der Kirche und in der        man der Realität und dem Nachdenken
Welt, das Heil und das Wohl der Men-         über ihre Ursachen entgehen.
schen im Sinn. Nur die Methoden seien
anders. Entsprechend schrieb das Sozi-       Es gibt, zum Glück, auch eine Kirche, die
alwort der EKD „Für eine Zukunft in So-      sich nicht zum Krisengewinnler macht
lidarität und Gerechtigkeit“ von 1997:       oder die Krise sogar herbeisehnt, son-
B&k Berichte und Kommentare - Evangelisch erneuern
10                  Theologie

dern ruhig und solidarisch das Not-                     Ich glaube, wir brauchen keine Krisen-
wendige tut. Das Notwendige ist: die                    Theologie. Ihre Alarmrufe werden sich
Ausgangsbeschränkungen beachten, tele-                  abnutzen, wenn das Leben weitergeht.
fonieren, lernen, die sozialen Medien zu                Denn es geht weiter, wie schon nach der
nutzen. Nachbarschaftshilfe organisieren,               Sintflut. Gott hat den Regenbogen über
Gespräche und Grüße über den Garten-                    die Erde gesetzt, damit nicht aufhöre
zaun, Musik vom Balkon, vom Fenster,                    Saat und Ernte, Frost und Hitze.
oder im Internet, offene Kirchen.                       Nur der Prophet Jona hat sich ge-
Also alles das, was vernünftige und                     wünscht, dass die große Katastrophe

Corona-Abendmahl in St. Lukas München: Es muss trotz strikter Beachtung der Hygiene-Standards nicht aus-
fallen. Alle bleiben an ihrem Platz, Paare können beieinandersitzen, Einzelpersonen halten den gebotenen
Abstand zueinander. Sanctus und Agnus Dei singt der Kantor.                               © Christine Weiß

warmherzige Menschen auch sonst ma-                     kommt. Aber als er es sich gerade be-
chen, vor, während und hoffentlich auch                 quem gemacht hatte unter dem Rizi-
noch nach der Krise.                                    nusbaum, um den Weltuntergang zu
Dietrich Bonhoeffer, weiß Gott krisener-                betrachten, kam der Wurm und ließ den
fahren, hat gesagt: „Mag sein, dass der                 Rizinus verdorren.
Jüngste Tag morgen anbricht, dann wol-                  Nein, der Wurm ist drin in einer Theolo-
len wir gern die Arbeit für eine bessere                gie, die von der Krise lebt und versucht,
Zukunft aus der Hand legen, vorher aber                 sich in eine angeblich „höhere“ Realität
nicht.“ (Widerstand und Ergebung, DBW                   zu flüchten, wo immer die dann liegt.
8, S. 36)                                               Die Corona-Krise hat sich in der Welt,
Theologie                   11

wie sie leider ist, entwickelt, durch Fehl-   sollten. Wir haben als Kirche neue Mög-
entscheidungen Verantwortlicher ver-          lichkeiten gelernt, Menschen nahezu-
schärft und wird hoffentlich durch Mut,       kommen, und sollten überlegen, was
Solidarität und Klugheit vieler bewältigt     davon in die Zukunft führt.
werden. Danach wird wichtig sein, aus         Wir haben auch unsere Grenzen kennen-
der Krise zu lernen, für die nächste Krise,   gelernt. Beerdigungen im 15-Minuten-
damit das Leben weitergeht.                   Takt und ohne persönlichen Abschied,
Vielleicht haben wir gelernt, dass nicht      Besuchsverbote im Seniorenheim oder
Börsenjongleure und Banken system-            Krankenhaus, das Verstummen unserer
relevant sind, sondern Krankenschwes-         Chöre – das alles ist hoffentlich bald vor-
tern, Intensivstationen und Kassiere-         bei.
rinnen. Dass wir unser Sozialsystem           Covid-19 ist sicher noch nicht vorbei,
kostendeckend statt gewinnbringend,           auch wenn die Zahlen klein werden. An-
von den Bedürfnissen der Schwächsten          derswo auf der Welt schlägt Covid-19
her gestalten müssen – im eigenen In-         erst richtig zu. Ich bete für alle die, die
teresse auch der Stärksten.                   die Krise mit voller Wucht trifft, und viel
                                              härter als mich.
Geld, so haben wir vielleicht gelernt, ist    Ich denke an die Elendslager in Grie-
in jeder Menge da, nur oft nicht da, wo       chenland, Syrien oder Libyen, den nach
es hingehört.                                 wie vor verzweifelten Kampf der Ärzte
Vielleicht wird das Jahr 2020 das Jahr        und Schwestern in den Corona-Intensiv-
sein, in dem der weltweite Siegeszug des      stationen, an die Menschen, denen die
Finanzkapitalismus endgültig zu Ende          wirtschaftliche Existenz wegbricht. Ich
ist. Die „Finanzkrise“ von 2008 hat uns       denke an sie, betend, und helfe ein biss-
für diese Einsicht offenbar noch nicht        chen, wo ich kann.
gereicht. Dass Corona ausgerechnet das        Denn, noch mal Bonhoeffer: „Unser
Welt-Finanzzentrum New York so schwer         Christsein wird heute nur in zweierlei
trifft, ist weiß Gott kein Grund zur Scha-    bestehen: im Beten und im Tun des Ge-
denfreude, aber zum Nachdenken.               rechten unter den Menschen. Alles Den-
Vielleicht lernen „wir“, vor allem die an     ken, Reden und Organisieren in den Din-
den Schalthebeln der Macht, dass die          gen des Christentums muss neu geboren
geldgetriebene Lebensweise keine Zu-          werden aus diesem Beten und diesem
kunft hat und das nächste Coronavirus         Tun.“ (DBW Bd 8, S. 435)
schon vor der Tür steht, wenn wir so
weiter machen.
Vielleicht lernen wir, wenn jetzt wieder
„gelockert“ wird, dass wir bei unserer
Achtsamkeit, unserer Disziplin und un-
serer Hilfsbereitschaft nicht nachlassen
12               Corona

            Nach Corona zurück zur
          Tagesordnung? Geht nicht!
Kirche und Corona: Dazu ein Interview mit Karl Georg Haubelt, der in Kirche und Politik
aktiv ist. Haubelt, Diplom-Verwaltungswirt, ist Hochschullehrer an der Hochschule Hof,
Mitglied der Landessynode und des Landessynodalausschusses. Er ist aktiv in der SPD
und der evangelischen Kirche.

                                                            absehbar, wie sich die Pandemie in Bayern
                                     © SPD Tirschenreuth

                                                            ausbreitet. Berichte aus anderen Teilen
                                                            der Welt, in denen gerade Gottesdienste
                                                            zum Epizentrum der Seuche geworden
                                                            waren, haben uns da sicherlich ebenfalls
                                                            ins Nachdenken gebracht. In Abwägung
                                                            der Schutzgüter untereinander – du hörst
                                                            hier natürlich den Rechtswissenschaftler
                                                            heraus – haben wir uns auch rückbli-
                                                            ckend als ELKB meiner Ansicht nach völ-
                                       Karl Georg Haubelt

                                                            lig richtig verhalten.

                                                            Man könnte auf den Gedanken kommen,
                                                            dass all das, was jetzt nicht stattfindet,
                                                            auch nicht unbedingt nötig war. Wirk-
                                                            lich?
b&k: Unsere Kirche hat sich voll hinter die                 Nein. Hier widerspreche ich ganz heftig.
staatlichen Maßnahmen zur Eindäm-                           Stell dir mal vor, wir würden etwa künf-
mung der Covid-19-Pandemie gestellt.                        tig auf Präsenzgottesdienste, Besuche,
Haben wir vielleicht des Guten zu viel                      Chorproben, aber auch Weiterbildungs-
getan?                                                      angebote oder Kundgebungen verzich-
Haubelt: Das glaube ich nicht. Wir haben                    ten… Aber sicherlich wird es „nach Co-
weder auf unsere grundgesetzlich ge-                        rona“ auch eine Zeit der Reflexion geben
schützte Religionsfreiheit verzichtet, noch                 müssen, in der wir unsere in den letzten
haben wir uns als Kirche in die unsicht-                    Wochen gemachten Erkenntnisse noch
bare Nische zurückgezogen. Die vorüber-                     einmal ganz neu bewerten müssen.
gehende Einstellung von Präsenzgottes-
diensten war ein Gebot der Nächstenlie-                     Neben den harten Einschränkungen des
be. Insbesondere in den ersten Wochen                       kirchlichen Lebens droht der ELKB auch
Ende März war ja auch überhaupt nicht                       ein finanzieller Aderlass. Es ist (Stand Mai)
Corona                 13

mit Einnahmeausfällen und Sonderbe-             tion als die Landeskirche, selbst wenn
lastungen von 135 Mio. € zu rechnen.            natürlich Kollekten derzeit auch vor Ort
Droht uns eine neue „Giftliste“ von Ein-        wegfallen. Genau hinschauen werden
sparungen wie 2003, und wen wird es             wir in der Landessynode bei den landes-
besonders treffen?                              weiten Diensten selber. Aufgaben fallen
Eine „Giftliste“ ist gerade nicht vorgesehen.   ja nicht weg, wenn Geld weniger wird.
Als gute Haushalter des uns ja von den          Die Folgen der Kurzarbeit wirken sich
Kirchensteuerzahlerinnen und -zahlern           nicht nur bei den Steuereinnahmen aus,
anvertrauten Geldes müssen wir aber             sondern vor allem und viel mehr bei den
natürlich verantwortungsvoll agieren. Das       Arbeitnehmern. Hier sind also verstärkte
heißt für mich zum Beispiel schon, dass         Einsätze in Aufgabenbereichen wie KDA,
es völlig angebracht war, angesichts der        afa und Diakonie absehbar.
massiven Steuereinbrüche einen Nach-
tragshaushalt aufzulegen. Unsere Kirchen-       Gerade haben wir mit „Profil und Kon-
verfassung hat da in weiser Voraussicht         zentration“ (PuK) einen Prozess der
Instrumente vorgesehen, auf die wir in          Neuausrichtung in Gang gebracht. Wird
der völlig unvorhersehbaren Pandemie-           „Profil“ künftig vor allem vom Geld be-
Situation zurückgreifen konnten. Wich-          stimmt werden und eine „Konzentra-
tig ist für mich aber auch in der Zukunft       tion“ auf den kirchlichen Normalbetrieb
das klare Signal, dass wir selbst in Krisen-    mit sich bringen?
zeiten als Kirche verlässlich handeln. Vor      Das sehe ich derzeit nicht. Mit PuK hat
allem gegenüber den Menschen, die bei           die letzte Landessynode vielmehr wirk-
uns beschäftigt sind. Aber auch gegen-          lich gute Vorarbeit geleistet. Wir haben
über den Kirchengemeinden, mit denen            meiner Meinung nach vor allem theolo-
wir ja im gemeinsamen Steuerverbund             gisch reflektiert, und das Geld spielt erst
sind. Wie weise stellt sich nachträglich        eine nachgeordnete Rolle. Aber natür-
unsere in Bad Reichenhall getroffene Ent-       lich hast du recht, dass verfügbare Mit-
scheidung der Landessynode heraus,              tel eine Voraussetzung für unser kirch-
dass die Kirchengemeinden feste Zuwei-          liches Handeln sind.
sungen unabhängig vom Steuerertrag
erhalten. Damals wurden die Befürwor-           Die Corona-Krise ist ein gesellschaftli-
ter angegriffen, weil hier möglicherwei-        cher Einschnitt, wie wir ihn noch nie hat-
se den Gemeinden Geld zugunsten des             ten. Wird es danach nach einer Schreck-
landesweiten Diensts weggenommen                sekunde weitergehen wie vorher, oder
werden könnte Dies war der unter-               siehst du die Chance eines neuen Auf-
schwellig und auch offen geäußerte              bruchs in unserer Gesellschaft?
Verdacht. Heute hört man von den da-            Nach Corona kann es nicht mehr einfach
maligen Kritikern nichts mehr. Unsere           zur Tagesordnung zurückgehen. Da sind
Gemeinden sind jedenfalls erst einmal           zu viele Dinge geschehen. Viel Gutes hat
in einer deutlich entspannteren Situa-          sich entwickelt, das auch nach der Pan-
14               Corona

demie-Situation erhalten werden kann.         menten infrage gestellt. Man denke
Ich denke da kirchlich zum Beispiel an        nur an die Demonstrationen, bei denen
gute Erfahrungen und Formate im Be-           Rechtsradikale nur zu gerne auf den Zug
reich des Internets. Gesamtgesellschaft-      von Esoterikern und Impfgegnern aufge-
lich sehe ich aber auch die zunehmen-         sprungen sind. Hier suche ich auch für
de Gefahr der Polarisierung. Menschen         mich immer noch nach Antworten, wie
hören einander immer weniger zu, ver-         die Spaltung der Gesellschaft wieder in
antwortlich getroffene Entscheidungen         ein soziales Miteinander geführt werden
der Politik werden mit grotesken Argu-        kann.                Interview: HG Koch

Es ist ja nur Geld!                           guten Jahren angesparten finanziellen
                                              Spielraum jetzt nutzt und versucht, mit
Die ELKB und die Corona-Krise                 einem Nachtragshaushalt den Laden am
Von Hans-Gerhard Koch                         Laufen zu halten. Es wäre kontraproduk-
                                              tiv, nach der Corona-Krise noch eine Fi-
                                              nanzkrise herbeizureden.
Man reibt sich die Augen: Wurde vor           Natürlich ist das noch nicht das Ende
Jahren und Jahrzehnten immer darüber          der Geschichte. Kaufmännisch betrach-
geunkt, dass unsere Kirche auf eine Mit-      tet läuft die ELKB in ein dickes Minus in
glieder- und Finanzkrise zulaufe und dass     der Bilanz. Wenn das wieder ausgegli-
das böse enden würde, wenn man nicht          chen werden soll, wird die Frage sein,
spart, so übt sich die Kirchenleitung jetzt   wo dann doch gespart wird. Projekte
in Zuversicht.                                in die Zukunft verschieben – welche?
95 Millionen Euro weniger Kirchensteu-        Immobilien oder Personal? Warme Wor-
ern 2020? Kein Problem. Fast 30 Millio-       te für die Pflegekräfte oder mehr Geld?
nen Mehrbedarf für leere Tagungshäu-          Kürzungen nur bei den Jungen oder fair
ser und von Insolvenz bedrohte soziale        verteilt? Bei den der Gesellschaft zuge-
Dienstleister? Na klar, ist doch nötig! So-   wandten Diensten oder bei den Kirchen-
gar die Partnerkirchen, bei denen Corona      gemeinden?
gerade erst seinen Höhepunkt erreicht,        Diese Fragen wird die Synode beantwor-
sind im Blick.                                ten müssen.
Geld spielt keine Rolle, scheint es. Gut      Und die „ausstrahlungsstarke Kirche der
so, meine ich. Geld sollte nie ein Zweck      Zukunft“, von der der Landesbischof in
sein, sondern nur ein Mittel. Und sparen      der Pressemitteilung zum Nachtrags-
ist gute Tradition der schwäbischen Haus-     haushalt spricht, gibt es noch längst
frau, aber wenn sie ihre Spargroschen         nicht. Die wäre auch nicht mit Geld al-
unter der Matratze versteckt, bewirkt         lein zu sichern, sondern vor allem mit
das erst mal gar nichts.                      einer entschlossenen Zuwendung an die
Es ist gut, wenn unsere Kirche den in den     corona-gebeutelte Welt.
Evangelische Erneuerung                       15

Die Zehn Quellen werden zehn
Von Martin Kleineidam

 www.aee-online.de/sites/www.aee-online.
 de/files/dokumente/Zehn%20Quellen%
 20des%

„Quelle bedeutet für uns Leben, Erfrischung, Ermutigung und Klarheit.“ So leiten die
„Zehn Quellen des Aufbruchs“ zehn Thesen ein, die der AEE im Oktober 2010 verab-
schiedet hat. Nach zehn Jahren äußern sich drei Autoren zu dem Thesenpapier. Was hat
sich seither zum Guten verändert, was hat an Dramatik zugenommen?
Im Beitrag auf Seite 19 nimmt auch unser Landesbischof zu den Zehn Quellen Stellung.

1. Ein Kommentar von Hans-Gerhard Koch      zu unterwerfen. „Systemrelevant“ sind
Die „Zehn Quellen für Erneuerung von        plötzlich ganz andere Menschen und
Kirche und Gesellschaft“ sind nach 10       Dinge. „Ökonomie“ muss jetzt neu defi-
Jahren keineswegs abgestanden. Sie          niert werden.
sprudeln frisch wie am ersten Tag, ge-      Als der „Lockdown“ unseren Geschwin-
rade in der Zeitenwende, die wir gera-      digkeits- und Konsumwahn jäh bremste,
de durch Corona erleben. Ich gehe den       konnten wir der Frage nach dem Sinn
Quellen 1 bis 10 entlang:                   des Ganzen nicht mehr ausweichen.
Wir merken, dass es ein Irrglaube war,      Und haben wir „Müden“ nicht auch auf-
alles dem Diktat der geringsten Kosten      geatmet?
16                Evangelische Erneuerung

Erst „Fridays for Future“ und dann die ge-    es ist ein prophetischer Text. Warum ist
schlossenen Schulen und Kitas, aber auch      er – wenn wir ehrlich sind – nahezu un-
die Vereinsamung der „Risikogruppen“          gehört verhallt?
haben uns gezeigt, dass das Verhältnis        Jesus sagte, zu seiner Zeit: „Ich sage euch,
der Generationen neu bestimmt werden          wenn diese schweigen, so werden die
muss und dass wir Fragen des Miteinan-        Steine schreien“ (Lukas 19,39–40)
ders nur gemeinsam beantworten kön-
nen.                                          2. Nach zehn­ Jahren Bilanz ziehen – von
Friedlicher ist die Welt in den 10 Jahren     Richard Gelenius
seit 2010 nicht geworden, und auch bei        In den vergangenen zehn Jahren seit der
uns in Deutschland wachsen Hass und           Formulierung der Zehn Quellen hat sich
Gewalt. Hatten wir die Opfer immer im         die Evangelische Volkskirche unter dem
Blick?                                        mutigen Engagement von EKD-Präsident
Man hat uns offensichtlich betrogen, als      Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm
man uns sagte, dass kein Geld für Arme        positiv entwickelt.
und für die Bewahrung der Schöpfung da        Sie hat sich zu den jeweiligen aktuellen
sei, und dass eine „Schwarze Null“ das        oder dauerhaften Themen wie Antisemi-
Ziel staatlichen Handelns sein müsse.         tismus, Rassismus, Rechtspopulismus,
Plötzlich werden Billionen verteilt, nur      Rechtsextremismus und weiteren Un-
damit die Wirtschaft nicht stehen bleibt.     gerechtigkeiten mit Aussagen und der
Ist es Zeit, auf Vorrang für die Armen        Beteiligung an Solidaritätsaktionen deut-
und für eine bewohnbare Erde zu drin-         lich zu Wort gemeldet. Gerade jetzt in
gen?                                          der Zeit der Corona-Krise hat sie an die
Auch unsere Kirche beschließt einen 150       ungünstige Situation der Bezahlung und
Millionen schweren Nachtragshaushalt.         Wertschätzung der Pflegekräfte im sta-
Gleichzeitig verändert sie rasant ihre Ge-    tionären und ambulanten Bereich erin-
stalt. Liebe, Gerechtigkeit und Spirituali-   nert.
tät online? Was haben wir wirklich ge-        Mit der Vereinbarung, zusammen mit
braucht von dem, was wir jetzt bleiben        „Sea-Watch 4“ ein kirchliches Rettungs-
lassen? Und wen haben wir vielleicht          schiff zu erwerben, um damit hilflose
auch neu erreicht? Und, wenn alle den         Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu ret-
Krisenmanagern zujubeln, bestehen wir         ten, hat sie ein deutliches Zeichen der
auf Partizipation, erst recht?                Nächstenliebe gesetzt.
Gier und Geiz sind es, die eine Pandemie      Vor Ort hat es die letzten zehn Jahre eine
ermöglicht haben. Privatisierung und eine     bessere Verzahnung der Kirchengemeinde
falsch verstandene Globalisierung haben       mit den jeweiligen Einrichtungen der
Menschenopfer gefordert, am meisten           Diakonie gegeben. Dies ist ein wichtiges
dort, wo sie auf die Spitze getrieben         Zeichen der Umsetzung von biblischem
wurden.                                       Auftrag zur naheliegenden Tat. Ein gutes
All das steht schon in den „Zehn Quellen“,    Bespiel sind die über 50 Vesperkirchen,
Evangelische Erneuerung                        17

die in den Wintermonaten ein wertvol-        3. Trotz Schwierigkeiten Freude und
les Sozialprojekt zugunsten von Armen        Fröhlichkeit bewahren – von Martin
und Bedürftigen sind.                        Kleineidam
Die gelegentlichen Erinnerungen von          Die „Zehn Quellen“ haben wir vom Lei-
Kirchenoberen, die die völlig überzo-        tenden Team des AEE damals in Stein
genen Gehälter von Aufsichtsräten der        bei Nürnberg entlang der Zehn Gebo-
Wirtschaft und die Boni-Zahlungen an-        te formuliert. Hart haben wir zunächst
mahnen, sind leider ohne Widerhall ge-       an den Formulierungen gefeilt. Das tat
blieben.                                     auch die Mitgliederversammlung, bis
Durch den Zusammenschluss von Evan-          sie das Thesenpapier im Oktober 2010
gelischen Missionseinrichtungen in Bay-      verabschiedete. Es tut nun gut, einmal
ern ist das Centrum Mission EineWelt         Rückschau zu halten, um sich nicht in
in Neuendettelsau neu belebt worden.         Pessimismus und Resignation zu verlie-
Erfreulich ist der Nothilfefonds für Men-    ren, aber auch, um sich nicht selbst et-
schen in Partnerkirchen mit Corona-Pro-      was vorzumachen.
blemen. Die Beziehung zur äußeren Mis-       Die Thesen lassen den Klimawandel be-
sion und ihren Partnerschaften scheint       reits anklingen. Der Anteil der erneuer-
in letzter Zeit in den Kirchengemeinden      baren Energien am deutschen Strommix
etwas rückläufig zu sein. Die nur spora-     liegt inzwischen bei rund 50 Prozent. Das
disch angebotenen, aber vorgeschriebe-       war damals kaum vorstellbar, gleichwohl
nen Gemeindeversammlungen wären              hoffte man damals auf eine Energiewen-
eine gute Möglichkeit, diesen Bereich        de bis 2020, die wiederum verschoben
der Mission wieder mehr zu verdeutli-        wird.
chen.                                        Der Mindestlohn wurde angehoben,
Mit der 2018 erstmaligen Chance, nur         doch das Phänomen der Schwarzarbeit
per Briefwahl den Kirchenvorstand zu         bleibt. Die Corona-Pandemie deckt hin-
wählen, wurde die Gelegenheit ge-            gegen ohne Schonung auf, wo Arbeits-
nutzt, weitere bisher kirchenferne Ge-       bedingungen mit Finanzierungs- und
meindemitglieder für Belange und             Hygiene-Mängeln bestehen: in Schlacht-
Sorgen der Ortsgemeinde zu inter-            höfen, bei der Spargelernte, im Gesund-
essieren. Umfangreiches und hoch-            heitssektor…
wertiges Infomaterial war vorhanden.         Damals gab es noch kein Fukushima. In-
Auch die seitens der Leitungsgremien         zwischen ist der Ausstieg aus der Atom-
der ELKB den Gemeinden und Dekanaten         energie beschlossene Sache.
„verordneten“ neuen Wege zur Umset-
zung ihres Auftrags sind nicht immer mit     Die „Zehn Quellen“ wollten Gesellschaft
Wohlwollen aufgenommen worden und            und Kirche ermutigen, sich zu beteiligen.
brauchen noch eine Zeit des Reifens und      Fridays for Future hat die Jugend zum
Verstehens, auch für Betroffene, die teil-   Einsatz für den Erhalt der Schöpfung
weise mit Recht Nachteile sehen.             und der Artenvielfalt gebracht. Doch
18               Evangelische Erneuerung

in Brasilien wird weiterhin Urwald im        selskandal lässt grüßen. Ständig muss
Großmaßstab vernichtet und die Flug-         man vor Missbrauch auf der Hut sein.
gastzahlen stiegen in Deutschland vor        Prüfen, prüfen und nochmals prüfen ist
der Corona-Krise von Jahr zu Jahr trotz      angesagt. Im Blick auf eine Kirche und
des Wissens ob der Klimaschädlich-           Theologie des konziliaren Prozesses sind
keit von Flugzeugen. Auch die Größe          Buße und Bußtage immer noch Stiefkin-
der Kreuzfahrtschiffe und Pkws (SUV)         der. So können sich weltweit und auch
stieg ins Gigantomanische. Mit Deut-         in der Kirche Narzist*innen entwickeln.
lichkeit kann man heute sagen, das           Die „Zehn Quellen“ könnten Anhalt ge-
Motto „Global denken, lokal handeln“         ben, die Erneuerung als Kraft, die aus
hat die Umweltbewegung beinahe in „Um-       der Buße erwächst, zu entdecken.
weltecken“ von Gemeindebriefen abge-         2015 – war da was? Flüchtlingsbewe-
drängt. Heute muss es heißen: „Global        gungen haben 2015 den Westen heraus-
und lokal denken und handeln“. Mit an-       gefordert. Es kam und kommt zu Klima-
deren Worten: Individualethik und Sozial-    fluchtbewegungen, die Klimatologen
ethik, persönliche Lebensstil-Fragen und     und Futurologen vorausgesagt haben.
sozial-ökologische (Welt-)Politik gehören    Abschottungsmaßnahmen und Flücht-
zusammen. Denn Massenkonsum und              lingshilfe wechseln sich infolgedessen
Massentourismus griffen weltweit um          ab. Der Schlingerkurs lässt an der Durch-
sich. Freizügigkeit und Reisefreiheit wur-   schlagskraft der Grundwerte in Europa
den unter der Hand zum Libertinismus.        und Deutschland zweifeln. Dem Rechts-
Der Suche nach Erholung gilt es entgegen-    populismus gibt das Fehlen an Klarheit
zukommen und den Alltag, die Arbeits-        und Orientierung dagegen immer wie-
welt und die Umwelt in Stadt und Land        der Auftrieb.
so zu gestalten, dass die Menschen in        Erfreulich ist das Bemühen in der Kirche
der Ferienzeit nicht mehr in Scharen die     um ein Miteinander der Berufsgruppen.
Heimat fliehen müssen. Es gilt, Möglich-     Allerdings werden Demokratiedefizite in
keiten zu schaffen, den Arbeitsalltag über   unserer Kirche gerade da spürbar.
das Jahr ohne Schmerzmittel oder Alko-       Insgesamt zeigt die Corona-Krise aber
hol zu überstehen. Rückbau von Straßen       auch, dass Solidarität und Nächstenliebe
und Renaturierung, Abbau von Stress-         im Alltag immer noch greifen. Das erfreut
faktoren und Privatisierungswahn könn-       doch sehr. Die „Zehn Quellen“ erfrischen
ten neue Stichworte sein.                    weiterhin. Sie ermutigen Kirche und Ge-
Im Bereich der Wirtschaft gibt es viele      sellschaft, an der Seite der Bedrängten
nachhaltige Anlageformen für Investitio-     zu bleiben, Ohnmachtssituationen aus-
nen. Die Entwicklung erfreut, aber man       zuhalten und gemeinsam zu besprechen,
muss ständig prüfen. Unter den angeb-        Reformen anzugehen bzw. weiterzufüh-
lich „nachhaltigen“ Wertpapieren gibt        ren und – trotz mancher Schwierigkei-
es Schwindler. Sie lassen sich flankieren    ten bei der Durchsetzung – Freude und
von politischen Doppelspielern. Der Die-     Fröhlichkeit nicht zu verlieren.
Evangelische Erneuerung                          19

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm zu den Zehn Quellen des Aufbruchs

               Das Bild vom Auszug
              braucht eine Ergänzung
Bei manchem, was der AEE vor zehn Jahren in den Blick genommen hat, hat es Fort-
schritte gegeben, bei anderen Themen ist die Bilanz ambivalent.

Das Bild des Auszugs                                           die Ambivalenzen zu be-
aus Ägypten gibt dem                                           geben, die mit Leitungs-
vor zehn Jahren erschie-                                       handeln immer verbun-
nenen AEE-Papier über                                          den sind. Gerade bei
die „Zehn Quellen“                                             einer Institution wie
seine Grundmelodie.                                            der Kirche ist es immer
Und die Vision vom                                             leichter, die Defizite zu
Auszug aus dem Ge-                                             benennen, also deut-
wohnten könnte heute                                           lich zu machen, was
nicht aktueller sein.                                          man hinter sich lassen
Unser Prozess „Profil                                          will, als gangbare Wege
und Konzentration“                                             zu etwas Neuem zu ent-
hat genau diese Ziel-                                          wickeln und Mehrhei-
richtung.                                                      ten dafür zu finden.
Trotzdem braucht das                                           Wer kirchenleitende Ent-
Bild des Auszugs eine                                          scheidungen zu treffen
Ergänzung. Es geht                                             hat, muss genau das
auch um klare Vorstel-                                         tun. Bei manchem, was
lungen davon, wohin                                            der AEE-Text vor zehn
wir ziehen wollen und wie wir im gelob-      Jahren in den Blick genommen hat, sind
ten Land zusammenleben wollen.               wir in den zehn Jahren weitergekommen.
Dabei braucht es das Vertrauen, dass         Die Möglichkeit der öffentlichen Seg-
Gott uns auf dem richtigen Weg führt         nung gleichgeschlechtlicher Partner-
und leitet, auch wenn dieser Weg             schaften gehört ebenso dazu wie die
manchmal ganz anders sein kann, als          ethische Gestaltung unserer Geldanla-
wir vorher dachten. Der Grund dafür,         gen oder das Klimakonzept.
dass ich mich vor ebenfalls zehn Jahren      Bei anderen Themen ist die Bilanz ambi-
entschlossen habe, für das Bischofsamt       valent. Der Prozess „Miteinander der Be-
zu kandidieren, war der Wille, die Kirche    rufsgruppen“ bedeutet einen großen
positiv zu gestalten und mich dafür in all   Schritt in Richtung eines solidarischen
20              Evangelische Erneuerung

Miteinanders der Mitarbeitenden in der
Kirche. In der Umsetzung muss er sich                  Die Zehn Quellen -
erst bewähren. Das partnerschaftliche
                                                       Leseprobe
Arbeiten von Haupt- und Ehrenamtlichen
bleibt eine Gestaltungsaufgabe überall
                                             Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus
in der Kirche.
                                             Ägyptenland geführt hat, aus der Knecht-
Auch wenn die „Zehn Quellen“ den Kampf
                                             schaft. (5. Mos. 5,6)
gegen sexuelle Ausbeutung von Frauen         Das Bild des Auszugs aus den gewohnten
und Kindern weltweit schon thematisie-       Strukturen hat den AEE von Anfang an ge-
ren, fand das Thema sexualisierte Ge-        leitet. Das wandernde Gottesvolk ist ange-
walt in dem Papier noch nicht die Auf-       wiesen auf Quellen in der Wüste. „Quelle“
merksamkeit, die es schon damals ver-        bedeutet für uns Leben, Erfrischung, Er-
dient gehabt hätte. Wir haben uns in         mutigung und Klarheit. In der Wüste der
dieser Hinsicht inzwischen unwiderruf-       Fragen und Probleme, vor die wir und
lich auf den Weg gemacht.                    die gesamte Welt gestellt sind, wollen
Auch im Hinblick auf die öffentlich disku-   wir uns an den Quellen der Bibel erfri-
                                             schen, den Weg weisen lassen und ande-
tierten Themen ist der Befund ambiva-
                                             ren Orientierung geben. Der Arbeitskreis
lent. Im Hinblick auf die Begrenzung des
                                             Evangelische Erneuerung (AEE) war
Klimawandels und ein gerechteres Welt-       von Anfang an eine Bewegung, die Ge-
wirtschaftssystem hat die Bewegung           sellschaft und Kirche stets ermutigt, den
„Fridays for Future“ für eine öffentliche    Aufbruch aus Verkrustungen zu frischen
Aufmerksamkeit gesorgt, die zu errei-        Quellen hin zu wagen. Er hat eine lange
chen uns als Kirchen bisher nie gelungen     Geschichte der gesellschaftlichen Einmi-
war. Gleichzeitig darf man feststellen,      schung. „Nicht süß, aber erfrischend“ ist
dass dieser Erfolg all denen – auch im       Leitmotiv des AEE.
AEE – mitzuverdanken ist, die seit Jahr-
zehnten, etwa im Konziliaren Prozess für     Die zehn Quellen
Gerechtigkeit, Frieden und die Bewah-        1. 		Quelle für Opfer der Ökonomisierung
rung der Schöpfung, den Boden dafür          2. 		Quelle für Erstarrte
bereitet haben. Ob die damit verbun-         3. 		Quelle für Müde
                                             4. 		Quelle für Generationen
denen Ziele in der Politik endlich umge-
                                             5. 		Quelle für Opfer von Gewalt
setzt werden, ist noch offen.
                                             6. 		Quelle für Liebende
Es braucht immer wieder Anstöße zum          7. 		Quelle für Betrogene
Weiterdenken für eine Kirche, die von        8. 		Quelle für Gedemütigte
ihrem Selbstverständnis dazu bestimmt        9. 		Quelle der Erneuerung für das eigene
ist, sich ständig zu verändern und zu er-       		Haus der Kirche
neuern. Der AEE hat dazu immer wichti-       10. Quelle für die Opfer von Gier und
ge Anstöße gegeben. Und das soll auch             Geiz
so bleiben.
Frieden                  21

BDS, Kairos Palästina und die EKD

Dialog statt Konflikt
Die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe         1933, dass die Entrechtung der Juden im
München (die im folgenden Beitrag auf             Nationalsozialismus einen Bekenntnis-
Seite 23 zu Wort kommt) steht für eine            fall darstelle, weshalb die Kirche „dem
Idee – nämlich Versöhnung und Ver-                Rad in die Speichen fallen“ müsse. Die
ständigung –, die im Verlauf des israe-           Kampagne fragte: „Kann man Kirche und
lisch-palästinensischen Konflikts immer           Christ sein und gleichzeitig zur Entrech-
schwerer umzusetzen scheint. Im Ge-               tung des Palästinensischen Volkes und
genteil: Durch das Vorhaben der Regie-            dem Missbrauch der Bibel zur Rechtfer-
rung Netanjahu, einen Teil der Westbank           tigung des Landraubs schweigen?“ Kai-
zu annektieren, scheint der
Streit in eine neue Runde zu
geraten.
Vor diesem Hintergrund wird
eine kirchliche Kampagne
„Kairos Palästina“ noch vor
dem 1. Juli (das wäre ein
mögliches Datum der geplan-
ten Annexion) aktiv werden
und u. a. in Mahnwachen
vor den Landeskirchenäm-
tern der EKD einen Brief
„Schrei nach Hoffnung“ aus
Palästina veröffentlichen
und übergeben. Darin wer-         1948 fliehen arabische Palästinenser von Galiläa in den Libanon
                                                                           © wikimedia commons
den die Bischöfe, Kirchen-
leitungen und Synoden
aufgerufen, sich für die Sache der Palä-          ros nimmt für sich in Anspruch, sie sei
stinenser einzusetzen: „Wir können nicht          „die Stimme einer Mehrheit der Welt-
Gott dienen und gleichzeitig zur Unter-           christenheit, gegen die sich die Kirchen
drückung der Palästinenser schweigen!“            in Deutschland bis jetzt weitgehend ab-
Kairos – ein religiös-philosophischer Be-         geschottet hat“.
griff für den günstigen Zeitpunkt einer
Entscheidung. Die Kampagne Kairos nimmt           Das ist eine deutliche Aufforderung an
Bezug auf Dietrich Bonhoeffers Aufruf             die Kirchen, sich stärker für die Sache
22               Frieden

der Palästinenser zu positionieren. Die      Zivilgesellschaft aus dem Jahr 2005. Die
EKD tritt im Nahostkonflikt offiziell für    BDS-Kampagne will Waren aus Israel boy-
eine Zweistaatenlösung ein, „die die vor-    kottieren und so Druck auf den Staat Is-
behaltlose Anerkennung des Existenz-         rael ausüben und den Staat Israel wirt-
rechts Israels durch alle Seiten und ein     schaftlich, kulturell und politisch isolieren.
sicheres Leben der Menschen in Israel        Israel müsse die „Okkupation und Koloni-
genauso einschließt wie einen palästi-       sierung allen arabischen Landes“ beenden,
nensischen Staat, der den Menschen in        das „Grundrecht seiner arabisch-palästi-
Palästina ein selbstbestimmtes Leben         nensischen Bürger auf volle Gleichheit“
ermöglicht“. Sie nennt das „eine doppel-     anerkennen und „das Recht der palästi-
te Solidarität mit dem Staat Israel und      nensischen Flüchtlinge auf eine Rück-
dem palästinensischen Volk“.                 kehr in ihre Heimat und zu ihrem Eigen-
Kairos Palästina bezeichnet die Beset-       tum gemäß UN-Resolution 194 schützen
zung der Palästinensergebiete „als Sün-      und fördern“.
de gegen Gott und die Menschen“. Der
Aufruf ist von palästinensischen Chri-       Die weltweite Kampagne wird von bald
sten verfasst und von vielen bekannten       200 überwiegend palästinensischen Orga-
Theologen Europas, auch Deutschlands,        nisationen, aber auch von Solidaritäts-
unterzeichnet.                               gruppen wie eben der Münchner Dialog-
Zumal in Deutschland, und zumal in un-       gruppe, auch von vielen Einzelpersonen,
seren Kirchen wird die Positionierung im     auch Prominenten und Künstlern getra-
Nahostkonflikt immer mehr im Stil einer      gen und unterstützt. Doch sie wird auch
harten Pro-und-Kontra-Debatte geführt.       als einseitig gegen den israelischen Staat
Und vor dem Hintergrund des „histori-        gerichtet eingeschätzt. Der deutsche
schen Versagens der Evangelischen Kir-       Bundestag hat BDS in einem förmlichen
che gegenüber den Juden“ (so in einem        Beschluss, parteiübergreifend, als an-
EKD-Papier) schwingt stets die Frage mit:    tisemitisch verurteilt. Auch die EKD hat
Wann wird Kritik an der israelischen Po-     sich mit BDS erst jüngst beschäftigt und
litik antisemitisch? Es ist eine Kampagne    kam zu einem zweigeteilten Urteil: Einer-
mit dem Kürzel „BDS“, die die proisrae-      seits lehnt sie Boykottmaßnahmen gegen
lischen Gruppen einerseits und die pro-      Israel ab und beteiligt sich nicht an ent-
palästinensischen auf der anderen Seite      sprechenden Projekten im Rahmen der
mehr und mehr trennt (und zu der sich        BDS-Kampagne. Andererseits unterstreicht
sowohl die Jüdisch-Palästinensische Dia-     sie als Anliegen des BDS-Gründungsauf-
loggruppe als auch Kairos Palästina aus-     rufs von 2005 das Bekenntnis zu Gewalt-
drücklich bekennen):                         freiheit, den Einsatz für Menschenrechte
„BDS“ steht für Boycott, Divestment and      und das Ziel eines gerechten Friedens in
Sanctions und geht zurück auf einen inter-   Israel und Palästina.                    lt
nationalen Aufruf der palästinensischen
Frieden                23

Die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe München:

Frieden zwischen Juden
und Arabern ist möglich
Die Regierung Netanjahu trifft Vorkehrungen, einen Teil der Westbank zu annektieren.
Die EKD kritisiert diese Pläne und fürchtet, dass der angestrebte Friedensprozess damit
endgültig zum Erliegen kommt. Nicht nur „vor Ort“ in Nahost, sondern weltweit neh-
men die Spannungen etwa zwischen propalästinensischen Gruppen einerseits und den
Vertretern jüdischer Gemeinden andererseits zu. Wir, der AEE, möchten an dieser Stelle
einer Initiative Gehör verschaffen, die sich um Verständigung und friedlichen Interes-
sensausgleich zwischen Juden und Palästinensern bemüht: die Jüdisch-Palästinensische
Dialoggruppe München, mit deren Sprechern Judith Bernstein und Riyad Helow unser
AEE-Mitglied Bernd Wintermann folgendes Gespräch führte:

b&k: Frau Bernstein, Herr Helow, wie          Palästina nach Brüssel kam. Der Name
kam es zur Gründung der Dialoggruppe?         „Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe“
                                              wurde gewählt, weil nur Palästinenser
Judith Bernstein und Riyad Helow: Die         und Juden – die nicht alle einen israeli-
Jüdisch-Palästinensische    Dialoggruppe      schen Pass hatten – aufgenommen wur-
München geht auf die Ausstrahlung eines       den.
Dokumentarfilms zum israelisch-palästi-
nensischen Konflikt zurück. Sie wurde im      Wie muss man sich die Arbeit Ihrer
Jahr 1985 von einem im Flüchtlingslager       Gruppe konkret vorstellen?
bei Jerusalem aufgewachsenen Palästinen-      Während die meisten Gruppen nur eine
ser und einem jüdischen Ehepaar aus           Seite des Konflikts repräsentieren, ist die
Belgien, alle in München lebend, gegrün-      Dialoggruppe eine gemischte Gruppe.
                                              Wir unterstützen Initiativen und Gruppen
                                              aus der Friedensszene beider Völker. So
                                              waren von israelisch-jüdischer Seite die
                                              Professoren Moshe Zimmermann und Gadi
                                              Algazi, der ehemalige Sprecher der Knes-
                                              set Avraham Burg, der Journalist Gideon
                                              Levy, die Filmemacher Dror Dayan und
det. Fuad Hamdan fand in München eine         Yoram Feldman, von palästinensischer
neue Heimat, während das Ehepaar Jules        Seite der frühere Botschafter in Berlin
und Larissa Gruszow über Polen und            Salah Abdel-Shafi, der Knesset-Abge-
24                 Frieden

ordnete Asmi Bischara, die Filmemacher                   lästinensischen Widerstandskampagne
Mohammad Bakri („Jenin, Jenin“) und                      „Boykott, Desinvestitionen und Sank-
Mohammed Alatar („Jerusalem – the                        tionen“ (BDS). Der Stadtratsbeschluss
East Side Story“ und zuletzt „Broken“)                   gegen BDS vom Dezember 2017 rich-
sowie Vertreter von „Combatants for                      tet sich vor allem gegen die Jüdisch-
Peace“ und der israelisch-palästinensischen              Palästinensische Dialoggruppe, die
                                                                           seitdem verleumdet
                                                                           wird. Der Vortrag im
                                                                           Münchener       Gasteig
                                                                           über Jerusalem löste
                                                                           heftige Proteste aus.
                                                                           Unser Eintreten für die
                                                                           Gleichstellung der Pa-
                                                                           lästinenser in Israel
      „Zwei Staaten, eine Heimat“ ist das Programm einer Friedens-         und Palästina wird als
        initiative von Israelis und Palästinensern im Nahen Osten
                                                                           Vorwand benutzt, um
                                                                           Berichte über die Situa-
„Genfer Initiative“ bei uns zu Gast.                     tion in den seit 1967 besetzten palästi-
                                                         nensischen Gebieten im Westjordanland,
Welche Ziele möchten Sie mit Ihrer Ar-                   in Ost-Jerusalem und Gaza zu unterbin-
beit erreichen und welchen Schwierig-                    den. Dass BDS eine Reaktion auf die is-
keiten begegnen Sie dabei?                               raelische Politik und auf das Versagen
Gegenüber deutschen Einrichtungen                        der europäischen Regierungen darstellt,
und Behörden kämpfen wir um die An-                      wird wohlweislich verschwiegen.
erkennung jener Gruppen, die sich in Is-
rael/Palästina für Demokratie und Recht                  Woraus schöpfen Sie Hoffnung, dass
einsetzen. Deshalb wurden unsere Ver-                    Ihre Arbeit trotzdem sinnvoll ist und zu
anstaltungen durch Interventionen der hie-               positiven Ergebnissen führen wird?
sigen Israelitischen Kultusgemeinde und                  In weiten Teilen der Münchner Öffent-
in ihrem Gefolge der Stadt München er-                   lichkeit und darüber hinaus genießen
schwert. Bisweilen mussten Gerichte Ver-                 wir trotz allem Ansehen und Vertrau-
bote von Veranstaltungen durch einst-                    en. Denn die „Dialoggruppe“ bietet den
weilige Verfügungen aufheben. Die Presse                 Beweis, dass Frieden zwischen Israelis
berichtete über unsere Arbeit selten,                    und Palästinensern, zwischen Juden und
dafür über die Bemühungen, sie zu ver-                   Arabern möglich ist.
hindern.
                                                         Das Gespräch führte Bernd Wintermann
Können Sie ein Beispiel dafür nennen?                    vom Leitenden Team des AEE.
Eine Zäsur bildete unsere Unterschrift
unter einen Aufruf zur gewaltlosen pa-
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