ÄRZTE IN AUSCHWITZ. DER NATIONALSOZIALISMUS UND DIE MEDIZIN IM "DRITTEN REICH" - EXKURSION DES INTEGRIERTEN BEGLEITSTUDIUMS ANTHROPOSOPHISCHE ...
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ÄRZTE IN AUSCHWITZ. DER NATIONALSOZIALISMUS UND DIE MEDIZIN IM „DRITTEN REICH“ EXKURSION DES INTEGRIERTEN BEGLEITSTUDIUMS ANTHROPOSOPHISCHE MEDIZIN 26.-29. MÄRZ 2012 gefördert durch
Ist das ein Mensch? Ihr, die ihr gesichert lebet In behaglicher Wohnung; Ihr, die ihr abends beim Heimkehren Warme Speise findet und vertraute Gesichter: Denket, ob dies ein Mann sei, Der schuftet im Schlamm, Der Frieden nicht kennt, Der kämpft um ein halbes Brot, Der stirbt auf ein Ja oder Nein. Denket, ob dies eine Frau sei, Die kein Haar mehr hat und keinen Namen, Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat, Leer die Augen und kalt ihr Schoß Wie im Winter die Kröte. Denket, daß solches gewesen. Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen. Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen, Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht; Ihr sollt sie einschärfen euren Kindern. Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen, Krankheit soll euch niederringen, Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden. aus Primo Levi: Ist das ein Mensch?
GELEITWORT Primo Levi, überlebender Häftling werden kann. In diesem Sinne such- der Konzentrationslager in te die Studienfahrt, einen Beitrag für Auschwitz, hinterließ in „Ist das ein ihr Studium und damit ihre Vorbe- Mensch?“ einen Auftrag. Es ist (kein reitung auf ihr künftiges Berufsle- primär äußerer, gleichwohl) ein ge- ben als z.B. Ärzte oder Wirtschafts- waltiger Bildungsauftrag, der sich „in wissenschaftler zu leisten. eurem Herzen“ vollziehen möge: die Frage nach dem Menschen und seinem Herzlicher Dank sei ausgespro- Wesen immer wieder neu zu erwe- chen: an Prof. Peter Selg, Leiter des cken und zu bewegen – sich vor Au- Ita Wegman Instituts für anthro- gen zu führen, was unvorstellbar er- posophische Grundlagenforschung scheint, jedoch menschenmöglich ist; und Dr. Krzysztof Antończyk, nach Antworten zu suchen, wie das Leiter des digitalen Archivs des Mu- in Auschwitz und an anderen Orten seum Auschwitz für ihre umsich- Geschehene möglich wurde; wie Ähn- tige Gesamtgestaltung, Beiträge liches heute und zukünftig verhin- und Begleitung; an den Zeitzeugen dert werden kann. Prof. Wacław Długoborski und an alle inhaltlich Beitragenden des Die Exkursion «Ärzte in Auschwitz. Museum Auschwitz; an Stefan Rott Der Nationalsozialismus und die für seine Initiative, Tatkraft und Medizin im „Dritten Reich.“» führ- Konstanz in der Vorbereitung und te Studierende der Universität Durchführung der Studienfahrt; an Witten/Herdecke und weitere Teil- Barbara Pfrengle-Längler für ihre nehmer zu jenen Orten und Räumen, stetige und umsichtige Hintergrund- an denen sich tiefste menschliche Ab- arbeit; an Isabel Martin für ihre gründe auftaten und millionenfach spontane Bereitschaft, helfend ein- Tragödien ereigneten. Ärzte waren zuspringen; an die Mitarbeiter des dabei zentral beteiligt: unter Preisga- Zentrum für Dialog und Gebet sowie be ihres humanitären Auftrags, sich an alle organisatorisch Mithelfen- politischem Willen einordnend – oder den; an alle an dieser Dokumentati- unter allerschwierigsten Bedingun- on Mitwirkenden, insbesondere an gen so gut als irgend möglich Hilfe das Redaktionsteam Myriam Estko, leistend. Stefan Rott & Jonathan Niehaus; sowie an den Kooperations- In der vorliegenden Dokumentation partner Studium fundamentale der wird von den Teilnehmern u.a. zum Universität Witten/Herdecke. Ausdruck gebracht, was sich in ih- ren Innenräumen entzündete: ein Besonderer und herzlicher Ringen um Verständnis des schier Dank gebührt der Stiftung unfassbaren Geschehens. Insbeson- „Erinnern ermöglichen“ – sie stellte dere zeigt sich auch ihre Suche nach in großzügiger Weise einen finanziel- Richtungen und Wegen für ihre eige- len Rahmen zur Verfügung, der vie- ne Zukunft. Eine Zukunft, die ausge- len Studierenden die Teilnahme an stattet werden will mit erhöhtem Be- dieser tiefgreifenden Exkursion nach wusstsein, vertieftem Mit-Empfinden Auschwitz ermöglichte. und verstärktem Mut – mit einem „historischen Gewissen“ als Funda- Diethard Tauschel ment, das handlungsleitend für die für das Integrierte Begleitstudium Aufgabenstellungen der heutigen Zeit Anthroposophische Medizin 3
INHALT Ein Vorwort Seite 5-6 Unser Programm Seite 7 „Weshalb bin ich nach Auschwitz gereist?“ Seite 8-9 Ein erster Rundgang: Besuch in Auschwitz I und Birkenau Vortrag und Gespräch mit dem Seite 10-11 ehemaligen Auschwitz-Häftling Prof. Waclaw Dlugoborski Seite 12-16 Besuch im ehemaligen Konzentrations- lager Auschwitz I Seite 17-18 Historikerin Halina Jastrzebska über den Häftlingskrankenbau in Auschwitz I Seite 18-19 „Was bedeutet das Thema „Ärzte in Auschwitz“ für mich als werdender Arzt?“ Seite 20-21 Der belgische Pavillion Seite 22-23 Zum medizinischen Denken und zur medizinischen Anthropologie zu Be- Eduard Wirths & Hermann Langbein. ginn des 20. Jahrhunderts. Ein Vortrag Ein Vortrag von Prof. Peter Selg von Prof. Peter Selg. Seite 24-26 Seite 26-27 „Wo erlebe ich heute, in Gedenken an Auschwitz, in meiner Tätigkeit als Arzt diskursbedürftige Themen?“ Besuch im ehemaligen Vernichtungs- Seite 28-29 lager Birkenau Seite 30-32 Block 28. Der Häftlingskrankenbau „Wie stehe ich der Tatsache gegenüber, Seite 33-34 dass ein Teil unseres medizinischen Wissens auf grausamen Menschen- versuchen basiert?“ Seite 35-36 Gedenkzeremonie Seite 37-41 Lieber Uropa, ... Seite 42-45 „Wieso ich hier bin.“ Von Dr. phil. Krzysztof Antonczyk NS-Medizin in Auschwitz / Medizin Seite 46-47 und Ethik – vor, in & nach Auschwitz. Ein Vortrag von Prof. Peter Selg „Wie verändert Auschwitz mich und Seite 48-49 mein Berufsverständnis“ Seite 50-51 Buch- und Literaturtipps Seite 53-54
EIN VORWORT von Prof. Dr. med. Peter Selg Ein Seminar zur Medizinethik in eindeutig widerlegt. Tatsächlich wa- Auschwitz-Birkenau durchzuführen, ren die Mediziner in Deutschland versteht sich nicht von selbst. Was nicht nur in einem viel weitergehen- kann ein solcher Ort zur Themati- den Ausmaß, als dies nach 1945 ein- sier-ung von Fragen beitragen, die geräumt wurde, vom nationalsozia- die Inhalte, Aufgaben und Grenzen listischen, rassistischen, eugenischen medizinischen Denkens und Han- und sozialdarwinistischen Denken delns betreffen – ein Ort, an dem ca. erfasst worden, sondern auch im 1,5 Millionen Menschen systematisch „Geist“ einer Ausbildung erzogen, die umgebracht wurden und an dem Folgen hatte. Viktor von Weizsäcker die Heilkunst eine zu vernachlässi- schrieb bald nach 1945 in einer der gende, ja pervertierte Rolle spielte? ersten kritischen Stellungnahmen Bekanntlich waren es deutsche SS- zu den Menschenversuchen und zur Ärzte, die in Auschwitz keinesfalls Tötung der Behinderten, Kranken therapierten, sondern grausame Ex- und als „lebensunwert“ Erachte- perimente mit den Häftlingen an- ten: „[…] Es kann kein Zweifel dar- stellten – und an den Rampen von über bestehen, dass die moralische Birkenau, aber auch in den Baracken Anästhesie gegenüber den Leiden der Gefangenen, über Leben und Tod der zu Euthanasie und Experimen- richteten, d.h. die letztgültigen Selek- ten Ausgewählten begünstigt war tionsentscheidungen für den Tod in durch die Denkweise einer Medizin, den Gaskammern trafen. Eine Medi- welche den Menschen betrachtet wie zinethik ausgerechnet in Auschwitz ein chemisches Molekül oder einen begründen oder wenigstens bewegen Frosch oder ein Versuchskaninchen.“ zu wollen, erscheint nach gerade ab- Es gehe darum, so von Weizsäcker surd – kein Ort ist dafür vordergrün- 1947, den „Geist der Medizin zu dig weniger geeignet als das Symbol prüfen“ – „dieser unsichtbar auf der der nationalsozialistischen Vernich- Nürnberger Anklagebank sitzenden tungspolitik und der größte Friedhof Geist – der Geist, der den Menschen der Erde. nur als Objekt nimmt – ist nicht nur in Nürnberg im Spiele, er durch- Dennoch erschien uns in der Vor- setzt die ganze Welt in fein verteilter bereitung des Seminars möglich, Form... “ wichtig und notwendig, die Exis- tenzfragen der Medizin auch in Das Seminar in Auschwitz sah – neben Auschwitz-Birkenau zu stellen – weil einer umfassenden Wahrnehmung sie hier eine besondere Deutlichkeit des Ortes und der Begegnung mit und Prägnanz bekommen hat. Die einem prominenten Überlebenden – in den unmittelbaren Nachkriegs- Unterrichtseinheiten zur Geschichte jahren, ja über mehr als zwei Jahr- des medizinisch-anthropologischen zehnte von der deutschen Ärztekam- Denkens und der medizinischen mer tradierte Auffassung, dass die Ethik im 19. und 20. Jahrhundert Verbrechen der im Nürnberger Ärz- vor – aber auch Vorlesungen zu den teprozess angeklagten Mediziner das ärztlichen Biographien von Men- Werk einzelner Ausnahmeerschei- schen, die in Auschwitz tätig wurden, nungen – als Folgen persönlicher auf Seiten der Herrschenden, aber Psychopathie – gewesen und damit auch der Opfer. Thematisiert wurden abzuschließen seien, wurde spät, aber nicht nur die Denk- und Handlungs- 5
weisen der SS-Mediziner, sondern nen Bedingungen mehr als schwierig auch der Häftlingsärzte, von denen war. Diese Bedingungen näher ken- viele unter katastrophalen Bedin- nen zu lernen – und zugleich die ärzt- gungen ein Möglichstes zur Rettung liche Aufgabe und Haltung in ihnen, ihrer Mitgefangenen taten. Durch die gehörte zur zentralen Themenstel- Historiker des Archivs der Gedenk- lung des Seminars. stätte fanden Führungen durch die einzelnen Einrichtungen des „Häft- Die Erfahrungen von Auschwitz sind lingskrankenbaues“ statt, in denen spezifisch; sie sind Teil einer unaus- sich unermessliche Tragödien, aber denkbaren Extremsituation und von auch heroische Bemühungen abspiel- daher schwer oder nicht in „zivile“ ten, Menschenleben unter ungüns- und heutige Bereiche medizinischen tigsten Bedingungen zu schützen. Denkens und Handelns übertrag- Die Mitarbeiter des digitalen Archivs bar. Auf der anderen Seite sensibi- der Gedenkstätte unter Leitung von lisieren sie in hohem Maße für die Dr. phil. Krzysztof Antończyk ar- Verantwortungen, die im Umgang beiten seit vielen Jahren daran, der mit dem Menschen bestehen – insbe- entindividualisierenden Ausbeutung sondere in der Sphäre der Medizin, und Tötung der Auschwitz-Gefan- in der der Andere, der Kranke und genen eine Weise der Aufarbeitung Leidende, noch immer ein poten- entgegenzusetzen, der die Würde, die tiell Abhängiger und Ausgeliefer- Lebensgeschichte, das Gesicht und ter ist, oder auch ein „Gegenstand“ die Namen der Opfer ein zentrales naturwissenschaftlicher Forschung. Anliegen sind. Sie schilderten uns die Die Machtfrage in der Medizin, aber Wege vieler Einzelner in Krankheit, auch die Bedrohung der Heilkunst Leiden und Sterben, auch in Formen durch außermedizinische (politische, des Widerstands, die sich bis in die gesellschaftliche, wissenschaftliche, medizinischen Einrichtungen hinein technologisch-industrielle und öko- erstreckten. nomische) Kräfte ist und bleibt ak- Deutlich wurde, dass dieser Wider- tuell – durch Interessen, die die Heil- stand bis zu einem gewissen Ausmaß kunde für ihre Zwecke und Absichten möglich und in jeder Hinsicht sinn- zu instrumentalisieren versuchen. voll war. Der Einsatz für das Mensch- Hier Widerstand zu leisten und zu liche im Menschen fand auch in wirklich anthropologischen Ideen- Auschwitz seine Träger, unter Häft- bildungen und Haltungen vorzu- lingsärzten, Pflegern, Schwestern stoßen, die den Menschen als Men- und Helfern – auch wenn er ange- schen in Gesundheit, Krankheit und sichts der herrschenden Kräftever- Heilung meinen, gehört unverän- teilung insgesamt ohnmächtig war dert zu den Aufgaben und Pflichten und nur (vergleichsweise) wenigen der medizinischen Ausbildung und Einzelnen das Leben retten oder er- Tätigkeit. leichtern konnten. Dennoch wurde die Stimme des Gewissens auch in Auschwitz vernehmbar, und der „Eid Peter Selg: geboren 1963 in Stuttgart; von 1986 bis 1991 Studium des Hippokrates“ gewann für viele der Humanmedizin an der Universität Witten/Herdecke, an der Häftlingsärzte hier eine neue Bedeu- Charité Berlin und in Zürich; Facharzt für Kinder- und Jugend- psychiatrie; Lehrtätigkeiten im Integrierten Begleitstudium Anthro- tung und einen neuen Klang – obwohl posophische Medizin und im Studium fundamentale an der Uni seine Umsetzung unter den gegebe- Witten/Herdecke sowie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft (Alfter bei Bonn); seit 2006 Leitung des Ita Wegman Institut für anthroposophische Grundlagenforschung (Arlesheim) 6
UNSER PROGRAMM Ärzte in Auschwitz. Der Nationalsozialismus und die Medizin im „Dritten Reich“ 26. März 2012 27. März 2012 13:30 - 14:30 9:00 – 12:00 Regelung des Finanziellen I Besuch im ehemaligen Lager Auschwitz I (Zentrum für Dialog und Gebet) (Halina Jastrzębska und Ewa Pasterak) 14:30 12:00 – 13:30 Treffen mit allen Teilnehmern Mittagessen (Zentrum für Dialog und Gebet) vor dem Zentrum für Dialog und Gebet gemeinsamer Aufbruch zum 13:30 – 15:00 Vortrag von Halina Jastrzebska 15:00 – 16:45 „Häftlingskrankenbau“ Besuch im ehemaligen Birkenau (Vortragsraum Block 12, Auschwitz I) 17:00 – 18:00 15:00 – 16:00 Dokumentation Ausstellungen in den staatlichen Pavillions – Auschwitz I Individual- & Kleingruppenarbeit (individuell) (Zentrum für Dialog und Gebet) 16:00 - 16:30 18:00 – 19:00 Café Pause (Vortragsraum Block 12) Abendessen (Zentrum für Dialog und Gebet) 16:30 – 17:30 19:00 – 20:30 Vortrag von Prof. Peter Selg Vortrag und Treffen mit einem Zeitzeugen “Die Situation medizinischen Denkens und Prof. Wacław Długoborski medizinischer Anthropologie zu Beginn des 20. ehemaliger Auschwitz Häftling (HKB BIIf in Birkenau) Jahrhunderts” (Zentrum für Dialog und Gebet) (Vortragsraum Block 12) 18:00 – 19:00 Abendessen (Zentrum für Dialog und Gebet) 19:00 – 19:45 Dokumentation Individual- & Kleingruppenarbeit (Zentrum für Dialog und Gebet) 20:00 – 21:00 Vortrag von Prof. Peter Selg „Eduard Wirths and Hermann Langbein” (Zentrum für Dialog und Gebet) Ärzte in Auschwitz. Ärzte in Auschwitz. Der Nationalsozialismus Der Nationalsozialismus und die Medizin und dieim Medizin „Dritten imReich“ „Dritten Reich“ Frühstück im Zentrum für Dialog und Gebet jeweils von 07:45 – 08:30h 28. März 2012 28. März 2012 29. März 2012 29. März 2012 9:00 – 12:309:00 – 12:30 8:30 - 9:30 8:30 - 9:30 Besuch im ehemaligen Besuch im ehemaligen Lager Birkenau Lager Birkenau Regelung desRegelung Finanziellen II des Finanziellen II (Halina Jastrzębska (Halina Jastrzębska und Ewa Pasterak) und Ewa Pasterak) (Zentrum für (Zentrum Dialog und fürGebet) Dialog und Gebet) 12:30 – 14:0012:30 – 14:00 9:30 – 11:309:30 – 11:30 (Zentrum für (Zentrum Mittagessen Mittagessen Dialog und fürGebet) Dialog und Gebet) DokumentationDokumentation Individual- &Individual- Kleingruppenarbeit & Kleingruppenarbeit 14:00 – 15:0014:00 – 15:00 (Zentrum für (Zentrum Dialog und fürGebet) Dialog und Gebet) Halina Jastrzębska Halina Jastrzębska HKB Block 28 HKB- Besuch Block 28 - Besuch 12:00 12:00 Abreise zum Abreise Flughafen zum Kattowitz Flughafen Kattowitz 15:00 - 15:30 15:00 - 15:30 Zentrum für Dialog Zentrumund fürGebet Dialog und Gebet Gedenkzeremonie Gedenkzeremonie (Todeswand)(Todeswand) 15:30 – 15:4515:30 – 15:45 (Vortragsraum Kaffeepause Kaffeepause (Vortragsraum Block 12) Block 12) 15:45 – 16:4515:45 – 16:45 Vortrag von Prof. Vortrag Peter vonSelg Prof. Peter Selg „Dr. Nyiszli „Dr. - EinNyiszli Pathologe - EininPathologe Auschwitz-Birkenau“ in Auschwitz-Birkenau“ (Vortragsraum(Vortragsraum Block 12) Block 12) 17:00 – 18:0017:00 – 18:00 Vortrag von Prof. Vortrag Peter vonSelg Prof. Peter Selg NS-Medizin NS-Medizin in Auschwitz in/Auschwitz Medizin und / Medizin Ethik und Ethik - vor, in und- vor, nachinAuschwitz) und nach Auschwitz) (Vortragsraum(Vortragsraum Block 12) Block 12) 18:00 – 19:0018:00 – 19:00 (Zentrum für (Zentrum Abendessen Abendessen Dialog und fürGebet) Dialog und Gebet) 19:00 – 21:00 19:00 – 21:00 Vortrag und Vortrag Konversation und Konversation von Dr. von Dr. Krzysztof Krzysztof Antończyk Antończyk “Wieso “Wieso ich hier ich hier bin” bin” Der Der Sinn und Sinn und menschlicher menschlicher Wert unsererWert unserer Arbeit Arbeit in Auschwitz in Auschwitz PersönlichePersönliche ErfahrungenErfahrungen 7 Frühstück im Frühstück Zentrumim für Zentrum Dialog und für Dialog Gebet jeweils und Gebet von jeweils 07:45 –von 08:30h 07:45 – 08:30h
„WESHALB BIN ICH NACH AUSCHWITZ GEREIST?“ “Dann frage ich mich oft: und warum auch der Revolutionskraft so nahe bin ich hier? Warum bin ich jetzt hier, zu sein. Doch zurück im Alltag, wie höre mir das an? Und im gleichen kann es da aufrecht gehalten wer- Moment bin ich dankbar. Dankbar, den? Manchmal sehe ich mich in mei- Zugang zu dieser Frage zu finden. nen Träumen in der U-Bahn stehen, Denn meist bringt sie mich raus aus oder auch vor einem Chefarzt, und der Passivität. Und es gibt keine kla- Reden schwingen: von der Liebe und re Antwort auf die Frage, doch viele der Freiheit, der Verantwortung. Es Ansätze. Es fällt mir jetzt schwer, sollen Reden aus dem Herzen sein, so hierüber zu schreiben, denn ich dass sie die anderen Herzen berüh- möchte nicht platt klingen. Es geht ren. Ach, und wie selten schaffe ich letztendlich wohl um die Verantwor- es dann wirklich, so zu sprechen.“ tung. Unsere Freiheit liegt auch da- von Pia Hartmann rin, den Dingen einfach ins Auge zu sehen. Die Welt so intensiv zu sehen, wie sie ist und lebt und auch stirbt. Und daraus unsere Schlüsse zu zie- hen. Manchmal wäre es leichter, et- was nicht zu wissen. Das Leben wäre bequemer, lebte sich einfacher. Und dann hier zu sein, die Dinge zu sehen und daraus meine Schlüsse zu zie- hen. Immer verantwortlicher mit die- Marie Therese Georgii, fotografiert von Pia Hartmann ser Welt und der Freiheit umgehen. Letzte Woche habe ich einen klu- „Um zu verstehen, welche Umstände gen Menschen sagen gehört: „Und dazu geführt haben, dass Menschen die Aufgabe der Menschheit ist es, mit Empathie, Menschlichkeit und mit der großen Freiheit und Krea- dem Willen, anderen Menschen zu tivität, dem Schöpfertum, umgehen helfen (als ethische Grundregel eines zu lernen. Die Themen unserer Zeit Arztes), so sozialisiert werden, dass als Mensch sind die Freiheit und sie in dem System funktionieren – ja, die Liebe.“ Und da fand ich es nicht mehr sogar – das System mit eigener verwunderlich, dass doch die Frei- Überzeugung und dem Gefühl, das heit und die Liebe auch immer wie- Richtige zu tun, selber leben. Mehr der meine größten Lebensthemen oder weniger.“ sind – auf den unterschiedlichsten von Inga Krauß Ebenen, und ich mich auch hier in Auschwitz doch ständig mit diesen „Ich bin nach Auschwitz gefah- Themen beschäftige. ren, um mich mit den Abgründen Ich merke, wie ich euphorisch wer- menschlichen Handelns zu konfron- de. Es gibt so vieles aufzuschreiben. tieren. Für mich stand bei meiner Ja, wenn es einen Grund gibt, hier Fahrt nach Auschwitz im Zentrum, zu sein, dann um zu sehen und zu welche Konsequenzen ich als Mensch verstehen. Um meine eigene Kraft und angehender Arzt aus Auschwitz wahrzunehmen, wenn ich zurück bin, für mich, meine Lebensführung und im Alltagstrott. Ja, hier fällt es nicht mein Handeln ziehen kann.“ schwer, große Gedanken zu hegen. Dem Mensch-Sein, dem Greuel, aber von Demian Buchner 8
„Um Wachsamkeit und Mut zu be- „Auf der Rückreise habe ich am Flug- kommen. Um Kraft und Motivation hafen von Kattowitz Konstantin We- für Zivilcourage zu bekommen, damit cker (Text: Lothar Zanetti) gehört ich in den ganz gewöhnlichen Situa- und mir die Verse eines Liedes von tionen des Alltags und auch in den ihm in mein Notizbuch geschrieben:“ außergewöhnlichen des Krieges, des sozialen Umbruchs usw., stets men- Was keiner wagt, das sollt ihr wagen, schenwürdig und menschenfreund- Was keiner sagt, das sagt heraus, lich handeln und agieren kann – so, Was keiner denkt, das wagt zu dass ich nie mein Gesicht vor mir denken, verlieren muss. Ich habe mir zum Was keiner anfängt, das führt aus. Ziel gesetzt, dass ich mir von dieser Exkursion einen Teil Zivilcourage Wenn keiner ja sagt, sollt ihrs sagen, mitnehme, die für Wachsamkeit und Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein, Mut in solchen Situationen elemen- Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben, tar wichtig ist!“ Wenn alle mittun, steht allein. von Inga Krauß Wo alle loben, habt Bedenken, Wo alle spotten, spottet nicht, Wo alle geizen, wagt zu schenken, Wo alles dunkel ist, macht Licht! „Eigentlich gab es für mich gleich mehrere Gründe an der Exkursi- von Inga Krauß on nach Auschwitz teil zu nehmen. Zum einen ist da dieses Gefühl, dass es wichtig ist, mich mit der eigenen TAGEBUCHEINTRAG Geschichte zu beschäftigen, eigene Geschichte deshalb, weil sie durch 26.3., kurz nach der Ankunft meine Vorfahren aber auch durch die Kultur, in der ich aufwachse und Ehrfurcht, die sich so stark und all- lebe, Einfluss auf mich genommen durchdringend aufdrängt, dass ich hat und noch immer nimmt. denke, dass sie kaum nur durch Dazu kommt seit der Schulzeit das mein beschränktes Wissen, was an Gefühl, das in der Zeit des Natio- diesem Ort geschehen ist, entstehen nalsozialismus Geschehene, kaum kann. Es “lebt” hier etwas, das sich begreifen zu können, der Wunsch, kaum leugnen lässt. Ähnlich wie ich vielleicht ein wenig ein Gefühl zu fin- mich in einer Kirche fühle, in einem den für einen Ort wie Auschwitz, ein Tempel, einem heiligen Ort, fühle ich kleines eigenes Bild. mich hier tatsächlich – nicht wie an Und dann empfinde ich die be- einem der finstersten Orte mensch- wusste Beschäftigung mit den Ab- lichen Wirkens. gründen, die in jedem Menschen Alles, das nicht echt, nicht wahrhaf- lauern und ihre grausamen Auswir- tig ist, fällt ab von mir (von uns?), kungen haben können, auch in mir, ich gehe hier (gefühlt) gekleidet in als einen zentralen Teil meines Stu- Schwarz, als Mensch – in einem viel diums. Auch im Hinblick auf den unmittelbareren, unmaskierteren Wunsch, später einmal ärztlich tätig Sinne als im Alltag umher. (Wie als zu sein und mein eigenes Handeln in Myste, Geheimschüler an einer Ein- jedem Moment selber überprüfen zu weihungsstätte.) müssen.“ Doch auch: Langsam und tief atmend, Lächeln will (noch?) nicht recht aus der Tiefe kommen. von Myriam Estko Die Sonne leuchtet anders. von Johannes Brockhaus 9
EIN ERSTER RUNDGANG Besuch in Auschwitz I und Birkenau am 26. März 2012 Es ist ein sonniger Tag. Vor dem La- Hier in Birkenau zeigt sich der Un- ger stehen einige Trauerweiden, ein terschied schneller. Das riesige Ge- paar Bänke und alles wirkt eher wie lände ist atemberaubend groß, und ein Park als ein Ort des Grauens. doch wirkt es klein für die Vielzahl Dann betreten wir die Anlage, be- an Leuten, die es einmal beherbergt gleitet von Dr. Krzysztof Antonczyk, hat. Die starken, hohen, eindrückli- Historiker und Leiter des digitalen chen Stacheldrahtzäune zeigen die Archivs in Auschwitz. Wir erwar- Ausweglosigkeit und die Gefahr, die teten ein Gefühl der Beklemmung, sich hier verbarg. vielleicht sogar Angst. Aber davon war jetzt noch nichts zu spüren. Das Wir sehen die Schwarz-Weiss-Auf- bekannte Schild mit der Aufschrift nahmen von der „Neuen Rampe“ und „Arbeit macht frei“ steht gespens- der Ankunft der 400.000 ungarischen tisch über dem Tor zum eingezäun- Juden. Aber hier ist es bunt. Die Son- ten Lager. Wir gehen unter ihm hin- ne scheint und der Himmel ist blau. durch und können nicht begreifen, Der Frühling kommt. Hier soll so et- wie viele Schicksale unter diesem was Schreckliches passiert sein? schon durchgelaufen sind und welche An der Rampe steht noch ein Wagon, Tragödien sich hier abgespielt haben. in dem die Deportierten das Lager Dr. Antonczyk führt uns ein we- Birkenau erreichten. Auf der Radna- nig herum. Wir gehen zwischen den be des Wagons lesen wir „Friedrich- Reihen von Baracken hindurch. Sie Wilhelms-Hütte Mülheim Ruhr“. wirken groß und gepflegt. Mit dem Das ist wie ein Stich ins Herz, denn Rasen und den Bäumen davor er- auch wir kommen aus dem Ruhr- innern sie uns an die Arbeitersied- gebiet. Ein Schuldgefühl kommt auf. lungen im Ruhrgebiet. Daraufhin Denn das Ruhrgebiet hat profitiert, sehen wir den „Swimming Pool“, der es ist deshalb so groß geworden, weil den Besuchern von Auschwitz I ein es u.a. Wagons wie diese hergestellt harmloses Lager suggerieren sollte. hat. An diesem ersten Tag fallen die Eindrücke ziemlich über uns her- Dieser Einstieg war gut gewählt. Ob ein. Man versucht sich vorzustellen, beabsichtigt oder nicht, zeigt er doch wie so viele an der Rampe selektiert die Surrealitäten von Auschwitz. Die wurden. Dass innerhalb von Sekun- gnadenlose Vernichtung von Mil- den über Leben und Tod entschieden lionen unter dem Deckmantel von wurde. Von so vielen. Bürokratie und Ideologie. Man merkt recht schnell, dass es sehr Wie können Menschen nur zu so schwer sein wird, all dies zu begrei- etwas fähig sein? Wie kann man so fen und festzumachen. Man ist noch höchstpräzise und akkurat den Ver- ohne Worte. Hat das Grauen noch nichtungsprozess von mehreren hun- nicht fassen können und hat auch derttausend Menschen planen und das Gefühl, noch nicht in die Tiefe durchführen? des Ganzen vorgedrungen zu sein. Es sind diese Eindrücke, die wir wei- ter mitnehmen nach Birkenau. 10
Am Ende besuchen wir die Frauen- todesbaracke, die auf grässlich ein- fache Weise zeigt, dass Tod, Demüti- gung und Folter nicht am Bahnsteig endeten, sondern bis zum letzten Atemzug ständiger Begleiter waren. Von ihrer Würde verabschiedeten sie sich bereits an den Heimatbahnhöfen vor der Deportation nach Auschwitz. Dieser erste Besuch hat uns mit vie- len Fragen zurück gelassen. Aber auch mit einem Gefühl von Trauer, Unverständnis, Sprachlosigkeit und Abscheu. von Ina Riesenberg, Marcus Werner und Lisa Willuhn senden; aussteigen, selektieren, nur TAGEBUCHEINTRAG wer noch Nutzen bringt für den Ap- parat, darf überleben (für eine Zeit), der Rest schreitet fort – in die Gas- kammern, als Auswurf; Haare und 26.3., 18h, nach einem ersten Rund- Kleider und Zähne (sofern sie Edel- gang durch Birkenau metall tragen) vorher entfernt und zur gewinnbringenden Verwertung Beim Durchschreiten des Torbogens eingesetzt / verkauft. und auf dem Betonweg entlang der Und was für wunderbare, einzigarti- Schienen packt es mich. ge Menschen gehen hier zu Hundert- Hier ist der Ort. tausenden in den grausamsten Tod, Die Sprache verblasst, unsere Grup- den ich mir vorstellen kann! pe zieht sich auseinander, viele ge- Wie kann ich noch fröhlich sein, mit hen allein, mit langsamen, großen welchem Recht? Schritten. Es ist anders, sehr anders in Ich fühle Schmerz, kann den Gedan- Birkenau, als im KZ Auschwitz I; be- ken nicht ertragen an das, was Men- drückender, erdrückender. Aber auch schen hier an Menschen getan ha- hier ist ein „heiliger Ort“, deutlich ben. Ich rede nicht mehr, schau nur, negativer belegt, hier wäre Lachen, fühle. Was ist alles Theoretisieren, wäre ein schlechter Scherz noch un- was sind Gedanken, Auge in Auge erträglicher – und kommt auch nicht mit diesem Ort? vor in den zwei Stunden, die wir über Die Gewaltigkeit und monotone, kah- das Gelände schreiten. Kaum hört le Zweckmäßigkeit der Anlage ist er- man Vögel. drückend, wirklich wie eine gewalti- Aber die Sonne scheint, über den ro- ge Maschine, eine unheilige Fabrik. ten Ziegelbaracken. Hinein durch den Torbogen in Vieh- wagons, zu Tausenden und Abertau- von Johannes Brockhaus 11
VORTRAG UND GESPRÄCH MIT DEM EHEMALIGEN AUSCHWITZ-HÄFTLING Prof. Waclaw Dlugoborski Prof. Waclaw Dlugoborski, geboren Kanalarbeiter im Lager B II b – das 1926, berichtet uns bereits am ersten Lager der tschechischen Juden aus Abend unserer Exkursion von seinem Theresienstadt. Prof. Dlugoborski Leben im Lager. berichtet von diesen Menschen, die Prof. Dlugoborski kam am 28. viel Wert darauf legten, sich – anders August des Jahres 1943 als pol- als die ihm bisher bekannten pol- nischer Häftling in das Lager nischen Juden aus Warschau – in die Auschwitz-Birkenau. Zunächst er- Gesellschaft zu integrieren, zu assi- zählt er uns von den verschiedenen milieren, wie er sich ausdrückt. Hier Blöcken des Lagers und den jeweils fand er auch Freunde, die er sehr zu dort untergebrachten Menschen. schätzen wusste. Seine Reise in Auschwitz begann im Er erzählt auch von den Lebens- Lager B II a – dem Quarantäne-Lager. mittelpaketen, die die polnischen Für ihn sind die zwei Monate, die er Häftlinge nach der Quarantänezeit hier im September und Oktober 1943 bekommen durften. Zunächst alle verbrachte - neben den Erinnerungen 2-3 Monate eines, später auch mo- an seine schwere Erkrankung – die natlich. Diese Pakete wurden von schlimmsten und hoffnungslosesten Himmler verordnet – nicht zuletzt, während des gesamten Aufenthaltes um die Arbeitsfähigkeit der Häft- in Birkenau. Im Quarantäne-Lager linge zu bessern. Der Tag, an dem wurde man „auf das Lager einge- Prof. Dlugoborski das erste Lebens- stellt“. Die Arbeit in der Kolonne war mittelpaket erhielt, war ein Tag der unglaublich schwer – Steine und Kies Hoffnung. mussten über weite Strecken unter Es kam die Zeit der Fleckfieberepi- Bewachung und unter Hieben der SS demie in Auschwitz. Auch Familien transportiert werden. Die Häftlin- der SS waren betroffen und viele wich- ge wurden in „Büchsen-Sammelbet- tige Arbeitskräfte fielen der Krank- ten“ untergebracht – ohne Decken, heit zum Opfer. Um die Epidemie Kissen oder Stroh. Im Lager war es einzudämmen, wurden die Häftlinge auch nicht erlaubt, Lebensmittelpa- gereinigt. „Eine Laus – Dein Tod“. kete zu erhalten – diese konnten hier So heißt der Mahnspruch, der auch jedoch lebensentscheidend sein. auf Plakaten in den Baracken hing. Obwohl unser Zeitzeuge nach außen Das Lager B II d wurde unter Qua- hin recht nüchtern von dieser Ver- rantäne gestellt und eine Sauna [im gangenheit berichtet, wird deutlich, Sinne einer Reinigungseinrichtung] dass dies für ihn eine Phase der Hoff- errichtet, in der die Häftlinge ge- nungslosigkeit gewesen sein muss. badet wurden und die Kleidung des- Nach der Zeit im Lager B II a kam infiziert. Das Schlimmste an der gan- er in das Lager B II d – ein Lager für zen Prozedur waren das Wetter und arbeitstaugliche Männer. 60-70% der die entwürdigende Art und Weise, in Häftlinge waren Juden, der Rest Po- der die Reinigung vonstatten ging. len. Sein Arbeitseinsatz erfolgte als 12
Prof. Waclaw Dlugoborski, fotografiert von Pia Marie Hartmann Prof. Waclaw Dlugoborski, fotografiert von Jonathan Niehaus 13
Die Inhaftierten mussten sich nackt te. Manche dieser Häftlinge wurden ausziehen, wurden mit Seife ge- anschließend in andere Arbeits- bzw. waschen und anschließend bei 5° Konzentrationslager des Reiches ge- Kälte in die nasse Kleidung gezwun- bracht. Anschließend arbeitete er mit gen. Viele Häftlinge erkrankten im einem Zwillingspaar aus Ungarn zu- Anschluss an diese Reinigungsak- sammen, mit dem er auch nach dem tion – so auch unser Zeitzeuge, der Krieg noch Kontakt haben sollte. daraufhin mit einer schweren Lun- Mengele sortierte die Zwillinge sys- genentzündung in den Krankenbau tematisch bei den Transporten aus, B II f verlegt wurde und unter hohem um anschließend mit ihnen Versuche Fieber zeitweilig im Koma lag. Diese durchführen zu können. Zunächst Zeit war für Prof. Dlugoborski eben- waren es „harmlose“ Versuche, bei falls gekennzeichnet durch extreme denen die Kollegen von Mengele – zu- Hoffnungslosigkeit. Auch die Ge- meist Häftlingsärzte – Elemente der sichter der Pfleger und Ärzte gaben Gemeinsamkeiten und Unterschiede keinen Anlass zur Hoffnung mehr. der Zwillinge in Hinblick auf Blut, Hinzu kam, dass er die Nahrung Augenfarbe, Haut etc. überprüfen aus seinen Lebensmittelpaketen mussten. Der Plan Mengeles war es nicht vertrug (diese beinhalteten zu- jedoch wohl auch, die Zwillinge nach meist aus Gründen der Haltbarkeit den Experimenten zu töten und post nur Schwerverdauliches – Wurst, mortem in Berlin weiter untersuchen Speck, Schmalz…). Die Verbindung zu lassen. Das Ende des Krieges kam zu seinem Vetter rettete ihm mög- ihm dazwischen. Heute gibt es eine licherweise das Leben, denn durch Gesellschaft der Zwillinge, die da- ihn konnte er Weißbrot und Butter mals das gemeinsame Schicksal im beziehen. Sein Vetter arbeitete im Lager geteilt haben. Brotmagazin des Zigeunerlagers Prof. Dlugoborski berichtet uns auch B II e. Da Mengele im Krankenbau von dem Verhältnis der Häftlings- mit Zwillingen experimentierte und ärzte zu den Patienten und auch vom diese, wegen der an ihnen prakti- Verhältnis der Häftlingsärzte zu den zierten Experimente besser ernährt SS-Ärzten. Das Anliegen der meisten wurden als die anderen Häftlinge, Häftlingsärzte war es wohl tatsäch- war es möglich, auch für unseren lich, sich um das Wohl der Patienten Zeitzeugen etwas Nahrungsmittel zu zu kümmern: egal ob jüdischer oder schmuggeln. Er erholte sich – konn- polnischer Patient. Aber auch hier te aber keine schwere Arbeit mehr gab es Ausnahmen! Untereinander tun. Dann wurde er – womöglich er- herrschte Konkurrenz zwischen den neut unterstützt durch den Einfluss Häftlingsärzten, es ging hier wohl seines Vetters – als Arbeitskraft im auch um die Gunst der SS-Ärzte. Krankenbau eingesetzt. Die anderen Insbesondere in den späteren Lager- arischen Häftlinge aus Polen hinge- jahren ab 1944 herrschte zwischen gen wurden zum Wiederaufbau der Häftlings- und SS-Ärzten ein kolle- zerbombten Städte „Innerlandes“ giales Verhältnis. Im wissenschaft- gebracht. lichen Gespräch fand man sich. Es Im Krankenbau war er im Bereich wurden wissenschaftliche Symposien der Sauna tätig. Hier arbeitete er abgehalten und die SS-Ärzte profi- gemeinsam mit einem Kollegen und tierten von der zum Teil ausgepräg- zwei weiteren Häftlingen, die ihm ten Expertise und dem Können der zur Seite gestellt wurden. Die ersten Häftlingsärzte. Diese führten auch zwei Helfer kamen aus einem Trans- Schulungen für die SS-Ärzte durch. port, der etwa 30.000 Personen in Auch über das Zigeunerlager erzählt Folge der Niederschlagung des War- der Zeitzeuge. Das Lager der Sinti schauer Aufstandes (1. August bis 3. und Roma war ein besonderes Lager. Oktober 1944) nach Auschwitz brach- Selbst Himmler und Hitler wussten 14
wohl nicht so recht, wie sie mit die- des tschechischen Lagers. Hier wa- sen Menschen umgehen sollen und ren viele Menschen noch arbeitsfä- welche Art von Politik gegen sie ge- hig. Gleichzeitig benötigte Deutsch- richtet werden sollte. Die Zigeuner land zu diesem Zeitpunkt dringend wollten nicht arbeiten, sie waren im- Arbeitskräfte. Umso schockierender mer unterwegs. Sie waren aus Sicht und unerwarteter kam dann die Li- der Führung eine minderwertige quidation des Lagers für die anderen Rasse, die jedoch von 1939 bis 1940 Häftlinge. Es verdeutlichte die Will- zunächst auch in der Wehrmacht ein- kür des Geschehens und nahm den gesetzt wurde. Später jedoch mussten Häftlingen die letzte bleibende Hoff- sie ihre Uniformen abgeben und wur- nung, dass der Erhalt der eigenen den nach ihrem Urlaub von der Front Arbeitsfähigkeit eine Garantie für nicht zu dieser zurück gebracht, son- die Zukunft wäre. Alles geschah ganz dern nach Birkenau transportiert. leise, man hörte nur das Summen der Anders als im Lager der tschechi- Lastwagen… schen Juden lebten die Familien der Prof. Dlugoborski berichtet auch Zigeuner in Birkenau zusammen. von den Selektionsprozessen, die In Birkenau wurden Kinder gezeugt von Mengele und seinen Kollegen und geboren, mussten jedoch auf- durchgeführt wurden: Zum einen grund von Unterernährung in der wude direkt an der Rampe selektiert. Folge sterben. Der Zeitzeuge hatte ab Manchmal wurden ganze Trans- und zu Kontakt mit dem Zigeuner- porte direkt in die Gaskammern ge- lager, beispielsweise, um Medika- schickt. Auch in den Baracken wur- mente ins Lager zu bringen, da die de selektiert. Nach Verhängung der Zigeuner nicht in den Krankenbau Blocksperre mussten sich alle Häft- kamen. linge auf dem Appellplatz aufstel- len und wurden hierbei nach Jude/ Im Anschluss an den Bericht des Nicht-Jude getrennt. Die Selektion Zeitzeugens hatten wir Gelegenheit, der Tauglichkeit erfolgte ausschließ- weitere Fragen zu stellen. Wir waren lich nach dem Prinzip „arbeits- alle gefangen von der Situation und tauglich versus arbeitsuntauglich“. stellten eine Frage nach der anderen, Auschwitz diente [neben der Vernich- die Prof. Dlugoborski trotz fortschrei- tung] vor allem der Bereitstellung tender Müdigkeit mit viel Geduld von Arbeitskräften. Juden wurden beantwortete. Sein an sich flüssiges dabei im Vergleich zu den anderen Deutsch geriet zunehmend ins Sto- Häftlingen deutlich brutaler und ro- cken...und wir fragten weiter…und buster von der SS behandelt. Ab 1943 nahmen möglicherweise hierbei viel mussten Juden die Selektion im La- zu wenig Rücksicht auf ihn... ger und an der Rampe sogar selbst Auf Nachfrage berichtet unser Zeit- durchführen. zeuge von der Liquidation der Lager Die Krematorien von Birkenau be- der Sinti und Roma sowie der Juden fanden sich direkt neben dem Kran- aus Theresienstadt: Es wurde eine kenbau. Manchmal standen die Lagersperre angeordnet und alle ar- Transporte innerhalb des Lagers beitsfähigen Personen (~3000) ins „Schlange“, bevor die Gaskammern Stammlager Auschwitz gebracht. Die wieder frei wurden. Selektierte Ju- übrigen etwa 3000 Frauen, Kinder den mussten teilweise bis zu zwei und Ältere verblieben im Lager und Tage im Waschraum ohne Essen und wurden gegen 7/8 Uhr morgens unter Trinken auf ihren Tod in der Gas- Flehen und Weinen und ohne Wider- kammer warten. Sie beteten, sangen stand deportiert und anschließend jüdische Lieder. Schon in Warschau vergast. Die Liquidation des Zigeu- wussten die Menschen, dass der Mas- nerlagers war laut und offenkundig. senmord auf sie wartet… Ganz anders jedoch die Liquidation Die Frage, ob es bei der SS auch 15
„Gute“ gegeben hätte, beantwortet der Zeitzeuge wie folgt: Es gab zwei Kategorien der SS-Soldaten, und die Frage muss unter Berücksichtigung der Zeit beantwortet werden. In den ersten Jahren des Krieges gab es ins- besondere die Soldaten der Waffen- SS, die für den Kampf an der Front und die Bewachung der Konzen- trationslager zuständig waren. Wer sich im KZ nicht bewährt hatte, wur- de zum Teil an die Front geschickt. Das KZ war für die „Erfolgreichen“, es war „Erholung“. Bis 1943 kamen SS-Soldaten, die eine tiefgreifende ideologische Schule durchgemacht hatten – 10 Wochenenden Rassis- mus etc. Die SS-Leute taten ihre Sa- che mit Überzeugung. Diese waren auch sehr polenfeindlich eingestellt. Gegen Ende des Krieges gingen den Deutschen die Soldaten aus. Volks- deutsche aus Serbien, Kroatien, Ru- mänien, Albanien u.v.a. wurden in die Waffen-SS aufgenommen. Diese hatten keinen Sinn für die Ideologie der Nazis, mit diesen konnte man „mehr“ anfangen, der „Lagerton“ än- derte sich zum Teil dadurch auch ein wenig. Auf die Frage, woher Prof. Dlugobor- ski die Kraft und Hoffnung für das Weiterleben im Lager geschöpft hat, erinnert er sich nochmals an die hoff- nungslosen Tage und insbesondere die Nächte im Quarantäne-Lager, in denen es kein Aufwärmen gab. Auch an seine hoffnungslosen Tage wäh- rend der Krankheit erinnert er sich erneut. Der Tag, an dem er sein ers- tes Lebensmittelpaket bekam, gab ihm Hoffnung und auch die Arbeit im tschechischen Lager war eine bessere Zeit. Wir bedanken uns herzlich für seine Erzählungen und Berichte. Und dann merken wir, dass wir ver- gessen haben, ihm ein Glas Wasser zu reichen – wahrscheinlich waren wir alle so gefangen von der Situation und dem Ereignis, dass uns dafür die Aufmerksamkeit fehlte. von Inga Krauß 16
BESUCH IM EHEMALIGEN KONZENTRATIONSLAGER AUSCHWITZ 1 „Einer von vielen Einzelgründen für noch soviel mehr mitgeklungen. Ver- meine Reise nach Auschwitz war die achtung, Unverständnis, Erstaunen. Hoffnung, eine bessere Vorstellung Erst jetzt fällt mir auf, dass die Jun- davon zu bekommen, was die Zah- gen der Gruppe eine Kippa tragen. len, die unsagbar hohen Zahlen, die Juden. ich aus Auschwitz kannte, konkret Da stehen wir also, 67 Jahre nach bedeuten. Bislang waren sie schlicht der Befreiung Auschwitz. Juden und unvorstellbar und ich glaubte, dass Deutsche stehen zusammen vor die- sie vor Ort für mich greifbarer wür- ser Wand aus Haaren, vor dieser den. Wand aus Beweisen unvorstellbarer Jetzt stehe ich an diesem Ort und sah Gräuel, unvorstellbarer Schuld. Tausende von Schuhen und Käm- Meine Gruppe zieht weiter, und ich men, Töpfen und Koffern, Brillen mache den nachströmenden Massen und Schuhcremes und jedes, bis da- Platz. Noch viele Eindrücke prasseln hin mühsam erarbeitete Bewusstsein während der weiteren Führung auf über das Ausmaß, das hinter den Da- mich ein, aber immer wieder hallt ten und Fakten steht, löst sich end- der eine Satz in mir nach: „Oh! They gültig auf. Ich kann mir nicht vorstel- are Germans!“ Und mit ihm ein lei- len, wie viel 400 000 Häftlinge sind. ser Vorwurf. Und das erste Mal spüre Ich kann mir aber auch nicht vorstel- ich, dass es nicht mehr so einfach ist, len, wie viele vergaste Menschen es zu sagen: „ Ich habe zu der Zeit nicht braucht, um einen ganzen Raum mit einmal gelebt! Ich hatte damit nichts ihren Schuhen füllen zu können. Wer zu tun! Ich bin nicht Schuld!“ kann mir sagen, wie viele Frauen für Mein Großvater war selbst im Krieg. sieben Tonnen Haarmasse sterben Mit achtzehn Jahren wurde er einge- mussten? Alles, was ich bis hierhin zogen und ich weiß, dass er versucht über Auschwitz zu wissen glaubte, hat, dieser furchtbaren Notwendig- verschwindet und weicht einem Ge- keit für das eigene Überleben so fühl der Unwirklichkeit. ehrenhaft nachzukommen wie ein so Und mitten in dieses Gefühl höre ich grauenhafter Krieg es nur zulässt. aus der Nachbargruppe: „Oh! They Ich weiß, hätte er sich geweigert, are Germans!“. Ich blicke in die Rich- wäre das sein Ende gewesen und ich tung, aus der die Stimme kam und wäre nie geboren worden. Womöglich sehe eine Gruppe, die unserer so verdanke ich mein Leben auch der ähnlich ist. Vielleicht etwas jünger. Tatsache, dass mein Großvater bereit In ihren Augen sehe ich ähnliche Ge- war, als Soldat andere Menschen zu fühle, wie in den Gesichtern meiner töten. So viele Kinder wurden nicht Kommilitonen. Unglauben, Entset- gezeugt. So viele Kinder hatten nie zen, Trauer. Und dann entdecke ich die Chance, ihren Großvater kennen- ein junges Mädchen von vielleicht zulernen. Ich hatte all das. Ich hat- fünfzehn oder sechzehn Jahren. Es te einen liebevollen und warmherzi- scheint ihre Stimme gewesen zu sein. gen Großvater, wie man ihn sich nur Als unsere Blicke sich treffen, schaut wünschen kann. Aber ich hatte all‘ sie zur Seite. In ihren Worten hatte das eben nur, weil andere Menschen 17
starben. Wie kann ich da sagen: „Es hat nichts mit mir zu tun“? Das hat es sehr wohl. Wie kann ich da sa- gen: „Ich bin nicht Schuld.“? Heute beginne ich zu verstehen, was mit der Kollektivschuld des deutschen Volkes gemeint sein kann. Aber sich in Schuld und Scham zu verlieren hilft keinem, schafft kein Verständ- nis, keine Versöhnung. Und dabei ist dies genau das, was dieser Ort, an dem soviel Grauenhaftes geschehen ist, am nötigsten braucht. Auschwitz braucht noch so viel Versöhnung. Und ich spüre, wie dieser erste Ein- druck von Schuld einem Bewusst- sein der Verantwortung weicht, aktiver am Verstehen und am Nicht-Vergessen mitzuwirken. Viel- leicht haben wir allein durch unsere Reise, unsere Seminare, unsere Ge- bete und Tränen einen Teil dazu bei- getragen.“ von Evelyn Strunk fotografiert von Demian Buchner HISTORIKERIN HALINA JASTRZEBSKA ÜBER DEN HÄFTLINGSKRANKENBAU IN AUSCHWITZ 1 „1,3 Millionen Menschen starben in Thema, unter dem die Exkursion Auschwitz. Ein erschreckend großer stand: Der Nationalsozialismus und Teil davon in den Krankenbauten des die Medizin im Dritten Reich. Block 28, fotografiert von Tobias Moczko Stammlagers (10, 19, 20, 21, 28) und Es wurde schnell deutlich, wie er- im Vernichtungslager Birkenau (7, 8, drückend die Betrachtung des The- 12, 14, 15). mas werden würde. Die detaillierte Beschreibung der Versuche, das Be- Nachdem wir vormittags die Themen trachten der Fotos der Täter sowie Nationalsozialismus und Auschwitz die Schilderung der persönlichen als Arbeits- und Vernichtungslager Geschichten und Schicksale im Zu- generell behandelt haben, diente der sammenhang mit medizinischen Ex- Vortrag von Frau Halina Jastrzębska perimenten machten die Vorgänge als Einleitung in das spezielle im ehemaligen Konzentrationslager 18
Auschwitz für uns, auch knapp 70 bringt, und wie achtsam man damit Jahre nach Auschwitz, wieder sehr umgehen muss.“ greifbar und plastisch. Besonders schockierten uns ihre Er- von Tabea Zapf, Marvin Brunk, Christoph Lüdemann zählungen über die Röntgenkastra- tionen, die zum Ziel hatten, Juden unfruchtbar zu machen und so in letzter Instanz die „Rasse“ auszu- rotten. „Rassenhygiene“ blieb uns als paradoxe und perverse Wort- schöpfung besonders im Gedächtnis. Ebenso die Versuche an Zwillingen und die gezielte Tötung von Kindern sowie die Verstümmelung ihrer Müt- ter durch Injektionen aggressiver Chemikalien, wie Formalin, zeigten die Grausamkeit der Ärzte auf wider- lichste Weise. Da wir die Berichte sowohl von ärzt- licher als auch von „Patienten“-Seite erfuhren, wurde uns bewusst, wie viel Verantwortung der Arztberuf Halina Jastrzebska, fotografiert von Pia Marie Hartmann auch in heutiger Zeit mit sich bringt, und wie schnell dieses missbraucht werden kann. TAGEBUCHEINTRAG Es muss einem bewusst werden, dass sich Patienten in jeder Arzt-Patien- 27.3., 16:00h, nach dem Vortrag ten Beziehung sowohl körperlich als Es ist gut, es ist wichtig, zu wissen, auch psychisch dem Arzt ausliefern. wozu Menschen fähig waren – und Ein Arzt muss sich daher als mora- noch sind. lische Instanz seiner besonderen Menschen als Versuchsobjekte, Pro- ethischen Verantwortung besinnen. zeduren ohne jede Moral, in einer Auch wurde uns vor Augen geführt, Maschinerie, getrieben von/funktio- wie viel heutiges medizinisches Wis- nierend durch eine Ideologie, ein Sys- sen aus dieser Zeit stammt, und dass tem von Ideen und Überzeugungen, die heutige Medizin paradoxerweise das seinesgleichen sucht – aber von im rein fachlichen Sinne von den Ex- Menschen erdacht und praktiziert – perimenten „profitiert“. und nur Menschen sind auf diesem Flur im Block 28, Planeten zu so etwas fähig. Kann fotografiert von Wie anfangs erwähnt, diente der man mehr als verstummen im Ange- Tobias Moczko so genannte Krankenbau nicht ur- sicht dieser Tatsache? sprünglich der medizinischen Ver- Ich bin auch ein Mensch – und auch sorgung, sondern als perfide Vernich- in mir liegt irgendwo, vielleicht gar tungsmaschine. Die Systematik der nicht so vergraben, wie man hoffen Vorgänge machte diesen Ort nicht mag, die Fähigkeit dazu. nur zu einem Ort des Schreckens, Und welcher Ideologie, oder auch: sondern vielmehr zu einer industriel- welchen Idealen verpflichten wir uns len Tötungsfabrik. heute als Ärzte? Und sind wir uns unserer Macht bewusst, wie gehen Wir, als zukünftige Arztpersönlich- wir mit ihr um? keiten, konnten für uns das Bewusst- Was haben die Bäume hier gesehen! sein stärken, wie viel Macht und Sie wachsen heute noch, tragen fri- Verantwortung dieser Beruf mit sich sches Grün in jedem neuen Frühling, 19
tragen Nester und beherbergen Sing- vögel, bilden Blätter, Blüten, Samen. Was haben die Steine hier ertragen! Sie liegen heute noch hier, die Ziegel aus polnischem Lehm, aufgeschich- tet zu Räumen, Häusern, Blöcken, Zellen, Bunkern; tragen Initialen, trugen Blut und Unrat derer, denen ihr Wert, ihr Menschsein, abgespro- chen wurde. von Johannes Brockhaus Johannes Brockhaus, fotografiert von Pia Marie Hartmann „WAS BEDEUTET DAS THEMA „ÄRZTE IN AUSCHWITZ“ FÜR MICH ALS WERDENDER ARZT?“ „Für mich wirkt dieses Thema als „Auch heute gibt es viele diskurs- eine Art Warnsignal vor dem Ein- bedürftige Themen im Bereich der fluss zeitgenössischer Vorstellun- Medizin. Allein die „2-Klassen-Medi- gen und Ideologien. Gerade in der zin“ mit der staatlichen und privaten Medizin gilt neu errungenes Wissen Krankenkasse zeigt, dass nicht alle schnell als die ultimative Lösung ei- Menschen gleichwertig behandelt ner Krankheit und ist in den nächs- werden. Im Krankenhaus erlebt man ten Jahren bereits überholt oder gilt oft Situationen, in denen Patienten sogar als unverantwortbar. Dieses nicht richtig über einen Eingriff auf- Thema sollte jedem angehenden und geklärt werden oder gedrängt wer- noch leicht beeinflussbaren Medizi- den bestimmte Eingriffe durchführen ner im Hinterkopf als Warnsignal zu lassen, auch wenn diese zum Teil gelten.“ nicht notwendig sind. Der Patient von Moritz Völker vertraut zu oft dem Arzt und traut sich nicht, Fragen zu stellen. All dies „Mir ist nocheinmal deutlicher ge- zeigt, wie groß Macht und Einfluss worden, welche Rolle Ärzte haben. der Ärzte heutzutage ist.“ Es liegt nicht an ihnen zu richten, nur zu helfen, so gut sie es können, von Pauline Auffermann denn dazu entscheidet man sich, wenn man diesen Beruf wählt. Wis- senschaft darf hierarchisch nie über die Wertvorstellung des Menschen und seiner Ethik gelangen.“ von Renate Fett 20
„Mich interessiert in diesem Zusam- Welche Ideale möchte ich vertreten, menhang die Frage, wie es dazu kom- und welche Werte spielen für mich men konnte, dass Ärzte vom Helfer eine Rolle? Es sensibilisiert mich zum Mörder wurden. Ganz speziell, sehr für die Auseinandersetzung mit wie stark der gesellschaftliche Kon- dem Thema: „Beruf Arzt“. text, das Menschenbild und die jewei- lige Ideologie das ärztliche Handeln von Patrick Rebacz beeinflussen.“ von Demian Buchner „Wenn ich als Studentin am klini- schen Alltag teilhabe, so fühle ich mich auch immer wieder mit einer großen Macht, gebunden an eine gro- ße Verantwortung konfrontiert, welche ein Arzt gegenüber dem Kran- ken, Hilfe suchenden Menschen hat. Ärztliches Handeln, welches hier in Auschwitz stattgefunden hat, vollzog sich unter allergrößtem Missbrauch dieser Macht über andere Menschen. Patrick Rebacz Die Beschäftigung damit bedeutet für mich, wichtige Fragen zu berüh- ren und nach Antworten zu suchen, wie eine innere, klar jede mensch- „Es bedeutet für mich eigentlich eine liche Grenze einhaltende Haltung Aufforderung, mich selbst in mei- gefestigt werden kann, sowie meine nem Denken und Handeln täglich zu Wahrnehmung für jene „Schnittstel- überprüfen. Mir die Frage zu stellen, len“ zu schulen, in denen übergriffi- ob ich wirklich noch im Auftrag und ges Handeln vermeintlich noch men- zum Wohle des Patienten handle und schenwürdig erscheint.“ für mich zu entscheiden, inwieweit ich in einem medizinischen System von Vanita Voß bereit bin, Kompromisse einzugehen, um handeln zu können, und ab wel- chem Moment ich Gefahr laufe, mich und meine Ideale zu verlieren.“ „Für mich bedeutet es vor allem, dass es grundlegende Unterschiede in der von Myriam Estko Berufsgruppe der Ärzte gibt. Arzt ist nicht gleich Arzt – auch wenn der Be- ruf Menschen eint und zu Kollegen macht. Dies hat jedoch noch nichts zu bedeuten. Nur weil jemand einen weißen Kittel trägt und von einer Instanz die Genehmigung erteilt be- kommen hat, den Arztberuf auszu- üben, heißt es noch nicht, dass er/sie im Sinne der Heilkunst agiert. Für mich bedeutet es, dass jeder für sich festlegen muss, wie er als Arzt arbei- ten will und was sein Berufsethos ist. Lisa Willuhn. Fotos von Pia Marie Hartmann 21
DER BELGISCHE PAVILLON Die Ausstellung über die Juden- unserer Auffassung nach besonders deportation von Belgien nach Ausch- deutlich, wenn man sich die zeitliche witz ist im Block Nummer 20 des Abfolge der verschiedenen Maßnah- Stammlagers Ausschwitz I eingerich- men nach der Kapitulation Belgiens tet worden. Sie steht in Form eines im Mai 1940 vor Augen führt: Erlebnisberichtes stellvertretend für andere Länderausstellungen, die auf 28.10.1940: die verschiedenen Blöcke des Lagers • Einführung eines Judenregisters verteilt wurden. zur Identifizierung und Ortung Das Land Belgien ist während des der jüdischen Bevölkerung; Zweiten Weltkrieges auch eines der • Erfassung von jüdischen Unter- ersten Länder gewesen, das relativ nehmen und öffentliche früh unter deutsche Okkupation ge- Kennzeichnung; riet. Somit war die belgische Bevöl- • Ausscheiden von jüdischen kerung schon früh mit den politisch, Bürgern aus Ämtern und antisemitisch und rassistisch moti- Stellungen: vierten Deportationen in die Kon- – Öffentliche Ämter zentrations- und Vernichtungslager – Rechtsanwälte konfrontiert. – Lehrer an Schulen und Hoch- Zugleich ist die belgische Nation schulen historisch gesehen, sowohl wirt- – Verleger und Chefredakteure schaftlich als auch kulturell, eng mit aus Presse und Rundfunk- Deutschland verbunden. Das wird unternehmen besonders durch den deutschspra- chigen Teil der belgischen Bevölke- 31.05.1941: rung deutlich. • Wirtschaftliche Maßnahmen Der belgische Pavillon in Block Num- • Untersagung der Fortführung mer 20 ist insgesamt sehr schlicht ge- jüdischer Geschäftsbetriebe halten und präsentiert sich in hellen • Veräußerung von Geschäfts- Räumen, mit Weiß als Grundton der anteilen und sonstigen Ver- Ausstellung. Diese ist auf einer Eta- mögenswerten ge in insgesamt drei Bereiche unter- teilt. Die Besatzung Belgiens und die 29.08.1941: Reaktion der belgischen Bevölkerung • Aufenthaltsbeschränkungen werden im ersten Saal abgebildet. • Sperrstunde für Juden Der zweite Saal zeigt die Maßnah- • Begrenzung der jüdischen men, die gegen die jüdische Bevölke- Bevölkerung auf vier Städte rung eingeleitet wurden. Im dritten (Brüssel, Antwerpen, Lüttich und Saal werden die rund 28 Transporte Charleroi) von Mechelen nach Auschwitz darge- stellt. 25.11.1941: Der Fokus dieses Berichts liegt ex- • Staatlich verordnete Errichtung emplarisch auf dem zweiten Saal, einer Vereinigung der Juden der uns in erschreckender Weise die • Selbstverwaltung der jüdischen Systematik und bürokratische Skru- Bevölkerung zur weiteren pellosigkeit der Judenverfolgung Separierung von der Gesamt- vor Augen geführt hat. Diese wird bevölkerung 22
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