ÄRZTE IN AUSCHWITZ. DER NATIONALSOZIALISMUS UND DIE MEDIZIN IM "DRITTEN REICH" - EXKURSION DES INTEGRIERTEN BEGLEITSTUDIUMS ANTHROPOSOPHISCHE ...

 
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ÄRZTE IN AUSCHWITZ.
DER NATIONALSOZIALISMUS
UND DIE MEDIZIN
IM „DRITTEN REICH“

EXKURSION DES
INTEGRIERTEN BEGLEITSTUDIUMS
ANTHROPOSOPHISCHE MEDIZIN

26.-29. MÄRZ 2012

gefördert durch
ÄRZTE IN AUSCHWITZ. DER NATIONALSOZIALISMUS UND DIE MEDIZIN IM "DRITTEN REICH" - EXKURSION DES INTEGRIERTEN BEGLEITSTUDIUMS ANTHROPOSOPHISCHE ...
Ist das ein Mensch?

Ihr, die ihr gesichert lebet
In behaglicher Wohnung;
Ihr, die ihr abends beim Heimkehren
Warme Speise findet und vertraute Gesichter:
   Denket, ob dies ein Mann sei,
   Der schuftet im Schlamm,
   Der Frieden nicht kennt,
   Der kämpft um ein halbes Brot,
   Der stirbt auf ein Ja oder Nein.
   Denket, ob dies eine Frau sei,
   Die kein Haar mehr hat und keinen Namen,
   Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat,
   Leer die Augen und kalt ihr Schoß
   Wie im Winter die Kröte.
   Denket, daß solches gewesen.
Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen.
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet
In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen,
Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht;
Ihr sollt sie einschärfen euren Kindern.
   Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen,
   Krankheit soll euch niederringen,
   Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.

            aus Primo Levi: Ist das ein Mensch?
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GELEITWORT

Primo Levi, überlebender Häftling         werden kann. In diesem Sinne such-
der       Konzentrationslager       in    te die Studienfahrt, einen Beitrag für
Auschwitz, hinterließ in „Ist das ein     ihr Studium und damit ihre Vorbe-
Mensch?“ einen Auftrag. Es ist (kein      reitung auf ihr künftiges Berufsle-
primär äußerer, gleichwohl) ein ge-       ben als z.B. Ärzte oder Wirtschafts-
waltiger Bildungsauftrag, der sich „in    wissenschaftler zu leisten.
eurem Herzen“ vollziehen möge: die
Frage nach dem Menschen und seinem        Herzlicher Dank sei ausgespro-
Wesen immer wieder neu zu erwe-           chen: an Prof. Peter Selg, Leiter des
cken und zu bewegen – sich vor Au-        Ita Wegman Instituts für anthro-
gen zu führen, was unvorstellbar er-      posophische     Grundlagenforschung
scheint, jedoch menschenmöglich ist;      und Dr. Krzysztof Antończyk,
nach Antworten zu suchen, wie das         Leiter des digitalen Archivs des Mu-
in Auschwitz und an anderen Orten         seum Auschwitz für ihre umsich-
Geschehene möglich wurde; wie Ähn-        tige Gesamtgestaltung, Beiträge
liches heute und zukünftig verhin-        und Begleitung; an den Zeitzeugen
dert werden kann.                         Prof. Wacław Długoborski und an
                                          alle inhaltlich Beitragenden des
Die Exkursion «Ärzte in Auschwitz.        Museum Auschwitz; an Stefan Rott
Der Nationalsozialismus und die           für seine Initiative, Tatkraft und
Medizin im „Dritten Reich.“» führ-        Konstanz in der Vorbereitung und
te Studierende der Universität            Durchführung der Studienfahrt; an
Witten/Herdecke und weitere Teil-         Barbara Pfrengle-Längler für ihre
nehmer zu jenen Orten und Räumen,         stetige und umsichtige Hintergrund-
an denen sich tiefste menschliche Ab-     arbeit; an Isabel Martin für ihre
gründe auftaten und millionenfach         spontane Bereitschaft, helfend ein-
Tragödien ereigneten. Ärzte waren         zuspringen; an die Mitarbeiter des
dabei zentral beteiligt: unter Preisga-   Zentrum für Dialog und Gebet sowie
be ihres humanitären Auftrags, sich       an alle organisatorisch Mithelfen-
politischem Willen einordnend – oder      den; an alle an dieser Dokumentati-
unter allerschwierigsten Bedingun-        on Mitwirkenden, insbesondere an
gen so gut als irgend möglich Hilfe       das Redaktionsteam Myriam Estko,
leistend.                                 Stefan Rott & Jonathan Niehaus;
                                          sowie    an     den    Kooperations-
In der vorliegenden Dokumentation         partner Studium fundamentale der
wird von den Teilnehmern u.a. zum         Universität Witten/Herdecke.
Ausdruck gebracht, was sich in ih-
ren Innenräumen entzündete: ein           Besonderer        und     herzlicher
Ringen um Verständnis des schier          Dank      gebührt     der    Stiftung
unfassbaren Geschehens. Insbeson-         „Erinnern ermöglichen“ – sie stellte
dere zeigt sich auch ihre Suche nach      in großzügiger Weise einen finanziel-
Richtungen und Wegen für ihre eige-       len Rahmen zur Verfügung, der vie-
ne Zukunft. Eine Zukunft, die ausge-      len Studierenden die Teilnahme an
stattet werden will mit erhöhtem Be-      dieser tiefgreifenden Exkursion nach
wusstsein, vertieftem Mit-Empfinden       Auschwitz ermöglichte.
und verstärktem Mut – mit einem
„historischen Gewissen“ als Funda-                 Diethard Tauschel
ment, das handlungsleitend für die                 für das Integrierte Begleitstudium
Aufgabenstellungen der heutigen Zeit               Anthroposophische Medizin

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INHALT

Ein Vorwort			                Seite 5-6
                                          Unser Programm		                Seite 7
„Weshalb bin ich nach Auschwitz
gereist?“			                Seite 8-9
                                          Ein erster Rundgang: Besuch
                                          in Auschwitz I und Birkenau
Vortrag und Gespräch mit dem              			                        Seite 10-11
ehemaligen Auschwitz-Häftling
Prof. Waclaw Dlugoborski Seite 12-16
                                          Besuch im ehemaligen Konzentrations-
                                          lager Auschwitz I        Seite 17-18
Historikerin Halina Jastrzebska
über den Häftlingskrankenbau in
Auschwitz I		               Seite 18-19   „Was bedeutet das Thema
                                          „Ärzte in Auschwitz“ für mich
                                          als werdender Arzt?“       Seite 20-21
Der belgische Pavillion    Seite 22-23
                                          Zum medizinischen Denken und zur
                                          medizinischen Anthropologie zu Be-
Eduard Wirths & Hermann Langbein.         ginn des 20. Jahrhunderts. Ein Vortrag
Ein Vortrag von Prof. Peter Selg          von Prof. Peter Selg.       Seite 24-26
			                         Seite 26-27
                                          „Wo erlebe ich heute, in Gedenken an
                                          Auschwitz, in meiner Tätigkeit als Arzt
                                          diskursbedürftige Themen?“
Besuch im ehemaligen Vernichtungs-        			                         Seite 28-29
lager Birkenau		         Seite 30-32

                                          Block 28. Der Häftlingskrankenbau
„Wie stehe ich der Tatsache gegenüber,         			                   Seite 33-34
dass ein Teil unseres medizinischen
Wissens auf grausamen Menschen-
versuchen basiert?“         Seite 35-36
                                          Gedenkzeremonie             Seite 37-41

Lieber Uropa, ...           Seite 42-45
                                          „Wieso ich hier bin.“
                                          Von Dr. phil. Krzysztof Antonczyk
NS-Medizin in Auschwitz / Medizin         			                        Seite 46-47
und Ethik – vor, in & nach Auschwitz.
Ein Vortrag von Prof. Peter Selg		        „Wie verändert Auschwitz mich und
			                         Seite 48-49   mein Berufsverständnis“
                                          			                       Seite 50-51
Buch- und Literaturtipps
			                      Seite 53-54
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EIN VORWORT		                              von Prof. Dr. med. Peter Selg

Ein Seminar zur Medizinethik in            eindeutig widerlegt. Tatsächlich wa-
Auschwitz-Birkenau durchzuführen,          ren die Mediziner in Deutschland
versteht sich nicht von selbst. Was        nicht nur in einem viel weitergehen-
kann ein solcher Ort zur Themati-          den Ausmaß, als dies nach 1945 ein-
sier-ung von Fragen beitragen, die         geräumt wurde, vom nationalsozia-
die Inhalte, Aufgaben und Grenzen          listischen, rassistischen, eugenischen
medizinischen Denkens und Han-             und sozialdarwinistischen Denken
delns betreffen – ein Ort, an dem ca.      erfasst worden, sondern auch im
1,5 Millionen Menschen systematisch        „Geist“ einer Ausbildung erzogen, die
umgebracht wurden und an dem               Folgen hatte. Viktor von Weizsäcker
die Heilkunst eine zu vernachlässi-        schrieb bald nach 1945 in einer der
gende, ja pervertierte Rolle spielte?      ersten kritischen Stellungnahmen
Bekanntlich waren es deutsche SS-          zu den Menschenversuchen und zur
Ärzte, die in Auschwitz keinesfalls        Tötung der Behinderten, Kranken
therapierten, sondern grausame Ex-         und als „lebensunwert“ Erachte-
perimente mit den Häftlingen an-           ten: „[…] Es kann kein Zweifel dar-
stellten – und an den Rampen von           über bestehen, dass die moralische
Birkenau, aber auch in den Baracken        Anästhesie gegenüber den Leiden
der Gefangenen, über Leben und Tod         der zu Euthanasie und Experimen-
richteten, d.h. die letztgültigen Selek-   ten Ausgewählten begünstigt war
tionsentscheidungen für den Tod in         durch die Denkweise einer Medizin,
den Gaskammern trafen. Eine Medi-          welche den Menschen betrachtet wie
zinethik ausgerechnet in Auschwitz         ein chemisches Molekül oder einen
begründen oder wenigstens bewegen          Frosch oder ein Versuchskaninchen.“
zu wollen, erscheint nach gerade ab-       Es gehe darum, so von Weizsäcker
surd – kein Ort ist dafür vordergrün-      1947, den „Geist der Medizin zu
dig weniger geeignet als das Symbol        prüfen“ – „dieser unsichtbar auf der
der nationalsozialistischen Vernich-       Nürnberger Anklagebank sitzenden
tungspolitik und der größte Friedhof       Geist – der Geist, der den Menschen
der Erde.                                  nur als Objekt nimmt – ist nicht nur
                                           in Nürnberg im Spiele, er durch-
Dennoch erschien uns in der Vor-           setzt die ganze Welt in fein verteilter
bereitung des Seminars möglich,            Form... “
wichtig und notwendig, die Exis-
tenzfragen der Medizin auch in             Das Seminar in Auschwitz sah – neben
Auschwitz-Birkenau zu stellen – weil       einer umfassenden Wahrnehmung
sie hier eine besondere Deutlichkeit       des Ortes und der Begegnung mit
und Prägnanz bekommen hat. Die             einem prominenten Überlebenden –
in den unmittelbaren Nachkriegs-           Unterrichtseinheiten zur Geschichte
jahren, ja über mehr als zwei Jahr-        des medizinisch-anthropologischen
zehnte von der deutschen Ärztekam-         Denkens und der medizinischen
mer tradierte Auffassung, dass die         Ethik im 19. und 20. Jahrhundert
Verbrechen der im Nürnberger Ärz-          vor – aber auch Vorlesungen zu den
teprozess angeklagten Mediziner das        ärztlichen Biographien von Men-
Werk einzelner Ausnahmeerschei-            schen, die in Auschwitz tätig wurden,
nungen – als Folgen persönlicher           auf Seiten der Herrschenden, aber
Psychopathie – gewesen und damit           auch der Opfer. Thematisiert wurden
abzuschließen seien, wurde spät, aber      nicht nur die Denk- und Handlungs-

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weisen der SS-Mediziner, sondern         nen Bedingungen mehr als schwierig
auch der Häftlingsärzte, von denen       war. Diese Bedingungen näher ken-
viele unter katastrophalen Bedin-        nen zu lernen – und zugleich die ärzt-
gungen ein Möglichstes zur Rettung       liche Aufgabe und Haltung in ihnen,
ihrer Mitgefangenen taten. Durch die     gehörte zur zentralen Themenstel-
Historiker des Archivs der Gedenk-       lung des Seminars.
stätte fanden Führungen durch die
einzelnen Einrichtungen des „Häft-       Die Erfahrungen von Auschwitz sind
lingskrankenbaues“ statt, in denen       spezifisch; sie sind Teil einer unaus-
sich unermessliche Tragödien, aber       denkbaren Extremsituation und von
auch heroische Bemühungen abspiel-       daher schwer oder nicht in „zivile“
ten, Menschenleben unter ungüns-         und heutige Bereiche medizinischen
tigsten Bedingungen zu schützen.         Denkens und Handelns übertrag-
Die Mitarbeiter des digitalen Archivs    bar. Auf der anderen Seite sensibi-
der Gedenkstätte unter Leitung von       lisieren sie in hohem Maße für die
Dr. phil. Krzysztof Antończyk ar-        Verantwortungen, die im Umgang
beiten seit vielen Jahren daran, der     mit dem Menschen bestehen – insbe-
entindividualisierenden Ausbeutung       sondere in der Sphäre der Medizin,
und Tötung der Auschwitz-Gefan-          in der der Andere, der Kranke und
genen eine Weise der Aufarbeitung        Leidende, noch immer ein poten-
entgegenzusetzen, der die Würde, die     tiell Abhängiger und Ausgeliefer-
Lebensgeschichte, das Gesicht und        ter ist, oder auch ein „Gegenstand“
die Namen der Opfer ein zentrales        naturwissenschaftlicher Forschung.
Anliegen sind. Sie schilderten uns die   Die Machtfrage in der Medizin, aber
Wege vieler Einzelner in Krankheit,      auch die Bedrohung der Heilkunst
Leiden und Sterben, auch in Formen       durch außermedizinische (politische,
des Widerstands, die sich bis in die     gesellschaftliche, wissenschaftliche,
medizinischen Einrichtungen hinein       technologisch-industrielle und öko-
erstreckten.                             nomische) Kräfte ist und bleibt ak-
Deutlich wurde, dass dieser Wider-       tuell – durch Interessen, die die Heil-
stand bis zu einem gewissen Ausmaß       kunde für ihre Zwecke und Absichten
möglich und in jeder Hinsicht sinn-      zu instrumentalisieren versuchen.
voll war. Der Einsatz für das Mensch-    Hier Widerstand zu leisten und zu
liche im Menschen fand auch in           wirklich anthropologischen Ideen-
Auschwitz seine Träger, unter Häft-      bildungen und Haltungen vorzu-
lingsärzten, Pflegern, Schwestern        stoßen, die den Menschen als Men-
und Helfern – auch wenn er ange-         schen in Gesundheit, Krankheit und
sichts der herrschenden Kräftever-       Heilung meinen, gehört unverän-
teilung insgesamt ohnmächtig war         dert zu den Aufgaben und Pflichten
und nur (vergleichsweise) wenigen        der medizinischen Ausbildung und
Einzelnen das Leben retten oder er-      Tätigkeit.
leichtern konnten. Dennoch wurde
die Stimme des Gewissens auch in
Auschwitz vernehmbar, und der „Eid       Peter Selg: geboren 1963 in Stuttgart; von 1986 bis 1991 Studium
des Hippokrates“ gewann für viele        der Humanmedizin an der Universität Witten/Herdecke, an der
Häftlingsärzte hier eine neue Bedeu-     Charité Berlin und in Zürich; Facharzt für Kinder- und Jugend-
                                         psychiatrie; Lehrtätigkeiten im Integrierten Begleitstudium Anthro-
tung und einen neuen Klang – obwohl
                                         posophische Medizin und im Studium fundamentale an der Uni
seine Umsetzung unter den gegebe-
                                         Witten/Herdecke sowie an der Alanus Hochschule für Kunst und
                                         Gesellschaft (Alfter bei Bonn); seit 2006 Leitung des Ita Wegman
                                         Institut für anthroposophische Grundlagenforschung (Arlesheim)

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UNSER PROGRAMM
                                 Ärzte in Auschwitz. Der Nationalsozialismus und die Medizin im „Dritten Reich“

                                      26. März 2012                                                  27. März 2012

                                       13:30 - 14:30                                                   9:00 – 12:00
                                 Regelung des Finanziellen I                            Besuch im ehemaligen Lager Auschwitz I
                               (Zentrum für Dialog und Gebet)                             (Halina Jastrzębska und Ewa Pasterak)

                                           14:30                                                      12:00 – 13:30
                               Treffen mit allen Teilnehmern                            Mittagessen (Zentrum für Dialog und Gebet)
                           vor dem Zentrum für Dialog und Gebet
                                gemeinsamer Aufbruch zum                                              13:30 – 15:00
                                                                                              Vortrag von Halina Jastrzebska
                                      15:00 – 16:45                                              „Häftlingskrankenbau“
                             Besuch im ehemaligen Birkenau                                 (Vortragsraum Block 12, Auschwitz I)

                                       17:00 – 18:00                                                 15:00 – 16:00
                                      Dokumentation                             Ausstellungen in den staatlichen Pavillions – Auschwitz I
                             Individual- & Kleingruppenarbeit                                          (individuell)
                               (Zentrum für Dialog und Gebet)
                                                                                                     16:00 - 16:30
                                      18:00 – 19:00                                        Café Pause (Vortragsraum Block 12)
                         Abendessen (Zentrum für Dialog und Gebet)
                                                                                                     16:30 – 17:30
                                       19:00 – 20:30                                          Vortrag von Prof. Peter Selg
                       Vortrag und Treffen mit einem Zeitzeugen                      “Die Situation medizinischen Denkens und
                                 Prof. Wacław Długoborski                           medizinischer Anthropologie zu Beginn des 20.
                    ehemaliger Auschwitz Häftling (HKB BIIf in Birkenau)                            Jahrhunderts”
                               (Zentrum für Dialog und Gebet)                                   (Vortragsraum Block 12)

                                                                                                     18:00 – 19:00
                                                                                        Abendessen (Zentrum für Dialog und Gebet)

                                                                                                      19:00 – 19:45
                                                                                                     Dokumentation
                                                                                            Individual- & Kleingruppenarbeit
                                                                                              (Zentrum für Dialog und Gebet)

                                                                                                     20:00 – 21:00
                                                                                               Vortrag von Prof. Peter Selg
                                                                                        „Eduard Wirths and Hermann Langbein”
                                                                                             (Zentrum für Dialog und Gebet)
                   Ärzte in Auschwitz.
                             Ärzte in Auschwitz.
                                       Der Nationalsozialismus
                                                 Der Nationalsozialismus
                                                               und die Medizin
                                                                         und dieim
                                                                                 Medizin
                                                                                   „Dritten
                                                                                         imReich“
                                                                                            „Dritten Reich“
                                            Frühstück im Zentrum für Dialog und Gebet jeweils von 07:45 – 08:30h
                        28. März 2012
                                   28. März 2012                                                    29. März 2012
                                                                                                               29. März 2012

                        9:00 – 12:309:00 – 12:30                                                    8:30 - 9:30 8:30 - 9:30
           Besuch im ehemaligen
                      Besuch im ehemaligen
                                  Lager Birkenau
                                              Lager Birkenau                                Regelung desRegelung
                                                                                                           Finanziellen II
                                                                                                                    des Finanziellen II
           (Halina Jastrzębska
                       (Halina Jastrzębska
                               und Ewa Pasterak)
                                           und Ewa Pasterak)                               (Zentrum für (Zentrum
                                                                                                         Dialog und
                                                                                                                  fürGebet)
                                                                                                                      Dialog und Gebet)

                        12:30 – 14:0012:30 – 14:00                                                  9:30 – 11:309:30 – 11:30
                      (Zentrum für (Zentrum
          Mittagessen Mittagessen   Dialog und
                                             fürGebet)
                                                 Dialog und Gebet)                                 DokumentationDokumentation
                                                                                          Individual- &Individual-
                                                                                                         Kleingruppenarbeit
                                                                                                                    & Kleingruppenarbeit
                       14:00 – 15:0014:00 – 15:00                                           (Zentrum für (Zentrum
                                                                                                          Dialog und
                                                                                                                   fürGebet)
                                                                                                                       Dialog und Gebet)
                     Halina Jastrzębska
                                 Halina Jastrzębska
                   HKB Block 28
                              HKB- Besuch
                                    Block 28 - Besuch                                                  12:00         12:00
                                                                                          Abreise zum Abreise
                                                                                                      Flughafen
                                                                                                              zum Kattowitz
                                                                                                                    Flughafen Kattowitz
                      15:00 - 15:30
                                  15:00 - 15:30                                            Zentrum für Dialog
                                                                                                        Zentrumund
                                                                                                                 fürGebet
                                                                                                                     Dialog und Gebet
               Gedenkzeremonie
                         Gedenkzeremonie
                                (Todeswand)(Todeswand)

                       15:30 – 15:4515:30 – 15:45
                         (Vortragsraum
             Kaffeepause Kaffeepause (Vortragsraum
                                       Block 12)   Block 12)

                          15:45 – 16:4515:45 – 16:45
                  Vortrag von Prof.
                               Vortrag
                                     Peter
                                        vonSelg
                                            Prof. Peter Selg
    „Dr. Nyiszli „Dr.
                 - EinNyiszli
                       Pathologe
                              - EininPathologe
                                      Auschwitz-Birkenau“
                                                in Auschwitz-Birkenau“
                    (Vortragsraum(Vortragsraum
                                    Block 12)    Block 12)

                        17:00 – 18:0017:00 – 18:00
                Vortrag von Prof.
                             Vortrag
                                   Peter
                                      vonSelg
                                          Prof. Peter Selg
       NS-Medizin NS-Medizin
                  in Auschwitz in/Auschwitz
                                    Medizin und
                                              / Medizin
                                                  Ethik und Ethik
              - vor, in und- vor,
                             nachinAuschwitz)
                                     und nach Auschwitz)
                  (Vortragsraum(Vortragsraum
                                  Block 12)   Block 12)

                       18:00 – 19:0018:00 – 19:00
                     (Zentrum für (Zentrum
          Abendessen Abendessen    Dialog und
                                            fürGebet)
                                                Dialog und Gebet)

                        19:00 – 21:00
                                    19:00 – 21:00
                  Vortrag und Vortrag
                              Konversation
                                      und Konversation
                             von Dr.
                 von Dr. Krzysztof   Krzysztof Antończyk
                                   Antończyk
                                “Wieso
                    “Wieso ich hier     ich hier bin”
                                     bin”
           Der
Der Sinn und   Sinn und menschlicher
             menschlicher   Wert unsererWert  unserer
                                          Arbeit      Arbeit in Auschwitz
                                                 in Auschwitz
                  PersönlichePersönliche
                              ErfahrungenErfahrungen

                                                                           7
                                Frühstück im
                                          Frühstück
                                             Zentrumim
                                                     für
                                                       Zentrum
                                                         Dialog und
                                                                für Dialog
                                                                    Gebet jeweils
                                                                           und Gebet
                                                                                  von jeweils
                                                                                       07:45 –von
                                                                                               08:30h
                                                                                                  07:45 – 08:30h
ÄRZTE IN AUSCHWITZ. DER NATIONALSOZIALISMUS UND DIE MEDIZIN IM "DRITTEN REICH" - EXKURSION DES INTEGRIERTEN BEGLEITSTUDIUMS ANTHROPOSOPHISCHE ...
„WESHALB BIN ICH NACH AUSCHWITZ GEREIST?“

“Dann frage ich mich oft: und warum        auch der Revolutionskraft so nahe
bin ich hier? Warum bin ich jetzt hier,    zu sein. Doch zurück im Alltag, wie
höre mir das an? Und im gleichen           kann es da aufrecht gehalten wer-
Moment bin ich dankbar. Dankbar,           den? Manchmal sehe ich mich in mei-
Zugang zu dieser Frage zu finden.          nen Träumen in der U-Bahn stehen,
Denn meist bringt sie mich raus aus        oder auch vor einem Chefarzt, und
der Passivität. Und es gibt keine kla-     Reden schwingen: von der Liebe und
re Antwort auf die Frage, doch viele       der Freiheit, der Verantwortung. Es
Ansätze. Es fällt mir jetzt schwer,        sollen Reden aus dem Herzen sein, so
hierüber zu schreiben, denn ich            dass sie die anderen Herzen berüh-
möchte nicht platt klingen. Es geht        ren. Ach, und wie selten schaffe ich
letztendlich wohl um die Verantwor-        es dann wirklich, so zu sprechen.“
tung. Unsere Freiheit liegt auch da-                        von Pia Hartmann
rin, den Dingen einfach ins Auge zu
sehen. Die Welt so intensiv zu sehen,
wie sie ist und lebt und auch stirbt.
Und daraus unsere Schlüsse zu zie-
hen. Manchmal wäre es leichter, et-
was nicht zu wissen. Das Leben wäre
bequemer, lebte sich einfacher. Und
dann hier zu sein, die Dinge zu sehen
und daraus meine Schlüsse zu zie-
hen. Immer verantwortlicher mit die-            Marie Therese Georgii, fotografiert von Pia Hartmann

ser Welt und der Freiheit umgehen.
Letzte Woche habe ich einen klu-           „Um zu verstehen, welche Umstände
gen Menschen sagen gehört: „Und            dazu geführt haben, dass Menschen
die Aufgabe der Menschheit ist es,         mit Empathie, Menschlichkeit und
mit der großen Freiheit und Krea-          dem Willen, anderen Menschen zu
tivität, dem Schöpfertum, umgehen          helfen (als ethische Grundregel eines
zu lernen. Die Themen unserer Zeit         Arztes), so sozialisiert werden, dass
als Mensch sind die Freiheit und           sie in dem System funktionieren – ja,
die Liebe.“ Und da fand ich es nicht       mehr sogar – das System mit eigener
verwunderlich, dass doch die Frei-         Überzeugung und dem Gefühl, das
heit und die Liebe auch immer wie-         Richtige zu tun, selber leben. Mehr
der meine größten Lebensthemen             oder weniger.“
sind – auf den unterschiedlichsten                          von Inga Krauß
Ebenen, und ich mich auch hier in
Auschwitz doch ständig mit diesen          „Ich bin nach Auschwitz gefah-
Themen beschäftige.                        ren, um mich mit den Abgründen
Ich merke, wie ich euphorisch wer-         menschlichen Handelns zu konfron-
de. Es gibt so vieles aufzuschreiben.      tieren. Für mich stand bei meiner
Ja, wenn es einen Grund gibt, hier         Fahrt nach Auschwitz im Zentrum,
zu sein, dann um zu sehen und zu           welche Konsequenzen ich als Mensch
verstehen. Um meine eigene Kraft           und angehender Arzt aus Auschwitz
wahrzunehmen, wenn ich zurück bin,         für mich, meine Lebensführung und
im Alltagstrott. Ja, hier fällt es nicht   mein Handeln ziehen kann.“
schwer, große Gedanken zu hegen.
Dem Mensch-Sein, dem Greuel, aber                           von Demian Buchner

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ÄRZTE IN AUSCHWITZ. DER NATIONALSOZIALISMUS UND DIE MEDIZIN IM "DRITTEN REICH" - EXKURSION DES INTEGRIERTEN BEGLEITSTUDIUMS ANTHROPOSOPHISCHE ...
„Um Wachsamkeit und Mut zu be-            „Auf der Rückreise habe ich am Flug-
kommen. Um Kraft und Motivation           hafen von Kattowitz Konstantin We-
für Zivilcourage zu bekommen, damit       cker (Text: Lothar Zanetti) gehört
ich in den ganz gewöhnlichen Situa-       und mir die Verse eines Liedes von
tionen des Alltags und auch in den        ihm in mein Notizbuch geschrieben:“
außergewöhnlichen des Krieges, des
sozialen Umbruchs usw., stets men-        Was keiner wagt, das sollt ihr wagen,
schenwürdig und menschenfreund-           Was keiner sagt, das sagt heraus,
lich handeln und agieren kann – so,       Was keiner denkt, das wagt zu
dass ich nie mein Gesicht vor mir         				denken,
verlieren muss. Ich habe mir zum          Was keiner anfängt, das führt aus.
Ziel gesetzt, dass ich mir von dieser
Exkursion einen Teil Zivilcourage         Wenn keiner ja sagt, sollt ihrs sagen,
mitnehme, die für Wachsamkeit und         Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein,
Mut in solchen Situationen elemen-        Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben,
tar wichtig ist!“                         Wenn alle mittun, steht allein.

             von Inga Krauß               Wo alle loben, habt Bedenken,
                                          Wo alle spotten, spottet nicht,
                                          Wo alle geizen, wagt zu schenken,
                                          Wo alles dunkel ist, macht Licht!
„Eigentlich gab es für mich gleich
mehrere Gründe an der Exkursi-                         von Inga Krauß
on nach Auschwitz teil zu nehmen.
Zum einen ist da dieses Gefühl, dass
es wichtig ist, mich mit der eigenen      TAGEBUCHEINTRAG
Geschichte zu beschäftigen, eigene
Geschichte deshalb, weil sie durch        26.3., kurz nach der Ankunft
meine Vorfahren aber auch durch
die Kultur, in der ich aufwachse und      Ehrfurcht, die sich so stark und all-
lebe, Einfluss auf mich genommen          durchdringend aufdrängt, dass ich
hat und noch immer nimmt.                 denke, dass sie kaum nur durch
Dazu kommt seit der Schulzeit das         mein beschränktes Wissen, was an
Gefühl, das in der Zeit des Natio-        diesem Ort geschehen ist, entstehen
nalsozialismus Geschehene, kaum           kann. Es “lebt” hier etwas, das sich
begreifen zu können, der Wunsch,          kaum leugnen lässt. Ähnlich wie ich
vielleicht ein wenig ein Gefühl zu fin-   mich in einer Kirche fühle, in einem
den für einen Ort wie Auschwitz, ein      Tempel, einem heiligen Ort, fühle ich
kleines eigenes Bild.                     mich hier tatsächlich – nicht wie an
Und dann empfinde ich die be-             einem der finstersten Orte mensch-
wusste Beschäftigung mit den Ab-          lichen Wirkens.
gründen, die in jedem Menschen            Alles, das nicht echt, nicht wahrhaf-
lauern und ihre grausamen Auswir-         tig ist, fällt ab von mir (von uns?),
kungen haben können, auch in mir,         ich gehe hier (gefühlt) gekleidet in
als einen zentralen Teil meines Stu-      Schwarz, als Mensch – in einem viel
diums. Auch im Hinblick auf den           unmittelbareren,      unmaskierteren
Wunsch, später einmal ärztlich tätig      Sinne als im Alltag umher. (Wie als
zu sein und mein eigenes Handeln in       Myste, Geheimschüler an einer Ein-
jedem Moment selber überprüfen zu         weihungsstätte.)
müssen.“                                  Doch auch: Langsam und tief atmend,
                                          Lächeln will (noch?) nicht recht aus
                                          der Tiefe kommen.
             von Myriam Estko             Die Sonne leuchtet anders.
                                                       von Johannes Brockhaus

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ÄRZTE IN AUSCHWITZ. DER NATIONALSOZIALISMUS UND DIE MEDIZIN IM "DRITTEN REICH" - EXKURSION DES INTEGRIERTEN BEGLEITSTUDIUMS ANTHROPOSOPHISCHE ...
EIN ERSTER RUNDGANG           Besuch in Auschwitz I
und Birkenau am 26. März 2012

Es ist ein sonniger Tag. Vor dem La-      Hier in Birkenau zeigt sich der Un-
ger stehen einige Trauerweiden, ein       terschied schneller. Das riesige Ge-
paar Bänke und alles wirkt eher wie       lände ist atemberaubend groß, und
ein Park als ein Ort des Grauens.         doch wirkt es klein für die Vielzahl
Dann betreten wir die Anlage, be-         an Leuten, die es einmal beherbergt
gleitet von Dr. Krzysztof Antonczyk,      hat. Die starken, hohen, eindrückli-
Historiker und Leiter des digitalen       chen Stacheldrahtzäune zeigen die
Archivs in Auschwitz. Wir erwar-          Ausweglosigkeit und die Gefahr, die
teten ein Gefühl der Beklemmung,          sich hier verbarg.
vielleicht sogar Angst. Aber davon
war jetzt noch nichts zu spüren. Das      Wir sehen die Schwarz-Weiss-Auf-
bekannte Schild mit der Aufschrift        nahmen von der „Neuen Rampe“ und
„Arbeit macht frei“ steht gespens-        der Ankunft der 400.000 ungarischen
tisch über dem Tor zum eingezäun-         Juden. Aber hier ist es bunt. Die Son-
ten Lager. Wir gehen unter ihm hin-       ne scheint und der Himmel ist blau.
durch und können nicht begreifen,         Der Frühling kommt. Hier soll so et-
wie viele Schicksale unter diesem         was Schreckliches passiert sein?
schon durchgelaufen sind und welche       An der Rampe steht noch ein Wagon,
Tragödien sich hier abgespielt haben.     in dem die Deportierten das Lager
Dr. Antonczyk führt uns ein we-           Birkenau erreichten. Auf der Radna-
nig herum. Wir gehen zwischen den         be des Wagons lesen wir „Friedrich-
Reihen von Baracken hindurch. Sie         Wilhelms-Hütte Mülheim Ruhr“.
wirken groß und gepflegt. Mit dem         Das ist wie ein Stich ins Herz, denn
Rasen und den Bäumen davor er-            auch wir kommen aus dem Ruhr-
innern sie uns an die Arbeitersied-       gebiet. Ein Schuldgefühl kommt auf.
lungen im Ruhrgebiet. Daraufhin           Denn das Ruhrgebiet hat profitiert,
sehen wir den „Swimming Pool“, der        es ist deshalb so groß geworden, weil
den Besuchern von Auschwitz I ein         es u.a. Wagons wie diese hergestellt
harmloses Lager suggerieren sollte.       hat. An diesem ersten Tag fallen die
                                          Eindrücke ziemlich über uns her-
Dieser Einstieg war gut gewählt. Ob       ein. Man versucht sich vorzustellen,
beabsichtigt oder nicht, zeigt er doch    wie so viele an der Rampe selektiert
die Surrealitäten von Auschwitz. Die      wurden. Dass innerhalb von Sekun-
gnadenlose Vernichtung von Mil-           den über Leben und Tod entschieden
lionen unter dem Deckmantel von           wurde. Von so vielen.
Bürokratie und Ideologie.
Man merkt recht schnell, dass es sehr     Wie können Menschen nur zu so
schwer sein wird, all dies zu begrei-     etwas fähig sein? Wie kann man so
fen und festzumachen. Man ist noch        höchstpräzise und akkurat den Ver-
ohne Worte. Hat das Grauen noch           nichtungsprozess von mehreren hun-
nicht fassen können und hat auch          derttausend Menschen planen und
das Gefühl, noch nicht in die Tiefe       durchführen?
des Ganzen vorgedrungen zu sein.
Es sind diese Eindrücke, die wir wei-
ter mitnehmen nach Birkenau.

                                     10
Am Ende besuchen wir die Frauen-
todesbaracke, die auf grässlich ein-
fache Weise zeigt, dass Tod, Demüti-
gung und Folter nicht am Bahnsteig
endeten, sondern bis zum letzten
Atemzug ständiger Begleiter waren.
Von ihrer Würde verabschiedeten sie
sich bereits an den Heimatbahnhöfen
vor der Deportation nach Auschwitz.

Dieser erste Besuch hat uns mit vie-
len Fragen zurück gelassen. Aber
auch mit einem Gefühl von Trauer,
Unverständnis, Sprachlosigkeit und
Abscheu.

            von Ina Riesenberg,
            Marcus Werner und Lisa Willuhn

                                              senden; aussteigen, selektieren, nur
TAGEBUCHEINTRAG                               wer noch Nutzen bringt für den Ap-
                                              parat, darf überleben (für eine Zeit),
                                              der Rest schreitet fort – in die Gas-
                                              kammern, als Auswurf; Haare und
26.3., 18h, nach einem ersten Rund-
                                              Kleider und Zähne (sofern sie Edel-
gang durch Birkenau
                                              metall tragen) vorher entfernt und
                                              zur gewinnbringenden Verwertung
Beim Durchschreiten des Torbogens
                                              eingesetzt / verkauft.
und auf dem Betonweg entlang der
                                              Und was für wunderbare, einzigarti-
Schienen packt es mich.
                                              ge Menschen gehen hier zu Hundert-
Hier ist der Ort.
                                              tausenden in den grausamsten Tod,
Die Sprache verblasst, unsere Grup-
                                              den ich mir vorstellen kann!
pe zieht sich auseinander, viele ge-
                                              Wie kann ich noch fröhlich sein, mit
hen allein, mit langsamen, großen
                                              welchem Recht?
Schritten.
                                              Es ist anders, sehr anders in
Ich fühle Schmerz, kann den Gedan-
                                              Birkenau, als im KZ Auschwitz I; be-
ken nicht ertragen an das, was Men-
                                              drückender, erdrückender. Aber auch
schen hier an Menschen getan ha-
                                              hier ist ein „heiliger Ort“, deutlich
ben. Ich rede nicht mehr, schau nur,
                                              negativer belegt, hier wäre Lachen,
fühle. Was ist alles Theoretisieren,
                                              wäre ein schlechter Scherz noch un-
was sind Gedanken, Auge in Auge
                                              erträglicher – und kommt auch nicht
mit diesem Ort?
                                              vor in den zwei Stunden, die wir über
Die Gewaltigkeit und monotone, kah-
                                              das Gelände schreiten. Kaum hört
le Zweckmäßigkeit der Anlage ist er-
                                              man Vögel.
drückend, wirklich wie eine gewalti-
                                              Aber die Sonne scheint, über den ro-
ge Maschine, eine unheilige Fabrik.
                                              ten Ziegelbaracken.
Hinein durch den Torbogen in Vieh-
wagons, zu Tausenden und Abertau-                           von Johannes Brockhaus

                                         11
VORTRAG UND GESPRÄCH MIT DEM EHEMALIGEN
AUSCHWITZ-HÄFTLING Prof. Waclaw Dlugoborski

Prof. Waclaw Dlugoborski, geboren         Kanalarbeiter im Lager B II b – das
1926, berichtet uns bereits am ersten     Lager der tschechischen Juden aus
Abend unserer Exkursion von seinem        Theresienstadt. Prof. Dlugoborski
Leben im Lager.                           berichtet von diesen Menschen, die
Prof. Dlugoborski kam am 28.              viel Wert darauf legten, sich – anders
August des Jahres 1943 als pol-           als die ihm bisher bekannten pol-
nischer Häftling in das Lager             nischen Juden aus Warschau – in die
Auschwitz-Birkenau. Zunächst er-          Gesellschaft zu integrieren, zu assi-
zählt er uns von den verschiedenen        milieren, wie er sich ausdrückt. Hier
Blöcken des Lagers und den jeweils        fand er auch Freunde, die er sehr zu
dort untergebrachten Menschen.            schätzen wusste.
Seine Reise in Auschwitz begann im        Er erzählt auch von den Lebens-
Lager B II a – dem Quarantäne-Lager.      mittelpaketen, die die polnischen
Für ihn sind die zwei Monate, die er      Häftlinge nach der Quarantänezeit
hier im September und Oktober 1943        bekommen durften. Zunächst alle
verbrachte - neben den Erinnerungen       2-3 Monate eines, später auch mo-
an seine schwere Erkrankung – die         natlich. Diese Pakete wurden von
schlimmsten und hoffnungslosesten         Himmler verordnet – nicht zuletzt,
während des gesamten Aufenthaltes         um die Arbeitsfähigkeit der Häft-
in Birkenau. Im Quarantäne-Lager          linge zu bessern. Der Tag, an dem
wurde man „auf das Lager einge-           Prof. Dlugoborski das erste Lebens-
stellt“. Die Arbeit in der Kolonne war    mittelpaket erhielt, war ein Tag der
unglaublich schwer – Steine und Kies      Hoffnung.
mussten über weite Strecken unter         Es kam die Zeit der Fleckfieberepi-
Bewachung und unter Hieben der SS         demie in Auschwitz. Auch Familien
transportiert werden. Die Häftlin-        der SS waren betroffen und viele wich-
ge wurden in „Büchsen-Sammelbet-          tige Arbeitskräfte fielen der Krank-
ten“ untergebracht – ohne Decken,         heit zum Opfer. Um die Epidemie
Kissen oder Stroh. Im Lager war es        einzudämmen, wurden die Häftlinge
auch nicht erlaubt, Lebensmittelpa-       gereinigt. „Eine Laus – Dein Tod“.
kete zu erhalten – diese konnten hier     So heißt der Mahnspruch, der auch
jedoch lebensentscheidend sein.           auf Plakaten in den Baracken hing.
Obwohl unser Zeitzeuge nach außen         Das Lager B II d wurde unter Qua-
hin recht nüchtern von dieser Ver-        rantäne gestellt und eine Sauna [im
gangenheit berichtet, wird deutlich,      Sinne einer Reinigungseinrichtung]
dass dies für ihn eine Phase der Hoff-    errichtet, in der die Häftlinge ge-
nungslosigkeit gewesen sein muss.         badet wurden und die Kleidung des-
Nach der Zeit im Lager B II a kam         infiziert. Das Schlimmste an der gan-
er in das Lager B II d – ein Lager für    zen Prozedur waren das Wetter und
arbeitstaugliche Männer. 60-70% der       die entwürdigende Art und Weise, in
Häftlinge waren Juden, der Rest Po-       der die Reinigung vonstatten ging.
len. Sein Arbeitseinsatz erfolgte als

                                     12
Prof. Waclaw Dlugoborski, fotografiert von Pia Marie Hartmann

                                                                 Prof. Waclaw Dlugoborski,
                                                         fotografiert von Jonathan Niehaus

                                                                                13
Die Inhaftierten mussten sich nackt      te. Manche dieser Häftlinge wurden
ausziehen, wurden mit Seife ge-          anschließend in andere Arbeits- bzw.
waschen und anschließend bei 5°          Konzentrationslager des Reiches ge-
Kälte in die nasse Kleidung gezwun-      bracht. Anschließend arbeitete er mit
gen. Viele Häftlinge erkrankten im       einem Zwillingspaar aus Ungarn zu-
Anschluss an diese Reinigungsak-         sammen, mit dem er auch nach dem
tion – so auch unser Zeitzeuge, der      Krieg noch Kontakt haben sollte.
daraufhin mit einer schweren Lun-        Mengele sortierte die Zwillinge sys-
genentzündung in den Krankenbau          tematisch bei den Transporten aus,
B II f verlegt wurde und unter hohem     um anschließend mit ihnen Versuche
Fieber zeitweilig im Koma lag. Diese     durchführen zu können. Zunächst
Zeit war für Prof. Dlugoborski eben-     waren es „harmlose“ Versuche, bei
falls gekennzeichnet durch extreme       denen die Kollegen von Mengele – zu-
Hoffnungslosigkeit. Auch die Ge-         meist Häftlingsärzte – Elemente der
sichter der Pfleger und Ärzte gaben      Gemeinsamkeiten und Unterschiede
keinen Anlass zur Hoffnung mehr.         der Zwillinge in Hinblick auf Blut,
Hinzu kam, dass er die Nahrung           Augenfarbe, Haut etc. überprüfen
aus seinen Lebensmittelpaketen           mussten. Der Plan Mengeles war es
nicht vertrug (diese beinhalteten zu-    jedoch wohl auch, die Zwillinge nach
meist aus Gründen der Haltbarkeit        den Experimenten zu töten und post
nur Schwerverdauliches – Wurst,          mortem in Berlin weiter untersuchen
Speck, Schmalz…). Die Verbindung         zu lassen. Das Ende des Krieges kam
zu seinem Vetter rettete ihm mög-        ihm dazwischen. Heute gibt es eine
licherweise das Leben, denn durch        Gesellschaft der Zwillinge, die da-
ihn konnte er Weißbrot und Butter        mals das gemeinsame Schicksal im
beziehen. Sein Vetter arbeitete im       Lager geteilt haben.
Brotmagazin des Zigeunerlagers           Prof. Dlugoborski berichtet uns auch
B II e. Da Mengele im Krankenbau         von dem Verhältnis der Häftlings-
mit Zwillingen experimentierte und       ärzte zu den Patienten und auch vom
diese, wegen der an ihnen prakti-        Verhältnis der Häftlingsärzte zu den
zierten Experimente besser ernährt       SS-Ärzten. Das Anliegen der meisten
wurden als die anderen Häftlinge,        Häftlingsärzte war es wohl tatsäch-
war es möglich, auch für unseren         lich, sich um das Wohl der Patienten
Zeitzeugen etwas Nahrungsmittel zu       zu kümmern: egal ob jüdischer oder
schmuggeln. Er erholte sich – konn-      polnischer Patient. Aber auch hier
te aber keine schwere Arbeit mehr        gab es Ausnahmen! Untereinander
tun. Dann wurde er – womöglich er-       herrschte Konkurrenz zwischen den
neut unterstützt durch den Einfluss      Häftlingsärzten, es ging hier wohl
seines Vetters – als Arbeitskraft im     auch um die Gunst der SS-Ärzte.
Krankenbau eingesetzt. Die anderen       Insbesondere in den späteren Lager-
arischen Häftlinge aus Polen hinge-      jahren ab 1944 herrschte zwischen
gen wurden zum Wiederaufbau der          Häftlings- und SS-Ärzten ein kolle-
zerbombten Städte „Innerlandes“          giales Verhältnis. Im wissenschaft-
gebracht.                                lichen Gespräch fand man sich. Es
Im Krankenbau war er im Bereich          wurden wissenschaftliche Symposien
der Sauna tätig. Hier arbeitete er       abgehalten und die SS-Ärzte profi-
gemeinsam mit einem Kollegen und         tierten von der zum Teil ausgepräg-
zwei weiteren Häftlingen, die ihm        ten Expertise und dem Können der
zur Seite gestellt wurden. Die ersten    Häftlingsärzte. Diese führten auch
zwei Helfer kamen aus einem Trans-       Schulungen für die SS-Ärzte durch.
port, der etwa 30.000 Personen in        Auch über das Zigeunerlager erzählt
Folge der Niederschlagung des War-       der Zeitzeuge. Das Lager der Sinti
schauer Aufstandes (1. August bis 3.     und Roma war ein besonderes Lager.
Oktober 1944) nach Auschwitz brach-      Selbst Himmler und Hitler wussten

                                    14
wohl nicht so recht, wie sie mit die-      des tschechischen Lagers. Hier wa-
sen Menschen umgehen sollen und            ren viele Menschen noch arbeitsfä-
welche Art von Politik gegen sie ge-       hig. Gleichzeitig benötigte Deutsch-
richtet werden sollte. Die Zigeuner        land zu diesem Zeitpunkt dringend
wollten nicht arbeiten, sie waren im-      Arbeitskräfte. Umso schockierender
mer unterwegs. Sie waren aus Sicht         und unerwarteter kam dann die Li-
der Führung eine minderwertige             quidation des Lagers für die anderen
Rasse, die jedoch von 1939 bis 1940        Häftlinge. Es verdeutlichte die Will-
zunächst auch in der Wehrmacht ein-        kür des Geschehens und nahm den
gesetzt wurde. Später jedoch mussten       Häftlingen die letzte bleibende Hoff-
sie ihre Uniformen abgeben und wur-        nung, dass der Erhalt der eigenen
den nach ihrem Urlaub von der Front        Arbeitsfähigkeit eine Garantie für
nicht zu dieser zurück gebracht, son-      die Zukunft wäre. Alles geschah ganz
dern nach Birkenau transportiert.          leise, man hörte nur das Summen der
Anders als im Lager der tschechi-          Lastwagen…
schen Juden lebten die Familien der        Prof. Dlugoborski berichtet auch
Zigeuner in Birkenau zusammen.             von den Selektionsprozessen, die
In Birkenau wurden Kinder gezeugt          von Mengele und seinen Kollegen
und geboren, mussten jedoch auf-           durchgeführt wurden: Zum einen
grund von Unterernährung in der            wude direkt an der Rampe selektiert.
Folge sterben. Der Zeitzeuge hatte ab      Manchmal wurden ganze Trans-
und zu Kontakt mit dem Zigeuner-           porte direkt in die Gaskammern ge-
lager, beispielsweise, um Medika-          schickt. Auch in den Baracken wur-
mente ins Lager zu bringen, da die         de selektiert. Nach Verhängung der
Zigeuner nicht in den Krankenbau           Blocksperre mussten sich alle Häft-
kamen.                                     linge auf dem Appellplatz aufstel-
                                           len und wurden hierbei nach Jude/
Im Anschluss an den Bericht des            Nicht-Jude getrennt. Die Selektion
Zeitzeugens hatten wir Gelegenheit,        der Tauglichkeit erfolgte ausschließ-
weitere Fragen zu stellen. Wir waren       lich nach dem Prinzip „arbeits-
alle gefangen von der Situation und        tauglich versus arbeitsuntauglich“.
stellten eine Frage nach der anderen,      Auschwitz diente [neben der Vernich-
die Prof. Dlugoborski trotz fortschrei-    tung] vor allem der Bereitstellung
tender Müdigkeit mit viel Geduld           von Arbeitskräften. Juden wurden
beantwortete. Sein an sich flüssiges       dabei im Vergleich zu den anderen
Deutsch geriet zunehmend ins Sto-          Häftlingen deutlich brutaler und ro-
cken...und wir fragten weiter…und          buster von der SS behandelt. Ab 1943
nahmen möglicherweise hierbei viel         mussten Juden die Selektion im La-
zu wenig Rücksicht auf ihn...              ger und an der Rampe sogar selbst
Auf Nachfrage berichtet unser Zeit-        durchführen.
zeuge von der Liquidation der Lager        Die Krematorien von Birkenau be-
der Sinti und Roma sowie der Juden         fanden sich direkt neben dem Kran-
aus Theresienstadt: Es wurde eine          kenbau. Manchmal standen die
Lagersperre angeordnet und alle ar-        Transporte innerhalb des Lagers
beitsfähigen Personen (~3000) ins          „Schlange“, bevor die Gaskammern
Stammlager Auschwitz gebracht. Die         wieder frei wurden. Selektierte Ju-
übrigen etwa 3000 Frauen, Kinder           den mussten teilweise bis zu zwei
und Ältere verblieben im Lager und         Tage im Waschraum ohne Essen und
wurden gegen 7/8 Uhr morgens unter         Trinken auf ihren Tod in der Gas-
Flehen und Weinen und ohne Wider-          kammer warten. Sie beteten, sangen
stand deportiert und anschließend          jüdische Lieder. Schon in Warschau
vergast. Die Liquidation des Zigeu-        wussten die Menschen, dass der Mas-
nerlagers war laut und offenkundig.        senmord auf sie wartet…
Ganz anders jedoch die Liquidation         Die Frage, ob es bei der SS auch

                                      15
„Gute“ gegeben hätte, beantwortet
der Zeitzeuge wie folgt: Es gab zwei
Kategorien der SS-Soldaten, und die
Frage muss unter Berücksichtigung
der Zeit beantwortet werden. In den
ersten Jahren des Krieges gab es ins-
besondere die Soldaten der Waffen-
SS, die für den Kampf an der Front
und die Bewachung der Konzen-
trationslager zuständig waren. Wer
sich im KZ nicht bewährt hatte, wur-
de zum Teil an die Front geschickt.
Das KZ war für die „Erfolgreichen“,
es war „Erholung“. Bis 1943 kamen
SS-Soldaten, die eine tiefgreifende
ideologische Schule durchgemacht
hatten – 10 Wochenenden Rassis-
mus etc. Die SS-Leute taten ihre Sa-
che mit Überzeugung. Diese waren
auch sehr polenfeindlich eingestellt.
Gegen Ende des Krieges gingen den
Deutschen die Soldaten aus. Volks-
deutsche aus Serbien, Kroatien, Ru-
mänien, Albanien u.v.a. wurden in
die Waffen-SS aufgenommen. Diese
hatten keinen Sinn für die Ideologie
der Nazis, mit diesen konnte man
„mehr“ anfangen, der „Lagerton“ än-
derte sich zum Teil dadurch auch ein
wenig.
Auf die Frage, woher Prof. Dlugobor-
ski die Kraft und Hoffnung für das
Weiterleben im Lager geschöpft hat,
erinnert er sich nochmals an die hoff-
nungslosen Tage und insbesondere
die Nächte im Quarantäne-Lager, in
denen es kein Aufwärmen gab. Auch
an seine hoffnungslosen Tage wäh-
rend der Krankheit erinnert er sich
erneut. Der Tag, an dem er sein ers-
tes Lebensmittelpaket bekam, gab
ihm Hoffnung und auch die Arbeit im
tschechischen Lager war eine bessere
Zeit.
Wir bedanken uns herzlich für
seine Erzählungen und Berichte.
Und dann merken wir, dass wir ver-
gessen haben, ihm ein Glas Wasser
zu reichen – wahrscheinlich waren
wir alle so gefangen von der Situation
und dem Ereignis, dass uns dafür die
Aufmerksamkeit fehlte.

             von Inga Krauß

                                     16
BESUCH IM EHEMALIGEN
KONZENTRATIONSLAGER AUSCHWITZ 1

„Einer von vielen Einzelgründen für        noch soviel mehr mitgeklungen. Ver-
meine Reise nach Auschwitz war die         achtung, Unverständnis, Erstaunen.
Hoffnung, eine bessere Vorstellung         Erst jetzt fällt mir auf, dass die Jun-
davon zu bekommen, was die Zah-            gen der Gruppe eine Kippa tragen.
len, die unsagbar hohen Zahlen, die        Juden.
ich aus Auschwitz kannte, konkret          Da stehen wir also, 67 Jahre nach
bedeuten. Bislang waren sie schlicht       der Befreiung Auschwitz. Juden und
unvorstellbar und ich glaubte, dass        Deutsche stehen zusammen vor die-
sie vor Ort für mich greifbarer wür-       ser Wand aus Haaren, vor dieser
den.                                       Wand aus Beweisen unvorstellbarer
Jetzt stehe ich an diesem Ort und sah      Gräuel, unvorstellbarer Schuld.
Tausende von Schuhen und Käm-              Meine Gruppe zieht weiter, und ich
men, Töpfen und Koffern, Brillen           mache den nachströmenden Massen
und Schuhcremes und jedes, bis da-         Platz. Noch viele Eindrücke prasseln
hin mühsam erarbeitete Bewusstsein         während der weiteren Führung auf
über das Ausmaß, das hinter den Da-        mich ein, aber immer wieder hallt
ten und Fakten steht, löst sich end-       der eine Satz in mir nach: „Oh! They
gültig auf. Ich kann mir nicht vorstel-    are Germans!“ Und mit ihm ein lei-
len, wie viel 400 000 Häftlinge sind.      ser Vorwurf. Und das erste Mal spüre
Ich kann mir aber auch nicht vorstel-      ich, dass es nicht mehr so einfach ist,
len, wie viele vergaste Menschen es        zu sagen: „ Ich habe zu der Zeit nicht
braucht, um einen ganzen Raum mit          einmal gelebt! Ich hatte damit nichts
ihren Schuhen füllen zu können. Wer        zu tun! Ich bin nicht Schuld!“
kann mir sagen, wie viele Frauen für       Mein Großvater war selbst im Krieg.
sieben Tonnen Haarmasse sterben            Mit achtzehn Jahren wurde er einge-
mussten? Alles, was ich bis hierhin        zogen und ich weiß, dass er versucht
über Auschwitz zu wissen glaubte,          hat, dieser furchtbaren Notwendig-
verschwindet und weicht einem Ge-          keit für das eigene Überleben so
fühl der Unwirklichkeit.                   ehrenhaft nachzukommen wie ein so
Und mitten in dieses Gefühl höre ich       grauenhafter Krieg es nur zulässt.
aus der Nachbargruppe: „Oh! They           Ich weiß, hätte er sich geweigert,
are Germans!“. Ich blicke in die Rich-     wäre das sein Ende gewesen und ich
tung, aus der die Stimme kam und           wäre nie geboren worden. Womöglich
sehe eine Gruppe, die unserer so           verdanke ich mein Leben auch der
ähnlich ist. Vielleicht etwas jünger.      Tatsache, dass mein Großvater bereit
In ihren Augen sehe ich ähnliche Ge-       war, als Soldat andere Menschen zu
fühle, wie in den Gesichtern meiner        töten. So viele Kinder wurden nicht
Kommilitonen. Unglauben, Entset-           gezeugt. So viele Kinder hatten nie
zen, Trauer. Und dann entdecke ich         die Chance, ihren Großvater kennen-
ein junges Mädchen von vielleicht          zulernen. Ich hatte all das. Ich hat-
fünfzehn oder sechzehn Jahren. Es          te einen liebevollen und warmherzi-
scheint ihre Stimme gewesen zu sein.       gen Großvater, wie man ihn sich nur
Als unsere Blicke sich treffen, schaut     wünschen kann. Aber ich hatte all‘
sie zur Seite. In ihren Worten hatte       das eben nur, weil andere Menschen

                                      17
starben. Wie kann ich da sagen: „Es
                                           hat nichts mit mir zu tun“? Das hat
                                           es sehr wohl. Wie kann ich da sa-
                                           gen: „Ich bin nicht Schuld.“? Heute
                                           beginne ich zu verstehen, was mit
                                           der Kollektivschuld des deutschen
                                           Volkes gemeint sein kann. Aber sich
                                           in Schuld und Scham zu verlieren
                                           hilft keinem, schafft kein Verständ-
                                           nis, keine Versöhnung. Und dabei ist
                                           dies genau das, was dieser Ort, an
                                           dem soviel Grauenhaftes geschehen
                                           ist, am nötigsten braucht. Auschwitz
                                           braucht noch so viel Versöhnung.
                                           Und ich spüre, wie dieser erste Ein-
                                           druck von Schuld einem Bewusst-
                                           sein der Verantwortung weicht,
                                           aktiver am Verstehen und am
                                           Nicht-Vergessen mitzuwirken. Viel-
                                           leicht haben wir allein durch unsere
                                           Reise, unsere Seminare, unsere Ge-
                                           bete und Tränen einen Teil dazu bei-
                                           getragen.“

                                                       von Evelyn Strunk                                       fotografiert von Demian Buchner

                                           HISTORIKERIN HALINA JASTRZEBSKA ÜBER DEN
                                           HÄFTLINGSKRANKENBAU IN AUSCHWITZ 1

                                           „1,3 Millionen Menschen starben in      Thema, unter dem die Exkursion
                                           Auschwitz. Ein erschreckend großer      stand: Der Nationalsozialismus und
                                           Teil davon in den Krankenbauten des     die Medizin im Dritten Reich.
Block 28, fotografiert von Tobias Moczko

                                           Stammlagers (10, 19, 20, 21, 28) und    Es wurde schnell deutlich, wie er-
                                           im Vernichtungslager Birkenau (7, 8,    drückend die Betrachtung des The-
                                           12, 14, 15).                            mas werden würde. Die detaillierte
                                                                                   Beschreibung der Versuche, das Be-
                                           Nachdem wir vormittags die Themen       trachten der Fotos der Täter sowie
                                           Nationalsozialismus und Auschwitz       die Schilderung der persönlichen
                                           als Arbeits- und Vernichtungslager      Geschichten und Schicksale im Zu-
                                           generell behandelt haben, diente der    sammenhang mit medizinischen Ex-
                                           Vortrag von Frau Halina Jastrzębska     perimenten machten die Vorgänge
                                           als Einleitung in das spezielle         im ehemaligen Konzentrationslager

                                                                              18
Auschwitz für uns, auch knapp 70          bringt, und wie achtsam man damit
                     Jahre nach Auschwitz, wieder sehr         umgehen muss.“
                     greifbar und plastisch.
                     Besonders schockierten uns ihre Er-                    von Tabea Zapf, Marvin Brunk,
                                                                            Christoph Lüdemann
                     zählungen über die Röntgenkastra-
                     tionen, die zum Ziel hatten, Juden
                     unfruchtbar zu machen und so in
                     letzter Instanz die „Rasse“ auszu-
                     rotten. „Rassenhygiene“ blieb uns
                     als paradoxe und perverse Wort-
                     schöpfung besonders im Gedächtnis.
                     Ebenso die Versuche an Zwillingen
                     und die gezielte Tötung von Kindern
                     sowie die Verstümmelung ihrer Müt-
                     ter durch Injektionen aggressiver
                     Chemikalien, wie Formalin, zeigten
                     die Grausamkeit der Ärzte auf wider-
                     lichste Weise.

                     Da wir die Berichte sowohl von ärzt-
                     licher als auch von „Patienten“-Seite
                     erfuhren, wurde uns bewusst, wie
                     viel Verantwortung der Arztberuf                           Halina Jastrzebska, fotografiert von Pia Marie Hartmann
                     auch in heutiger Zeit mit sich bringt,
                     und wie schnell dieses missbraucht
                     werden kann.                              TAGEBUCHEINTRAG
                     Es muss einem bewusst werden, dass
                     sich Patienten in jeder Arzt-Patien-      27.3., 16:00h, nach dem Vortrag
                     ten Beziehung sowohl körperlich als       Es ist gut, es ist wichtig, zu wissen,
                     auch psychisch dem Arzt ausliefern.       wozu Menschen fähig waren – und
                     Ein Arzt muss sich daher als mora-        noch sind.
                     lische Instanz seiner besonderen          Menschen als Versuchsobjekte, Pro-
                     ethischen Verantwortung besinnen.         zeduren ohne jede Moral, in einer
                     Auch wurde uns vor Augen geführt,         Maschinerie, getrieben von/funktio-
                     wie viel heutiges medizinisches Wis-      nierend durch eine Ideologie, ein Sys-
                     sen aus dieser Zeit stammt, und dass      tem von Ideen und Überzeugungen,
                     die heutige Medizin paradoxerweise        das seinesgleichen sucht – aber von
                     im rein fachlichen Sinne von den Ex-      Menschen erdacht und praktiziert –
                     perimenten „profitiert“.                  und nur Menschen sind auf diesem
Flur im Block 28,                                              Planeten zu so etwas fähig. Kann
  fotografiert von   Wie anfangs erwähnt, diente der           man mehr als verstummen im Ange-
   Tobias Moczko
                     so genannte Krankenbau nicht ur-          sicht dieser Tatsache?
                     sprünglich der medizinischen Ver-         Ich bin auch ein Mensch – und auch
                     sorgung, sondern als perfide Vernich-     in mir liegt irgendwo, vielleicht gar
                     tungsmaschine. Die Systematik der         nicht so vergraben, wie man hoffen
                     Vorgänge machte diesen Ort nicht          mag, die Fähigkeit dazu.
                     nur zu einem Ort des Schreckens,          Und welcher Ideologie, oder auch:
                     sondern vielmehr zu einer industriel-     welchen Idealen verpflichten wir uns
                     len Tötungsfabrik.                        heute als Ärzte? Und sind wir uns
                                                               unserer Macht bewusst, wie gehen
                     Wir, als zukünftige Arztpersönlich-       wir mit ihr um?
                     keiten, konnten für uns das Bewusst-      Was haben die Bäume hier gesehen!
                     sein stärken, wie viel Macht und          Sie wachsen heute noch, tragen fri-
                     Verantwortung dieser Beruf mit sich       sches Grün in jedem neuen Frühling,

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tragen Nester und beherbergen Sing-
vögel, bilden Blätter, Blüten, Samen.
Was haben die Steine hier ertragen!
Sie liegen heute noch hier, die Ziegel
aus polnischem Lehm, aufgeschich-
tet zu Räumen, Häusern, Blöcken,
Zellen, Bunkern; tragen Initialen,
trugen Blut und Unrat derer, denen
ihr Wert, ihr Menschsein, abgespro-
chen wurde.

             von Johannes Brockhaus
                                             Johannes Brockhaus, fotografiert von Pia Marie Hartmann

„WAS BEDEUTET DAS THEMA „ÄRZTE IN
AUSCHWITZ“ FÜR MICH ALS WERDENDER ARZT?“

„Für mich wirkt dieses Thema als           „Auch heute gibt es viele diskurs-
eine Art Warnsignal vor dem Ein-           bedürftige Themen im Bereich der
fluss zeitgenössischer Vorstellun-         Medizin. Allein die „2-Klassen-Medi-
gen und Ideologien. Gerade in der          zin“ mit der staatlichen und privaten
Medizin gilt neu errungenes Wissen         Krankenkasse zeigt, dass nicht alle
schnell als die ultimative Lösung ei-      Menschen gleichwertig behandelt
ner Krankheit und ist in den nächs-        werden. Im Krankenhaus erlebt man
ten Jahren bereits überholt oder gilt      oft Situationen, in denen Patienten
sogar als unverantwortbar. Dieses          nicht richtig über einen Eingriff auf-
Thema sollte jedem angehenden und          geklärt werden oder gedrängt wer-
noch leicht beeinflussbaren Medizi-        den bestimmte Eingriffe durchführen
ner im Hinterkopf als Warnsignal           zu lassen, auch wenn diese zum Teil
gelten.“                                   nicht notwendig sind. Der Patient
             von Moritz Völker             vertraut zu oft dem Arzt und traut
                                           sich nicht, Fragen zu stellen. All dies
„Mir ist nocheinmal deutlicher ge-         zeigt, wie groß Macht und Einfluss
worden, welche Rolle Ärzte haben.          der Ärzte heutzutage ist.“
Es liegt nicht an ihnen zu richten,
nur zu helfen, so gut sie es können,                         von Pauline Auffermann
denn dazu entscheidet man sich,
wenn man diesen Beruf wählt. Wis-
senschaft darf hierarchisch nie über
die Wertvorstellung des Menschen
und seiner Ethik gelangen.“

             von Renate Fett

                                      20
„Mich interessiert in diesem Zusam-       Welche Ideale möchte ich vertreten,
menhang die Frage, wie es dazu kom-       und welche Werte spielen für mich
men konnte, dass Ärzte vom Helfer         eine Rolle? Es sensibilisiert mich
zum Mörder wurden. Ganz speziell,         sehr für die Auseinandersetzung mit
wie stark der gesellschaftliche Kon-      dem Thema: „Beruf Arzt“.
text, das Menschenbild und die jewei-
lige Ideologie das ärztliche Handeln
                                                        von Patrick Rebacz
beeinflussen.“

             von Demian Buchner

„Wenn ich als Studentin am klini-
schen Alltag teilhabe, so fühle ich
mich auch immer wieder mit einer
großen Macht, gebunden an eine gro-
ße Verantwortung konfrontiert,
welche ein Arzt gegenüber dem Kran-
ken, Hilfe suchenden Menschen hat.
Ärztliches Handeln, welches hier in
Auschwitz stattgefunden hat, vollzog
sich unter allergrößtem Missbrauch
dieser Macht über andere Menschen.
                                                                                                  Patrick Rebacz
Die Beschäftigung damit bedeutet
für mich, wichtige Fragen zu berüh-
ren und nach Antworten zu suchen,
wie eine innere, klar jede mensch-        „Es bedeutet für mich eigentlich eine
liche Grenze einhaltende Haltung          Aufforderung, mich selbst in mei-
gefestigt werden kann, sowie meine        nem Denken und Handeln täglich zu
Wahrnehmung für jene „Schnittstel-        überprüfen. Mir die Frage zu stellen,
len“ zu schulen, in denen übergriffi-     ob ich wirklich noch im Auftrag und
ges Handeln vermeintlich noch men-        zum Wohle des Patienten handle und
schenwürdig erscheint.“                   für mich zu entscheiden, inwieweit
                                          ich in einem medizinischen System
             von Vanita Voß               bereit bin, Kompromisse einzugehen,
                                          um handeln zu können, und ab wel-
                                          chem Moment ich Gefahr laufe, mich
                                          und meine Ideale zu verlieren.“
„Für mich bedeutet es vor allem, dass
es grundlegende Unterschiede in der                     von Myriam Estko
Berufsgruppe der Ärzte gibt. Arzt ist
nicht gleich Arzt – auch wenn der Be-
ruf Menschen eint und zu Kollegen
macht. Dies hat jedoch noch nichts
zu bedeuten. Nur weil jemand einen
weißen Kittel trägt und von einer
Instanz die Genehmigung erteilt be-
kommen hat, den Arztberuf auszu-
üben, heißt es noch nicht, dass er/sie
im Sinne der Heilkunst agiert. Für
mich bedeutet es, dass jeder für sich
festlegen muss, wie er als Arzt arbei-
ten will und was sein Berufsethos ist.               Lisa Willuhn. Fotos von Pia Marie Hartmann

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DER BELGISCHE PAVILLON

Die Ausstellung über die Juden-           unserer Auffassung nach besonders
deportation von Belgien nach Ausch-       deutlich, wenn man sich die zeitliche
witz ist im Block Nummer 20 des           Abfolge der verschiedenen Maßnah-
Stammlagers Ausschwitz I eingerich-       men nach der Kapitulation Belgiens
tet worden. Sie steht in Form eines       im Mai 1940 vor Augen führt:
Erlebnisberichtes stellvertretend für
andere Länderausstellungen, die auf       28.10.1940:
die verschiedenen Blöcke des Lagers       • Einführung eines Judenregisters
verteilt wurden.                              zur Identifizierung und Ortung
Das Land Belgien ist während des              der jüdischen Bevölkerung;
Zweiten Weltkrieges auch eines der        • Erfassung von jüdischen Unter-
ersten Länder gewesen, das relativ            nehmen        und     öffentliche
früh unter deutsche Okkupation ge-            Kennzeichnung;
riet. Somit war die belgische Bevöl-      • Ausscheiden        von   jüdischen
kerung schon früh mit den politisch,          Bürgern     aus    Ämtern    und
antisemitisch und rassistisch moti-           Stellungen:
vierten Deportationen in die Kon-             – Öffentliche Ämter
zentrations- und Vernichtungslager            – Rechtsanwälte
konfrontiert.                                 – Lehrer an Schulen und Hoch-
Zugleich ist die belgische Nation                schulen
historisch gesehen, sowohl wirt-              – Verleger und Chefredakteure
schaftlich als auch kulturell, eng mit    		 aus Presse und Rundfunk-
Deutschland verbunden. Das wird           		unternehmen
besonders durch den deutschspra-
chigen Teil der belgischen Bevölke-       31.05.1941:
rung deutlich.                            • Wirtschaftliche Maßnahmen
Der belgische Pavillon in Block Num-      • Untersagung der Fortführung
mer 20 ist insgesamt sehr schlicht ge-        jüdischer Geschäftsbetriebe
halten und präsentiert sich in hellen     • Veräußerung von Geschäfts-
Räumen, mit Weiß als Grundton der             anteilen und sonstigen Ver-
Ausstellung. Diese ist auf einer Eta-         mögenswerten
ge in insgesamt drei Bereiche unter-
teilt. Die Besatzung Belgiens und die     29.08.1941:
Reaktion der belgischen Bevölkerung       • Aufenthaltsbeschränkungen
werden im ersten Saal abgebildet.         • Sperrstunde für Juden
Der zweite Saal zeigt die Maßnah-         • Begrenzung       der     jüdischen
men, die gegen die jüdische Bevölke-          Bevölkerung auf vier Städte
rung eingeleitet wurden. Im dritten           (Brüssel, Antwerpen, Lüttich und
Saal werden die rund 28 Transporte            Charleroi)
von Mechelen nach Auschwitz darge-
stellt.                                   25.11.1941:
Der Fokus dieses Berichts liegt ex-       • Staatlich verordnete Errichtung
emplarisch auf dem zweiten Saal,              einer Vereinigung der Juden
der uns in erschreckender Weise die       • Selbstverwaltung der jüdischen
Systematik und bürokratische Skru-            Bevölkerung     zur     weiteren
pellosigkeit der Judenverfolgung              Separierung von der Gesamt-
vor Augen geführt hat. Diese wird             bevölkerung

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