Berührt - Samariteranstalten Fürstenwalde

 
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                                                                      A LT E N
                                                        ITER   ANST
                                            ER S   AMAR
                                CHR   IFT D
                    DIE   ZEITS

                               Berührt
                            werden
                                                                                 02 2021

Gastkommentar
Charlotte Zach: „Der Weg zur gelebten Sexualität”

Titelthema
Berührungen ein Leben lang: die Bedeutung von Körperkontakt

Unterwegs mit...
...Reinhard Weiß: „Das gemeinsame Leben war schön”
Berührt - Samariteranstalten Fürstenwalde
INHALT

Einblick
    4       Gastkommentar von Charlotte Zach

    5       Leichte Sprache:
                                                   4
            Berühren ist wichtig für unser Leben

    6       Berührungen ein Leben lang:
            die Bedeutung von Körperkontakt

    8       Gänsehautgefühl:                                  6
            Gute Berührungen in der Pflege

    10 Gedanken aus dem Förder- und                                10
       Beschäftigungsbereich

    11 Verständnis aufbringen                      8
    12 Mittendrin – Die Bewohner*innen-
       Seiten der Samariteranstalten

    17 Berührungen in der Senioren-
       Tagesgestaltung

    18 Auf der Suche nach dem Eisvogel
                                                    12
    19 Mit Alvaro Soler tanzen                            20
    20 Bindung als Beginn der Sexualität

    21 Abschied für immer

    23 Berühren, was gefällt

    24 Moses Wunsch

    26 Kinder brauchen Körperkontakt,
                                                         26
       denn Berührung macht glücklich

    28 Guten Tag, ich bin Katja!

    30 Unterwegs mit Reinhard Weiß,                           24
       Leiter des Katharina von Bora-Hauses

                           30                      28

2       UNTERWEGS 2/2021
Berührt - Samariteranstalten Fürstenwalde
DIE SEITE DREI

Liebe Leserinnen und Leser,

wieder waren wir uns im Redaktionskreis    nicht?       Genauso                                                                  tiert. In den Samarit-
schnell einig: Berührung soll das Thema    wichtig ist es, sich in                                                               eranstalten     wurde
der neuen „Unterwegs“ sein. Berührun-      andere hineinzuverset-                                                               Sexualität als Lebens-
gen haben uns seit März 2020 schmerz-      zen: Was löst meine                                                                thema von Menschen
lich gefehlt. Berührungen erobern wir      Berührung beim anderen                                                           auch mit geistigen Behin-
uns langsam wieder, obwohl weiterhin       aus, wie empfindet die an-                                                    derungen bereits seit 1984 im
äußerlicher Abstand dazugehört, um den     dere meine Berührung? Denn es                                           Seminar für Psychiatriediakonie
neuen Corona-Varianten keine Chance        gibt auch Berührungen, die wehtun und                            eingebracht. Prof. Dr. Hans-Christian
zu geben. Wir haben uns redlich bemüht,    Grenzen überschreiten. Das Titelfoto aus                         Petzold setzte seine Bemühungen, dafür
uns das Handgeben zur Begrüßung            der Wichern-Schule in Forst fängt                                zu sensibilisieren, an der Korczak-Schule
abzugewöhnen. Aber das geht immer          einiges davon ein: berührt Muslim die                            fort. Davon profitieren wir bis heute.
noch nicht automatisch. Und ich bin froh   Haare von Marie und freut sich an dem                            Auch das zeigen Artikel dieser „Unter-
über jeden Händedruck, den der gemein-     guten Gefühl, die Haare vorsichtig durch                         wegs“, die von Ehemaligen der Korczak-
same Impfschutz jetzt hin und wieder er-   seine Hand gleiten zu lassen, und Marie                          Schule stammen, die in leitende
möglicht. Hände geben mehr Wärme als       genießt die Berührung auch? Oder ist                             Stellungen bei uns hineingewachsen
Ellenbogen, auch wenn mir das Lächeln      Muslim dabei, an dem Zopf zu ziehen,                             sind.
beim Zuwinken und Zunicken ebenfalls       und Marie wirft vorsorglich – dem
immer gut tut.                             Schmerz ausweichend – den Kopf nach                              Für all die berührend persönlichen
                                           hinten?                                                          Beiträge in diesem Heft danke ich herz-
Berührung ist lebenswichtig. Ohne                                                                           lich. Sie spiegeln: Wir haben Vertrauen
Berührungen verkümmern Menschen            Schnell kamen wir im Redaktionskreis                             zueinander in den Samariteranstalten.
und werden krank. Das beschreiben          auf das Thema Sexualität als intensiver                          Das macht mich sehr froh. Und ich weiß
einige Artikel in diesem Heft auf wis-     Form von Berührung. Auch Menschen                                dieses sensible Heft bei Ihnen in guten
senschaftlicher Basis unmittelbar ein-     mit Behinderung entwickeln und haben                             Händen.
leuchtend und verständlich. Und ich bin    ihre eigene Sexualität. Das beschäftigt
sehr froh, dass es den Beitrag zum         uns gerade in verschiedenen Bereichen.                           Bleiben Sie behütet!
Titelthema dieses Mal auch in leichter     Der Gastkommentar plädiert für einen
Sprache zu lesen gibt.                     offenen Umgang mit dem Thema Sexu-                               Herzlich grüßt – auch von Vorstands-
                                           alität allgemein und im Besonderen mit                           kollegin Frau Badenius,
Berührt werden geschieht auf vielfältige   der Sexualität von Menschen mit Behin-
Weise, körperlich und emotional, auch in   derung. Er wirbt für ein neues Verständ-                         Ihre
den Samariteranstalten jeden Tag. Dabei    nis des eigenen Körpers, das sich nicht
ist es wichtig, sich bewusst zu machen:    an den Defiziten, sondern an den
Welche Berührungen mag ich, welche         Möglichkeiten und Bedürfnissen orien-                            Pfarrerin Ulrike Menzel
                                                                                 Foto: Samariteranstalten

                                                                                                                                     UNTERWEGS 2/2021   3
Berührt - Samariteranstalten Fürstenwalde
GASTKOMMENTAR

                                               Der Weg zur gelebten Sexualiät
                                                   Charlotte Zach plädiert für einen offenen Umgang
                                                      mit Sexualität bei Menschen mit Behinderung.
Foto: Charlotte Zach

                                                           Welche Herausforderungen es dabei gibt,
                                                                     schreibt sie im Gastkommentar.

  W      ir leben in einer Gesellschaft, in
         der das Thema Sexualität über
  Jahrhunderte stark tabuisiert wurde. Erst
                                           Diese beiden Status-Symbole werden
                                           Menschen mit Behinderung aus meiner
                                           Sicht häufig verwehrt oder sie müssen sie
                                                                                          Körper wahrgenommen wird. Und
                                                                                          vielleicht schaffen wir einen Raum für
                                                                                          eine alternative Wahrnehmung unseres
  in den letzten 60 Jahren wird offener über
                                           sich schwer erkämpfen. Ich finde Men-          Körpers.
  gelebte Sexualität gesprochen. Wir sind  schen mit Behinderungen werden oft
  aber von einer offenen Kommunikation     nicht als Erwachsene wahrgenommen.             Menschen mit Behinderungen machen
  über sexuelle Aktivitäten und Vielfalt   Wir werden leider oft „verkindlicht“.          im medizinisch-therapeutischen Kontext
  weit entfernt.                                             Indem wir darüber            die Erfahrung, Dinge über sich ergehen

  Dazu kommt, dass
                           Der eigene Körper wird sprechen,             dass wir un-
                                                             sere Sexualität aus-
                                                                                          lassen zu müssen – auch wenn es ihnen
                                                                                          unangenehm ist: Das Gefühl, dass einem
  wir      in      einer    schon in der Kindheit leben und ausleben                      der eigene Körper in vielen Situationen
  Gesellschaft leben, in
  der das Thema Behin-
                           defizitorientiert wahr- wollen,                erkämpfen
                                                             wir uns den Raum
                                                                                          nicht gehört. Auch über diese Erfahrung
                                                                                          müssen wir sprechen. Darüber, was es
  derung über Jahrhun-             genommen.                 eines vollwertigen           mit einem Kind macht, immer wieder
  derte     mindestens                                       Mitglieds in der             gegen den eigenen Willen oder auf unan-
  genauso stark tabuisiert wurde. Men- Gesellschaft, welches als erwachsen und            genehme Weise angefasst zu werden und
  schen mit Behinderungen waren im öf- mündig wahrgenommen wird.                          gesagt zu bekommen: Das sei richtig so.
  fentlichen Leben nicht sichtbar, sie                                                    Diese Erfahrung kann im Laufe des
  wurden in ihren Häusern versteckt und Die Auseinandersetzung mit dem Thema              Lebens zu Schwierigkeiten führen, Situ-
  lebten in Sondereinrichtungen an den Sexualität und Behinderung beginnt                 ationen richtig einzuschätzen und die
  Rändern der Stadt. Wenn nun diese bei- meiner Meinung nach schon mit dem                eigenen Grenzen zu ziehen bzw. zu
  den Themen Sexualität und Behinderung eigenen Körperbild. Der eigene Körper             wahren. Welche Berührungen sind er-
  aufeinandertreffen, kommt es zur dop- wird bereits in der Kindheit defizitorien-        laubt und welche nicht? Was finde ich
  pelten Tabuisierung. Darunter leidet man tiert wahrgenommen. Die vielen Termine         gut und was nicht? Und da sind wir
  als Mensch mit Behinderung, weil einem bei Therapeuten und Ärzten haben uns             wieder beim Thema Sexualität.
  oft die Sexualität als Teil des Mensch- häufig gezeigt, was der Körper nicht
                                                                                                                      Charlotte Zach
  Seins und des Erwachsen-Seins abge- kann. Was der Körper können soll, ist
  sprochen wird oder Sexualität zu wenig wiederum Teil der sogenannten gesun-
                                                                                           ZUR PERSON
  Beachtung findet.                        den Norm.
                                                                                           Charlotte Zach ist Psychologiestudentin im
  In unserer Gesellschaft gibt es zwei Di-     Statt den eigenen Körper als Werkzeug       Master in Hildesheim, arbeitet in der er-
  mensionen, die über viele Jahrhunderte       wahrzunehmen, ihn zu entdecken und zu       gänzenden unabhängigen Teilhabebera-
  den Wert eines Menschen definiert            spüren, waren unsere Aktivitäten oft        tung, hat gerade ihre Peer-Counseling-
  haben. Die Dimension der Produktivität       davon geprägt, in endlosen Therapien ein    Ausbildung begonnen und organisiert als
  im Sinne der Versorgung. Also ob je-         kleines bisschen weniger krank zu sein,     Rollstuhlfahrerin ihren Alltag selbstständig
  mand einen Beitrag zur Gesellschaft in       ein kleines bisschen näher an die Norm      mit Assistenz. Frau Zach sucht immer wie-
  Form von Arbeit beitragen kann. Die an-      zu rücken. Therapien bei körperbehin-       der die Balance zwischen Aktivismus für die
  dere Dimension ist die Reproduktions-        derten Kindern und Jugendlichen sind        eigene Betroffenheit und dem Anspruch,
  fähigkeit. Also ob jemand eine Familie       sinnvoll, hilfreich und häufig                             sich dabei nicht selbst auf
  gründen kann und damit verbunden als         unerlässlich. Trotzdem soll-                               die Behinderung zu reduzie-
  sexuell aktiv und attraktiv wirkt – eine     ten wir mehr darüber                                       ren. In ihrem Newsletter
  Art Status-Symbol.                           sprechen, wie der eigene                                   „Berührungspunkte”
                                                                                                          schreibt sie regelmäßig
                                                                                                          rund um Körper, Sexualität
                                                                                                          und Behinderung. Über den
                                                                                                          QR-Code geht’s zur Anmel-
  4                    UNTERWEGS 2/2021                                                                   dung des Newsletters.
Berührt - Samariteranstalten Fürstenwalde
LEICHTE SPRACHE

Berührungen bedeuten, dass wir merken, wenn wir angefasst werden.
Man kann ganz verschieden berühren.
Zum Beispiel: streicheln, anfassen, drücken.
                                                                               Berühren ist wichtig
Wir spüren jeden Tag ganz viel über die Haut.                                      für unser Leben
Die Haut ist das größte Sinnes-Organ beim Menschen.
Oft spüren wir etwas, ohne dass wir darüber nachdenken.
                                                                                                     von Mario Stein
Zum Beispiel spüren wir nicht, wenn wir eine Hose an haben.
Erst wenn wir daran denken, spüren wir unsere Hose.
Dass wir etwas spüren, ist sehr wichtig.

Wenn wir etwas spüren können, können wir uns entwickeln und wachsen.
Schon Babys im Bauch können was spüren.
Sie spüren zum Beispiel, wenn sie sich selbst anfassen.
Sie spüren zum Beispiel, wenn die Mama ihren Bauch streichelt.
Das ist für das Baby ganz wichtig.
Wenn das Baby im Bauch spürt, dass es gestreichelt wird, fühlt es sich wohl.

Auch wenn das Baby geboren wird, sind Berührungen wichtig.
Deswegen wird das Baby nach der Geburt auf den Bauch der Mama gelegt.
Das Kuscheln mit der Mama ist für das Gehirn des Babys sehr wichtig.
Und durch das Kuscheln verstehen sich das Baby und die Mama immer besser.
Wenn das Kind noch klein ist, sind Berührungen auch wichtig.
                             Das kleine Kind lernt viel über Berührungen.
                             Das kleine Kind lernt dann seinen eigenen Körper kennen.
                             Das kleine Kind merkt, wenn es angefasst wird.
                             Das kleine Kind lernt sich besser kennen.
                             Das kleine Kind lernt auch die Umwelt besser kennen.

Berührungen sind auch wichtig für Gefühle.
Zum Beispiel wird das kleine Kind gedrückt, wenn es traurig ist.
Wenn die Kinder älter werden, kuscheln sie nicht mehr so viel mit den Eltern.
Das ist auch nicht schlimm.
Aber die Kinder brauchen trotzdem Berührungen.
Zum Beispiel toben die Kinder in der Schule.

                                                                                                                    ls.com
Dabei berühren sie sich auch.
                                                                                                               Foto: www.pexe
Das ist wichtig für die Entwicklung.
Dabei lernen die Kinder das zu machen, was sie wollen.
Dabei lernen die Kinder selbst zu bestimmen: Das lernen die Kinder, weil sie Berührungen spüren.

Wenn die Kinder erwachsen sind, möchten sie auch noch etwas spüren.
Auch bei Erwachsenen sind Berührungen wichtig.
Dafür haben die meisten Erwachsenen einen Freund oder eine Freundin.
Dann können sie mit diesem Freund oder dieser Freundin kuscheln.
Das finden die Erwachsenen schön.
Ältere Erwachsene sind oft allein.
Dann können sie wenig kuscheln.
Dann sind die älteren Erwachsenen oft traurig.
Denn sie möchten auch Berührungen spüren.
Manchmal werden ältere Menschen auch krank, wenn sie keine Berührungen spüren.

Berührungen sind für das ganze Leben wichtig.
Wenn man schöne Berührungen bekommt, freut man sich.
Dann fühlt man sich wohl.
Wenn man schöne Berührungen bekommt, kann man sich entspannen.
Dann bleibt man lange gesund.

                                                                                                      UNTERWEGS 2/2021          5
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TITELTHEMA

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                       Berührungen ein Leben lang

                       Die wichtigste Wahrnehmung unseres Körpers ist
                         wahrscheinlich die Berührung. Wie bedeutsam
                            sie für uns ist, darüber schreibt Mario Stein.

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Berührt - Samariteranstalten Fürstenwalde
TITELTHEMA

B    erührungen spielen im Alltag eine
     wesentliche Rolle. Oft denken wir
gar nicht darüber nach, aber die Haut
(mit der wir Berührung wahrnehmen) ist
das größte Sinnesorgan des Menschen.
Durch Stimulation des taktilen Systems
auf unterschiedliche Art und Weise
entsteht ein Dialog zwischen Individuum
und Umwelt. Dieser Dialog ist die
Grundlage für die soziale Entwicklung.
Die Art des Dialoges unterscheidet sich     Das Fehlen von Berührungen kann
je nach (Entwicklungs-) Alter und hat
jeweils einen besonderen Entwick-
                                            zu Einsamkeit und Hilflosigkeit
lungsschwerpunkt.                           führen.
Schon im Mutterleib spüren Babys
Berührungen. Diese Berührungen sind         Je älter wir werden, umso mehr verändert     Man erkennt also recht schnell, dass
beruhigend und vermitteln das Gefühl        sich unser Bedürfnis nach Nähe und           Berührungen im gesamten Leben sehr
der Sicherheit und Geborgenheit. Em-        Zuneigung sowie die damit verbundenen        wichtig sind. Die Bedeutungen von
bryonale Zwillingsstudien haben gezeigt,    Berührungen. Berührungen, die durch          Berührungen unterscheiden sich aber je
dass diese sich schon im Mutterleib         die Mutter, den Vater und die Familie        nach Kultur, sozialer Klasse und der in-
gegenseitig streicheln. Sie unterscheiden   stattfanden, werden im Schulalter durch      dividuellen Familie.
dabei zwischen eigenen Berührungen          z.B. Rangeleien oder Neckereien mit
und den Berührungen des Geschwis-           Mitschülern und Freunden kompensiert.        Im gesamten Leben gestalten sich Kon-
terzwillings oder des Mutterleibs.          Diese Abnabelung ist für die Entwick-        takt und Kommunikation über Kör-
Auch während der Geburt wird weniger        lung ein wichtiger Prozess, hier lernen      perkontakt. Der US-Psychologe M.
gesprochen als gefühlt. Säuglinge wer-      wir Autonomie und Selbstbehauptung.          Hertenstein hat beispielsweise in einem
den unmittelbar nach der Geburt auf den                                                  Experiment herausgefunden, dass sich
Bauch der Mutter gelegt. Leboyer bezei-     Im Erwachsenenalter hat das Bedürfnis        bestimmte Berührungen ganz bes-
chnet das als „Sprache der Liebe“. Die      nach Nähe und Zuneigung immer noch           timmten Emotionen wie Ärger, Furcht
Berührungen zwischen Mutter und Baby        einen hohen Stellenwert. Dieses Bedürf-      oder Dankbarkeit zuordnen lassen. Ohne,
sind entscheidend für dessen Hirnent-       nis erfüllen wir uns oft in Beziehungen,     dass die Probanden die gegenüber-
wicklung und die Ausbildung einer guten     da wir im Erwachsenenalter Berührun-         sitzende Person sehen, konnten sie acht
Mutter-Kind-Bindung.                        gen oft ungerechtfertigt mit Sexualität in   verschiedene Emotionen des Gegenüber
                                            Verbindung bringen.                          „erfühlen”.
Während der frühkindlichen Entwick-
lung nehmen Berührungen eine sehr           Auch im hohen Alter spielen Berührun-        Körperkontakt zu bekommen bedeutet,
große und wichtige Rolle ein. Durch         gen eine wichtige Rolle. Je älter wir wer-   mehr positive Erfahrungen, positive
Berührungen wird es dem Kind nach und       den, desto weniger Berührungen erfahren      Gefühlszustände und Gesundheit. Durch
nach möglich, zwischen Innen und            wir. Das führt zu Berührungsangst. Die       Körperkontakt wird im allgemeinen
Außen des eigenen Körpers zu unter-         Berührungsarmut geht mit Gefühlen des        Stress reduziert und das wirkt sich somit
scheiden. Das Kennenlernen des eigenen      Alleinseins, der Einsamkeit und Hil-         positiv auf die Gesundheit aus.
Körpers und der Umwelt geschieht durch      flosigkeit einher. Forscher schreiben
                                                                                                                  Mario Stein
Berührungen. In diesem Alter ist die        dieser Berührungsarmut eine nicht un-
                                                                                                            Wohnbereichsleiter
Berührungsempfindung eine wichtige          wesentliche Verantwortung für körper-
                                                                                                               Christoffelhaus
Quelle der emotionalen Befriedigung.        liche und psychische Probleme zu.

                                                                                                                 UNTERWEGS 2/2021   7
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KATHARINA VON BORA-HAUS

                          Gänsehautgefühl
                                     Berührungen in der Pflege.
                                     Gedanken einer fiktiven Person.

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KATHARINA VON BORA-HAUS

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                       W      ieder eine schlaflose Nacht. Es ist
                              dunkel. Viel mehr als Nachdenken
                       bleibt mir nicht. Ich, die sich so gerne be-
                                                                      Heute ist Mittwoch. Da kommt mein
                                                                      Sohn und fährt mich spazieren. Also mit
                                                                      dem Lifter raus aus dem Bett in den Roll-
                       wegt hat und nun vollkommen auf Hilfe          stuhl. Auch wenn mir manchmal etwas
                       angewiesen ist. Ich habe so gerne gele-        schwindlig wird, den Transfer mit dem
                       sen und nun kann ich kaum noch etwas           Lifter mag ich. Ich fühle mich wie auf
                       sehen.                                         den Arm genommen. So wie mich
                                                                      damals mein Mann nach der Hochzeit
                       Doch, es bleibt mir noch mehr: Ich kann        über die Schwelle getragen hat. Wie ich
                       noch hören, noch schmecken, noch rie-          ihn vermisse, seine Umarmungen, seine
                       chen und fühlen.                               Küsse…

                       3 Uhr. Gleich wird die Schwester vom           Vorher werde ich geduscht. Dabei freue
                       Nachtdienst kommen und mich lagern.            ich mich am meisten aufs Haare
                       Gut, dass ich wach bin, dann erschrecke        waschen. Das sanfte Einmassieren des
                       ich nicht so. Besonders bei Schwester          Shampoos und die Dusche sind wunder-
                       Steffi, die mich mit ihren Fingern immer       bar. Das könnte gerne richtig lange dau-
                       so kurz auf den Arm klopft oder mich im        ern.
                       Gesicht mit der Außenfläche ihrer Hand
                       tätschelt. Noch schlimmer ist es bei           Im Radio habe ich gehört, dass es schon
                       Peter, der gleich mit dem Umlagern             Pflegeroboter geben soll. Gibt es denn
                       loslegt und meist nicht ein Wort vorher        keine andere Lösung für den Personal-
                       sagt. Und dann wundert er sich auch            mangel in der Pflege? Ich stelle mir das
                       noch, wenn ich so steif bin.                   schrecklich vor, von einer Maschine ge-
                                                                      pflegt, von künstlichen Händen berührt
                       Ich bin froh, dass sie mich nicht mehr zu      zu werden. Wir brauchen doch bestimmt
                       zweit lagern. Die vielen Hände sind echt       alle echte menschliche Berührungen.
                       irritierend.                                   Schon das Berühren mit Schutzhand-
                                                                      schuhen in der Coronazeit war furchtbar.
                       Die Lagerung von Schwester Steffi war          Wenn mich ein Roboter pflegen sollte,
                       in Ordnung, nicht so hektisch wie              möchte ich lieber sterben.
                       gestern. Mal sehen, wer nachher zum
                       Frühdienst      kommt.      Hoffentlich        Hoffentlich sterbe ich einmal nicht al-
                       Schwester Klara. Die kann wirklich pfle-       leine. Hoffentlich hält mir jemand die
                       gen. Wenn Schwester Klara mich mit             Hand. Mein Sohn? Klara? Die Pastorin?
                       fließenden langsamen Bewegungen ihrer          Dann hätte ich bestimmt weniger Angst.
                       warmen Handflächen eincremt, kriege            Als ich nach dem Tod meines Mannes so
                       ich jedes Mal eine Gänsehaut. Nie habe         verzweifelt war, konnten mir keine noch
                       ich bei ihr das Gefühl, dass ich wie ein       so gut gemeinten Worte helfen. Doch
                       Objekt versorgt werde. Schwester Klara         wenn mich meine Schwester, mein Sohn
                       zeigt mir durch ihre Hände Fürsorge,           oder andere liebe Menschen umarmt
                       Wertschätzung und, so bilde ich es mir         haben, das tat gut.
                       ein: Zuneigung. An solchen Tagen
                       brauche ich auch keine Schmerztablette.        „Einen wunderschönen guten Morgen,
                                                                      Frau Heinemann!“ Der Frühdienst
                       Vielleicht kommt ja auch der neue              kommt. Es ist Schwester Klara.
                       Azubi. Als er mich vorgestern zum ersten
                       Mal gewaschen hat, habe ich mich er-
                                                                                            Reinhard Weiß
                       schreckt und auch etwas geschämt.
                                                                            Hausleitung Katharina von Bora
                       Er hat das gleich gemerkt und mich
                       nicht im Intimbereich gewaschen.
                       Dafür war ich ihm dankbar.

                                                                                              UNTERWEGS 2/2021   9
Berührt - Samariteranstalten Fürstenwalde
CHRISTOPHORUS-WERKSTÄTTEN

                                                                      doch, dass auch sie berührt wer-     heit zu sorgen.Und es berührt mich,

                                                Foto: Saskia Winter
                                                                      den wollen, berühren wollen und      wenn Mitarbeiter neue Herausforderung-
                                                                      mental berührt werden.               en suchen und auch finden, Kollegen sich
                                                                                                           verabschieden und neue hinzukommen.
                                                                      Die Menschen im FBB unter-
                                                                                                           Neuerung berührt mich.
                                                                      scheiden     sich     in    ihren
                                                                      Fähigkeiten, in ihren Wünschen
                                                                                                           Momentan befindet sich der FBB in einer
                                                                      und ihren Erfahrungen, so wie
                                                                                                           konzeptionellen Neugestaltung. Alte
                                                                      jeder von uns. Ich frage mich oft,
                                                                                                           Gewohnheiten sollen hier zum Teil
                                                                      was unsere Klienten berührt, was
                                                                                                           neuen, auch ungewohnten Dingen wei-
                                                                      sie bewegt bzw. beschäftigt, was
                                                                                                           chen. Das Bild vom Klienten neu gedacht
                                                                      sie unter Berührung verstehen.
                                                                                                           und Bedürfnisorientierung größer
                                                                      Die Antwort hierauf ist nicht
                                                                                                           geschrieben werden. Die SIVUS-Me-
 Was mich berührt                                                     immer leicht zu finden, nicht
                                                                      immer eindeutig und doch
                                                                                                           thode soll künftig Anwendung finden.
                                                                                                           Kernziel ist es, die Interessen und Wün-
                                                                      möglich.
                                                                                                           sche der Klienten besser zu berücksichti-
Gedanken aus dem Förder-                             Wie jedes Jahr, aber in diesem
                                                                                                           gen, Arbeitsgruppen nach Gemeinsam-
                                                                                                           keiten zu gründen und so die allgemeine
und Beschäftigungsbereich                            vielleicht im Besonderen, sind
                                                                                                           Lebensqualität und das Selbstwertgefühl
                                                     Dinge passiert, haben wir Dinge
von Saskia Winter                                    erlebt und getan, die uns oder an-
                                                                                                           zu verbessern. Wen könnte das nicht
                                                                                                           berühren? Wer würde da nicht mitgehen
                                                     dere berührt haben. Mich
                                                                                                           wollen? Das Engagement meines Teams,
B    erührt werden, jemanden spüren, an-
     fassen, festhalten. Berührt werden,
von einem Ereignis, einer Geste, vom ge-
                                             berührte zum Beispiel die Abwesenheit
                                             der Beschäftigten aus den Wohnberei-
                                             chen in der Werkstatt, die schwierige
                                                                                                           besonders auch der gegründeten Arbeits-
                                                                                                           gruppe, hat mich sehr bewegt. Ich halte
                                                                                                           es nicht für selbstverständlich, unsere
sprochenem Wort. Berührt werden kann         Lage der Bewohner während der Zeit
                                                                                                           freien Wochenenden mit Weiterbildun-
man auf so viele Arten, und doch haben       ohne Besuche – besonders die lange Zeit
                                                                                                           gen zu verbringen, digitale Teamsitzun-
sie alle gemeinsam, dass sie etwas in uns    der Quarantäne im Wilhelminenhof.
                                                                                                           gen abzuhalten und gemeinsam daran zu
auslösen: ein Gefühl, eine Stimmung,         Mich berührte aber auch die Bereitschaft
                                                                                                           arbeiten, etwas zu verändern.
eine Reaktion. Für Menschen mit sehr         der Mitarbeiter auszuhelfen bzw. einzu-
hohem Unterstützungsbedarf, so wie wir       springen, Arbeiten zu verrichten, die
                                                                                                           Das berührt mich.
sie im Förder- und Beschäftigungsbe-         nicht ihren gewohnten Abläufen
reich (FBB) betreuen, bedeutet berührt       entsprachen. Mich berührte die Bereit-                                                 Saskia Winter
werden nichts anderes. Die Art des Erle-     schaft, Solidarität zu zeigen, indem man
bens, die Reaktion oder auch das bloße       sich testen bzw. impfen ließ, Vorgaben
Bedürfnis kann ein anderes sein, nicht je-   beachtete und so versuchte, für Sicher-

                                                                                                                                                       Foto: Samariteranstalten
Was sagen eigentlich unsere Klienten
aus dem FBB zum Thema „Berührt werden”?
N    icht immer ist es einfach zu verstehen, was unsere Teilnehmer, in der Regel nonverbal, mitteilen. Vieles ist ab-
     hängig von Deutung und Interpretation. Hier ein Versuch in Einzelgesprächen und Dokumentation von Ge-
sprochenem, Gezeigtem (Gestik) und mittels Talker Geäußertem:

„Wenn einer Zeit für mich hat und Radio hören“ (M.K.)

„Meine Mutter und Tanzen bei der Disco“ (R.G.)

„Ein schöner Film und Musik hören, die ich mag“ (L.B.)

„Dass wir eine neue Leitung im Wohnbereich haben, oder wenn es Überraschungen gibt, zum Beispiel Babys in der
Familie. Oder einfach, wenn alle gute Laune haben. Das ist schön. Küsse sind auch Berührung“ (J.H.)

„Hände festhalten/streicheln“ (P.S.)

„Wenn meine Mutti mich besucht“ (C.J.)

„Meine liebsten Mitarbeiter“ (E.V.)

10   UNTERWEGS 2/2021
MITARBEITERVERTRETUNG

                                                                                                                                              Foto: Markus Kutzker
Verständnis aufbringen
Wir als MitarbeiterInnen der Mitarbeitervertretung lassen uns berühren.

B    erührt werden“ oder „Was geht mich
     fremdes Elend an?“ – ein sensibles
Thema, bei dem es sehr kontrovers zuge-
                                               zum „Berührt werden“, kann ein Zustand
                                               der Entspannung und des Glücks, des
                                               Gerührtseins entstehen, der sensibler
                                                                                          Themen, die in einer Beratungssituation
                                                                                          vorgetragen werden, sind MAV-rele-
                                                                                          vante Sachverhalte. Die Frage ist also:
hen kann und das man immer von zwei            werden läßt für das Verstehen anderer      Lassen sich die Kollegen der MAV
Seiten betrachten kann. Meist geht es          Menschen, anderer Situationen. Unange-     berühren von den Themen und Anliegen,
dabei weniger um physischen Kontakt,           nehme Gefühle entstehen, wenn jemand       die ihnen vorgetragen werden? Es ist eine
sondern um das Berühren emotionaler            mit Berührung nicht einverstanden ist.     Frage der Einstellung, mit der die Mitar-
Zustände, Ideen oder anderer abstrakter        Wenn Berührung denjenigen überrum-         beiterInnen der MAV den MitarbeiterIn-
Dinge. Es braucht jemanden oder etwas,                                                                nen der Samariteranstalten
das berührt – haptisch oder emotional.                                                                begegnen. Aus Momenten
Das kann ein Mensch sein, ein Lied,              „Manchmal kann es geschehen, des Berührt Werdens,
Musik, ein Text, ein Bild, eine Geste,                                                                Berührt Seins kann Verständ-
eine Nachricht, ein Erlebnis, kurz gesagt,
                                                 dass einem ein Ereignis gerade-                      nis entstehen. Gemeinsam
alles, was die Sinne und Gefühle an-             wegs ins Herz trifft.”                               mit den ratsuchenden Mitar-
spricht. Und es braucht einen Empfänger,                                                              beiterInnen     eine     Lö-
eine Person, die sich emotional berühren,                                                             sungsmöglichkeit für ihre
anrühren lässt.                                pelt. Das kann zu Überforderung führen. Angelegenheiten zu finden, geschieht
                                                   Foto: Samariteranstalten

                                               Manchmal kann es geschehen, dass einen dabei aus dem Verständnis für die Situa-
In Märchen wie zum Beispiel „Das kalte         ein Ereignis geradewegs ins Herz trifft, tion heraus. Indem ich mich darauf ein-
Herz“, „Sterntaler“ oder „Das Mädchen          der- oder diejenige im tiefsten Inneren lasse, knüpfe ich eine Verbindung zum
mit dem Schwefelhölzchen“, kommt die-          gerührt und ergriffen ist. Gänsehautmo- Gegenüber. Für diesen Moment sind
ses Thema gut zum Ausdruck. Filme ent-         mente können entstehen. Wer sich an- MAV-MitarbeiterInnen und Ratsuchende
falten ihre Wirkung erst richtig, wenn die     rühren lässt, ist schwingungsfähig, öffnet verbunden. Wichtig ist, in der Sachebene
ZuschauerInnen sich berühren lassen.           seine Seele, sein Herz.                    handlungsfähig zu werden und zu
Als Beispiele könnten die Filme „About                                                    bleiben.
a Boy oder: Der Tag der toten Ente“,           Was bedeutet das Thema für die Mitar-
„Ziemlich beste Freunde“ oder „Jesus           beitervertretung (MAV)? MitarbeiterIn- Wir als MitarbeiterInnen der MAV las-
liebt mich“ stehen.                            nen der MAV sind oft „Kummerkasten“ sen uns berühren, um mit dem nötigen
                                               für Probleme, die im Dienstalltag entste- Einfühlungsvermögen für die Mitarbei-
Man kann angenehm oder unangenehm              hen. Selten kommt jemand, der sagt: terInnen der Samariteranstalten zu han-
berührt sein. Besteht ein Einverständnis       „Gut gemacht, weiter so…“ Nicht alle deln.
                                                                                                                     Gerd Gesche

                        Der Sozial-O-Mat der Diakonie bietet allen Interessierten eine informative Übersicht zu ausgewählten,
                        sozialpolitischen Positionen der Parteien für die Bundestagswahl am 26. September.

                                                                                                                           UNTERWEGS 2/2021   11
rin
mittend

                          Gedanken der letzten Monate

                          Nächster Redaktionskreis „mittendrin“?
                          musste ausfallen…
                          langes Warten und zu Hause bleiben…
                          manchmal auch Sorgen und Ängste…
                          zu Hause malen und schreiben für die „mittendrin“…

        Dann endlich, am 08.07.2021, ein Wiedersehen im Festsaal…
        immer noch vorsichtig sein…
        aber wir können uns wieder treffen!
        Wir können von dem erzählen, was inzwischen passierte…
        Die Freude des Wiedersehens war zu sehen und zu spüren…
        Alle waren berührt vom Wiedersehen…
        Ich bin berührt von den Gedanken und Beiträgen, die entstanden sind
        und möchte Sie alle teilhaben lassen.

        Viel Spaß beim Betrachten und Lesen,
        wünschen alle „mittendrin“-Redakteure
        und Heike Bůžek.

     Für Wolfgang Flegel ist es besonders schön,
     im warmen Wasser mit ganz viel Schaum
     zu baden.

12   UNTERWEGS 2/2021
mittend
                                                                                              rin

Die Tagesgestaltung im Lindenhof hat sich mit dem Thema                 Gisela Stelse
„Hände“ beschäftigt. Die Hände oben und folgende                         mag Katze Kalli.
Gedanken sind dabei entstanden:
Man berührt sich, wenn man sich die Hand gibt.
Mit dem Ellenbogen kann man sich auch berühren.
Mit der Hand ist es schöner als mit dem Ellenbogen.
Die Hand ist meist wärmer als ein Ellenbogen.
Die Hand kann mehr fühlen als ein Ellenbogen.

           Henry Thadewaldt
                                           Hallo liebe Leser der Unterwegs 2021!
                                                            Was ist Berührung????
                                       Berührung ist die IMPFUNG gegen Corona!
                                    Das war für mich eine emotionale Berührung.
                                   Ich habe vor Freude geweint, in der Hoffnung,
                                                dass Corona schnell vorbei ist!!!!
                                         Der Vorteil ist, dass für Geimpfte wieder
                                                                   alles möglich ist.
                                   Ich werde am 02.08.2021 bis zum 05.08.2021
                                          mit Herrn Wolter in den Urlaub fliegen.
                                              Es geht vom neuen Flughafen BER
                                                über Amsterdam nach Hamburg.
                                 4 Tage und dann von Hamburg über Amsterdam
                                                             zum Flughafen BER.
                                               Keine Angst – ich komme wieder!
                                           Ich hoffe, meine Bilder gefallen euch.
                                Übrigens: Ich bin am 07.06.2021 vom Lindenhof
                                     ins Haus Emmaus in Fürstenwalde gezogen.
                                 Es ist schön, dass ich jetzt in der Stadt wohne,
                                                                  wo mehr los ist.
                                                  Der Arbeitsweg ist jetzt kürzer.
                                                   Alles Gute und liebe Grüße von
                                                                        Herrn Hopf.

                                                                           UNTERWEGS 2/2021   13
rin
mittend

                                  Klaus-Dieter Schwalbe:
                                  „Berührt werden hat etwas
                                  mit dem Herzen zu tun.”

                     Alexander Liebe:

      „Berührungen werden vermisst in der Coronazeit.
      Auf Arbeit habe ich einen Blinden an der Hand geführt.
      Das hat uns Beiden Spaß gemacht.
      Berührung vermisst – Ich mag es, meine Hand zu streicheln.
      Hände halten ist mehr als nur eine Berührung.”

                                                                   Phillipp Graf:
                                                                   „Die Sonne berührt die Welt und die Natur.
                                        Thomas Kitzrow             Durch Corona fehlen mir die Berührungen
                                                                   meiner Oma. Ich kann sie nicht besuchen.”

 14   UNTERWEGS 2/2021
mittend
                                                                            rin

                                                           Martina
                                                           Lupitz

            Holger
            Köbsch

Christina
Gläser
                                          Margarete
                                          Rammelfanger

                      „Wir halte
    Günther                      nu
                     den Händ ns an
    Kaufman                     en fest
            n        und stärk
                               en uns.”

                                                         UNTERWEGS 2/2021   15
rin
mittend

                                                          Ilse Prüfer

                        Alexander
                        Teske

                                         In der Corona-Zeit fanden kaum
                                         Fußball-Spiele statt.
                                         Es durften keine Zuschauer ins
                                         Stadion.
                                         Ich bin großer Fußball-Fan.
                                         Mein Lieblings-Verein ist Borussia
                                         Dortmund.
                                         Ich habe keine Lieblings-Spieler.
                                         Jetzt findet die Fußball-EM statt.
                                         Darüber freue ich mich sehr.
                                         Das Deutschland-Spiel habe ich
                                         mit anderen Bewohnern im
                                         Fernsehen geguckt.
                                         Matts Hummels hat ein Eigen-Tor
                                         geschossen.
                                         Der tat mir dann sehr leid.
                                         Alles andere
                                                                              Foto: Samariteranstalten

                                         war gut.
                        Jürgen Baltzer
                                         Heike Stark

16   UNTERWEGS 2/2021
AUS DEN BEREICHEN

 Wie wichtig sind Berührungen                                                                         Welche Rolle aber spielen Berührungen
     in unserem Arbeitsalltag?                                                                        sonst in unserem Arbeitsalltag? Viele un-
                                                                                                      serer Besucherinnen benötigen zusätzlich
                                                                                                      zur verbalen Begleitung andere Reize,
                                                                                                      die sehr häufig mit körperlichen Berüh-
                                         Praktische Erfahrungen                                       rungen verbunden sind. Im Folgenden
                                                                                                      eine Auswahl:
                               aus der Senioren-Tagesgestaltung                                       • Stütze beim Aufstehen oder Gehen
                                                                                                           (einhaken, Hände reichen, Hilfe
                                                                                                           beim Halten des Gleichgewichts)
                                       V     or Corona war es selbstverständlich,
                                             sich beim morgendlichen Ankom-
                                       men in der Tagesgestaltung mit freund-
                                                                                                      • Unterstützung bei pflegerischen Tä-
                                                                                                           tigkeiten (Hautpflege, prophylakti-
                                                                                                           sche Einreibungen)
                                       lichen Worten, verbunden mit einem
                                                                                                      • Zuwendung durch Körperkontakt (in
                                       ritualisierten Händedruck, zu begrüßen.
                                                                                                           den Arm nehmen…)
                                       Unter Pandemiebedingungen mussten
                                                                                                      • Schutz vor Gefahren (Festhalten im
                                       wir, wie alle, immer wieder Alternativen
                                                                                                           Straßenverkehr oder z.B. am heißen
                                       finden und ausprobieren: vom „Ellenbo-
                                                                                                           Herd)
                                       gengruß“ über eine leichte Verbeugung
                                                                                                      • aktives und passives Wahrnehmen
                                       bis hin zum Zuwinken. Alles ist grund-
                                                                                                           von Reizen (taktil, haptisch, Tempe-
                                       sätzlich machbar, aber auch nach vielen
                                                                                                           ratur, Körperspannung)
                                       Monaten des beständigen Übens sind
                                                                                                      • Vertrautheit und Geborgenheit
                                       diese neuen und damit noch nicht rituali-
                                                                                                           durch Berührung in Angstsituatio-
                                       sierten Berührungen für unsere Besuche-
                                                                                                           nen (besonders bei demenziell er-
                                       rinnen sehr ungewohnt und oft nicht
                                                                                                           krankten Menschen)
                                       verinnerlicht. Die Normen und Rituale
                                                                                                      • Erlernte Rituale zur Begrüßung,
                                       vieler Jahrzehnte sind tief verwurzelt und
                                                                                                           Verabschiedung, Gratulation (s.o.)
                                       können nur schwer verändert werden.
                                                                                                      • Unterstützung in der Kommunika-
                                                                                                           tion (standardisierte Berührungen
                                                                                                           zum Thema Körperschema oder zur
                                                                                                           räumlichen und zeitlichen Orientie-
                                                                                                           rung)
                                                                                                      • Begleitung und Trost in Krankheits-
                                                                                                           situationen oder im Sterbeprozess
                                                                                                           (Hand halten, streicheln)

                                                                                                      Natürlich muss auf Signale geachtet wer-
                                                                                                      den, wenn jemand eine Berührung nicht
                                                                                                      oder gerade in diesem Moment nicht
                                                                                                      möchte. Die Grenzen meines Gegen-
                                                                                                      übers (und meine eigenen) sollten also
                                                                                                      stets gewahrt bleiben. Dann können Al-
                                                                               Foto: Markus Kutzker

                                                                                                      ternativen mit mehr Distanz oder ein an-
                                                                                                      derer Zeitpunkt gewählt werden.
                                                                                                      Physische Berührungen sind jedoch in
                                                                                                      unserem Arbeitsalltag mit ihren vielfälti-
Kuchen backen in der Tagesgestaltung                                                                  gen Funktionen allgegenwärtig und sehr
                                                                                                      wichtig, teilweise sogar unersetzlich.

                                                                                                      Und viele Besucherinnen freuen sich da-
                                                                                                      rauf, wieder ohne schlechtes Gewissen
                                                                                                      dem anderen „höflich“ die Hand zu
                                                                                                      geben.
                                                                                                                        A. Zucker, Chr. Haase

                                                                                                                              UNTERWEGS 2/2021   17
AUS DEN BEREICHEN

                                                                                                                                         Foto: Samariteranstalten
Auf der Suche nach dem Eisvogel

                                    Seit 15 Jahren machen Bewohner*innen und Mitarbeitende
                                    des Lindenhofs einen Ausflug auf dem Wasser. Das Hausboot
                                    ist das Fahrzeug der Wahl. Für die Beteiligten ein ganz be-
                                    sonderes Erlebnis. Martin Pohl war mit an Bord und berichtet
                                    uns, wie es war. Einen Wunsch für die Zukunft hat er auch.

G    leich vor unserer Haustür, nach nur
     etwa 5km Wegstrecke, tauchen wir
ein in die faszinierende Naturlandschaft
                                              men. Über die Jahre hat sich als beson-
                                              dere Tradition das Ausschauhalten nach
                                              dem Eisvogel entwickelt. Auf den ersten
                                                                                           Die Fahrten auf dem Hausboot sind des-
                                                                                           halb seit Jahren fester Bestandteil der
                                                                                           Angebote des Lindenhofs, während der
der Spree. Im Hafen von Beeskow stei-         Fahrten haben wir das kleine schillernde     Schließzeit der Christophorus-Werkstät-
gen wir auf ein Hausboot und befinden         Geschöpf vielleicht gar nicht wahrge-        ten. Sie entwickelten sich zu einem Ren-
uns schon nach einigen Minuten Fahrt in       nommen. Inzwischen sehen wir ihn re-         ner     in   der    Urlaubsbörse     der
einer komplett anderen Welt. Eine Welt,       gelmäßig und konnten auch Brutplätze         Samariteranstalten.
die den Alltag schnell in den Hintergrund     entdecken.
treten lässt: kein Fernsehen, kein Shop-                                                   Wir möchten dieses tolle Erlebnis gern
ping, kein Wohnkomfort – dafür Natur          Zu essen gibt es meist vom Grill. Manch-     vielen Menschen nahe bringen. Leider ist
pur. Die Umgebung ist in tiefes Grün ge-      mal auch Fische, die wir selbst geangelt     so ein Hausboot jedoch alles andere als
taucht.                                       haben. Oder Lachsbrötchen. Kaffee aus        barrierefrei: Schon der erste Schritt aufs
                                              der French Press. Wir schlafen auf Prit-     Boot gelingt vielen nicht. Innen ist es eng
Das Lied des Schilfrohrsängers begleitet      schen und Doppelstockbetten. Einer           und verwinkelt. Das Schlafen auf Dop-
uns. Sonne und Wind lassen Haut und           muss in den „Keller“ – eine Schlafmög-       pelstockbetten ist vielen nicht möglich.
Augen schnell Farbe bekommen. Manch-          lichkeit etwa 50cm hoch. Wir haben Mi-       Wollen wir außerhalb von Steganlagen
mal kämpfen wir mit Mücken und Brem-          nibecken zum Waschen, eine kleine            an Land gehen, müssen wir eine Leiter
sen oder mit den Naturgewalten. Wir           Toilette mit einem gewissen Eigenleben       zu Hilfe nehmen. Zahlreiche Passagiere
sehen die Sonne am Abend rot unterge-         (Sie macht, was sie will, manchmal auch      aus vergangenen Zeiten können heute
hen, am Morgen weckt sie uns mit ihren        gar nichts und benötigt viel Aufmerk-        dieses Angebot aus Altersgründen leider
Strahlen. Von unserem Schlafplatz aus         samkeit) und sogar eine Dusche. Aber         nicht mehr wahrnehmen.
können wir fast die Hand ins Wasser hal-      Wasser gibt es auch ganz viel um uns
ten. Auf der spiegelglatten Wasserober-       herum.                                       Für viele andere, besonders Rollstuhl-
fläche schwebt ein Nebelschleier. Und                                                      fahrende, konnte so eine Fahrt nie ein
wir können beobachten, wie eine Ringel-       Gelegentlich treffen wir andere Men-         Thema sein. Deshalb haben wir einen
natter einen Frosch verschlingt oder wie      schen auf Booten oder beim Landgang.         Traum: Ein Hausboot mit viel Bewe-
sie elegant über das Wasser gleitet. Da ist   Ja, Hausboot tut gut. Alles geht etwas       gungsfreiheit, niedrigem Einstieg, einer
der Biber, der frühmorgens zur Arbeit         langsamer. Man entschleunigt, wie man        Terrasse für Rollstühle, ordentlichen
schwimmt und am Abend wieder nach             so schön sagt. Wir kommen zur Ruhe.          Schlafmöglichkeiten und einer barriere-
Hause zurückkehrt. Wir sehen Fischad-         Das ist schön. Das berührt mich. Ich habe    freien Toilette.
ler beim Beutefang, Reiher, Kormorane         Zeit zum Nachdenken und man relati-
und Bisamratten.                              viert seine eigene Wichtigkeit in der gro-
                                              ßen weiten Welt. Es sind Gedanken, wie:
                                                                                                                      Martin Pohl
Alles bewegt sich: Sei es im Wasser, auf      Da spielt sich ganz viel Leben auch au-
                                                                                                                  Teamkoordinator
dem Wasser, daneben oder über den Bäu-        ßerhalb meines Wirkungskreises ab.
                                                                                                                       Lindenhof

18   UNTERWEGS 2/2021
AUS DEN BEREICHEN

Mit Alvaro Soler tanzen                                                                                                      INFOS ZUM HAUS LYDIA

                                                                                                                         Im Haus Lydia wohnen 18 erwachsene
Herr Thadewaldt wohnt im Haus Lydia in Lindenberg                                                                        Menschen mit geistiger Behinderung
bei Beeskow. Er beschreibt uns, was er fühlt und was                                                                     und Autismus-Spektrum-Störung. Die
                                                                                                                         Bewohner*innen des Hauses teilen sich
ihm gefällt.                                                                                                             in vier Wohngruppen auf.

                                                                                                                         Alle Bewohner*innen haben großzügige
                                                                                                                         Einzelzimmer und weitere Rückzugs-

D    ie im Folgenden beschriebenen Be-
     obachtungen und Wahrnehmungen
resultieren aus Gesprächen zwischen
                                                                 Henry Thadewaldt:
                                                                 Manchmal reagiere ich auf bestimmte
                                                                 Reize überempfindlich. Erkennen die
                                                                                                                         möglichkeiten. Unter anderem stehen
                                                                                                                         ihnen ein Therapieraum und unter-
                                                                                                                         schiedliche Entspannungsräume zur
Herrn Thadewaldt und der Mitarbeiterin                           Mitarbeiter*innen nicht meine Bedürf-
                                                                                                                         Verfügung. Außerdem gibt es einen lie-
Frau Lehmann. Herr Thadewaldt ant-                               nisse, schreie ich laut und werfe Gegen-
                                                                                                                         bevoll gestalteten Außenbereich.
wortet auf Fragen in seiner ganz eigenen                         stände umher.
Art. Er versteht viele Dinge und Situa-
                                                                                                                         Teamkoordinatorin:
tionen trotz seiner Sprachbeeinträchti-                          Wenn      ich    dann      von     den
                                                                                                                         Monique Rogoll
gung und wir erzielen mit etwas Geduld                           Mitarbeiter*innen an den Unterarmen
kompetente Resultate.                                            oder am Rücken gestreichelt werde, ent-
                                                                                                                         Erwachsenenwohnbereich
                                                                 spannt mich das.
                                                                                                                         Haus Lydia
Manchmal kann die Sprache nicht gezielt                          Ich habe auch Bedürfnisse!
                                                                                                                         Schulstraße 4
eingesetzt werden, um etwas Bestimmtes
                                                                                                                         15848 Gemeinde Tauche/OT Lindenberg
auszudrücken oder zu bekommen. Daher                             Musik, die ich gerne habe, kann ich nicht
sind solche intensiven Gespräche, die wir                        laut genug hören. Ich bin Feuer und
miteinander führen, ebenso wie genaue                            Flamme, wenn ich Lieder von Alvaro
Beobachtungen sehr wichtig und dienen                            Soler laut hören kann.
dem besseren Verständnis zwischen Be-
wohner*innen und Mitarbeiter*innen.                              Mit einer Mitarbeiterin habe ich einen
                                                                 bestimmten Tanz eingeübt. Wir halten
                                                                 uns fest an den Armen und tanzen unse-
                                      Foto: Samariteranstalten

                                                                                                              Foto: Samariteranstalten

                                                                 ren Tanz zu der Musik von Alvaro Soler.
                                                                 Auch das gegenseitige Drücken der
                                                                 Hände, Zuwendung, ruhiges Zureden
                                                                 entspannt mich.
                                                                 Ich entscheide dann, wie lange ich diese
                                                                 Berührungen möchte.

                                                                 Das Arbeiten mit dem Werkstoff Ton
                                                                 finde ich toll. Der riecht so gut.

                                                                 Durch die lange Corona-Zeit, in der ich
                                                                 nicht nach Hause fahren konnte, habe ich
                                                                 meine Mama sehr vermisst. Sie drückt
                                                                 und streichelt mich. Das finde ich gut.

                                                                 Wenn ich zur Nachtruhe gehe, lege ich
                                                                 mich ganz lang und gerade in mein Bett
                                                                 und warte darauf, dass mich jemand zu-
                                                                 deckt und mich über das Gesicht oder
                                                                 den Kopf streichelt. Dann kann ich zu-
                                                                 frieden und glücklich schlafen.

                                                                 Herr Thadewaldt mit Frau Lehmann beim Tanz

                                                                                                                                               UNTERWEGS 2/2021   19
AUS DEN BEREICHEN

                                                                                                                                                 Foto: Samariteranstalten
Bindung als Beginn
der Sexualität

                                                                                                                         Foto: Annika Hochhuth
Sexuelle Entfaltung, Liebe und Bindung sind genauso                                werden manchmal sogar übergriffig. Sie
bedeutsam für Menschen mit Behinderung wie für                                     sind wütend auf die ganze Welt, über die
                                                                                   Menschen, die ihnen kein zu Hause
nichtbehinderte Menschen. Unsere Aufgabe ist dies an-                              gaben. Und das zu Recht.
zuerkennen und ernst zu nehmen. Sexuelle Fähigkeiten
                                                                                   Unsere Aufgabe ist es, den Blick zu wan-
entstehen nicht etwa mit dem Erwachsensein. Sie ent-                               deln, den Jugendlichen als Experten
wickeln sich von Geburt an.                                                        seiner selbst zu erkennen, nicht zu wis-
                                                                                   sen, was für ihn gut ist, sondern sich
                                        Die Bindung, die ein Säugling zu sei-
                                         ner Mutter spürt, lässt ihn Urver-
                                   trauen fühlen. Die Pflege und Fürsorge
                                                                                   gemeinsam mit ihm auf die Suche zu
                                                                                   machen. Diesen Jugendlichen ein
                                                                                   liebevolles Zuhause zu schenken,
                                   eines Babys sind allumfassend und las-
                                                                                   Beziehungen aufzubauen, wo vorher
                                   sen es gesund heranwachsen. Nicht alle
                                                                                   keine waren und zeigen, dass sie bei uns
                                   Kinder haben dieses Glück. Jeden Tag in
                                                                                   Geborgenheit erfahren kön-
                                   meiner beruflichen Tätigkeit arbeite ich                                       Geborgenheit
                                                                                   nen und angekommen sind.
                                   mit Jugendlichen, die schon im ersten
                                                                                   Ein Zuhause gefunden erfahren
                                   Teil ihres Lebens Bindungsbrüche erle-
                                                                                   haben.
                          Immer wieder ben     mussten, nicht die Geborgen-
                                          heit erfahren durften, die eigentlich
                                                                                   Warum schreibe ich darüber?
                        Bindungsbrüche jedem Kind zustehen. Ein Leben              Dies ist existenziell wichtig für den
                                   von einem Wohnheim in eine Auffang-
                                                                                   späteren Beziehungsaufbau und der
                                   station, immer neue Erzieher, eine neue
                                                                                   zukünftig gelebten Sexualität mit ihrer
                                   Umgebung, neue Mitmenschen. Immer
                                                                                   Vielfalt und dem Facettenreichtum. Zu
                                   wieder Bindungsbrüche.
                                                                                   hinterfragen, warum Bewohner etwas
                                                                                   nicht wollen, widersprechen und manch-
                                        Ab einem bestimmten Alter, beschrieben
                                                                                   mal Dinge tun, die uns erschrecken. Der
                                        als bindungsgestört und Systemsprenger,
                                                                                   Weg sollte nie sein, den Menschen
                                        ziehen manche dieser Kinder ins Haus
                                                                                   wegzuschicken, ihn aufzugeben oder
                                        Bethesda. Aber sind sie das? System-
                                                                                   seine Macht als Mitarbeiter zu miss-
                                        sprenger? Oder hat unser System sie
                                                                                   brauchen. Unsere Aufgabe ist es, den
                                        dazu gemacht, weil niemand da war, um
                                                                                   Menschen, die uns anvertraut wurden,
                                        sie aufzufangen? Solche Kinder kommen
                                                                                   das zuzugestehen, was jeder von uns hat
                                        ins Haus Bethesda und versuchen zu be-
                                                                                   und braucht: Liebe, Glück, Geborgenheit
                                        weisen, dass auch wir sie wieder weg-
                                                                                   und eine gelebte Sexualität.
                                        schicken, wie all die anderen Stellen es
                                        taten. Sie schreien, kennen jedes                           Annika Hochhuth
                                        Schimpfwort, das der Duden hergibt,              Wohnbereichsleitung Bethesda

20   UNTERWEGS 2/2021
AUS DEN BEREICHEN

Aufwühlender Abschied
Umzug aus dem Wichernheim: Madlen Lehmann
berichtet aus dem Kinder-Wohnbereich in Forst.

Es war einmal ein 8-jähriger polnischer      benötigte. Man merkte täglich, dass er        digt sein Ämterplan, liebt es duschen und
Junge mit Down-Syndrom, der im Herbst        sich bei uns wohl fühlte und dass das         baden zu gehen. etc., um nur einiges zu
2017 in unsere Einrichtung kam. Ich          Wichernheim im Laufe der Zeit zu              erwähnen, was wir innerhalb der vier
kann mich noch sehr gut an die erste Zeit    seinem Zuhause geworden war.                  Jahre gemeinsam erreicht haben.
mit ihm erinnern, die wir mit ihm päda-
gogisch begleiteten. Damals war er           Ich sitze am Schreibtisch und blicke nun      Im Laufe der Lebenszeit „steigen" immer
inkontinent und ein gezieltes Toiletten-     auf die gemeinsamen vier Jahre zurück,        wieder Menschen in den „Zug des
training kannte er nicht. Die Kommu-         die wir im Team mit ihm erlebt haben.         Lebens" ein und wir alle haben die
nikation war anfangs schwierig, da er        Auch wenn unsere gemeinsame Zeit am           Möglichkeit das Beste daraus zu machen.
vorher in einer polnischen Einrichtung       Anfang sehr schwierig war, so macht es        Wir möchten wertvolle Zeit mit lieben
untergebracht war.                           uns alle sehr traurig, dass er unsere Ein-    Menschen      verbringen      und    die
                                             richtung verlassen musste. Seine Eltern       Möglichkeit haben, sie mit allen Stärken
Sein eingerichtetes Zimmer „gestaltete"      wollten es so.                                und Schwächen so anzunehmen, wie sie
er innerhalb kürzester Zeit auf seine                                                      sind.
eigene Weise: Heizkörper wurden abge-        Seitdem wir mit den uns anvertrauten
rissen, Gardinenstangen mit gezielten        Kindern über den bevorstehenden               Hätten wir einen einzigen Wunsch frei,
Würfen mit Kuscheltieren heruntergeris-      Auszug sprachen, konnte man spüren,           dann würden wir uns M. zurück in unsere
sen, Tapete von den Wänden entfernt,         wie traurig und schockiert die Kinder und     Einrichtung wünschen, um seine positive
Schränke verschoben...                       alle Betreuerinnen bzw. Betreuer über         Entwicklung weiterhin mitzuerleben und
                                             diesen Entschluss seiner Eltern waren         weiter zu fördern. Wir wären gern mit
Nichts, was wir für ihn eingerichtet hat-    und noch immer sind. Es fällt uns allen       ihm im „Zug des Lebens" weiterge-
ten, wollte er akzeptieren. Aufgrund         sehr schwer, uns an den Gedanken zu           fahren, aber unsere gemeinsame Reise ist
seines Verhaltens musste alles besonders     gewöhnen, dass seit Juli unser gemein-        leider zu Ende. Es vergeht kein Tag, an
gesichert werden, damit er sich nicht ver-   samer Lebensabschnitt vorbei ist.             dem wir nicht an ihn denken. Wir ver-
letzen konnte.                                                                             missen ihn alle sehr und hoffen, dass wir
                                             Mittlerweile ist M. nicht mehr inkonti-       ihn irgendwann wieder sehen und in den
Er hatte große Schwierigkeiten, sich an      nent, spricht ein paar Wörter, akzeptiert     Arm nehmen können.
seine neue Umgebung zu gewöhnen. Die         seine Zimmergestaltung, spielt gern mit
Körperpflege unter der Dusche war mit        seinen Mitbewohnern, erledigt seine
                                                                                                                Madlen Lehmann
ihm jeden Tag eine große Heraus-             Beschäftigungsstation selbständig, erle-
forderung, da er sich massiv dagegen
wehrte. Sobald man das Wasser auf-
drehte, fing er lautstark an zu schreien,
warf sich auf den Boden und schlug nach
den Betreuern… Mit seinem auffälligen
Verhalten zeigte er uns, dass er negative
Erfahrungen in früheren Kindesjahren er-
lebt hatte.

Unterstützt durch unsere liebevolle Be-
                                                                                                                                      Foto: Madlen Lehmann

treuung und durch einen strukturierten
Tagesablauf mit gezielten Förderungen
für ihn, machte er große Fortschritte in
seiner Entwicklung.

Er wurde von allen Mitbewohnern und
Betreuern geliebt und war in seiner
Wohngruppe voll integriert. Seine Mit-
                                              Das Wichernheim in Forst mit dem Zug des Lebens
bewohner halfen ihm gern, wenn er Hilfe

                                                                                                                   UNTERWEGS 2/2021   21
BURGDORF-SCHULE

                        Foto: Herr Götz

22   UNTERWEGS 2/2021
BURGDORF-SCHULE

Berühren, was gefällt
Berührung ist ein körperliches Ereignis. Auf Berührung
sind wir Menschen sensibilisiert – von der ersten
Minute unseres Lebens an. Lehrerin Anke Lüth berich-
tet aus dem Burgdorf-Schulalltag.                                                                                    IMPRESSUM

                                                                                                                     „Unterwegs“
                                                                                                                     Die Zeitschrift der Samariteranstalten

I  ch sprach mit meinen Schülern über
   das Thema Berührung. Und merkte
dabei, wie ungewohnt es für sie ist, über
                                             schließlich gemeinsam geschafft hatten,
                                             durfte sich jeder noch einen Partner aus-
                                             suchen, der die als angenehm beschrie-
                                                                                                                     Herausgeberin:
                                                                                                                     Samariteranstalten
diese ureigenen Gefühle zu sprechen.         bene Stelle streicheln durfte. Dies zeugte                              August-Bebel-Str. 1-4
Deshalb bat ich meinen Kollegen, Herrn       von großem Vertrauen. Deshalb war es                                    15517 Fürstenwalde
Götz, einen Menschen zu zeichnen. Herr       zunächst auch sehr ruhig in der Klasse.
Götz kann das wirklich sehr gut. Und nun     Später zog eine große Freude und Fröh-                                  Geschäftsstelle:
forderte ich die Kinder auf zu überlegen,    lichkeit ein.                                                           Langewahler Straße 70
wo es sich für sie gut anfühlt, berührt zu                                                                           15517 Fürstenwalde
werden. Bei den sechs sprechenden            Wir reden nicht oft über unsere Gefühle
Schülern war dies leicht. Sie verstanden     und Empfindungen, kam es mir im An-                                     Redaktionskreis:
die Aufgabe und es kamen ganz unter-         schluss an diese Stunde vor. Im Alltag,                                 Ulrike Menzel, Markus Kutzker,
schiedliche Vorlieben heraus. Von Alex       gerade bei uns in der Schule, wird viel                                 Mario Stein, Anke Lüth, Reinhard
wussten wir, dass er es mag, am Rücken       kommentiert. Wir reagieren auf Situatio-                                Weiß, Nora Küchler, Frank-Michael
gestreichelt zu werden. Fathy mag das        nen oder Verhaltensweisen. Wir sollten                                  Würdisch, Gerd Gesche, Martin Kron-
sanfte Anfassen am Fuß. Mike hingegen        achtsamer miteinander sein, wo und                                      berg, Andreas Dittkrist, Heike Bůžek,
liebt es, wenn ihm sanft über die Wange      wann immer es möglich ist. Wir sollten                                  Redaktionskreis „mittendrin“ mit
gestrichen wird.                             die Kinder ermutigen, über Gefühle, die                                 den Bewohner*innen der Samis
                                             solche Berührungen bewirken, zu reden.
Schwieriger war es für Ola und Deniz.        Dazu gehört auch, sie zu ermuntern, in                                  Layout: Markus Kutzker
Diese Jungen sprechen nicht oder nur         Momenten, wo sie nicht berührt werden                                   Tel.: 03361/567-198
wenig. So versuchten wir uns daran zu        möchten, laut und deutlich Nein zu                                      m.kutzker@samariteranstalten.de
erinnern, an welcher Stelle ihres Körpers    sagen. Wir sollten die Kinder in ihrem
sie eine Berührung zulassen. Wo würden       Recht bestärken, über den eigenen Kör-                                  Foto Deckblatt: Markus Kutzker
sie diesen Kontakt genießen?                 per zu bestimmen.                                                       Foto Rückseite: www.pexels.com

                                                                           Anke Lüth
Jedes Kind wurde nun darum gebeten,                                                                                  Druck: Druckzuck + Spreedruck GmbH
die Stelle aufzumalen, mit seinem                                                                                    Papier: Eural EcoPro (100% recycelt)
Namen zu markieren und möglichst noch
ein Wort für dieses Gefühl zu finden. Das                                                                            Spendenkonten:
war schwer! Als wir diese Aufgabe                                                                                    – Sparkasse Oder-Spree
                                                                                                                        IBAN: DE 96 1705 5050
                                                                                                                              3010 1349 66
                                                                                                                        BIC: WELADED1LOS
                                                                                          Foto: Samariteranstalten

                                                                                                                     – KD-Bank eG
                                                                                                                        Bank für Kirche und Diakonie
                                                                                                                        IBAN: DE 73 3506 0190
                                                                                                                               1550 1130 11
                                                                                                                        BIC: GENODED1DKD

                                                                                                                                             UNTERWEGS 2/2021   23
SO BUNT IST UNSER GLAUBE

     Moses Wunsch

                                                                          Gott berührt Menschen
     Im Glaube sind Berührungen vielfältig.
                                                                          Eine sehr schöne Geschichte ist auch eine
     In ganz unterschiedlichen Situationen,                               besonders alte Geschichte. Mose kennt
     in der Gemeinschaft, aber auch allein, erfahren                      man vielleicht als kleinen Jungen im
                                                                          Schilfkorb auf dem Nil. Mose ist auch
     Menschen spirituelle und körperliche Berührung.                      der, der das Volk Israel aus der Sklaverei
     Darüber spricht Diakonin Nora Küchler.                               in Ägypten befreit. Und Mose ist auch
                                                                          der, der die 10 Gebote von Gott erhalten
                                                                          hat und sie zu dem Volk bringt. Gott hat
                                                                          direkt zu ihm geredet und sehr viel von
                                                                          ihm verlangt.

                              B    erühren und berührt werden. Das ist
                                   auch zentraler Teil des christlichen
                              Glaubens. Es sind Texte und Lieder, die
                                                                          Irgendwann äußert Mose seinen Wunsch:
                                                                          Er möchte den Gott, von dem er die
                                                                          ganze Zeit dem Volk gegenüber erzählt,
                              die Herzen berühren. Oder der Klang der     mal sehen. Er möchte den kennenlernen,
                              Orgel und das Rufen der Glocken. Es be-     der ihm die Aufträge gibt, die ihn sehr
                              rührt, wenn Menschen füreinander beten      herausfordern.
                              und eine Kerze anzünden.
                                                                          Doch Gott, der Herr, gewährt es ihm
                              In der langen Geschichte des Christen-      nicht, „denn kein Mensch wird leben, der
                              tums und der noch viel älteren Ge-          mich sieht.“ (2. Mose 33,20b)
                              schichte des Judentums werden viele
                              Erfahrungen und Geschichten erzählt, in     Gott sagt zu Mose, dass er sich auf einen
                              denen Gott Menschen berührt hat.            Felsen stellen soll. Dann geht Gott in sei-

24   UNTERWEGS 2/2021
SO BUNT IST UNSER GLAUBE

Begegnung – Berührung,
ein Aquarell von Nora Küchler (Juli 2021)

ner Herrlichkeit vorüber und hält seine      Menschen berühren Menschen
Hand über Mose. Als er an Mose vorbei
                                             Auch untereinander berühren sich Gläu-
ist, nimmt er die Hand runter und Mose
                                             bige:
darf ihm hinterhersehen. Das Angesicht                                                   VON UNS GEGANGEN SIND
                                             Der Friedensgruß ist besonders aus den
Gottes sieht er aber nicht.
                                             katholischen Gottesdiensten bekannt,
                                                                                          im Katharina von Bora-Haus:
                                             aber auch in evangelischen üblich: Vor
Menschen berühren Gott                       dem Abendmahl reicht man sich mit
                                                                                          Udo Zapke (77)
                                             möglichst vielen Menschen die Hände
Bei Jesus ist das anders. Jesus läßt sich                                                 am 29. März 2021
                                             und spricht zu jedem Einzelnen: Friede
von Menschen berühren. Davon gibt es
                                             sei mit dir.
eine beeindruckende Geschichte von                                                        Edith Schulz (88)
Jesus. Kurz vor seiner Kreuzigung                                                         am 03. Mai 2021
                                             In der Taufe berührt der Pfarrer oder die
kommt eine Frau, die ganz wertvolles Öl
                                             Pfarrerin die Stirn des Täuflings mit
dabei hat. Was macht sie damit?                                                           Margarete Nifke (91)
                                             Wasser und zeichnet ein Kreuz. Für eine
                                                                                          am 14. Juli 2021
                                             Taufe sind das Wasser und die Worte
Es kommt einem Skandal gleich. Erstens
                                             von großer Bedeutung. Gleichzeitig sind
darf sie als Frau nicht einfach in die Ge-                                                Werner Seidel (86)
                                             die Berührung des Taufenden mit der
sellschaft der Männer, in der Jesus sich                                                  am 17. Juli 2021
                                             Hand an der Stirn und die Berührung des
gerade befindet. Zweitens nimmt sie das
                                             Heiligen Geistes in dem Täufling und der
teure Öl und „verschwendet“ es, indem                                                     Martha Barkow (99)
                                             Tauffamilie zentral.
sie Jesus damit salbt.                                                                    am 31. Juli 2021

                                             Beim Abendmahl wenn ein Kreis gebil-
Die Männer sagen: Das Öl hätte sie für
                                             det wird, nehmen sich alle an die Hände:
viel Geld verkaufen können. Mit dem
                                             So erfahren wir, dass wir alle zu dem
Geld hätte man Arme unterstützen kön-
                                             Leib und zu Gemeinde Christi gehören –
nen. Die Frau erhält viele Vorwürfe.                                                      aus dem Erwachsenen-Wohnbereich:
                                             eine Gemeinschaft.
„Wie kann sie nur?“
                                                                                          Ilona Ebel (62)
                                             Beim Segnen wird die Hand auf den
Jesus mischt sich ein:                                                                    am 17. März 2021
                                             Kopf gelegt oder ein Kreuz auf die Stirn
„Was bekümmert ihr die Frau? Sie hat
                                             gezeichnet.
ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr                                                     Johannes Burmeister (84)
habt allezeit Arme bei euch, mich aber                                                    am 10. Mai 2021
                                             Das Besondere bei den zwischen-
habt ihr nicht allezeit. Dass sie dies Öl
                                             menschlichen Berührungen ist, dass dann
auf meinen Leib gegossen hat, hat sie
                                             Gott dazu kommt. Er wirkt durch den
getan, dass sie mich für das Begräbnis
                                             Segnenden, er wirkt durch den Taufen-
vorbereitet.”
                                             den, er ist mitten unter uns im Abend-
                                             mahl.
Ein paar Tage später stirbt Jesus. Er wird
ins Grab gelegt. Und er bekommt keine
                                             So wie Gott schützend die Hand über
Salbung mehr. So hat diese Frau einen
                                             Mose gehalten hat, so hält er sie auch
großen Dienst an ihm getan.
                                             über jeden Einzelnen von uns.
Jesus, als Gottes Sohn, braucht auch Be-
                                             Mögen Sie diesen Segen spüren und sich
rührung.
                                             immer wieder im Herzen von Gott be-
                                             rühren lassen!

                                             Herzliche Grüße

                                             Diakonin Nora Küchler
                                             Pastorale Dienste

                                                                                                              UNTERWEGS 2/2021   25
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