Beschäftigung im Direktvertrieb: Erwerbsarbeit mit prekären Folgen
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aufsätze WSI Mitteilungen 2/2017 Beschäftigung im Direktvertrieb: Erwerbsarbeit mit prekären Folgen Die Arbeit von Frauen im Direktvertrieb birgt eine Reihe von Prekarisierungsrisiken, die bislang weder von der Geschlechterforschung noch arbeitspolitisch aufgearbeitet worden sind. Es handelt sich um eine Beschäftigungsform, die auf einer spezifischen Konstellation aus traditionellem Geschlechterarrangement („male breadwinner model“ und Ehegatten- splitting) und formaler Selbstständigkeit der Frauen beruht, die es Unternehmen wie Tupperware erlauben, Prekarisierungsrisiken und -kosten zu externalisieren. In dem Maße, in dem auch Männer zunehmend von der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses betroffen sind, werden die im Direktvertrieb strukturell schon lange bestehenden proble- matischen Arbeitsbedingungen brisanter. Cl audia Groß, K arina Becker brutto/Stunde (vgl. Groß 2008), völlig übertriebene Ein- 1. Einleitung kommensversprechen des Unternehmens (Koehn 2001; Walsh 1999), Karrieren, die mehr Schein als Sein sind (Be- Etwas „dazu verdienen oder eine selbstständige Existenz cker 2016), hohe Fluktuationsraten (Biggart 1989; Groß aufbauen“, „flexibel arbeiten“ mit „geringe[n] Kosten“ und 2008) und fehlende soziale Absicherung. Dass trotz dieser „geringe[m] Risiko“, ein „(Wieder-)Einstieg ins Berufsle- Probleme keine wahrnehmbaren interessenpolitischen In- ben“ oder „als Angehöriger der Generation 50+ eine zwei- itiativen in diesem Feld bestehen, erklären wir mit der spe- te Chance“1 erhalten – mit diesen und ähnlichen Verspre- zifischen Beschäftigungskonstellation im Direktvertrieb: Diese Datei und ihr Inhalt sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Verwertung (gewerbliche Vervielfältigung, Aufnahme in elektronische Datenbanken, Veröffent- chen werben Direktvertriebe (DV) für ihre Tätigkeit. Wer Erstens fallen die formal selbstständigen Verkäuferinnen für Tupperware (Haushaltsprodukte), Herbalife (Vitamine) und Verkäufer durch das klassische Institutionengefüge der oder PepperParties (Erotikartikel) Produkte verkauft, kann Arbeitsmarktpolitik. Das heißt jedoch nicht, dass betrieb- ganz ungezwungen von zu Hause aus Karriere machen und liche Strukturen hier keine Rolle spielen. Beim DV handelt dabei auch noch umfangreiche soziale Kontakte pflegen, so es sich um ein Beschäftigungsfeld mit betrieblich vororga- die Botschaft. Angesichts der inzwischen 823.000 meist nisierter Arbeit: So werden bei Tupperware beispielsweise weiblichen Vertriebspartnerinnen (bis 2019 wird ein An- Arbeitsabläufe wie das Einladen der Gäste zur Heimvor- wachsen auf mehr als 1 Mio. erwartet),2 scheinen diese führung und deren Gestaltung, das Anwerben neuer Mit- Versprechen in der Branche eine gewisse Anziehungskraft glieder usw. im Einzelnen von der Zentrale vorgegeben. lichung online oder offline) sind nicht gestattet. zu haben. Die Ausbreitung dieser Beschäftigungsform sagt Auch in anderen DV sind Produktsortiment, Produktprei- indes noch nichts über die Arbeitsbedingungen aus. Es se, Marketingmethoden, Kommissionen sowie sämtliche handelt sich um ein Beschäftigungsfeld, das weder über andere finanziellen Anreize von den Unternehmenszentra- eine Interessenvertretung verfügt, noch lassen sich derzeit len festgelegt und für alle Arbeitenden bindend. In den arbeitspolitische Strategien ausmachen, die die Arbeitsbe- © WSI Mitteilungen 2017 dingungen von Beschäftigten aus dem DV in den Blick nehmen und auf Verbesserungen derselben zielen. Im vorliegenden Artikel zeigen wir, dass diesbezüglich 1 http://www.direktvertrieb.de/Karrierechancen.61.0.html (letzter Zugriff: 18.08.2016). ein großer Handlungsbedarf besteht. Bei Tupperware ar- beiten Frauen unter prekären, zum Teil auch ausbeuteri- 2 www.presseportal.de/pm/68635/3141969 (letzter Zugriff: schen Verhältnissen. Dazu gehören Löhne von unter 5 € 10.07.2016). https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117 117 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
aufsätze regelmäßig stattfindenden Schulungen werden den im Di- 2012 – 2015 im Direktvertrieb durchgeführt haben. Die Un- rektvertrieb Arbeitenden das nötige Wissen, etwa zur Pro- tersuchung im Jahr 2005 stellt die Ausgangsfrage, wie das duktfunktionalität, aber auch verkaufsförderliche Argu- Direktvertriebsunternehmen Tupper seine formal selbst- mente gelehrt. Weder liegen diese Aspekte in der ständigen Mitglieder motiviert und kontrolliert. Dafür wur- Eigenverantwortlichkeit der dort Tätigen, noch lässt sich den beispielsweise Motive für den Einstieg, den Ausstieg, in dieser Hinsicht von einer Weisungsfreiheit sprechen, wie die finanziellen und die immateriellen Anreize für den Ver- sie etwa bei selbstständigen Werkvertragsnehmern gegeben bleib im Unternehmen erforscht. Die Erhebung basiert auf sein muss. Vor dem Hintergrund unserer Forschungen lässt drei Methoden: Zunächst wurde eine offene, teilnehmende sich damit sagen, dass diese Beschäftigungsvariante Merk- Beobachtung in der Rolle als Wissenschaftlerin durchge- male von Scheinselbstständigkeit aufweist. Zweitens wurde führt und so insgesamt zwölf Wochenschulungen, ein regi- den vorwiegend weiblichen Beschäftigten mit oft geringer onaler „Nachwuchstag“, zwei Schulungen für neue Berate- Ausbildung wenig arbeitspolitische Aufmerksamkeit ge- rinnen und sechs Tupperpartys besucht. Darüber hinaus schenkt. Denn während die Arbeitsbedingungen eindeutig war es möglich, nach den Wochenschulungen an den infor- prekäre Züge tragen, ist die Tätigkeit im Direktvertrieb mellen Treffen älterer Beraterinnen teilzunehmen. Zweitens oftmals durch männliche Ehepartner im „Normalarbeits- wurden zwölf leitfadengestützte Interviews mit Beraterin- verhältnis“ finanziell und sozial abgesichert und führt daher nen, Gruppenberaterinnen und der Bezirkshändlerin ge- nicht unbedingt zu prekären Lebenslagen. Die Folge dieser führt sowie neun weitere durch eine Mitarbeiterin erhobe- für den Direktvertrieb spezifischen Konstellation ist, dass ne Interviews ausgewertet. Drittens erhielten die Autorinnen die strukturell prekären Arbeitsbedingungen bislang kaum Zugang zu zahlreichen Unternehmensmaterialien, z. B. die offenbar sind und die Frage kollektiver Absicherung eben- wöchentlichen Informationsflyer der Bezirkshandlung, die so wenig gestellt wird. Die internationalen Großkonzerne Wettbewerbsbroschüren der Unternehmenszentrale sowie des DV mit einem deutschlandweiten Umsatz von die Mitgliedervereinbarung. 13,7 Mrd. €3 haben so die Möglichkeit, im völlig mitbestim- Die 2012 – 2015 durchgeführte Untersuchung basiert mungsfreien Raum ohne jegliches Gegengewicht zu agieren. auf zwei Instrumenten: Zum einen haben die Autorinnen Es gibt keinerlei Zahlen zu den Erwerbsstrukturen im DV. mit Hilfe des Ansatzes der verdeckten teilnehmenden Be- Gleichwohl kann angenommen werden, dass das Anwach- obachtung an verschiedenen Verkaufsabenden (Tupperpar- sen dieser Vertriebsform Folgen für die industriellen Be- tys) und Gruppenmeetings der Beschäftigten teilgenom- ziehungen im gewerkschaftlich organisierten Einzelhandel men. Dieses Vorgehen ermöglichte es am ehesten, dass das hat – bis hin zur Unterwanderung der dort geltenden Ta- soziale Geschehen durch den Beobachtungsgang möglichst rifverträge und Mitbestimmung. Während im Direktver- unbeeinflusst (nichtreaktiv) blieb. Zum anderen wurden 21 trieb das Beschäftigungsrisiko und die Kosten sozialer Ab- leitfadengestützte Interviews mit Frauen verschiedenen Al- sicherung vollständig auf die formal selbstständigen ters (zwischen 23 und 55) geführt, die als Verkäuferinnen, Mitglieder (und deren soziales Umfeld sowie den Staat) Gruppenberaterinnen oder Bezirkshändlerinnen in ver- abgewälzt werden, müssen bei angestellten Vertriebs- und schiedenen Varianten entweder nebenbei und damit stun- Einzelhandelsbeschäftigten diese auch von den Unterneh- denweise, tageweise, sporadisch oder auch hauptberuflich men getragen werden. bei Tupperware arbeiten oder gearbeitet haben. Beide Er- Vor diesem Hintergrund geht es in unserem Beitrag vor hebungsmethoden gaben Aufschluss über die Motive und allem darum, am Beispiel der Marke Tupperware für eine Erwartungen, die die Beschäftigten für ihr Engagement bei Beschäftigungsform zu sensibilisieren, die jenseits der mitt- Tupperware hegen. Um noch mehr Einblick in den privaten lerweile gut erforschten betrieblichen Felder prekärer Arbeit Kontext der Beschäftigten zu bekommen, konnten zudem (Leiharbeit, Werkvertrag) liegt, aber durchaus einen Beitrag sechs Ehemänner für ein Interview gewonnen werden. zur Ausdifferenzierung des Prekarisierungsdiskurses leistet. Für den vorliegenden Aufsatz haben wir die Forschungs- Es handelt sich um eine bekannte,4 aber sozialwissenschaft- ergebnisse unter dem spezifischen Blickwinkel der proble- lich kaum beachtete und schon gar nicht erforschte Be- matischen Beschäftigungsbedingungen analysiert, um sie schäftigungsform von Frauen, die in einer Grauzone zwi- hier als exemplarisch für den DV vorzustellen.5 Während schen abhängiger und selbstständiger Arbeit liegt und die wir daher als eine Variante von „dependent self-employ- ment“ (European Union 2013), also abhängiger Selbststän- digkeit, fassen. Wir werden zeigen, dass das Engagement 3 seldia.eu/index.php?option=com_content&view= von Frauen bei Tupperware für diese zwar emanzipatori- article&id=22&Itemid=184 (letzter Zugriff: 01.07.2016). sches Potenzial birgt, ihre Beschäftigung zugleich aber auch 4 Die Markenbekanntheit beträgt laut GfK 99 %; 80 % mit einer Reihe von bisher weitgehend unerforschten Risi- aller Haushalte besitzen mindestens ein Tupperprodukt, ken verbunden ist. www.direktvertrieb.de/Tupperware.153.0.html (letzter Zugriff: 05.05.2016). Die empirischen Grundlagen unseres Aufsatzes beru- hen, falls nicht anders angegeben, auf zwei unabhängig 5 Für eine umfangreichere Beschreibung und Analyse der durchgeführten Erhebungen, die die Autorinnen 2005 und zwei Erhebungen siehe Becker (2016); Groß (2008). 118 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
WSI MITTEILUNGEN 2/2017 sich die beiden Erhebungen in ihrer Ausrichtung, ihrem trieblerinnen bzw. Vetriebler, die jedoch zugleich Merkmale Erhebungszeitraum und ihrer Herangehensweise unter- aufweist, die denen abhängiger Beschäftigungsverhältnisse scheiden, werden in beiden Erhebungen drei Spannungs- ähneln. Typisch ist etwa, dass die Verkaufenden in der Regel felder der Tätigkeit deutlich, die wir näher erläutern sowie ausschließlich Produkte eines Unternehmens vertreiben. Wie in ihrer Relevanz für den gesamten DV einordnen. gezeigt werden wird, agieren die Beschäftigten weder völlig Der Artikel ist folgendermaßen aufgebaut: In den nächs- autonom und getrennt von den Unternehmen noch sind sie ten Abschnitten erläutern wir zentrale Charakteristika des in einer Weise integriert wie dies bei betrieblich organisierter DVs (2) und beschreiben Tupperware als Arbeitgeber (3). Arbeit der Fall ist. Zudem schließen sie nicht etwa einen Anschließend besprechen wir drei Spannungsfelder der Arbeitsvertrag mit einem Unternehmen ab, sondern unter- Tätigkeit, die nicht nur für Tupperware, sondern für den schreiben eine ein- bis zweiseitige Mitgliedervereinbarung. gesamten DV typisch sind (4). Im 5. Abschnitt ordnen wir Während repräsentative Studien zu den Beschäftigten die Tätigkeit in den sozialwissenschaftlichen Diskurs zum des DV schlicht fehlen, geben vereinzelte Quellen Einblick Leitbild „Guter Arbeit“ ein und erklären dann, warum der in dieses in Deutschland kaum erforschte Feld: Unter Be- DV zwischen die Stühle des (arbeitsmarktrechtlichen) In- rufung auf seine Mitgliedsunternehmen geht der Bundes- stitutionengefüges fällt (6). Unser Beitrag endet mit kon- verband Direktvertrieb Deutschland davon aus, dass rund kreten arbeitsmarktpolitischen Forderungen und Vorschlä- 83 % der Mitglieder ihre Tätigkeit im Nebenerwerb betrei- gen für die weitere Forschung (7). ben, wobei unklar bleibt, wie viele Arbeitsstunden dies um- fasst und inwiefern die Tätigkeit zur finanziellen Absiche- rung beiträgt. Auch andere Merkmale der Beschäftigten (Ausbildungsniveau, Alter, Familiensituation etc.) sind un- erforscht. Aus den Zahlen des Bundesverbandes geht ledig- 2. Was kennzeichnet den Direktvertrieb? lich hervor, dass bei den im Nebenerwerb Tätigen von einem Frauenanteil von knapp 98 % auszugehen ist. Es handelt sich Direktvertriebe wie Avon, Amway, Herbalife, Mary Kay um einen „weiblichen Beschäftigungssektor“;7 der Frau- oder Tupperware vertreiben eine Vielzahl von Produkten enanteil bei allen Beschäftigten liegt bei knapp 79 %.8 an ihre Kunden: Kosmetika, Haushalts- und Wellness-Pro- dukte, Nahrungsergänzungs- und Reinigungsmittel, Schmuck, Telefonverträge, Wein und Schokolade sind nur einige Beispiele aus der Produktpalette dieser weltweit wachsenden Beschäftigungsform (DSN 2012). Im Jahre 3. Tuppern als Form abhängiger 2013 waren mehr als 96 Mio. Menschen Mitglied eines DV Selbstständigkeit und bescherten den Unternehmen einen Umsatz von circa 178,5 Mrd. US-Dollar (WFDSA 2014). Das Unternehmen Tupperware wurde in den 1940er Jahren Kennzeichnend für den DV ist, dass die Verkäuferinnen in den USA gegründet und ist seit 1962 auch in West- und Verkäufer, oft auch Berater, Consultants oder Ge- deutschland tätig. Seit 1996 ist Tupperware ein börsenno- schäftspartner genannt, als selbstständige Gewerbetreiben- tierter Konzern, wobei die Haushaltsproduktsparte unter de Produkte an Kunden verkaufen. Dies geschieht „direkt“, der Marke Tupperware® heutzutage neben Kosmetikpro- das bedeutet ohne zwischengeschalteten Einzelhandel (Pe- dukten nur noch einen Teil des Konzerns ausmacht. terson/Wotruba 1996, S. 2). Neben dem sogenannten Weltweit erwirtschaftete das Unternehmen 2,3 Mrd. „Haustürgeschäft“ und Einzelberatungen ist laut Bundes- US-Dollar im Jahr 2015,9 in Deutschland lag der Umsatz verband Direktvertrieb Deutschland die Partyform die 2014 bei 208,9 Mio. €.10 Ungefähr 50.000 Berater- meist verbreitete Verkaufsmethode.6 Mehrere Kundinnen und Kunden kommen im privaten Umfeld zusammen, er- halten eine Produktvorführung und können anschließend 6 www.direktvertrieb.de/News-detail.241.0.html?&tx_tt- Produkte bestellen bzw. direkt erwerben. news%5Btt_news%5D=977&cHash=f04b4d712f06e5c- Die im Direktvertrieb Arbeitenden erhalten zum einen de0cd6c754dcfbeef (letzter Zugriff: 19.07.2016). eine Beteiligung an den Verkaufseinnahmen. Darüber hinaus 7 Wir verwenden im Folgenden daher auch die weibliche Form. besteht bei den meisten Unternehmen auch die Möglichkeit, weitere Mitglieder anzuwerben, um so eine eigene Gruppe 8 www.direktvertrieb.de/News-detail.241.0.html?&tx_ aufzubauen (DSN 2012). Je größer und umsatzstärker die ttnews%5Btt_news%5D=984&cHash=3dd41e04463d 8371b4633aaa084adb33 (letzter Zugriff: 19.07. 2016). eigene Gruppe ist, desto mehr „Superprovision“ empfangen Mitglieder (Brodie et al. 2002). Neben dem Anwerben müssen 9 http://ir.tupperwarebrands.com/~/media/Files/T/TupperWare- die Mitglieder dann jedoch i. d. R. auch die Mitglieder ihrer IR/documents/annual-reports/2015/2015 – 10K-filing.pdf (letzter Zugriff: 19.07.2016). Gruppe motivieren und führen und ggfs. selbst ausbilden. Dieses Geschäftsmodell der „dependent self-employ- 10 www.bundesanzeiger.de/ebanzwww/wexsservlet (letzter ment“ kennzeichnet die formale Selbstständigkeit der Ver- Zugriff: 19.07.2016). https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117 119 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
aufsätze innen,11 seit Neuestem PartyManager genannt, sind in Unter den formal selbstständigen Beraterinnen gibt es Deutschland tätig. In der Unternehmenszentrale arbei- eine hierarchische Arbeitsteilung, die an betriebliche „Ka- teten 145 Angestellte bzw. Arbeitnehmerinnen.12 minkarrieren“ erinnert: Der Einstieg erfolgt zunächst als Wie üblich im DV, kann auch bei Tupper jede und „einfache Beraterin“. Wer fünf aktive Beraterinnen anwirbt jeder einsteigen: das Unterschreiben einer Mitgliedsver- und diese auch betreut, steigt zur Gruppenberaterin auf. einbarung mit dem Unternehmen bzw. der Bezirkshänd- Obwohl alle Beraterinnen selbstständig sind, ist vom Unter- lerin vor Ort genügt. Diese Vereinbarung enthält keine nehmen festgelegt, dass Gruppen nicht gewechselt werden Arbeitszeiten, Stundenlöhne oder Angaben zum Arbeits- dürfen – auch hier greift das Unternehmen in die Ausgestal- umfang, wohl aber die Verpflichtung, den von Tupper- tung der Tätigkeit ein. Aus den besten Gruppenberaterinnen ware vorgegebenen Standards zu folgen. deutschlandweit speisen sich wiederum die Bezirkshändle- So erhalten neue Beraterinnen von den Bezirkshändle- rinnen, die als Franchisenehmerinnen mit dem Unterneh- rinnen eine Einarbeitung und werden zu den wöchentlichen men verbunden sind. Die Bezirkshändlerinnen sind verant- Montagstreffen eingeladen. Dort werden neue Produkte vor- wortlich für die Wochenschulungen, die Schulung der gestellt, Verkaufstipps gegeben, die monatlichen Sonderan- Neueinsteigerinnen sowie der Gruppenberaterinnen. Dar- gebote erläutert und erfolgreiche Mitglieder ausgezeichnet. über hinaus dient die Bezirkshandlung als Lager: hier wird Die Treffen finden in der Bezirkshandlung statt, wo auch die die Ware bestellt, durch Beraterinnen abgeholt und beschä- bestellten Waren abgeholt werden können. Bei ihrer Arbeit digte Ware umgetauscht. sind die Beraterinnen gehalten, sich an die von Tupperware Anders als bei „klassischer“ Selbstständigkeit ist auch vorgegebenen Ablaufpläne und Muster zu halten; selbst für das Vergütungssystem formal geregelt: Auf den Umsatz das Einladen der Gäste gibt das Unternehmen Formulierun- einer Party bzw. einer Bestellung beim Unternehmen er- gen vor. Sowohl bei der Vor- und Nachbereitung der Heim- hält die Beraterin in den ersten 13 Wochen 20 %, anschlie- vorführung als auch für die „Party“ selbst müssen sich die ßend 24 % Provision.14 Davon müssen alle anfallenden Beraterinnen an eine standardisierte Reihenfolge halten, die Kosten wie z. B. Fahrten zur Party und zum Abholen und Zweifel an einer Weisungsungebundenheit – eines der zen- Ausliefern der Ware, Vorführartikel, Beteiligung an Gast- tralen Merkmale selbstständiger Arbeit – der Beraterinnen und Gastgeberinnengeschenken selbst bezahlt werden. aufkommen lässt. Die Arbeitsmittel, die Produkte sowie die Als formal Selbstständige können sie mit keiner sozialen Gastgeberinnen- und Gastgeschenke müssen die Beraterin- Absicherung oder Aufwandsentschädigung bei erfolglo- nen vor den Heimpartys selbst kaufen; Kataloge und Bestell- sem Arbeitseinsatz rechnen; die Risiken der Entlohnung formulare stellt das Unternehmen zur Verfügung. Auch die unterliegen der direkten Marktförmigkeit. Anreiz- und Wettbewerbsstruktur von Tupperware werden vollständig durch das Unternehmen gerahmt. Obwohl nicht vertraglich festgelegt, wird zudem Wert auf ein ansprechen- des Äußeres gelegt, da die Beraterinnen nicht nur sich selbst, sondern in erster Linie das Unternehmen Tupperware re- präsentieren sollen. Der Einstieg bei Tupperware als Beraterin/PartyMa- nagerin kommt meist über persönliche Beziehungen zu- stande und erfolgt in der Regel, nachdem die Frauen als Gastgeberinnen eine Tupperparty veranstaltet (Langrei- ter 2006) oder bereits als Gast eine oder mehrere Tupper- partys besucht haben. Als Gastgeberin stellen sie ihren privaten Raum und ihre Freundschaftsnetzwerke zur Verfügung; die Produkte werden von einer Beraterin prä- 11 Der Anteil der männlichen Berater liegt bei ungefähr 1 % sentiert, die im Anschluss an die Vorführung neue Tup- und wird hier sprachlich nicht explizit berücksichtigt. perberaterinnen rekrutiert. Auf den Tupperpartys sind Quelle für Anzahl Beraterinnen: Groß (2008) und Frauen jeden Alters anzutreffen (oft verwandtschaftlich, http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/die-tupperparty- trotzt-dem-wachsenden-internethandel-14348401. nachbarschaftlich oder freundschaftlich verbunden). Wie html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (letzter Zugriff: bei anderen DV werden auf den Partys Produkte vorge- 22.07.2016). führt und teilweise ausprobiert. Kundinnen können an- schließend die Produkte bestellen und in der Folgewoche 12 https://www.bundesanzeiger.de/ebanzwww/wexsservlet (letzter Zugriff: 19.07.2016). bei der Gastgeberin abholen. Die Motive der Frauen, eine Party zu veranstalten, reichen von dem Interesse an den 13 Als Gastgeberin erhalten diese ein sogenanntes Gastge- Produkten13 bis hin zu dem Wunsch nach Abwechslung bergeschenk, wobei gilt: je mehr auf der Party verkauft wird, desto wertvoller das Geschenk. und Geselligkeit, was vor allem von Frauen mit kleinen Kindern oder auch jenen, deren Kinder bereits aus dem 14 www.tupperware.de/partymanager/verdienst (letzter Zu- Haus sind, in unseren Interviews genannt wurde. griff: 21.07.2016). 1 20 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11. 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WSI MITTEILUNGEN 2/2017 4.2 Hervorragende Einkommensmöglichkeit 4. Spannungsfelder abhängiger mit unbedeutendem Verdienst Selbstständigkeit am Beispiel Neben dem Flexibilitätsversprechen wirbt Tupper mit einem Tupperware attraktiven (Neben-)Einkommen, das weitgehend selbst bestimmt werden kann: Während im Angestelltenverhältnis 4.1 Flexibilität – begrenzt und entgrenzt das Einkommen oft festgelegt ist, kann bei Tupper sowohl sehr wenig als auch viel verdient werden – je nach Perfor- Die zentralen Botschaften von Tupperware an (neue) Be- mance der Beraterin. raterinnen sind die freie Zeiteinteilung und die ideale Nach unserer Erhebung fällt es den meisten Beraterinnen Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf. Auf der Web- schwer, das (ursprünglich) erwünschte Einkommen zu er- site des Unternehmens ist zu lesen: „Als PartyManager zielen. Gründe hierfür sind neben dem tatsächlichen Zeit- sind Sie Ihr eigener Chef! Ob tagsüber, am Abend, unter aufwand pro Party (s. o.) und der Schwierigkeit, Gastgebe- der Woche oder am Wochenende – Sie entscheiden selbst, rinnen zu finden, die vom Unternehmen festgelegte wann und wie oft Sie aktiv sind und wie Sie Ihre Zeit ein- Provisionsstruktur. Nach ihrem Stundenlohn gefragt, wurde teilen. Dadurch lässt sich Ihre PartyManager-Tätigkeit in unseren Erhebungen deutlich, dass die meisten Beraterin- perfekt mit der Familie, Ihren Hobbys oder Ihrem Beruf nen diesen nicht berechnen. Eine langjährige Beraterin gibt verbinden.“15 an: „Kann ich ihnen gar nicht sagen. … Kann man nicht! In unseren Erhebungen wurde deutlich, dass diese Weil wenn man überlegt: Die Bestellungen machen, das Pa- Flexibilität einer der Hauptgründe für den Einstieg ist. cken. Also mein Mann sagt manches Mal schon: ‚Du hast Vor allem Mütter mit kleinen Kindern wählen diese Tä- einen Stundenlohn, wenn es viel ist, vielleicht von 5 € oder tigkeit, da sie sich besser mit der Familienarbeit verein- nicht einmal.’ Aber so darf man es halt nicht sehen: Tupper baren lässt als eine klassische abhängige Beschäftigung muss Spaß machen, sonst hört man es wieder auf.“ (Y,#24). mit festen Arbeitszeiten und der Trennung von Arbeits- Obwohl wir auch mit Beraterinnen gesprochen haben, die und Wohnstätte. Die versprochene Flexibilität stößt je- sich zufrieden äußerten und eine Beraterin 20 € brutto pro doch in vielerlei Hinsicht an Grenzen: Während in Bei- Stunde angab, schätzten die meisten ihren Stundenlohn auf spielrechnungen für offizielle Veranstaltungen zwei bis 5 € brutto pro Stunde. Diese Höhe entspricht auch unseren drei Stunden für eine Party veranschlagt werden, ist der eigenen Berechnungen, die auf folgenden Annahmen basie- tatsächliche Aufwand wesentlich höher: Geschätzte sie- ren: Bei einer Party von 250 € Umsatz (Bundesdurchschnitt ben bis acht Stunden (größtenteils außer Haus) sind nö- laut befragter Bezirkshändlerin), erhält eine Beraterin 24 %, tig, um die folgenden Aufgaben auszuführen: Zunächst also 60 €. Davon gehen ungefähr 15 € Fahrtkosten und 10 € müssen Gastgeberinnen gefunden werden, oft findet ein Eigenbeteiligung für Gast- und Gastgeberinnengeschenke Vorbesuch statt; zur Party kommt die Anreise- und Ab- ab. Übrig bleiben für einen geschätzten Aufwand von 6 – 8 reisezeit hinzu, die Waren werden auf- und abgebaut, Stunden somit 35 € brutto, vor Steuern und ohne Sozialver- nach der Party in der Bezirkshandlung bestellt, die Woche sicherungsbeitrag. Eine Beraterin, die seit der Arbeitslosigkeit darauf abgeholt, zu Hause pro Gast sortiert und an die ihres Mannes auf den Verdienst durch den Verkauf von Tup- Gastgeberin geliefert. Zudem sind die Beraterinnen ge- perware angewiesen ist, bewertet das Verhältnis zwischen halten, an den Wochenschulungen teilzunehmen, auf Aufwand und Nutzen kritisch: „Letzte Woche hatte ich eine denen neue Produkte eingeführt werden. Mehr noch als Vorführung, die ging länger als vier Stunden. Verkauft habe in jeder anderen Erwerbsarbeit sind entgrenzte Arbeits- ich für 170 €, dann kamen noch eine Stunde Hin- und Rück- zeiten an der Tagesordnung; vielfach sind es die Berate- weg dazu, die bin ich morgen auch wieder unterwegs, wenn rinnen, die sich nach den Terminen von Tupperware ich die Ware ausliefere. Das ist ganz klar ein Minusgeschäft. (Abholen der Waren), der Kundinnen (Waren ausliefern) Verdient hat daran nur Tupperware.“ (X#,18). und Gastgeberinnen richten müssen. Die versprochene Die enttäuschten finanziellen Erwartungen erklären die Flexibilität ist damit deutlich eingeschränkt und nur um hohe Abbruchrate von Beraterinnen: Die meisten Mitglieder den Preis entgrenzter Arbeitszeiten möglich: Wer tatsäch- steigen bei Tupper, ebenso wie bei anderen DV (Groß 2008), lich zwei bis drei Partys pro Woche ausrichtet, arbeitet innerhalb eines halben Jahres wieder aus. Lediglich eine klei- ungefähr im Umfang einer Halbtagsstelle. In unseren ne Gruppe, die zu den Spitzenverkäuferinnen gehört, bezeich- Erhebungen sind es somit gerade die kinderlosen Bera- net ihr Einkommen als gut bis sehr gut. Andere bleiben aus terinnen, die zu den besten in der Bezirkshandlung den bereits erwähnten nicht-monetären Gründen bei Tupper. gehören. Eine ältere Beraterin, deren Kinder schon Dieses Motiv kann sich jedoch dann in sein Gegenteil lange aus dem Haus sind, erzählt über ihren Arbeitsauf- wand für die im Schnitt drei bis vier Partys pro Woche: „Ja. Ich darf die Stunden nicht rechnen. Ich arbeite von morgens bis abends oder bis nachts viel für Tupper.” 15 www.tupperware.de/partymanager/vorteile/freie- (Interview Y,#21) zeiteinteilung (letzter Zugriff: 22.07.2016). https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117 121 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
aufsätze verkehren, wenn mit dieser Beschäftigungsform Geld ver- du kannst ja mit dem Staublappen im Mund noch staubsau- dient werden muss, weil das Einkommen des Partners weg- gen, kannst noch spülen und telefonierst noch!’ Wer sagt das? gebrochen oder unsicher geworden ist. In dem Moment, in Kein Mensch sagt das! Und [… bei Tupper] kriegst du wirk- dem sich etwa der bisherige Hauptverdiener in prekären lich stetig ‚danke’ gesagt, für das was du, du selbst dir erar- (Arbeits-)Verhältnissen wiederfindet, ändern sich die Funk- beitet hast.“ (X#,23) Während also im privaten Umfeld Haus- tion von Tupper und damit die mit der Arbeit verbundenen und Familienarbeit als selbstverständlich gelten, wird bei Anforderungen. Für die Betroffene wird die Arbeit bei Tup- Tupper der Arbeitseinsatz sichtbar gemacht und belohnt. per damit zu einer Zerreißprobe, die arbeitsbedingte psychi- Diese nicht-monetäre Belohnung scheint die materiellen Ver- sche Beanspruchungen nach sich ziehen kann (Becker 2016). luste (zeitweise und unter bestimmten Bedingungen) zu kom- Es lässt sich somit festhalten, dass die Höhe des Einkom- pensieren. mens formal nicht durch das Unternehmen gedeckelt ist: Wer Längerfristig kann sich die Tätigkeit jedoch als frauenspe- mehr Umsatz erwirtschaftet, erhält mehr Provision. In der zifischer Fallstrick erweisen. Eine langjährige Beraterin be- Praxis zeigt sich jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit, seinen richtet: „[N]ein … wenn ich heute anfangen würde/sollte, Lebensunterhalt aus der Tätigkeit erwirtschaften zu können, würde ich nicht mehr anfangen. Schon aus dem Grund: Sie eher gering ist. Aus der Erhebung wurde außerdem deutlich, sind auch nicht abgesichert. Sie sind ja nicht rentenversichert dass die Tätigkeit von den meisten lediglich als Ergänzung und, und, und, ja? Ich würde sogar behaupten, das ist eine zum Haupteinkommen des (Ehe-)Partners gesehen wird (Be- Ausbeutung der Hausfrau, ja?“ (Y,#21) Ein weiterer durch die cker 2016; Groß 2008). Die relative Attraktivität der Tätigkeit als weitgehend positiv erlebte Motivations- und Anerken- speist sich somit aus anderen Quellen: dem Spaß an der Ab- nungskultur verdeckter Aspekt ist demnach, dass Karrieren wechslung, den fehlenden beruflichen Alternativen für auf bei Tupper, wie so oft im DV, für die meisten Mitglieder nicht dem Arbeitsmarkt benachteiligte Gruppen und, wie im nächs- nachhaltig sind – weder bezüglich der Tätigkeitsdauer, der ten Abschnitt beschrieben wird, der spezifischen Anerken- Höhe der Entlohnung, der Absicherung im Alter noch der nungs- und Motivationskultur des Unternehmens. Anerkennung auf dem „ersten Arbeitsmarkt“, wenn ein Wechsel in eine abhängige Beschäftigung angestrebt wird. 4.3 Zwischen Motivationskultur Die Charakteristika der Arbeit führen eher dazu, dass eine und Scheinemanzipation „gendered culture“ perpetuiert und weibliche Arbeit weiter- hin abgewertet wird (Williams/Bermiller 2011). So erhöht Tupperware richtet sich, ähnlich wie die Vielzahl anderer die fehlende Sozialversicherung die Abhängigkeit der Tup- DV im Haushalts- und Kosmetikbereich, auf Frauen – sowohl perberaterinnen von ihrem Partner. Wer während der Fami- als Kundinnen als auch als Beraterinnen. Das Modell DV lien- und Tupperphase nicht von sich aus Geld zur eigenen gibt ihnen die Möglichkeit, aus ihrer Hausfrauen- und Mut- Absicherung zurücklegt bzw. legen kann, muss damit rech- terrolle nicht ausbrechen zu müssen, sondern diese mit dem nen, im Falle einer Scheidung und bei Krankheit oder Ar- Wunsch nach Anerkennung verknüpfen zu können. Trotz beitslosigkeit des Partners sozial abzusteigen. Die fehlende durchschnittlich geringer Einkünfte betonen die meisten gesellschaftliche Anerkennung hat zur Folge, dass selbst eine Beraterinnen, dass sie den Umgang mit Kundinnen schätzen, jahrelang (relativ) erfolgreiche Tätigkeit den eigenen Lebens- vor allem aber, dass Erfolge belohnt und „beklatscht“ werden. lauf nicht aufwertet, sondern von Arbeitgebern auf dem ers- Dem Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung ten Arbeitsmarkt eher als Manko bewertet wird, sodass eine vieler Frauen wird durch eine im DV ausgeprägte „Motiva- Rückkehr in den Ausbildungsberuf oder der Wechsel in eine tionskultur“ (Biggart 1989) entsprochen. Das zeigt sich u. a. andere, besser bezahlte Beschäftigung sich bei längerem Ver- daran, dass kein Mitglied offen kritisiert, sondern nur gelobt bleib im DV für unsere Interviewpartnerinnen stets schwie- wird und besonders gute Beraterinnen auf der Bühne der riger gestalten. Die Anerkennungskultur des Unternehmens, Wochenschulung geehrt werden (vgl. Becker 2016; Groß z. B. Lob während der Wochenschulung, ein Tupperprodukt 2008). Die Motivation der Beraterinnen soll durch die Aner- oder ein Kinderfahrrad als extra Belohnung, mögen kurz- kennung der Gruppe und unterstützende Preise stimuliert fristig attraktiv und sogar lukrativ erscheinen; gleichzeitig werden. Letztere bestehen je nach Umfang und Zeitdauer des zementieren sie jedoch die Abhängigkeit vom männlichen von der Zentrale ausgelobten Wettbewerbs aus materiell eher Haupternährer und stellen ein strukturelles Risiko für weib- wertlosen Produkten (Messlöffel, Plastikblumen etc.) oder liche Altersarmut dar (Schulze Buschoff 2011). auch aus größeren Preisen (Haushaltsprodukte, Kinderspiel- zeug, Fahrrad, Teilnahme am Jahresseminar, Kurzreisen etc.). Besonders attraktiv erscheinen das Lob und die (im-) materiellen Auszeichnungen vor dem Hintergrund der pri- vaten Situation der Beraterinnen: Wer außer bei Tupper „nur“ 5. B eschäftigung im Direktvertrieb – Hausfrau und Mutter ist, vermisst die Anerkennung der ei- Gute Arbeit oder prekärer Job? genen Arbeitsleistung. Eine Beraterin, inzwischen Gruppen- beraterin, erläutert dies: „Also die Anerkennung, okay, man Geringfügige Bezahlung, begrenzte und entgrenzte Flexi- bekommt sie zu Hause nicht. Es sagt keiner: ‚Super Mama, bilität sowie eine Motivationskultur, die das emanzipatori- 1 22 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
WSI MITTEILUNGEN 2/2017 sche Potenzial eher unterläuft: Wie lassen sich diese Befun- sich die Chancen auf ein Normalarbeitsverhältnis und ver- de in den sozialwissenschaftlichen Diskurs zum Leitbild stärken so die Abhängigkeit vom männlichen Haupternäh- „Guter Arbeit“ einordnen? Zur Beantwortung dieser Frage rer und das für Solo-Selbstständige ohnehin schon hohe orientieren wir uns an dem von Castel (2000) vorgeschla- Risiko auf Altersarmut. genen Zonenmodell zur Beschreibung der Arbeitsgesell- schaft. Prekäre Arbeit wird darin zwischen der sich durch (5) Hinsichtlich der sozial-moralischen Dimension zeigen geschützte Normalarbeit auszeichnenden Zone der Integ- unsere Erhebungen, dass viele Frauen versuchen, mit ihrer ration und der Zone der Entkopplung verortet, in der sich Arbeit bei Tupper Anerkennungsdefizite zu kompensieren. vornehmlich die dauerhaft vollständig von Erwerbsarbeit Während repräsentative Erhebungen unter den Beschäftigten ausgegrenzte Bevölkerung befindet. Als prekär wird ein bei Tupper sowie im gesamten DV fehlen, lässt sich aufgrund Arbeitsverhältnis dann bezeichnet, wenn die Beschäftigten unserer Erhebungen vermuten, dass dies – im ganz wörtlichen deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und Integrati- Sinne – zum Teil gelingt: Die in den Gruppenmeetings sowie onsniveau sinken, das in der Gesellschaft als Standard de- auf den Partys gezollte Anerkennung ist eine der Hauptmo- finiert und mehrheitlich anerkannt wird (siehe auch tive für die Fortsetzung der Tätigkeit. Die oft fehlende oder Manske/Merkel 2009; Mayer-Ahuja 2003). Bilanzieren wir nur gering ausfallende materielle Anerkennung dagegen stellt das Prekarisierungspotenzial der Arbeitsbedingungen bei einen der Hauptgründe dar, dass Frauen ihre Tätigkeit been- Tupperware anhand der von Castel (2000) vorgeschlagenen den. In unseren Erhebungen zeigt sich zudem, dass – wenn sechs Dimensionen kommen wir zu folgendem Ergebnis: Tupper zu einem „Brotjob“ wird, damit also Geld verdient werden muss, – mit dieser Tätigkeit auch andere gesundheits- (1) Hinsichtlich der materiell-reproduktiven Dimension relevante Belastungen einhergehen. Unter eventuell neuen lässt sich die Arbeit bei Tupper als eindeutig prekär defi- familiären Bedingungen (Arbeitslosigkeit des Mannes) wird nieren. Die von einigen vorgeschlagene Differenzierung, es für die Frauen schwerer, sich dem Verkaufsdruck zu ent- wonach prekäre Erwerbsarbeit nicht in jedem Fall prekäre ziehen (ausführlich dazu Becker 2016). Darüber hinaus lässt Lebenslagen nach sich zieht,16 trifft zwar für viele der von sich festhalten, dass die gezollte Anerkennung sich weitgehend uns befragten Frauen zu, ändert aber nichts an der Bewer- auf das Unternehmen selbst sowie die eigenen Kundinnen tung der Arbeitsbedingungen bei Tupper oder anderen Tä- beschränkt. Außerhalb des Unternehmens sowie im gesell- tigkeiten im DV (Koehn 2001; Walsh 1999). schaftlichen Diskurs wird diese Beschäftigungsform dagegen vielfach als typische „Frauenarbeit“ deklariert, die hinsichtlich (2) Eindeutig prekär ist die Arbeit mit Blick auf die insti- der sozial-moralischen Dimension hinter die männlich ge- tutionelle Dimension: „Normale“ Standards bei der Parti- prägte Normalarbeit zurückfällt (Williams/Bermiller 2011). zipation an industriellen und sozialen Schutzrechten (so- ziale Sicherungen, Arbeitsrecht, Recht auf kollektive (6) Ähnliches lässt sich für die sinnhaft-subjektbezogene Interessenvertretung) werden nicht nur unterschritten, Dimension konstatieren: Die Einordnung dieser Tätigkeit sondern sind gar nicht erst vorgesehen. als „non-work-related activity” (ebd.) und die Betonung intrinsischer Motivstrukturen sind Strategien, mit denen (3) Bei der Bestimmung der sozial-integrativen Dimension der Erwerbsarbeitscharakter bei Tupper verschleiert wird ist eine differenzierte Argumentation geboten. Der DV er- (Groß 2008; Lan 2001). Im Grunde wird damit die Sinnstif- möglicht es vielen Frauen zwar überhaupt erst, soziale Netz- tung in den Freizeitbereich verlagert und das besagte Image werke außerhalb ihrer Privatsphäre zu pflegen, gleichwohl als „Frauenarbeit“ zementiert. erfordert es ihre Arbeit bei Tupper, dass private Netzwerke für berufliche Zwecke genutzt und instrumentalisiert wer- Zusammenfassend zeigt die Einordnung in Castels Zonen- den. Die Etablierung befriedigender Sozialbeziehungen bei model, dass die Arbeitsbedingungen deutlich prekäre Züge der Arbeit wird damit zum Teil ad absurdum geführt; es aufweisen und somit für die Beschäftigten vielfältige Pre- kann sogar von einer Zerstörung sozialer Beziehungen ge- karisierungsrisiken bergen. Gleichzeitig, und dies wird aus sprochen werden (Lan 2002; Walsh 1999). unserer Erhebung ebenfalls deutlich, lässt sich die Gruppe der Direktvertrieblerinnen in ihrer Gesamtheit nicht als (4) Die Aussichten auf eine dauerhafte Existenzsicherung prekär bezeichnen. Der prekäre Job bei Tupper führt kei- durch diese erwerbsbasierte Beschäftigung sind unseren neswegs zwangsweise zu prekären Lebenslagen. Dieses am- Erhebungen nach ebenfalls gering: Enttäuschte Einkom- bivalente Ergebnis weist unserer Meinung nach auf ein spe- mensperspektiven haben zur Folge, dass viele Frauen nach zifisches und zugleich konstitutives Merkmal des DV hin: einem halben Jahr diese Erwerbsform beenden. Eine der- Im DV wird mit (verheirateten) (Haus-)Frauen und Müttern artig temporäre Beschäftigung schränkt die Möglichkeiten eine Zielgruppe von Beschäftigten angesprochen, die einer zukunftsorientierten Lebensplanung deutlich ein. Hinzu kommt, dass sich eine langjährige Beschäftigung bei Tupper als nachteilig erweisen kann: Durch die fehlende gesellschaftliche Anerkennung der Tätigkeit verschlechtern 16 Vgl. etwa die jüngste Debatte in Sozialismus 43 (4), S. 20ff. https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117 123 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
aufsätze angesichts des noch stets vorherrschenden „male bread- DV auf Einzelhandels- und Vertriebsunternehmen mit an- winner model“ ihre Absicherung oft außerhalb der Tätigkeit gestellten Beschäftigten unbekannt. findet. Ohne auf repräsentative Erhebungen zurückgreifen Drittens handelt es sich bei den Beschäftigten im DV zu können, vermuten wir also, dass die soziale Sicherung um eine Gruppe, deren Mitglieder oft ein zu geringes hier nicht durch die Beschäftigung selbst, sondern zum soziales und ökonomisches Kapital besitzen, um eine ei- großen Teil durch Ehemänner, weitere (abhängige) Beschäf- gene Interessenvertretung zu organisieren. Neben mate- tigung und durch das in Deutschland bestehende Ehegat- riell abgesicherten Menschen (z. B. Frauen, deren Mann tensplitting sowie im Falle von Altersarmut staatlich ge- einem abgesicherten Arbeitsverhältnis nachgeht), scheint währleistet wird. Für die Unternehmen bedeutet dies, dass die Tätigkeit im DV vor allem für diejenigen attraktiv, die sie den gesamten Vertrieb ihrer Produkte kostengünstig auf dem ersten Arbeitsmarkt Schwierigkeiten haben, sei mit formal Selbstständigen betreiben lassen können, da für es wegen fehlender Berufsausbildung, langer Krankheit, diese weder Sozialversicherungskosten noch ein Mindest- fehlender Sprachkenntnisse oder langer Arbeitslosigkeit. lohn bezahlt werden müssen. Welche Auswirkungen diese Anders als bei Selbstständigen mit hohem Ausbildungs- Form des Produktvertriebs auf Unternehmen mit angestell- niveau (z. B. Ärzte, Wirtschaftsprüfer oder Unterneh- ten Vertriebs- und Einzelhandelsbeschäftigten hat, ist bisher mensberater) erfordert die Tätigkeit im DV keinerlei Vor- unerforscht. Angesichts der wachsenden Größenordnung kenntnisse oder Qualifikationen. Mitglieder von besonders des DV stellt sich jedoch sehr wohl die Frage, ob sich nicht schutzbedürftigen Gruppen können ihre Interessen je- ein die Arbeitsstandards drückender Effekt entwickeln doch nicht selbst erfolgreich gegenüber (internationalen) könnte, wie er sich etwa auch beim Einsatz von Leiharbeits- Großkonzernen vertreten. Damit perpetuiert sich der kräften im Hinblick auf Arbeits- und Gesundheitsschutz- prekäre Status. Die Unsicherheit der Tätigkeit, das gerin- standards zeigt (Becker 2015). Umso relevanter erscheint ge Verdienstniveau und die unzureichenden Rechtskennt- uns die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, diese Situation nisse haben zur Folge, dass die Vertrieblerinnen vielfach zu ändern (hierzu Abschnitt 7). Dafür analysieren wir im nicht über die nötigen Machtressourcen verfügen, die für nächsten Abschnitt zunächst die Gründe für die fehlende die Gründung einer Interessenvertretung i. d. R. nötig kollektive Interessenvertretung im DV. sind. Viertens tragen die im DV vermittelten unternehmens- kulturellen Anrufungen dazu bei, dass das prekäre Poten- zial der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu- nächst nicht offenkundig wird: Die Tätigkeit im DV wird 6. Fehlende kollektive Interessen- zwar als Beschäftigung, (zweite) Karrierechance und ge- vertretung im Direktvertrieb legentlich selbst als Möglichkeit, großen Reichtum zu er- langen, präsentiert (Biggart 1989; Groß 2008; Groß/Haun- Unsere bisherige Analyse hat die wachsende wirtschaftliche schild 2013). Gleichzeitig knüpft die Tätigkeit in dreierlei Bedeutung des Direktvertriebes wie auch die dort vorherr- Hinsicht an den privaten Bereich an, was den Beschäfti- schenden ambivalenten bis hin zu prekären Arbeitsbedin- gungscharakter verschleiert (Williams/Bermiller 2011): gungen gezeigt (vgl. auch Koehn 2001). Doch anders als die Verkaufstätigkeit findet im privaten Raum statt, pri- bei der parallel anwachsenden (Problem-)Gruppe der di- vate Netzwerke werden für berufliche Zwecke genutzt und gitalen Crowdworker lassen sich momentan keine Initiati- bei den meisten Produkten handelt es sich um Waren für ven einer kollektiven Vernetzung oder kollektiven Interes- den häuslichen Bereich, z. B. Haushaltswaren, Kosmetik, senvertretung erkennen. Wir sehen vier Gründe, warum Nahrungsergänzungsmittel, Wellness und Wohnacces- trotz der vielseitigen Probleme keine Anstrengungen für soires. Hinzu kommt, dass zur Unternehmenskultur im eine bessere Regulierung unternommen werden – weder DV die Botschaft gehört, dass jedes Mitglied selbst ver- vonseiten der Beschäftigten noch von bestehenden Institu- antwortlich ist für seinen Erfolg und dementsprechend tionen. auch selbst die Verantwortung dafür zu tragen hat, wenn Erstens fallen die Beschäftigten schlicht zwischen die der Erfolg ausbleibt. Der von den Beschäftigten weitge- Stühle der gesellschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen hend internalisierte Anreiz, dass es „jeder schaffen kann“, Institutionen: Sie sind formal keine Arbeitnehmer im Sin- falls genug Anstrengungen unternommen werden, führt ne des Betriebsverfassungsgesetzes, d. h. sie haben auch dazu, dass frühere Mitglieder sich ihren Misserfolg weit- keinerlei Interessenvertretung. gehend selbst zuschreiben. Die strukturellen Ursachen Zweitens unterstützt die oben beschriebene Ausrichtung (z. B. benötigter Zeitaufwand, geringfügige Bezahlung/ der Unternehmen auf Beschäftigte, die oft anderweitig so- Provisionsstruktur, Marktsättigung, Konkurrenz der DV zial abgesichert sind, den Eindruck, dass kein arbeitsmarkt- untereinander etc.) geraten damit aus dem Sichtfeld (Groß politischer Handlungsbedarf besteht. Die in vielerlei Hin- 2008; Groß/Haunschild 2013) und verringern das Risiko sicht prekären Arbeitsbedingungen führen nicht für die Unternehmen, dass Beschäftigte arbeitspolitische zwangsweise zu prekären Lebenslagen. Zudem sind die Forderungen aus den problematischen Arbeitsbedingun- Einflüsse und Rückwirkungen der Arbeitsbedingungen im gen ableiten. 1 24 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
WSI MITTEILUNGEN 2/2017 mung als Gruppe von Beschäftigten (statt „Selbstständigen“) stärken und 7. Was sollte sich ändern? somit zur Selbstmobilisierung der Beschäftigten beitragen. In diesem Zu- sammenhang könnte auch überprüft werden, ob bei den Beschäftigungs- Die Konsequenz der beschriebenen Probleme besteht vor allem darin, dass verhältnissen nicht eine Form der Scheinselbstständigkeit vorliegt. Ebenso der DV einer Regulierung und Kontrolle bedarf. Wir plädieren dafür, dass stellt sich für den DV, der aus unserer Sicht zur Gruppe der „ertragsschwa- den Beschäftigten „von außen“ geholfen wird, da die Wahrscheinlichkeit, che[n] Arbeitsbeziehungen“ (Walter 2010) gehört, die Frage einer Neure- dass Vertrieblerinnen sich selbst mobilisieren, eher gering (und de facto gulierung des Arbeitsrechts. So wäre beispielsweise denkbar, Mitglieder des bisher nicht erfolgt) ist. Zwar könnte eine weitere Erosion des „male bread- DV genauso wie unter bestimmten Bedingungen Handelsvertreterinnen winner model“ dazu führen, dass die Tätigkeit auch für die momentan und Handelsvertreter (§ 92a HGB) zur Gruppe der „arbeitnehmerähnlichen größte Zielgruppe an Beschäftigten (Hausfrauen und Mütter) zunehmend Personen“ zu zählen und ihnen damit den Zugang zu Mindestarbeitsbe- unattraktiv (weil nicht existenzsichernd) wird und die Versprechen der dingungen zu gewähren.17 Konzerne kritisch hinterfragt werden. Angesichts der Wachstumsraten des Die Rolle der Forschung ist in diesem Zusammenhang deutlich: Der DV scheint dies momentan jedoch nicht der Fall zu sein. Daher sind staat- DV wird bisher stiefmütterlich behandelt. Zwar gibt es für Deutschland liche Eingriffe, die auf Transparenz und Haltelinien zielen, gefragt. Ge- einzelne Unternehmensstudien. Die Anzahl derjenigen, die dort tatsächlich werkschaften könnten Mobilisierungsbeispiele aus anderen Branchen (im einer Beschäftigung nachgehen, ihre Motive, die Bedingungen ihrer Tätig- Sinne von „best practice“) auch für den DV entwickeln und Unterstützung keit, ihr Verdienst, ihre Aufstiegsmöglichkeiten, der Effekt ihrer Tätigkeit bei einer kollektiven Interessenartikulation bieten. Wir sehen zwei konkre- auf ihre (nicht aufgebaute) Altersrente, Karrierechancen außerhalb des DV te Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im DV: mehr etc. – also die Beschäftigungsbedingungen und die (sozio-ökonomischen Transparenz und eine unabhängige Regulierungs-, Informations-, Be- sowie die individuellen) Folgen der Beschäftigung sind dagegen weitgehend schwerde- und Kontrollstelle. unerforscht. Auch zu der oben aufgeworfenen Frage, welche Folgen das Vielen Arbeitsuchenden – und der breiteren Öffentlichkeit – fehlen Wachstum des DV auf Vertriebs- und Einzelhandelsunternehmen mit an- Informationen zu den (auch langfristig wirkenden) Konditionen der Arbeit gestellten Beschäftigten hat, sind uns keine Initiativen bekannt, die die im DV: Weder ist bekannt, wie viele Unternehmen in der beschriebenen genannten Lücken zu schließen versuchen.18 Art und Weise arbeiten, noch wie viele Mitglieder sie im Vertrieb haben, Für eine – aus unserer Sicht gebotene – Verbesserung der Beschäftigten- was diese verdienen, wie lange die Beschäftigten dabei sind bzw. wie schnell situation, das zeigen etwa die Erfahrungen mit Leiharbeit, muss dem DV erst und aus welchen Gründen sie wieder ausscheiden. Wie andere Unterneh- mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden: in der Öffentlichkeit, der Forschung men könnte der DV verpflichtet werden, relevante Kennzahlen zu veröf- und der Politik. Ziel unseres Artikels ist es, hierzu beizutragen. fentlichen. Unternehmen wie Herbalife oder Vemma, die durch die Federal Trade Commission (USA) untersucht wurden, wird genau dies auferlegt: die Veröffentlichung von Zahlen und Fakten, die Arbeitsuchenden Ent- scheidungshilfen bieten. Bisher gibt es keine unabhängige Regulierungs-, Informations-, Beschwer- Liter atur de- und Kontrollstelle, die Unternehmen zurechtweisen kann bzw. tatsächlich Becker, K. (2015): Macht und Gesundheit. Der informelle Handel um die Ver- effektiv zurechtweist. Zwar gibt es gesetzliche Vorgaben zu Schneeballsyste- nutzung von Arbeitskraft, in: Berliner Journal für Soziologie 25 (1), S. 161 – 185 Becker, K. (2016): Freiheitsfeten oder Prekaritätspartys? Tupperware als men und illegales Verhalten wird durch die Staatsanwaltschaft geahndet, die Erwerbsform von Frauen, in: Arbeits- und Industriesoziologische Studien 9 (1), meisten Probleme des DV liegen aber entweder im Graubereich zwischen S. 102 – 117 legal und illegal oder sind durch die Gesetzgebung gar nicht erfasst, wie eine Biggart, N. W. (1989): Charismatic capitalism. Direct selling organizations in aktuelle Analyse der Lobbypolitik des DV auf europäischer Ebene zeigt (To- America, Chicago Borzaga, M. (2012): Wirtschaftlich abhängige Selbständige in Italien und kaji-Nagy 2016). Die Regeln für gutes Verhalten, die sich der DV über seine Deutschland: eine rechtsvergleichende Analyse, in: Busch, D./Feldhoff, K./ (inter-)nationalen Vereinigungen selbst gegeben hat (Codes of Ethics), haben Nebe, K. (Hrsg.): Übergänge im Arbeitsleben und (Re) Inklusion in den Arbeits- sich als zu ungenau und wenig wirksam erwiesen, da sie nicht von einer markt, Baden-Baden, S. 99 – 112 unabhängigen Instanz überprüft werden. Brodie, S./Stanworth, J./Wotruba, T. (2002): Comparisons of salespeople in multilevel vs. single level direct selling organizations, in: Journal of Personal Die genaue Ausgestaltung einer solchen Instanz für den DV kann vie- Selling & Sales Management 12 (2), S. 67 – 75 le Formen annehmen. Denkbar wäre z. B. eine unabhängige Kontrollstelle Castel, R. (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der beim Ministerium für Arbeit und Soziales: So wie dort Regeln zu Leiharbeit Lohnarbeit, Konstanz DSN (2012): Direct Selling News. 100 Global. Our exclusive annual report, und Werkverträgen aufgestellt werden, so müssten auch DV-spezifische Plano US Regeln und Vorgaben entwickelt werden, deren Einhaltung auch kontrol- European Union (2013): Social protection rights of economically dependent liert wird. Eine für den DV spezifische Instanz könnte nicht nur den Be- self-employed workers, DG Internal Policies of the Union Policy Department A schäftigten im DV „von außen“ helfen, sondern auch die Selbstwahrneh- – Economic and Scientific Policy, Brussels Groß, C. (2008): Multi-Level-Marketing: Identität und Ideologie im Network- Marketing, Wiesbaden Groß, C./Haunschild, A. (2013): Liberté toujours? Gerechtigkeit und Gemeinschaft in neoliberalen Arbeitsregimen am Beispiel der Amway GmbH, in: Zeitschrift 17 Für eine Erläuterung der Kriterien für „arbeitnehmerähnliche Personen“ für Personalforschung 27 (2), S. 81 – 102 siehe Borzaga (2012). Koehn, D. (2001): Ethical issues concerned with multi-level marketing schemes, in: Journal of Business Ethics 29 (1/2), S. 153 – 160 18 Auch die ver.di-Initiative „Dienstleistungspolitik 4.0“ nimmt dieses Be- Lan, P.-C. (2002): Networking capitalism: network construction and control schäftigungssegment nicht in den Blick. effects in direct selling, in: The Sociological Quarterly 4 (2), S. 165 – 184 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117 125 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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