Beschäftigung im Direktvertrieb: Erwerbsarbeit mit prekären Folgen

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aufsätze                                                                                                   WSI Mitteilungen 2/2017

                                                                                       Beschäftigung im Direktvertrieb:
                                                                                       Erwerbsarbeit mit prekären Folgen
                                                                                       Die Arbeit von Frauen im Direktvertrieb birgt eine Reihe von Prekarisierungsrisiken, die
                                                                                       bislang weder von der Geschlechterforschung noch arbeitspolitisch aufgearbeitet worden
                                                                                       sind. Es handelt sich um eine Beschäftigungsform, die auf einer spezifischen Konstellation
                                                                                       aus traditionellem Geschlechterarrangement („male breadwinner model“ und Ehegatten-
                                                                                       splitting) und formaler Selbstständigkeit der Frauen beruht, die es Unternehmen wie
                                                                                       Tupperware erlauben, Prekarisierungsrisiken und -kosten zu externalisieren. In dem
                                                                                       Maße, in dem auch Männer zunehmend von der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses
                                                                                       betroffen sind, werden die im Direktvertrieb strukturell schon lange bestehenden proble-
                                                                                       matischen Arbeitsbedingungen brisanter.

                                                                                       Cl audia Groß, K arina Becker

                                                                                                                                                                  brutto/Stunde (vgl. Groß 2008), völlig übertriebene Ein-
                                                                                       1. Einleitung                                                             kommensversprechen des Unternehmens (Koehn 2001;
                                                                                                                                                                  Walsh 1999), Karrieren, die mehr Schein als Sein sind (Be-
                                                                                       Etwas „dazu verdienen oder eine selbstständige Existenz                    cker 2016), hohe Fluktuationsraten (Biggart 1989; Groß
                                                                                       aufbauen“, „flexibel arbeiten“ mit „geringe[n] Kosten“ und                 2008) und fehlende soziale Absicherung. Dass trotz dieser
                                                                                       „geringe[m] Risiko“, ein „(Wieder-)Einstieg ins Berufsle-                  Probleme keine wahrnehmbaren interessenpolitischen In-
                                                                                       ben“ oder „als Angehöriger der Generation 50+ eine zwei-                   itiativen in diesem Feld bestehen, erklären wir mit der spe-
                                                                                       te Chance“1 erhalten – mit diesen und ähnlichen Verspre-                   zifischen Beschäftigungskonstellation im Direktvertrieb:
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                                                                                       chen werben Direktvertriebe (DV) für ihre Tätigkeit. Wer                   Erstens fallen die formal selbstständigen Verkäuferinnen
                                                                                       für Tupperware (Haushaltsprodukte), Herbalife (Vitamine)                   und Verkäufer durch das klassische Institutionengefüge der
                                                                                       oder PepperParties (Erotikartikel) Produkte verkauft, kann                 Arbeitsmarktpolitik. Das heißt jedoch nicht, dass betrieb-
                                                                                       ganz ungezwungen von zu Hause aus Karriere machen und                      liche Strukturen hier keine Rolle spielen. Beim DV handelt
                                                                                       dabei auch noch umfangreiche soziale Kontakte pflegen, so                  es sich um ein Beschäftigungsfeld mit betrieblich vororga-
                                                                                       die Botschaft. Angesichts der inzwischen 823.000 meist                     nisierter Arbeit: So werden bei Tupperware beispielsweise
                                                                                       weiblichen Vertriebspartnerinnen (bis 2019 wird ein An-                    Arbeitsabläufe wie das Einladen der Gäste zur Heimvor-
                                                                                       wachsen auf mehr als 1 Mio. erwartet),2 scheinen diese                     führung und deren Gestaltung, das Anwerben neuer Mit-
                                                                                       Versprechen in der Branche eine gewisse Anziehungskraft                    glieder usw. im Einzelnen von der Zentrale vorgegeben.
lichung online oder offline) sind nicht gestattet.

                                                                                       zu haben. Die Ausbreitung dieser Beschäftigungsform sagt                   Auch in anderen DV sind Produktsortiment, Produktprei-
                                                                                       indes noch nichts über die Arbeitsbedingungen aus. Es                      se, Marketingmethoden, Kommissionen sowie sämtliche
                                                                                       handelt sich um ein Beschäftigungsfeld, das weder über                     andere finanziellen Anreize von den Unternehmenszentra-
                                                                                       eine Interessenvertretung verfügt, noch lassen sich derzeit                len festgelegt und für alle Arbeitenden bindend. In den
                                                                                       arbeitspolitische Strategien ausmachen, die die Arbeitsbe-
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                                                                                       dingungen von Beschäftigten aus dem DV in den Blick
                                                                                       nehmen und auf Verbesserungen derselben zielen.
                                                                                           Im vorliegenden Artikel zeigen wir, dass diesbezüglich                 1   http://www.direktvertrieb.de/Karrierechancen.61.0.html
                                                                                                                                                                      (letzter Zugriff: 18.08.2016).
                                                                                       ein großer Handlungsbedarf besteht. Bei Tupperware ar-
                                                                                       beiten Frauen unter prekären, zum Teil auch ausbeuteri-                    2   www.presseportal.de/pm/68635/3141969 (letzter Zugriff:
                                                                                       schen Verhältnissen. Dazu gehören Löhne von unter 5 €                          10.07.2016).

                                                                                                                      https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117                                                         117
                                                                                                               Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11.
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aufsätze

           regelmäßig stattfindenden Schulungen werden den im Di-                     2012 – 2015 im Direktvertrieb durchgeführt haben. Die Un-
           rektvertrieb Arbeitenden das nötige Wissen, etwa zur Pro-                  tersuchung im Jahr 2005 stellt die Ausgangsfrage, wie das
           duktfunktionalität, aber auch verkaufsförderliche Argu-                    Direktvertriebsunternehmen Tupper seine formal selbst-
           mente gelehrt. Weder liegen diese Aspekte in der                           ständigen Mitglieder motiviert und kontrolliert. Dafür wur-
           Eigenverantwortlichkeit der dort Tätigen, noch lässt sich                  den beispielsweise Motive für den Einstieg, den Ausstieg,
           in dieser Hinsicht von einer Weisungsfreiheit sprechen, wie                die finanziellen und die immateriellen Anreize für den Ver-
           sie etwa bei selbstständigen Werkvertragsnehmern gegeben                   bleib im Unternehmen erforscht. Die Erhebung basiert auf
           sein muss. Vor dem Hintergrund unserer Forschungen lässt                   drei Methoden: Zunächst wurde eine offene, teilnehmende
           sich damit sagen, dass diese Beschäftigungsvariante Merk-                  Beobachtung in der Rolle als Wissenschaftlerin durchge-
           male von Scheinselbstständigkeit aufweist. Zweitens wurde                  führt und so insgesamt zwölf Wochenschulungen, ein regi-
           den vorwiegend weiblichen Beschäftigten mit oft geringer                   onaler „Nachwuchstag“, zwei Schulungen für neue Berate-
           Ausbildung wenig arbeitspolitische Aufmerksamkeit ge-                      rinnen und sechs Tupperpartys besucht. Darüber hinaus
           schenkt. Denn während die Arbeitsbedingungen eindeutig                     war es möglich, nach den Wochenschulungen an den infor-
           prekäre Züge tragen, ist die Tätigkeit im Direktvertrieb                   mellen Treffen älterer Beraterinnen teilzunehmen. Zweitens
           oftmals durch männliche Ehepartner im „Normalarbeits-                      wurden zwölf leitfadengestützte Interviews mit Beraterin-
           verhältnis“ finanziell und sozial abgesichert und führt daher              nen, Gruppenberaterinnen und der Bezirkshändlerin ge-
           nicht unbedingt zu prekären Lebenslagen. Die Folge dieser                  führt sowie neun weitere durch eine Mitarbeiterin erhobe-
           für den Direktvertrieb spezifischen Konstellation ist, dass                ne Interviews ausgewertet. Drittens erhielten die Autorinnen
           die strukturell prekären Arbeitsbedingungen bislang kaum                   Zugang zu zahlreichen Unternehmensmaterialien, z. B. die
           offenbar sind und die Frage kollektiver Absicherung eben-                  wöchentlichen Informationsflyer der Bezirkshandlung, die
           so wenig gestellt wird. Die internationalen Großkonzerne                   Wettbewerbsbroschüren der Unternehmenszentrale sowie
           des DV mit einem deutschlandweiten Umsatz von                              die Mitgliedervereinbarung.
           13,7 Mrd. €3 haben so die Möglichkeit, im völlig mitbestim-                     Die 2012 – 2015 durchgeführte Untersuchung basiert
           mungsfreien Raum ohne jegliches Gegengewicht zu agieren.                   auf zwei Instrumenten: Zum einen haben die Autorinnen
           Es gibt keinerlei Zahlen zu den Erwerbsstrukturen im DV.                   mit Hilfe des Ansatzes der verdeckten teilnehmenden Be-
           Gleichwohl kann angenommen werden, dass das Anwach-                        obachtung an verschiedenen Verkaufsabenden (Tupperpar-
           sen dieser Vertriebsform Folgen für die industriellen Be-                  tys) und Gruppenmeetings der Beschäftigten teilgenom-
           ziehungen im gewerkschaftlich organisierten Einzelhandel                   men. Dieses Vorgehen ermöglichte es am ehesten, dass das
           hat – bis hin zur Unterwanderung der dort geltenden Ta-                    soziale Geschehen durch den Beobachtungsgang möglichst
           rifverträge und Mitbestimmung. Während im Direktver-                       unbeeinflusst (nichtreaktiv) blieb. Zum anderen wurden 21
           trieb das Beschäftigungsrisiko und die Kosten sozialer Ab-                 leitfadengestützte Interviews mit Frauen verschiedenen Al-
           sicherung vollständig auf die formal selbstständigen                       ters (zwischen 23 und 55) geführt, die als Verkäuferinnen,
           Mitglieder (und deren soziales Umfeld sowie den Staat)                     Gruppenberaterinnen oder Bezirkshändlerinnen in ver-
           abgewälzt werden, müssen bei angestellten Vertriebs- und                   schiedenen Varianten entweder nebenbei und damit stun-
           Einzelhandelsbeschäftigten diese auch von den Unterneh-                    denweise, tageweise, sporadisch oder auch hauptberuflich
           men getragen werden.                                                       bei Tupperware arbeiten oder gearbeitet haben. Beide Er-
                Vor diesem Hintergrund geht es in unserem Beitrag vor                 hebungsmethoden gaben Aufschluss über die Motive und
           allem darum, am Beispiel der Marke Tupperware für eine                     Erwartungen, die die Beschäftigten für ihr Engagement bei
           Beschäftigungsform zu sensibilisieren, die jenseits der mitt-              Tupperware hegen. Um noch mehr Einblick in den privaten
           lerweile gut erforschten betrieblichen Felder prekärer Arbeit              Kontext der Beschäftigten zu bekommen, konnten zudem
           (Leiharbeit, Werkvertrag) liegt, aber durchaus einen Beitrag               sechs Ehemänner für ein Interview gewonnen werden.
           zur Ausdifferenzierung des Prekarisierungsdiskurses leistet.                    Für den vorliegenden Aufsatz haben wir die Forschungs-
           Es handelt sich um eine bekannte,4 aber sozialwissenschaft-                ergebnisse unter dem spezifischen Blickwinkel der proble-
           lich kaum beachtete und schon gar nicht erforschte Be-                     matischen Beschäftigungsbedingungen analysiert, um sie
           schäftigungsform von Frauen, die in einer Grauzone zwi-                    hier als exemplarisch für den DV vorzustellen.5 Während
           schen abhängiger und selbstständiger Arbeit liegt und die
           wir daher als eine Variante von „dependent self-employ-
           ment“ (European Union 2013), also abhängiger Selbststän-
           digkeit, fassen. Wir werden zeigen, dass das Engagement                    3   seldia.eu/index.php?option=com_content&view=
           von Frauen bei Tupperware für diese zwar emanzipatori-                         article&id=22&Itemid=184 (letzter Zugriff: 01.07.2016).

           sches Potenzial birgt, ihre Beschäftigung zugleich aber auch               4   Die Markenbekanntheit beträgt laut GfK 99 %; 80 %
           mit einer Reihe von bisher weitgehend unerforschten Risi-                      aller Haushalte besitzen mindestens ein Tupperprodukt,
           ken verbunden ist.                                                             www.direktvertrieb.de/Tupperware.153.0.html
                                                                                          (letzter Zugriff: 05.05.2016).
                Die empirischen Grundlagen unseres Aufsatzes beru-
           hen, falls nicht anders angegeben, auf zwei unabhängig                     5   Für eine umfangreichere Beschreibung und Analyse der
           durchgeführten Erhebungen, die die Autorinnen 2005 und                         zwei Erhebungen siehe Becker (2016); Groß (2008).

118                                       https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117
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WSI MITTEILUNGEN 2/2017

sich die beiden Erhebungen in ihrer Ausrichtung, ihrem             trieblerinnen bzw. Vetriebler, die jedoch zugleich Merkmale
Erhebungszeitraum und ihrer Herangehensweise unter-                aufweist, die denen abhängiger Beschäftigungsverhältnisse
scheiden, werden in beiden Erhebungen drei Spannungs-              ähneln. Typisch ist etwa, dass die Verkaufenden in der Regel
felder der Tätigkeit deutlich, die wir näher erläutern sowie       ausschließlich Produkte eines Unternehmens vertreiben. Wie
in ihrer Relevanz für den gesamten DV einordnen.                   gezeigt werden wird, agieren die Beschäftigten weder völlig
    Der Artikel ist folgendermaßen aufgebaut: In den nächs-        autonom und getrennt von den Unternehmen noch sind sie
ten Abschnitten erläutern wir zentrale Charakteristika des         in einer Weise integriert wie dies bei betrieblich organisierter
DVs (2) und beschreiben Tupperware als Arbeitgeber (3).            Arbeit der Fall ist. Zudem schließen sie nicht etwa einen
Anschließend besprechen wir drei Spannungsfelder der               Arbeitsvertrag mit einem Unternehmen ab, sondern unter-
Tätigkeit, die nicht nur für Tupperware, sondern für den           schreiben eine ein- bis zweiseitige Mitgliedervereinbarung.
gesamten DV typisch sind (4). Im 5. Abschnitt ordnen wir               Während repräsentative Studien zu den Beschäftigten
die Tätigkeit in den sozialwissenschaftlichen Diskurs zum          des DV schlicht fehlen, geben vereinzelte Quellen Einblick
Leitbild „Guter Arbeit“ ein und erklären dann, warum der           in dieses in Deutschland kaum erforschte Feld: Unter Be-
DV zwischen die Stühle des (arbeitsmarktrechtlichen) In-           rufung auf seine Mitgliedsunternehmen geht der Bundes-
stitutionengefüges fällt (6). Unser Beitrag endet mit kon-         verband Direktvertrieb Deutschland davon aus, dass rund
kreten arbeitsmarktpolitischen Forderungen und Vorschlä-           83 % der Mitglieder ihre Tätigkeit im Nebenerwerb betrei-
gen für die weitere Forschung (7).                                 ben, wobei unklar bleibt, wie viele Arbeitsstunden dies um-
                                                                   fasst und inwiefern die Tätigkeit zur finanziellen Absiche-
                                                                   rung beiträgt. Auch andere Merkmale der Beschäftigten
                                                                   (Ausbildungsniveau, Alter, Familiensituation etc.) sind un-
                                                                   erforscht. Aus den Zahlen des Bundesverbandes geht ledig-
2. Was kennzeichnet den Direktvertrieb?                           lich hervor, dass bei den im Nebenerwerb Tätigen von einem
                                                                   Frauenanteil von knapp 98 % auszugehen ist. Es handelt sich
Direktvertriebe wie Avon, Amway, Herbalife, Mary Kay               um einen „weiblichen Beschäftigungssektor“;7 der Frau-
oder Tupperware vertreiben eine Vielzahl von Produkten             enanteil bei allen Beschäftigten liegt bei knapp 79 %.8
an ihre Kunden: Kosmetika, Haushalts- und Wellness-Pro-
dukte, Nahrungsergänzungs- und Reinigungsmittel,
Schmuck, Telefonverträge, Wein und Schokolade sind nur
einige Beispiele aus der Produktpalette dieser weltweit
wachsenden Beschäftigungsform (DSN 2012). Im Jahre                 3. Tuppern als Form abhängiger
2013 waren mehr als 96 Mio. Menschen Mitglied eines DV                 Selbstständigkeit
und bescherten den Unternehmen einen Umsatz von circa
178,5 Mrd. US-Dollar (WFDSA 2014).                                 Das Unternehmen Tupperware wurde in den 1940er Jahren
    Kennzeichnend für den DV ist, dass die Verkäuferinnen          in den USA gegründet und ist seit 1962 auch in West-
und Verkäufer, oft auch Berater, Consultants oder Ge-              deutschland tätig. Seit 1996 ist Tupperware ein börsenno-
schäftspartner genannt, als selbstständige Gewerbetreiben-         tierter Konzern, wobei die Haushaltsproduktsparte unter
de Produkte an Kunden verkaufen. Dies geschieht „direkt“,          der Marke Tupperware® heutzutage neben Kosmetikpro-
das bedeutet ohne zwischengeschalteten Einzelhandel (Pe-           dukten nur noch einen Teil des Konzerns ausmacht.
terson/Wotruba 1996, S. 2). Neben dem sogenannten                      Weltweit erwirtschaftete das Unternehmen 2,3 Mrd.
„Haustürgeschäft“ und Einzelberatungen ist laut Bundes-            US-Dollar im Jahr 2015,9 in Deutschland lag der Umsatz
verband Direktvertrieb Deutschland die Partyform die               2014 bei 208,9 Mio. €.10 Ungefähr 50.000 Berater-
meist verbreitete Verkaufsmethode.6 Mehrere Kundinnen
und Kunden kommen im privaten Umfeld zusammen, er-
halten eine Produktvorführung und können anschließend              6    www.direktvertrieb.de/News-detail.241.0.html?&tx_tt-
Produkte bestellen bzw. direkt erwerben.                                news%5Btt_news%5D=977&cHash=f04b4d712f06e5c-
    Die im Direktvertrieb Arbeitenden erhalten zum einen                de0cd6c754dcfbeef (letzter Zugriff: 19.07.2016).

eine Beteiligung an den Verkaufseinnahmen. Darüber hinaus
                                                                   7    Wir verwenden im Folgenden daher auch die weibliche Form.
besteht bei den meisten Unternehmen auch die Möglichkeit,
weitere Mitglieder anzuwerben, um so eine eigene Gruppe            8    www.direktvertrieb.de/News-detail.241.0.html?&tx_
aufzubauen (DSN 2012). Je größer und umsatzstärker die                  ttnews%5Btt_news%5D=984&cHash=3dd41e04463d
                                                                        8371b4633aaa084adb33 (letzter Zugriff: 19.07. 2016).
eigene Gruppe ist, desto mehr „Superprovision“ empfangen
Mitglieder (Brodie et al. 2002). Neben dem Anwerben müssen         9    http://ir.tupperwarebrands.com/~/media/Files/T/TupperWare-
die Mitglieder dann jedoch i. d. R. auch die Mitglieder ihrer           IR/documents/annual-reports/2015/2015 – 10K-filing.pdf
                                                                        (letzter Zugriff: 19.07.2016).
Gruppe motivieren und führen und ggfs. selbst ausbilden.
    Dieses Geschäftsmodell der „dependent self-employ-             10 www.bundesanzeiger.de/ebanzwww/wexsservlet (letzter
ment“ kennzeichnet die formale Selbstständigkeit der Ver-             Zugriff: 19.07.2016).

                                                                https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117                                             119
                                                         Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11.
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aufsätze

           innen,11 seit Neuestem PartyManager genannt, sind in                           Unter den formal selbstständigen Beraterinnen gibt es
           Deutschland tätig. In der Unternehmenszentrale arbei-                      eine hierarchische Arbeitsteilung, die an betriebliche „Ka-
           teten 145 Angestellte bzw. Arbeitnehmerinnen.12                            minkarrieren“ erinnert: Der Einstieg erfolgt zunächst als
               Wie üblich im DV, kann auch bei Tupper jede und                        „einfache Beraterin“. Wer fünf aktive Beraterinnen anwirbt
           jeder einsteigen: das Unterschreiben einer Mitgliedsver-                   und diese auch betreut, steigt zur Gruppenberaterin auf.
           einbarung mit dem Unternehmen bzw. der Bezirkshänd-                        Obwohl alle Beraterinnen selbstständig sind, ist vom Unter-
           lerin vor Ort genügt. Diese Vereinbarung enthält keine                     nehmen festgelegt, dass Gruppen nicht gewechselt werden
           Arbeitszeiten, Stundenlöhne oder Angaben zum Arbeits-                      dürfen – auch hier greift das Unternehmen in die Ausgestal-
           umfang, wohl aber die Verpflichtung, den von Tupper-                       tung der Tätigkeit ein. Aus den besten Gruppenberaterinnen
           ware vorgegebenen Standards zu folgen.                                     deutschlandweit speisen sich wiederum die Bezirkshändle-
               So erhalten neue Beraterinnen von den Bezirkshändle-                   rinnen, die als Franchisenehmerinnen mit dem Unterneh-
           rinnen eine Einarbeitung und werden zu den wöchentlichen                   men verbunden sind. Die Bezirkshändlerinnen sind verant-
           Montagstreffen eingeladen. Dort werden neue Produkte vor-                  wortlich für die Wochenschulungen, die Schulung der
           gestellt, Verkaufstipps gegeben, die monatlichen Sonderan-                 Neueinsteigerinnen sowie der Gruppenberaterinnen. Dar-
           gebote erläutert und erfolgreiche Mitglieder ausgezeichnet.                über hinaus dient die Bezirkshandlung als Lager: hier wird
           Die Treffen finden in der Bezirkshandlung statt, wo auch die               die Ware bestellt, durch Beraterinnen abgeholt und beschä-
           bestellten Waren abgeholt werden können. Bei ihrer Arbeit                  digte Ware umgetauscht.
           sind die Beraterinnen gehalten, sich an die von Tupperware                     Anders als bei „klassischer“ Selbstständigkeit ist auch
           vorgegebenen Ablaufpläne und Muster zu halten; selbst für                  das Vergütungssystem formal geregelt: Auf den Umsatz
           das Einladen der Gäste gibt das Unternehmen Formulierun-                   einer Party bzw. einer Bestellung beim Unternehmen er-
           gen vor. Sowohl bei der Vor- und Nachbereitung der Heim-                   hält die Beraterin in den ersten 13 Wochen 20 %, anschlie-
           vorführung als auch für die „Party“ selbst müssen sich die                 ßend 24 % Provision.14 Davon müssen alle anfallenden
           Beraterinnen an eine standardisierte Reihenfolge halten, die               Kosten wie z. B. Fahrten zur Party und zum Abholen und
           Zweifel an einer Weisungsungebundenheit – eines der zen-                   Ausliefern der Ware, Vorführartikel, Beteiligung an Gast-
           tralen Merkmale selbstständiger Arbeit – der Beraterinnen                  und Gastgeberinnengeschenken selbst bezahlt werden.
           aufkommen lässt. Die Arbeitsmittel, die Produkte sowie die                 Als formal Selbstständige können sie mit keiner sozialen
           Gastgeberinnen- und Gastgeschenke müssen die Beraterin-                    Absicherung oder Aufwandsentschädigung bei erfolglo-
           nen vor den Heimpartys selbst kaufen; Kataloge und Bestell-                sem Arbeitseinsatz rechnen; die Risiken der Entlohnung
           formulare stellt das Unternehmen zur Verfügung. Auch die                   unterliegen der direkten Marktförmigkeit.
           Anreiz- und Wettbewerbsstruktur von Tupperware werden
           vollständig durch das Unternehmen gerahmt. Obwohl nicht
           vertraglich festgelegt, wird zudem Wert auf ein ansprechen-
           des Äußeres gelegt, da die Beraterinnen nicht nur sich selbst,
           sondern in erster Linie das Unternehmen Tupperware re-
           präsentieren sollen.
               Der Einstieg bei Tupperware als Beraterin/PartyMa-
           nagerin kommt meist über persönliche Beziehungen zu-
           stande und erfolgt in der Regel, nachdem die Frauen als
           Gastgeberinnen eine Tupperparty veranstaltet (Langrei-
           ter 2006) oder bereits als Gast eine oder mehrere Tupper-
           partys besucht haben. Als Gastgeberin stellen sie ihren
           privaten Raum und ihre Freundschaftsnetzwerke zur
           Verfügung; die Produkte werden von einer Beraterin prä-
                                                                                      11 Der Anteil der männlichen Berater liegt bei ungefähr 1 %
           sentiert, die im Anschluss an die Vorführung neue Tup-                        und wird hier sprachlich nicht explizit berücksichtigt.
           perberaterinnen rekrutiert. Auf den Tupperpartys sind                         Quelle für Anzahl Beraterinnen: Groß (2008) und
           Frauen jeden Alters anzutreffen (oft verwandtschaftlich,                      http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/die-tupperparty-
                                                                                         trotzt-dem-wachsenden-internethandel-14348401.
           nachbarschaftlich oder freundschaftlich verbunden). Wie
                                                                                         html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (letzter Zugriff:
           bei anderen DV werden auf den Partys Produkte vorge-                          22.07.2016).
           führt und teilweise ausprobiert. Kundinnen können an-
           schließend die Produkte bestellen und in der Folgewoche                    12 https://www.bundesanzeiger.de/ebanzwww/wexsservlet
                                                                                         (letzter Zugriff: 19.07.2016).
           bei der Gastgeberin abholen. Die Motive der Frauen, eine
           Party zu veranstalten, reichen von dem Interesse an den                    13 Als Gastgeberin erhalten diese ein sogenanntes Gastge-
           Produkten13 bis hin zu dem Wunsch nach Abwechslung                            bergeschenk, wobei gilt: je mehr auf der Party verkauft
                                                                                         wird, desto wertvoller das Geschenk.
           und Geselligkeit, was vor allem von Frauen mit kleinen
           Kindern oder auch jenen, deren Kinder bereits aus dem                      14 www.tupperware.de/partymanager/verdienst (letzter Zu-
           Haus sind, in unseren Interviews genannt wurde.                               griff: 21.07.2016).

1 20                                      https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117
                                   Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11.
                            Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
WSI MITTEILUNGEN 2/2017

                                                                 4.2 Hervorragende Einkommensmöglichkeit
4. Spannungsfelder abhängiger                                       mit unbedeutendem Verdienst
    Selbstständigkeit am Beispiel
                                                                 Neben dem Flexibilitätsversprechen wirbt Tupper mit einem
    Tupperware
                                                                 attraktiven (Neben-)Einkommen, das weitgehend selbst
                                                                 bestimmt werden kann: Während im Angestelltenverhältnis
4.1 Flexibilität – begrenzt und entgrenzt                       das Einkommen oft festgelegt ist, kann bei Tupper sowohl
                                                                 sehr wenig als auch viel verdient werden – je nach Perfor-
Die zentralen Botschaften von Tupperware an (neue) Be-           mance der Beraterin.
raterinnen sind die freie Zeiteinteilung und die ideale              Nach unserer Erhebung fällt es den meisten Beraterinnen
Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf. Auf der Web-           schwer, das (ursprünglich) erwünschte Einkommen zu er-
site des Unternehmens ist zu lesen: „Als PartyManager            zielen. Gründe hierfür sind neben dem tatsächlichen Zeit-
sind Sie Ihr eigener Chef! Ob tagsüber, am Abend, unter          aufwand pro Party (s. o.) und der Schwierigkeit, Gastgebe-
der Woche oder am Wochenende – Sie entscheiden selbst,           rinnen zu finden, die vom Unternehmen festgelegte
wann und wie oft Sie aktiv sind und wie Sie Ihre Zeit ein-       Provisionsstruktur. Nach ihrem Stundenlohn gefragt, wurde
teilen. Dadurch lässt sich Ihre PartyManager-Tätigkeit           in unseren Erhebungen deutlich, dass die meisten Beraterin-
perfekt mit der Familie, Ihren Hobbys oder Ihrem Beruf           nen diesen nicht berechnen. Eine langjährige Beraterin gibt
verbinden.“15                                                    an: „Kann ich ihnen gar nicht sagen. … Kann man nicht!
    In unseren Erhebungen wurde deutlich, dass diese             Weil wenn man überlegt: Die Bestellungen machen, das Pa-
Flexibilität einer der Hauptgründe für den Einstieg ist.         cken. Also mein Mann sagt manches Mal schon: ‚Du hast
Vor allem Mütter mit kleinen Kindern wählen diese Tä-            einen Stundenlohn, wenn es viel ist, vielleicht von 5 € oder
tigkeit, da sie sich besser mit der Familienarbeit verein-       nicht einmal.’ Aber so darf man es halt nicht sehen: Tupper
baren lässt als eine klassische abhängige Beschäftigung          muss Spaß machen, sonst hört man es wieder auf.“ (Y,#24).
mit festen Arbeitszeiten und der Trennung von Arbeits-           Obwohl wir auch mit Beraterinnen gesprochen haben, die
und Wohnstätte. Die versprochene Flexibilität stößt je-          sich zufrieden äußerten und eine Beraterin 20 € brutto pro
doch in vielerlei Hinsicht an Grenzen: Während in Bei-           Stunde angab, schätzten die meisten ihren Stundenlohn auf
spielrechnungen für offizielle Veranstaltungen zwei bis          5 € brutto pro Stunde. Diese Höhe entspricht auch unseren
drei Stunden für eine Party veranschlagt werden, ist der         eigenen Berechnungen, die auf folgenden Annahmen basie-
tatsächliche Aufwand wesentlich höher: Geschätzte sie-           ren: Bei einer Party von 250 € Umsatz (Bundesdurchschnitt
ben bis acht Stunden (größtenteils außer Haus) sind nö-          laut befragter Bezirkshändlerin), erhält eine Beraterin 24 %,
tig, um die folgenden Aufgaben auszuführen: Zunächst             also 60 €. Davon gehen ungefähr 15 € Fahrtkosten und 10 €
müssen Gastgeberinnen gefunden werden, oft findet ein            Eigenbeteiligung für Gast- und Gastgeberinnengeschenke
Vorbesuch statt; zur Party kommt die Anreise- und Ab-            ab. Übrig bleiben für einen geschätzten Aufwand von 6 – 8
reisezeit hinzu, die Waren werden auf- und abgebaut,             Stunden somit 35 € brutto, vor Steuern und ohne Sozialver-
nach der Party in der Bezirkshandlung bestellt, die Woche        sicherungsbeitrag. Eine Beraterin, die seit der Arbeitslosigkeit
darauf abgeholt, zu Hause pro Gast sortiert und an die           ihres Mannes auf den Verdienst durch den Verkauf von Tup-
Gastgeberin geliefert. Zudem sind die Beraterinnen ge-           perware angewiesen ist, bewertet das Verhältnis zwischen
halten, an den Wochenschulungen teilzunehmen, auf                Aufwand und Nutzen kritisch: „Letzte Woche hatte ich eine
denen neue Produkte eingeführt werden. Mehr noch als             Vorführung, die ging länger als vier Stunden. Verkauft habe
in jeder anderen Erwerbsarbeit sind entgrenzte Arbeits-          ich für 170 €, dann kamen noch eine Stunde Hin- und Rück-
zeiten an der Tagesordnung; vielfach sind es die Berate-         weg dazu, die bin ich morgen auch wieder unterwegs, wenn
rinnen, die sich nach den Terminen von Tupperware                ich die Ware ausliefere. Das ist ganz klar ein Minusgeschäft.
(Abholen der Waren), der Kundinnen (Waren ausliefern)            Verdient hat daran nur Tupperware.“ (X#,18).
und Gastgeberinnen richten müssen. Die versprochene                  Die enttäuschten finanziellen Erwartungen erklären die
Flexibilität ist damit deutlich eingeschränkt und nur um         hohe Abbruchrate von Beraterinnen: Die meisten Mitglieder
den Preis entgrenzter Arbeitszeiten möglich: Wer tatsäch-        steigen bei Tupper, ebenso wie bei anderen DV (Groß 2008),
lich zwei bis drei Partys pro Woche ausrichtet, arbeitet         innerhalb eines halben Jahres wieder aus. Lediglich eine klei-
ungefähr im Umfang einer Halbtagsstelle. In unseren              ne Gruppe, die zu den Spitzenverkäuferinnen gehört, bezeich-
Erhebungen sind es somit gerade die kinderlosen Bera-            net ihr Einkommen als gut bis sehr gut. Andere bleiben aus
terinnen, die zu den besten in der Bezirkshandlung               den bereits erwähnten nicht-monetären Gründen bei Tupper.
gehören. Eine ältere Beraterin, deren Kinder schon               Dieses Motiv kann sich jedoch dann in sein Gegenteil
lange aus dem Haus sind, erzählt über ihren Arbeitsauf-
wand für die im Schnitt drei bis vier Partys pro Woche:
„Ja. Ich darf die Stunden nicht rechnen. Ich arbeite von
morgens bis abends oder bis nachts viel für Tupper.”             15 www.tupperware.de/partymanager/vorteile/freie-
(Interview Y,#21)                                                   zeiteinteilung (letzter Zugriff: 22.07.2016).

                                                              https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117                                             121
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aufsätze

           verkehren, wenn mit dieser Beschäftigungsform Geld ver-                     du kannst ja mit dem Staublappen im Mund noch staubsau-
           dient werden muss, weil das Einkommen des Partners weg-                     gen, kannst noch spülen und telefonierst noch!’ Wer sagt das?
           gebrochen oder unsicher geworden ist. In dem Moment, in                     Kein Mensch sagt das! Und [… bei Tupper] kriegst du wirk-
           dem sich etwa der bisherige Hauptverdiener in prekären                      lich stetig ‚danke’ gesagt, für das was du, du selbst dir erar-
           (Arbeits-)Verhältnissen wiederfindet, ändern sich die Funk-                 beitet hast.“ (X#,23) Während also im privaten Umfeld Haus-
           tion von Tupper und damit die mit der Arbeit verbundenen                    und Familienarbeit als selbstverständlich gelten, wird bei
           Anforderungen. Für die Betroffene wird die Arbeit bei Tup-                  Tupper der Arbeitseinsatz sichtbar gemacht und belohnt.
           per damit zu einer Zerreißprobe, die arbeitsbedingte psychi-                Diese nicht-monetäre Belohnung scheint die materiellen Ver-
           sche Beanspruchungen nach sich ziehen kann (Becker 2016).                   luste (zeitweise und unter bestimmten Bedingungen) zu kom-
               Es lässt sich somit festhalten, dass die Höhe des Einkom-               pensieren.
           mens formal nicht durch das Unternehmen gedeckelt ist: Wer                       Längerfristig kann sich die Tätigkeit jedoch als frauenspe-
           mehr Umsatz erwirtschaftet, erhält mehr Provision. In der                   zifischer Fallstrick erweisen. Eine langjährige Beraterin be-
           Praxis zeigt sich jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit, seinen               richtet: „[N]ein … wenn ich heute anfangen würde/sollte,
           Lebensunterhalt aus der Tätigkeit erwirtschaften zu können,                 würde ich nicht mehr anfangen. Schon aus dem Grund: Sie
           eher gering ist. Aus der Erhebung wurde außerdem deutlich,                  sind auch nicht abgesichert. Sie sind ja nicht rentenversichert
           dass die Tätigkeit von den meisten lediglich als Ergänzung                  und, und, und, ja? Ich würde sogar behaupten, das ist eine
           zum Haupteinkommen des (Ehe-)Partners gesehen wird (Be-                     Ausbeutung der Hausfrau, ja?“ (Y,#21) Ein weiterer durch die
           cker 2016; Groß 2008). Die relative Attraktivität der Tätigkeit             als weitgehend positiv erlebte Motivations- und Anerken-
           speist sich somit aus anderen Quellen: dem Spaß an der Ab-                  nungskultur verdeckter Aspekt ist demnach, dass Karrieren
           wechslung, den fehlenden beruflichen Alternativen für auf                   bei Tupper, wie so oft im DV, für die meisten Mitglieder nicht
           dem Arbeitsmarkt benachteiligte Gruppen und, wie im nächs-                  nachhaltig sind – weder bezüglich der Tätigkeitsdauer, der
           ten Abschnitt beschrieben wird, der spezifischen Anerken-                   Höhe der Entlohnung, der Absicherung im Alter noch der
           nungs- und Motivationskultur des Unternehmens.                              Anerkennung auf dem „ersten Arbeitsmarkt“, wenn ein
                                                                                       Wechsel in eine abhängige Beschäftigung angestrebt wird.
           4.3 Zwischen Motivationskultur                                             Die Charakteristika der Arbeit führen eher dazu, dass eine
                und Scheinemanzipation                                                 „gendered culture“ perpetuiert und weibliche Arbeit weiter-
                                                                                       hin abgewertet wird (Williams/Bermiller 2011). So erhöht
           Tupperware richtet sich, ähnlich wie die Vielzahl anderer                   die fehlende Sozialversicherung die Abhängigkeit der Tup-
           DV im Haushalts- und Kosmetikbereich, auf Frauen – sowohl                   perberaterinnen von ihrem Partner. Wer während der Fami-
           als Kundinnen als auch als Beraterinnen. Das Modell DV                      lien- und Tupperphase nicht von sich aus Geld zur eigenen
           gibt ihnen die Möglichkeit, aus ihrer Hausfrauen- und Mut-                  Absicherung zurücklegt bzw. legen kann, muss damit rech-
           terrolle nicht ausbrechen zu müssen, sondern diese mit dem                  nen, im Falle einer Scheidung und bei Krankheit oder Ar-
           Wunsch nach Anerkennung verknüpfen zu können. Trotz                         beitslosigkeit des Partners sozial abzusteigen. Die fehlende
           durchschnittlich geringer Einkünfte betonen die meisten                     gesellschaftliche Anerkennung hat zur Folge, dass selbst eine
           Beraterinnen, dass sie den Umgang mit Kundinnen schätzen,                   jahrelang (relativ) erfolgreiche Tätigkeit den eigenen Lebens-
           vor allem aber, dass Erfolge belohnt und „beklatscht“ werden.               lauf nicht aufwertet, sondern von Arbeitgebern auf dem ers-
               Dem Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung                        ten Arbeitsmarkt eher als Manko bewertet wird, sodass eine
           vieler Frauen wird durch eine im DV ausgeprägte „Motiva-                    Rückkehr in den Ausbildungsberuf oder der Wechsel in eine
           tionskultur“ (Biggart 1989) entsprochen. Das zeigt sich u. a.               andere, besser bezahlte Beschäftigung sich bei längerem Ver-
           daran, dass kein Mitglied offen kritisiert, sondern nur gelobt              bleib im DV für unsere Interviewpartnerinnen stets schwie-
           wird und besonders gute Beraterinnen auf der Bühne der                      riger gestalten. Die Anerkennungskultur des Unternehmens,
           Wochenschulung geehrt werden (vgl. Becker 2016; Groß                        z. B. Lob während der Wochenschulung, ein Tupperprodukt
           2008). Die Motivation der Beraterinnen soll durch die Aner-                 oder ein Kinderfahrrad als extra Belohnung, mögen kurz-
           kennung der Gruppe und unterstützende Preise stimuliert                     fristig attraktiv und sogar lukrativ erscheinen; gleichzeitig
           werden. Letztere bestehen je nach Umfang und Zeitdauer des                  zementieren sie jedoch die Abhängigkeit vom männlichen
           von der Zentrale ausgelobten Wettbewerbs aus materiell eher                 Haupternährer und stellen ein strukturelles Risiko für weib-
           wertlosen Produkten (Messlöffel, Plastikblumen etc.) oder                   liche Altersarmut dar (Schulze Buschoff 2011).
           auch aus größeren Preisen (Haushaltsprodukte, Kinderspiel-
           zeug, Fahrrad, Teilnahme am Jahresseminar, Kurzreisen etc.).
               Besonders attraktiv erscheinen das Lob und die (im-)
           materiellen Auszeichnungen vor dem Hintergrund der pri-
           vaten Situation der Beraterinnen: Wer außer bei Tupper „nur“                5. B
                                                                                           eschäftigung im Direktvertrieb –
           Hausfrau und Mutter ist, vermisst die Anerkennung der ei-                      Gute Arbeit oder prekärer Job?
           genen Arbeitsleistung. Eine Beraterin, inzwischen Gruppen-
           beraterin, erläutert dies: „Also die Anerkennung, okay, man                 Geringfügige Bezahlung, begrenzte und entgrenzte Flexi-
           bekommt sie zu Hause nicht. Es sagt keiner: ‚Super Mama,                    bilität sowie eine Motivationskultur, die das emanzipatori-

1 22                                       https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117
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WSI MITTEILUNGEN 2/2017

sche Potenzial eher unterläuft: Wie lassen sich diese Befun-      sich die Chancen auf ein Normalarbeitsverhältnis und ver-
de in den sozialwissenschaftlichen Diskurs zum Leitbild           stärken so die Abhängigkeit vom männlichen Haupternäh-
„Guter Arbeit“ einordnen? Zur Beantwortung dieser Frage           rer und das für Solo-Selbstständige ohnehin schon hohe
orientieren wir uns an dem von Castel (2000) vorgeschla-          Risiko auf Altersarmut.
genen Zonenmodell zur Beschreibung der Arbeitsgesell-
schaft. Prekäre Arbeit wird darin zwischen der sich durch         (5) Hinsichtlich der sozial-moralischen Dimension zeigen
geschützte Normalarbeit auszeichnenden Zone der Integ-            unsere Erhebungen, dass viele Frauen versuchen, mit ihrer
ration und der Zone der Entkopplung verortet, in der sich         Arbeit bei Tupper Anerkennungsdefizite zu kompensieren.
vornehmlich die dauerhaft vollständig von Erwerbsarbeit           Während repräsentative Erhebungen unter den Beschäftigten
ausgegrenzte Bevölkerung befindet. Als prekär wird ein            bei Tupper sowie im gesamten DV fehlen, lässt sich aufgrund
Arbeitsverhältnis dann bezeichnet, wenn die Beschäftigten         unserer Erhebungen vermuten, dass dies – im ganz wörtlichen
deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und Integrati-            Sinne – zum Teil gelingt: Die in den Gruppenmeetings sowie
onsniveau sinken, das in der Gesellschaft als Standard de-        auf den Partys gezollte Anerkennung ist eine der Hauptmo-
finiert und mehrheitlich anerkannt wird (siehe auch               tive für die Fortsetzung der Tätigkeit. Die oft fehlende oder
Manske/Merkel 2009; Mayer-Ahuja 2003). Bilanzieren wir            nur gering ausfallende materielle Anerkennung dagegen stellt
das Prekarisierungspotenzial der Arbeitsbedingungen bei           einen der Hauptgründe dar, dass Frauen ihre Tätigkeit been-
Tupperware anhand der von Castel (2000) vorgeschlagenen           den. In unseren Erhebungen zeigt sich zudem, dass – wenn
sechs Dimensionen kommen wir zu folgendem Ergebnis:               Tupper zu einem „Brotjob“ wird, damit also Geld verdient
                                                                  werden muss, – mit dieser Tätigkeit auch andere gesundheits-
(1) Hinsichtlich der materiell-reproduktiven Dimension            relevante Belastungen einhergehen. Unter eventuell neuen
lässt sich die Arbeit bei Tupper als eindeutig prekär defi-       familiären Bedingungen (Arbeitslosigkeit des Mannes) wird
nieren. Die von einigen vorgeschlagene Differenzierung,           es für die Frauen schwerer, sich dem Verkaufsdruck zu ent-
wonach prekäre Erwerbsarbeit nicht in jedem Fall prekäre          ziehen (ausführlich dazu Becker 2016). Darüber hinaus lässt
Lebenslagen nach sich zieht,16 trifft zwar für viele der von      sich festhalten, dass die gezollte Anerkennung sich weitgehend
uns befragten Frauen zu, ändert aber nichts an der Bewer-         auf das Unternehmen selbst sowie die eigenen Kundinnen
tung der Arbeitsbedingungen bei Tupper oder anderen Tä-           beschränkt. Außerhalb des Unternehmens sowie im gesell-
tigkeiten im DV (Koehn 2001; Walsh 1999).                         schaftlichen Diskurs wird diese Beschäftigungsform dagegen
                                                                  vielfach als typische „Frauenarbeit“ deklariert, die hinsichtlich
(2) Eindeutig prekär ist die Arbeit mit Blick auf die insti-      der sozial-moralischen Dimension hinter die männlich ge-
tutionelle Dimension: „Normale“ Standards bei der Parti-          prägte Normalarbeit zurückfällt (Williams/Bermiller 2011).
zipation an industriellen und sozialen Schutzrechten (so-
ziale Sicherungen, Arbeitsrecht, Recht auf kollektive             (6) Ähnliches lässt sich für die sinnhaft-subjektbezogene
Interessenvertretung) werden nicht nur unterschritten,            Dimension konstatieren: Die Einordnung dieser Tätigkeit
sondern sind gar nicht erst vorgesehen.                           als „non-work-related activity” (ebd.) und die Betonung
                                                                  intrinsischer Motivstrukturen sind Strategien, mit denen
(3) Bei der Bestimmung der sozial-integrativen Dimension          der Erwerbsarbeitscharakter bei Tupper verschleiert wird
ist eine differenzierte Argumentation geboten. Der DV er-         (Groß 2008; Lan 2001). Im Grunde wird damit die Sinnstif-
möglicht es vielen Frauen zwar überhaupt erst, soziale Netz-      tung in den Freizeitbereich verlagert und das besagte Image
werke außerhalb ihrer Privatsphäre zu pflegen, gleichwohl         als „Frauenarbeit“ zementiert.
erfordert es ihre Arbeit bei Tupper, dass private Netzwerke
für berufliche Zwecke genutzt und instrumentalisiert wer-         Zusammenfassend zeigt die Einordnung in Castels Zonen-
den. Die Etablierung befriedigender Sozialbeziehungen bei         model, dass die Arbeitsbedingungen deutlich prekäre Züge
der Arbeit wird damit zum Teil ad absurdum geführt; es            aufweisen und somit für die Beschäftigten vielfältige Pre-
kann sogar von einer Zerstörung sozialer Beziehungen ge-          karisierungsrisiken bergen. Gleichzeitig, und dies wird aus
sprochen werden (Lan 2002; Walsh 1999).                           unserer Erhebung ebenfalls deutlich, lässt sich die Gruppe
                                                                  der Direktvertrieblerinnen in ihrer Gesamtheit nicht als
(4) Die Aussichten auf eine dauerhafte Existenzsicherung          prekär bezeichnen. Der prekäre Job bei Tupper führt kei-
durch diese erwerbsbasierte Beschäftigung sind unseren            neswegs zwangsweise zu prekären Lebenslagen. Dieses am-
Erhebungen nach ebenfalls gering: Enttäuschte Einkom-             bivalente Ergebnis weist unserer Meinung nach auf ein spe-
mensperspektiven haben zur Folge, dass viele Frauen nach          zifisches und zugleich konstitutives Merkmal des DV hin:
einem halben Jahr diese Erwerbsform beenden. Eine der-            Im DV wird mit (verheirateten) (Haus-)Frauen und Müttern
artig temporäre Beschäftigung schränkt die Möglichkeiten          eine Zielgruppe von Beschäftigten angesprochen, die
einer zukunftsorientierten Lebensplanung deutlich ein.
Hinzu kommt, dass sich eine langjährige Beschäftigung bei
Tupper als nachteilig erweisen kann: Durch die fehlende
gesellschaftliche Anerkennung der Tätigkeit verschlechtern        16 Vgl. etwa die jüngste Debatte in Sozialismus 43 (4), S. 20ff.

                                                               https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117                                              123
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                                                 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
aufsätze

           angesichts des noch stets vorherrschenden „male bread-                     DV auf Einzelhandels- und Vertriebsunternehmen mit an-
           winner model“ ihre Absicherung oft außerhalb der Tätigkeit                 gestellten Beschäftigten unbekannt.
           findet. Ohne auf repräsentative Erhebungen zurückgreifen                       Drittens handelt es sich bei den Beschäftigten im DV
           zu können, vermuten wir also, dass die soziale Sicherung                   um eine Gruppe, deren Mitglieder oft ein zu geringes
           hier nicht durch die Beschäftigung selbst, sondern zum                     soziales und ökonomisches Kapital besitzen, um eine ei-
           großen Teil durch Ehemänner, weitere (abhängige) Beschäf-                  gene Interessenvertretung zu organisieren. Neben mate-
           tigung und durch das in Deutschland bestehende Ehegat-                     riell abgesicherten Menschen (z. B. Frauen, deren Mann
           tensplitting sowie im Falle von Altersarmut staatlich ge-                  einem abgesicherten Arbeitsverhältnis nachgeht), scheint
           währleistet wird. Für die Unternehmen bedeutet dies, dass                  die Tätigkeit im DV vor allem für diejenigen attraktiv, die
           sie den gesamten Vertrieb ihrer Produkte kostengünstig                     auf dem ersten Arbeitsmarkt Schwierigkeiten haben, sei
           mit formal Selbstständigen betreiben lassen können, da für                 es wegen fehlender Berufsausbildung, langer Krankheit,
           diese weder Sozialversicherungskosten noch ein Mindest-                    fehlender Sprachkenntnisse oder langer Arbeitslosigkeit.
           lohn bezahlt werden müssen. Welche Auswirkungen diese                      Anders als bei Selbstständigen mit hohem Ausbildungs-
           Form des Produktvertriebs auf Unternehmen mit angestell-                   niveau (z. B. Ärzte, Wirtschaftsprüfer oder Unterneh-
           ten Vertriebs- und Einzelhandelsbeschäftigten hat, ist bisher              mensberater) erfordert die Tätigkeit im DV keinerlei Vor-
           unerforscht. Angesichts der wachsenden Größenordnung                       kenntnisse oder Qualifikationen. Mitglieder von besonders
           des DV stellt sich jedoch sehr wohl die Frage, ob sich nicht               schutzbedürftigen Gruppen können ihre Interessen je-
           ein die Arbeitsstandards drückender Effekt entwickeln                      doch nicht selbst erfolgreich gegenüber (internationalen)
           könnte, wie er sich etwa auch beim Einsatz von Leiharbeits-                Großkonzernen vertreten. Damit perpetuiert sich der
           kräften im Hinblick auf Arbeits- und Gesundheitsschutz-                    prekäre Status. Die Unsicherheit der Tätigkeit, das gerin-
           standards zeigt (Becker 2015). Umso relevanter erscheint                   ge Verdienstniveau und die unzureichenden Rechtskennt-
           uns die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, diese Situation               nisse haben zur Folge, dass die Vertrieblerinnen vielfach
           zu ändern (hierzu Abschnitt 7). Dafür analysieren wir im                   nicht über die nötigen Machtressourcen verfügen, die für
           nächsten Abschnitt zunächst die Gründe für die fehlende                    die Gründung einer Interessenvertretung i. d. R. nötig
           kollektive Interessenvertretung im DV.                                     sind.
                                                                                          Viertens tragen die im DV vermittelten unternehmens-
                                                                                      kulturellen Anrufungen dazu bei, dass das prekäre Poten-
                                                                                      zial der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu-
                                                                                      nächst nicht offenkundig wird: Die Tätigkeit im DV wird
           6. Fehlende kollektive Interessen-                                        zwar als Beschäftigung, (zweite) Karrierechance und ge-
               vertretung im Direktvertrieb                                           legentlich selbst als Möglichkeit, großen Reichtum zu er-
                                                                                      langen, präsentiert (Biggart 1989; Groß 2008; Groß/Haun-
           Unsere bisherige Analyse hat die wachsende wirtschaftliche                 schild 2013). Gleichzeitig knüpft die Tätigkeit in dreierlei
           Bedeutung des Direktvertriebes wie auch die dort vorherr-                  Hinsicht an den privaten Bereich an, was den Beschäfti-
           schenden ambivalenten bis hin zu prekären Arbeitsbedin-                    gungscharakter verschleiert (Williams/Bermiller 2011):
           gungen gezeigt (vgl. auch Koehn 2001). Doch anders als                     die Verkaufstätigkeit findet im privaten Raum statt, pri-
           bei der parallel anwachsenden (Problem-)Gruppe der di-                     vate Netzwerke werden für berufliche Zwecke genutzt und
           gitalen Crowdworker lassen sich momentan keine Initiati-                   bei den meisten Produkten handelt es sich um Waren für
           ven einer kollektiven Vernetzung oder kollektiven Interes-                 den häuslichen Bereich, z. B. Haushaltswaren, Kosmetik,
           senvertretung erkennen. Wir sehen vier Gründe, warum                       Nahrungsergänzungsmittel, Wellness und Wohnacces-
           trotz der vielseitigen Probleme keine Anstrengungen für                    soires. Hinzu kommt, dass zur Unternehmenskultur im
           eine bessere Regulierung unternommen werden – weder                        DV die Botschaft gehört, dass jedes Mitglied selbst ver-
           vonseiten der Beschäftigten noch von bestehenden Institu-                  antwortlich ist für seinen Erfolg und dementsprechend
           tionen.                                                                    auch selbst die Verantwortung dafür zu tragen hat, wenn
               Erstens fallen die Beschäftigten schlicht zwischen die                 der Erfolg ausbleibt. Der von den Beschäftigten weitge-
           Stühle der gesellschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen                  hend internalisierte Anreiz, dass es „jeder schaffen kann“,
           Institutionen: Sie sind formal keine Arbeitnehmer im Sin-                  falls genug Anstrengungen unternommen werden, führt
           ne des Betriebsverfassungsgesetzes, d. h. sie haben auch                   dazu, dass frühere Mitglieder sich ihren Misserfolg weit-
           keinerlei Interessenvertretung.                                            gehend selbst zuschreiben. Die strukturellen Ursachen
               Zweitens unterstützt die oben beschriebene Ausrichtung                 (z. B. benötigter Zeitaufwand, geringfügige Bezahlung/
           der Unternehmen auf Beschäftigte, die oft anderweitig so-                  Provisionsstruktur, Marktsättigung, Konkurrenz der DV
           zial abgesichert sind, den Eindruck, dass kein arbeitsmarkt-               untereinander etc.) geraten damit aus dem Sichtfeld (Groß
           politischer Handlungsbedarf besteht. Die in vielerlei Hin-                 2008; Groß/Haunschild 2013) und verringern das Risiko
           sicht prekären Arbeitsbedingungen führen nicht                             für die Unternehmen, dass Beschäftigte arbeitspolitische
           zwangsweise zu prekären Lebenslagen. Zudem sind die                        Forderungen aus den problematischen Arbeitsbedingun-
           Einflüsse und Rückwirkungen der Arbeitsbedingungen im                      gen ableiten.

1 24                                      https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117
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WSI MITTEILUNGEN 2/2017

                                                                                          mung als Gruppe von Beschäftigten (statt „Selbstständigen“) stärken und
7. Was sollte sich ändern?                                                               somit zur Selbstmobilisierung der Beschäftigten beitragen. In diesem Zu-
                                                                                          sammenhang könnte auch überprüft werden, ob bei den Beschäftigungs-
Die Konsequenz der beschriebenen Probleme besteht vor allem darin, dass                   verhältnissen nicht eine Form der Scheinselbstständigkeit vorliegt. Ebenso
der DV einer Regulierung und Kontrolle bedarf. Wir plädieren dafür, dass                  stellt sich für den DV, der aus unserer Sicht zur Gruppe der „ertragsschwa-
den Beschäftigten „von außen“ geholfen wird, da die Wahrscheinlichkeit,                   che[n] Arbeitsbeziehungen“ (Walter 2010) gehört, die Frage einer Neure-
dass Vertrieblerinnen sich selbst mobilisieren, eher gering (und de facto                 gulierung des Arbeitsrechts. So wäre beispielsweise denkbar, Mitglieder des
bisher nicht erfolgt) ist. Zwar könnte eine weitere Erosion des „male bread-              DV genauso wie unter bestimmten Bedingungen Handelsvertreterinnen
winner model“ dazu führen, dass die Tätigkeit auch für die momentan                       und Handelsvertreter (§ 92a HGB) zur Gruppe der „arbeitnehmerähnlichen
größte Zielgruppe an Beschäftigten (Hausfrauen und Mütter) zunehmend                      Personen“ zu zählen und ihnen damit den Zugang zu Mindestarbeitsbe-
unattraktiv (weil nicht existenzsichernd) wird und die Versprechen der                    dingungen zu gewähren.17
Konzerne kritisch hinterfragt werden. Angesichts der Wachstumsraten des                       Die Rolle der Forschung ist in diesem Zusammenhang deutlich: Der
DV scheint dies momentan jedoch nicht der Fall zu sein. Daher sind staat-                 DV wird bisher stiefmütterlich behandelt. Zwar gibt es für Deutschland
liche Eingriffe, die auf Transparenz und Haltelinien zielen, gefragt. Ge-                 einzelne Unternehmensstudien. Die Anzahl derjenigen, die dort tatsächlich
werkschaften könnten Mobilisierungsbeispiele aus anderen Branchen (im                     einer Beschäftigung nachgehen, ihre Motive, die Bedingungen ihrer Tätig-
Sinne von „best practice“) auch für den DV entwickeln und Unterstützung                   keit, ihr Verdienst, ihre Aufstiegsmöglichkeiten, der Effekt ihrer Tätigkeit
bei einer kollektiven Interessenartikulation bieten. Wir sehen zwei konkre-               auf ihre (nicht aufgebaute) Altersrente, Karrierechancen außerhalb des DV
te Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im DV: mehr                          etc. – also die Beschäftigungsbedingungen und die (sozio-ökonomischen
Transparenz und eine unabhängige Regulierungs-, Informations-, Be-                        sowie die individuellen) Folgen der Beschäftigung sind dagegen weitgehend
schwerde- und Kontrollstelle.                                                             unerforscht. Auch zu der oben aufgeworfenen Frage, welche Folgen das
    Vielen Arbeitsuchenden – und der breiteren Öffentlichkeit – fehlen                    Wachstum des DV auf Vertriebs- und Einzelhandelsunternehmen mit an-
Informationen zu den (auch langfristig wirkenden) Konditionen der Arbeit                  gestellten Beschäftigten hat, sind uns keine Initiativen bekannt, die die
im DV: Weder ist bekannt, wie viele Unternehmen in der beschriebenen                      genannten Lücken zu schließen versuchen.18
Art und Weise arbeiten, noch wie viele Mitglieder sie im Vertrieb haben,                      Für eine – aus unserer Sicht gebotene – Verbesserung der Beschäftigten-
was diese verdienen, wie lange die Beschäftigten dabei sind bzw. wie schnell              situation, das zeigen etwa die Erfahrungen mit Leiharbeit, muss dem DV erst
und aus welchen Gründen sie wieder ausscheiden. Wie andere Unterneh-                      mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden: in der Öffentlichkeit, der Forschung
men könnte der DV verpflichtet werden, relevante Kennzahlen zu veröf-                     und der Politik. Ziel unseres Artikels ist es, hierzu beizutragen. 
fentlichen. Unternehmen wie Herbalife oder Vemma, die durch die Federal
Trade Commission (USA) untersucht wurden, wird genau dies auferlegt:
die Veröffentlichung von Zahlen und Fakten, die Arbeitsuchenden Ent-
scheidungshilfen bieten.
    Bisher gibt es keine unabhängige Regulierungs-, Informations-, Beschwer-              Liter atur
de- und Kontrollstelle, die Unternehmen zurechtweisen kann bzw. tatsächlich               Becker, K. (2015): Macht und Gesundheit. Der informelle Handel um die Ver-
effektiv zurechtweist. Zwar gibt es gesetzliche Vorgaben zu Schneeballsyste-              nutzung von Arbeitskraft, in: Berliner Journal für Soziologie 25 (1), S. 161 – 185
                                                                                          Becker, K. (2016): Freiheitsfeten oder Prekaritätspartys? Tupperware als
men und illegales Verhalten wird durch die Staatsanwaltschaft geahndet, die
                                                                                          Erwerbsform von Frauen, in: Arbeits- und Industriesoziologische Studien 9 (1),
meisten Probleme des DV liegen aber entweder im Graubereich zwischen                      S. 102 – 117
legal und illegal oder sind durch die Gesetzgebung gar nicht erfasst, wie eine            Biggart, N. W. (1989): Charismatic capitalism. Direct selling organizations in
aktuelle Analyse der Lobbypolitik des DV auf europäischer Ebene zeigt (To-                America, Chicago
                                                                                          Borzaga, M. (2012): Wirtschaftlich abhängige Selbständige in Italien und
kaji-Nagy 2016). Die Regeln für gutes Verhalten, die sich der DV über seine
                                                                                          Deutschland: eine rechtsvergleichende Analyse, in: Busch, D./Feldhoff, K./
(inter-)nationalen Vereinigungen selbst gegeben hat (Codes of Ethics), haben              Nebe, K. (Hrsg.): Übergänge im Arbeitsleben und (Re) Inklusion in den Arbeits-
sich als zu ungenau und wenig wirksam erwiesen, da sie nicht von einer                    markt, Baden-Baden, S. 99 – 112
unabhängigen Instanz überprüft werden.                                                    Brodie, S./Stanworth, J./Wotruba, T. (2002): Comparisons of salespeople in
                                                                                          multilevel vs. single level direct selling organizations, in: Journal of Personal
    Die genaue Ausgestaltung einer solchen Instanz für den DV kann vie-                   Selling & Sales Management 12 (2), S. 67 – 75
le Formen annehmen. Denkbar wäre z. B. eine unabhängige Kontrollstelle                    Castel, R. (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der
beim Ministerium für Arbeit und Soziales: So wie dort Regeln zu Leiharbeit                Lohnarbeit, Konstanz
                                                                                          DSN (2012): Direct Selling News. 100 Global. Our exclusive annual report,
und Werkverträgen aufgestellt werden, so müssten auch DV-spezifische
                                                                                          Plano US
Regeln und Vorgaben entwickelt werden, deren Einhaltung auch kontrol-                     European Union (2013): Social protection rights of economically dependent
liert wird. Eine für den DV spezifische Instanz könnte nicht nur den Be-                  self-employed workers, DG Internal Policies of the Union Policy Department A
schäftigten im DV „von außen“ helfen, sondern auch die Selbstwahrneh-                     – Economic and Scientific Policy, Brussels
                                                                                          Groß, C. (2008): Multi-Level-Marketing: Identität und Ideologie im Network-
                                                                                          Marketing, Wiesbaden
                                                                                          Groß, C./Haunschild, A. (2013): Liberté toujours? Gerechtigkeit und Gemeinschaft
                                                                                          in neoliberalen Arbeitsregimen am Beispiel der Amway GmbH, in: Zeitschrift
17 Für eine Erläuterung der Kriterien für „arbeitnehmerähnliche Personen“                 für Personalforschung 27 (2), S. 81 – 102
   siehe Borzaga (2012).                                                                  Koehn, D. (2001): Ethical issues concerned with multi-level marketing schemes,
                                                                                          in: Journal of Business Ethics 29 (1/2), S. 153 – 160
18 Auch die ver.di-Initiative „Dienstleistungspolitik 4.0“ nimmt dieses Be-               Lan, P.-C. (2002): Networking capitalism: network construction and control
   schäftigungssegment nicht in den Blick.                                                effects in direct selling, in: The Sociological Quarterly 4 (2), S. 165 – 184

                                                                  https://doi.org/10.5771/0342-300X-2017-2-117                                                         125
                                                           Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.11.2021, 07:26:11.
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