Betrachtungen zum Nobelpreis in Physiologie oder Medizin 2019* - JKU

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Betrachtungen zum Nobelpreis in Physiologie oder Medizin 2019* - JKU
Betrachtungen zum Nobelpreis in
 Physiologie oder Medizin 2019*

                   J. Donnerer, JKU Linz

*an William G. Kaelin Jr., Sir Peter J. Ratcliffe and Gregg L. Semenza
“für ihre Entdeckungen, wie Zellen die Verfügbarkeit von Sauerstoff messen
und auf einen Mangel reagieren“
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Kaprun Stausee   Höhenleistungs-
Mooserboden;     zentrum Kühtai,
Seehöhe 2000 m   Seehöhe 2020 m
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Höhentraining

• Höhentraining ist eine wirksame Methode zur Belastungssteigerung
  im Trainingsprozess; diese ergibt sich aus der in der Höhe
  auftretenden Hypoxie.
• Hypoxie ist der Zustand von Sauerstoffmangel in den Körperzellen
  durch ein verringertes Sauerstoffangebot. Hypoxie ruft demzufolge
  Sauerstoffmangelerscheinungen hervor, auf die der Körper durch
  entsprechende Anpassungsreaktionen reagiert.
• Dies macht sich der Leistungssport zunutze, um eine Steigerung der
  Leistungsfähigkeit zu erreichen.
• Höhentraining = Hypoxie-Training.
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Höhentraining

• In der Natur sind diese Bedingungen mit verringertem
  Sauerstoffangebot nur im Gebirge vorzufinden. Obwohl der
  prozentuale Sauerstoffanteil in der Luft auf allen Höhen konstant bei
  knapp unter 20,9 % liegt, steht durch den herrschenden geringeren
  Luftdruck in der Höhe absolut entsprechend weniger Sauerstoff zum
  Atmen zur Verfügung:
  - die Atemventilation nimmt zu
  - der Hämoglobinanteil im Blut steigt
  - die Diffusionskapazität der Lungen erhöht sich
  - die Gefäße im Gewebe erweitern sich
  - der Fettstoffwechsel wird gesteigert
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Erdatmosphäre

Höhe          Prozent   Luftdruck

0m            100 %     1013 hPa

300 m         96,2 %    975 hPa

2000 m        77,4 %    784 hPa

                                    https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Air
                                    _composition_pie_chart.JPG
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Oben:
Abgabe von Sauerstoff aus dem Blut in
das Gewebe; von dort gelangt CO2 in
die Erythrozyten

Unten: In der Lunge gelangt Sauerstoff
in das Blut und Kohlendioxid in die
Alveolarluft

Abbildung: Atemgasaustausch;
Nach einer Vorlage bei Pearson Education 2013

http://physiologie.cc/VII.4.htm
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William G. Kaelin Jr

                                      Geboren: 1957, New York, NY, USA

                                      Affiliation zum Zeitpunkt der Auszeichnung: Dana-
                                      Farber Cancer Institute, Brigham and Women’s
                                      Hospital, and Harvard Medical, Boston, MA, USA,
                                      Howard Hughes Medical Institute, Chevy Chase,
                                      MD, USA

Ill. Niklas Elmehed. © Nobel Media.
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Sir Peter J. Ratcliffe

                                      Geboren: 1954, Lancashire, United Kingdom

                                      Affiliation zum Zeitpunkt der Auszeichnung:
                                      University of Oxford, Oxford, United Kingdom,
                                      Francis Crick Institute, London, United Kingdom

Ill. Niklas Elmehed. © Nobel Media.
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Gregg L. Semenza

                                     Geboren: 1956, New York, NY, USA

                                     Affiliation zum Zeitpunkt der Auszeichnung: Johns
                                     Hopkins University, Baltimore, MD, USA

Ill. Niklas Elmehed. © Nobel Media
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William Kaelin (links), Peter Ratcliffe and Gregg Semenza
(rechts) Credit: Harvard University/University of
Oxford/Johns Hopkins Medicine
Zellantwort auf Hypoxie: frühe Ansätze (Semenza et al. 1991, PNAS 88:5680)

Bereits bekannt: Regulation (= vermehrte Transkription) des humanen
Erythropoietin-Gens in der Niere durch Hypoxie

Neu: Ein nukleärer Transkriptionsfaktor wird identifiziert und ‚Hypoxie-induzierbarer
nukleärer Faktor‘ – HIF-1 genannt
Zellantwort auf Hypoxie: 2. Schritt (Wang, Semenza et al. 1995, PNAS 92:5510)

Bereits bekannt: HIF-1 ist als Transkriptionsfaktor für die Hypoxie-induzierte
Regulation des Epo-Gens notwendig

Neu: große Mengen an HIF-1 sind in Zellen unter Hypoxie vorhanden; es
verschwindet aber rasch, sobald die Zellen wieder einer normalen
Sauerstoffkonzentration ausgesetzt sind

→ spricht für eine Rolle von HIF-1 als Transkriptionsfaktor bei Hypoxie
Zellantwort auf Hypoxie: 3. Schritt (Maxwell, Ratcliffe et al. 1999, Nature 399:271)

Bereits bekannt: HIF-1 ist ein Transkriptionsfaktor, der unter Hypoxie im Zellkern eine
Reihe von Genen des Energiehaushalts und der Angiogenese steuert

Bereits bekannt: unter Normalbedingungen wird HIF-1 rasch durch Proteasomen
abgebaut, bei Hypoxie aber stabilisiert

Neu: das von Hippel-Lindau Tumor Suppressor Genprodukt (pVHL) spielt bei der HIF-
1 Regulation eine entscheidende Rolle. O2 und Fe2+ sind dabei als Kofaktoren wichtig

→ Hinweis auf die eine zelluläre Sauerstoff Sensorfunk3on der pVHL/HIF-1
Interaktion
Zellantwort auf Hypoxie: 4. Schritt (Ivan, Kaelin et al. 2001, Science 292:464)

Bereits bekannt: das von Hippel-Lindau Tumor Suppressor Genprodukt (pVHL) spielt
bei der HIF-1 Regulation eine entscheidende Rolle. O2 und Fe2+ sind dabei als
Kofaktoren wichtig

Neu: die Hydroxylierung an einem Prolin des HIF-1 ist notwendig für den Abbau
durch Proteasomen; O2 und Fe2+ sind dabei als Kofaktoren wichtig. D.h. die Bindung
von pVHL an HIF-1, und die Zufuhr zum Abbau durch Proteasomen geschieht nur,
wenn vorher diese Hydroxylierung erfolgt ist.

→ ein weiterer Hinweis für den zellulären Sauerstoff-Sensor Mechanismus
Zellantwort auf Hypoxie: 5. Schritt (Jaakkola, Ratcliffe et al. 2001, Science 292:
    468)

Bereits bekannt: die Hydroxylierung an einem Prolin des HIF-1 ist notwendig für den
Abbau durch Proteasomen; O2 und Fe2+ sind dabei als Kofaktoren wichtig.

Neu: die Hydroxylierung des Prolins an HIF-1 erfolgt durch das Enzym HIF-α Prolyl
Hydroxylase; O2 und Fe2+ sind dabei als Kofaktoren wichtig [HIF-PH]

→ dieses Enzym ist der eigentliche zelluläre Sauerstoff Sensor!
HIF = Hypoxie-
induzierbarer
Faktor

VHL = von Hippel-
Lindau Protein

https://www.nobelpriz
e.org/prizes/medicine/
2019/press-release/

     Wenn die Sauerstoffspiegel niedrig sind (Hypoxie), wird HIF-1α vor dem Abbau geschützt, wandert in den
     Zellkern und kann die DNA Transkription verändern (1). Bei normalen Sauerstoffspiegel wird HIF-1α rasch durch
     Proteasome abgebaut (2). Sauerstoff bewirkt dabei den Einbau von Hydroxylgruppen (OH) in das HIF-1α (3).
     Erst dadurch erkennt das VHL Protein das HIF-1α und führt es dem Abbau zu (4)
Aufzählung der HIF-1 regulierten Gene

                   Erythrozytose
                    Angiogenese
               Glucose Metabolismus
        Zellproliferation/Überleben der Zelle
Schutz des hypoxischen Gewebes bei oxidativem Stress
                        u.a.
https://www.nobel
prize.org/prizes/
medicine/2019/pr
ess-release/

    Der Mechanismus des Sauerstoff-Sensing hat eine fundamentale Bedeutung in der Physiologie, z.B. für
    unseren Stoffwechsel, für Immunantworten und für Anpassungen an körperliche Belastungen. Viele
    pathologische Prozesse sind ebenfalls beeinflusst. Hemmungen oder Aktivierung der Sauerstoff-regulierten
    Zellvorgänge können für die Behandlung von Anämie, Krebs und Infarkten genutzt werden.
Medizinische Bedeutung I

• Bei der Behandlung der Anämie – Blutarmut aufgrund eines zu wenig
  an roten Blutkörperchen – wird dieses Konzept schon viele Jahre lang
  erfolgreich therapeutisch verwendet, indem man einen
  Blutbildungsfaktor, Erythropoietin, injiziert
Verminderter Sauerstofftransport
zum Gewebe (Hypoxämie) führt zu
erhöhter renaler
Erythropoetinproduktion. Die Folge
ist vermehrte Reifung von
Erythrozyten, Hämatokritanstieg
und verbesserter
Sauerstofftransport.

Abbildung: Sauerstoffverfügbarkeit und
Erythropoetin
Nach Spivak JL, Nature Rev Cancer 2005; 5:
543-55

http://physiologie.cc/VII.4.htm
Erythropoiese
  Myeloische Stammzelle                                    Interleukin 3
                               CFU-GEMM
                                                                    Erythropoietin
                                                  BFU-E
                                                                              Erythropoietin
                                                          CFU-E

                                                                                     Proerythroblast

                                   Erythroblast, orthochrom.

                        Erythroblast, basophil

       Erythroblast, polychrom.

  CFU-GEMM … oligopotente myeloische Stammzelle
  BFU-E … burst forming unit erythroid                     Retikulozyt     Normozyt
  CFU-E … colony forming unit-erythroid                                                        Graphik: UH
Erythropoietin (EPO)
• Differenzierungs- und Proliferationsfaktor für
        Progenitorzellen der Erythropoiese

• bestimmt die Differenzierung und Reifung von Erythrozyten

• Synthese in Niere (Endothelzelle der peritubulären Kapillaren)
    • hängt in erster Linie ab von
       • venösem Sauerstoffpartialdruck
       • Hypoxie → Synthesesteigerung

   http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Redbloodcells.jpg
Klinische Anwendung von EPO
   • Anämie
      • chronische Nierenerkrankungen (renale Anämie)
           • DialysepatientInnen
      • Vorbeugung einer Frühgeborenenanämie
           • Geburtsgewicht 750-1500g
           • vor 34. Schwangerschaftswoche
      • Vorbeugung und Behandlung der Anämie bei Erwachsenen
         mit soliden Tumoren bei platinhaltiger Chemotherapie
         (Cisplatin, Carboplatin)
      • chronische Infektionen, HIV
   • Aktivierung der Erythropoiese vor chirurgischen Eingriffen
      • Entnahme von autologem Spenderblut
   • Radiotherapie
Medizinische Bedeutung Ia

In der gesunden Niere nimmt als Reaktion auf
Hypoxie die Zahl der EPO-produzierenden Zellen zu!

Neuer Therapieansatz: In der erkrankten Niere
könnte man durch Hemmer der HIF-1 Hydroxylierung
die Zahl der EPO-produzierenden Zellen steigern!

Schödel, Ratcliffe; Nature Rev. Nephrology (2019) 15: 641
Medizinische Bedeutung II

• Nun erhofft man sich auch bei der Hemmung von
  Tumorneubildungen oder von Metastasen, die immer auf das
  Aussprossen von neuen Blutgefäßen zu deren Sauerstoff-Versorgung
  angewiesen sind, und somit auf Sauerstoff-Sensor und Hypoxiefaktor
  - ebenfalls einen neuen therapeutischen Angriffspunkt. Selektive
  Hemmer des Sensors könnten als Tumortherapeutika sehr nützlich
  sein und sind auch bereits in klinischer Erprobung.
Angiogenese: für das Wachstum von Tumoren ist Neovaskularisation
erforderlich – neuer Angriffspunkt für Tumortherapeutika.
Bevacizumab, ein Antikörper gegen Endothelwachstumsfaktor VEGF,
ist bereits in klinischer Verwendung.
Medizinische Bedeutung II

• Bei einer Reihe von soliden Tumoren, wie Tumore im Kopf-
  Halsbereich, Lunge, Brust, Ösophagus, Ovar u.a. wurde in Biopsien ein
  erhöhter Spiegel von HIF-1 nachgewiesen. Inhibitoren von HIF-1
  werden ob ihrer tumorsupprimierenden Eigenschaften getestet.
  Augenmerk wird dabei auf die Angiogenesehemmung gelegt, aber
  auch auf die Zellproliferation, Invasion/Metastasierung gelegt, denn
  bei all diesen Vorgängen sind HIF-1α aktivierte Gentranskriptionen
  dabei.
Medizinische Bedeutung III

• Als Drittes dürfte sich bei Zellschädigungen aufgrund von Gewebe-
  Minderdurchblutungen, wie bei einem Infarkt, die künstliche
  Stimulation von Sauerstoffsensor und Hypoxiefaktor günstig auf die
  dort aber notwendige Blutgefäßneubildung auswirken.
Medizinische Bedeutung IV

• Als Schutz von Zellen bei „oxidativem Stress“, wie er bei völliger
  Minderversorgung eines Gewebes und anschließender Reperfusion
  auftritt: Hemmung einer bestimmten Isoform von PHD, nämlich der
  Isoform 1, könnte die Zelltoleranz bei oxidativem Stress verbessern.
Bedeutung von Vernetzung und Kooperation in der
medizinischen Forschung

• Die heurige Wahl und Auszeichnung durch das Nobelkomitee zeigt
  wieder einmal sehr bildlich, dass wichtige Erkenntnisse in der Medizin
  meist nicht von Einzelpersonen gewonnen werden, sondern sich erst
  durch Vernetzung und Gedankenaustausch über Fachgrenzen hinweg
  herauskristallisieren.
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