BILDUNG - ZWISCHEN HIRN UND HERZ - EINE PUBLIKATION DES GOETHE-INSTITUTS
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Humboldt 3 / Bildung – zwischen Hirn und Herz Editorial Ulrike Prinz und Isabel Rith-Magni 3 Guillermo Hoyos Das Ideal der humanistischen Bildung 5 Jorge Volpi Die Emotionsmaschine 7 Cristina Peri Rossi Der vollkommene Genuss 9 Matthias Kross Fühlt mein Gehirn? 11 Ute Frevert Herzensbildung 15 Juan Antonio Flores Martos Turbulenzen des Verlangens und der Emotion 18 Wolfgang Frühwald Vom Bildungskanon im Zeitalter des Internet 22 Janna Degener Macht Mehrsprachigkeit schlau? 26 Manfred Spitzer Bildung ohne System 29 Sérgio Branco Verstand und Gefühl im Klassenzimmer 33 Rilo Chmielorz Oxford in Madrid 36 Rosa Tennenbaum Bildung zum schönen Charakter 39 Marcelo da Veiga Wie viel Geist benötigt Bildung? 42 Victoria Eglau „Unser Orchester ist ein Schatz“ 45 Sibylle Lewitscharoff Bildung 48 Rike Bolte Literarische Hausbesuche und andere Alphabetisierungsbrücken 51 Ulrike Prinz MARIPOSA oder die transformative Kraft der Kunst 54 Wolfgang Behrens Intime Bekenntnisse eines „Schwarzmarkt“-Besuchers 56 Ricardo Bada Mafalda als Schulkind 58 Björn Kuhligk E Rito Ramón Aroche transversalia 60 Miguel Giusti Kultur der Toleranz. Kultur der Anerkennung 63 Mariangela Giaimo „Antígona Oriental“ 67 Guillermo Calderón Beben in Düsseldorf 70 Frieder Reininghaus Hoher Zoll für den Aztekenfürsten 73 Mark Münzel Urtext im Schrank 76 Anne Huffschmid „Mirar y creer“ – Schauen und glauben 79 Berthold Zilly ENTREMUNDOS 81 Impressum 84
Humboldt 3 Bildung – 3/84 Ulrike Prinz und Isabel Rith-Magni Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz Bildung – zwischen Hirn und Herz Susan Aldworth, „Cogito Ergo Sum 3“, 2006, Gicléedruck, 250 x 200 cm. Courtesy of the artist and GV Art London Bildungsideale wechseln zurzeit schneller als Handytarife. Die Aus-Bildung und Berufswahl im Hinblick auf den Arbeitsmarkt Bildungsinstitutionen kommen kaum hinterher, und alles, was sie geht – nämlich um die Frage: Was macht unsere Bildung im versuchen, erscheint systemlos. Wir leben heute in einer hoch Innersten aus, und welches Lebenswissen brauchen wir in der flexiblen „Wissenswelt“, deren Devise lifelong learning heißt. postindustriellen Gesellschaft? Doch was lohnt zu lernen in einer sich ständig beschleunigenden Neuere Erkenntnisse der Hirnforschung bringen auch unser digitalisierten Welt, in der das Wissen von heute morgen Verständnis von Bildung in Bewegung. Sie zeigen uns Lern- keinen Pfifferling mehr wert zu sein scheint? In diesem Heft prozesse als hochkomplexe neuronale Vernetzungssysteme. betrachten wir Bildung im Spannungsfeld zwischen Herz und Dabei unterliegt das Gehirn im Laufe eines Lebens drastischen Hirn – zwischen Emotion und Verstand. Eine zentrale und Veränderungen. Große Hoffnungen richten sich auf die Ergeb- gesellschaftlich relevante Thematik, in der es um mehr als um nisse der Neurowissenschaften, deren bildgebende Verfahren
Ulrike Prinz und Isabel Rith-Magni Humboldt 3 Bildung – 4/84 Editorial Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz den Eindruck vermitteln, man könnte dem Hirn beim Denken bewusst war: Denn die Betonung von Emotionalität schürt zusehen. Die Schlüsse jedoch, die man aus den Bildern gleichzeitig die Angst vor der Verführbarkeit der empfindsamen zieht, fallen sehr unterschiedlich aus. Vor einem Reduktio- Herzen. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür liefert Victoria nismus auf die physiologische Struktur des Gehirns durch Eglau mit ihrem Bericht über die magische Kraft der Musik im die Neurowissenschaften, die in den letzten Jahren zur bolivianischen Tiefland, mit der die Jesuiten im 17. Jahrhundert Leitwissenschaft avanciert sind, aber warnt nicht nur der ihre Missionierung intensivierten. Nach deren Vertreibung aus Philosoph Matthias Kross. Geistes- und Kulturwissenschaften Amerika 1767 bewahrten die Indianer der Chiquitania die alten halten dem neurowissenschaftlichen Materialismus entgegen, Notenblätter auf und erwecken die Partituren heute in ihren dass das menschliche Gehirn immer in einen Leib eingebettet Orchestern zu neuem Leben. Kunst weckt Begeisterung und und damit auch kulturellen, historischen und gesellschaftlichen Kreativität; musische Bildung kann demnach die Welt bewegen. Bedingungen unterworfen ist. Der Emotionsforschung, die seit Wenn der koreanische Architekt Eun Young Yi bei einem einiger Zeit en vogue ist, geht es daher auch weniger um das Wissensspeicher, wie es die von ihm entworfene Stuttgarter Durchbuchstabieren persönlicher Gefühle, sondern vielmehr um Bibliothek ist, das Kernstück des Gebäudes als symbolisches die soziale Perspektive, darum also, wie bestimmte Schichten, „Herz“ und „Wurzel des Wissens“ bezeichnet, dann macht dies Kulturen oder Gesellschaften Gefühle zum Ausdruck bringen. deutlich: Ratio und Emotion müssen keineswegs Gegenspieler Einen Wandel solcher Strategien zeigt die Studie von Juan sein. Immer häufiger ist von „emotionaler Intelligenz“ die Rede. Antonio Flores in Veracruz, Mexiko, wo sich eine deutliche Erfahrungsgemäß lernen wir besser, wenn uns die Dinge auch Verschiebung von traditionellen, eher körperbetonten rituellen emotional ansprechen, durch gute Literatur zum Beispiel. Diese Maßnahmen hin zu narrativen Strategien zur Beherrschung von erweitert unseren Horizont, wie der Philosoph Guillermo Emotionen nachweisen lässt. Hoyos betont; für Cristina Peri Rossi vermittelt sie Freude am Der emotional turn, die neue Hinwendung zu den Gefühlen Erkenntnisgewinn, Mitgefühl und Verständnis, und Jorge Volpi als Forschungsgegenstand sowohl in den Natur- als auch in den sieht in der Fiktion eine veritable Gefühlsmaschine, die Bildung Geisteswissenschaften, bringt ganz unterschiedliche Erkenntnisse – und Erkenntnisgewinn des Menschen fördert, ihn aber auch nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Frage nach einer „vernünftigen“ verführen kann. und unserer Gesellschaft angemessenen Bildung. So fällt zum Bildung ist immer auch Herzensbildung; sie sollte motivieren Beispiel auf, dass in letzter Zeit ältere Bildungsideale wieder und begeistern können, denn – um mit Robert Musil zu sprechen – in Stellung gebracht wurden in der schon verloren geglaubten „nichts ist trauriger als anzusehen, wie aus einem lebendigen, Schlacht gegen die voranschreitende Wissensfragmentierung. Auf Hoffnung versprechenden jungen Menschen ein ganz normaler der Suche nach neuen Bildungskonzepten werden immer wieder Erwachsener wird“. < auch die Theorien von Wilhelm von Humboldt (1767–1835) und jüngere reformpädagogische Ansätze ins Spiel gebracht, die seit eh und je für einen erweiterten Begriff von Bildung plädierten, die auch das Herz und die Gefühle anspricht. Ist unsere Epoche Copyright: am Beginn des 21. Jahrhunderts für ihre Renaissance reif? Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion Klüger, so resümiert die Germanistin Rosa Tennenbaum, Dezember 2012 seien wir in der Gesellschaft, die Wissen zum Produkt gemacht hat, jedenfalls bisher nicht geworden. Die Anhäufung von Wissen Bildzusatzinformation: führt nicht notwendig zur Bildung einer kritischen Urteilskraft, Susan Aldworth (1955, Epsom, Großbritannien) beschäftigt sich auf die es letztendlich – dem Germanisten Wolfgang Frühwald künstlerisch mit Druckgrafik, digitalen Drucktechniken, Film und zufolge – ankommt, wenn es darum geht, die Informationsberge Installation. Ihr Ansatz ist interdisziplinär und von der Medizin zu sortieren. Bildung ist immer Personenbildung. Es geht, wie inspiriert, wobei sie sich besonders mit dem menschlichen Gehirn auch der Philosoph und Pädagoge Marcelo da Veiga unterstreicht, und Ausdrucksformen der Persönlichkeit befasst, jüngst auch um ein Verstehen des anderen und um ein Verstehen der Welt. mit Schizophrenie. Ausgangsmaterial auf ihrer Suche nach dem Und in der Schule? Ob die nicht aufzuhaltende Digitalisierung den stofflichen Fundament für das, was wir Persönlichkeit nennen, sind Unterricht wirklich verbessert, bezweifelt der Hirnforscher und wissenschaftliche Hirnscans, wobei sie zu den elektrochemischen Psychologe Manfred Spitzer massiv und warnt eindringlich vor neurologischen Prozessen visuelle Analogien schafft. oberflächlichen Lernverfahren, die durch den Einsatz digitaler Medien begünstigt werden. Sérgio Branco hingegen, Lehrer und Forscher am Centro de Tecnologia e Sociedade da FGV Direito Rio, zeigt, dass der Einsatz digitaler Medien selbst gesteuertes, aktives Lernen unterstützt und die Lernmotivation fördert. Wie aber sähe eine Bildung aus, die gleichermaßen Herz und Verstand einbezieht? Zu Zeiten der Brüder Humboldt ging es darum, das Schöne, Gute und Erhabene in den jungen Seelen zu verankern – durch Musik, Literatur und bildende Kunst. Obgleich man sich, wie Ute Frevert ausführt, auch der Gefahren
Humboldt 3 Bildung – 5/84 Guillermo Hoyos Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz Das Ideal der humanistischen Bildung Welche Art der Bildung – zwischen Hirn und Herz – brauchen junge Menschen in Zeiten des ökonomischen Wettbewerbs und Pragmatismus? Darstellung der Seele als präzise zugeschnittene Reihe von Vermögen, aus: Gregor Reisch (1470– 1525), „Margarita, philosophica nova“, 1512, Holzschnitt. © Dresden, Sächsische Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek / Deutsche Fotothek / Regine Richter. Foto: Courtesy Deutsches Hygiene- museum, Dresden In Lateinamerika gibt es viele Vorschläge zur Bildungsreform. Dabei vernachlässigt man die Geisteswissenschaften, die Phi- Die meisten scheinen sich genau daran zu orientieren, was losophie und die Sozialwissenschaften, als ob sie dabei im die nordamerikanische Philosophin jüdischer Abstammung Wege seien. Martha C. Nussbaum in ihrem Buch Nicht für den Profit! Heute hält man das Bildungsideal von Wilhelm von Warum Demokratie Bildung braucht (Überlingen, 2012) kriti- Humboldt, das eine Erziehung der Person in Abgeschiedenheit siert. Darin zeigt sie auf, wie sich die Bildung heute an öko- und Freiheit vorsah, eine Erziehung zur Kooperation und nomischen Interessen orientiert und sowohl der private zur höheren Bildung, die Forschung und Lehre vereint, nicht als auch der öffentliche Bereich seine Bemühungen darauf mehr für besonders notwendig. Diese humanistischen Ideale, richtet, professionelle Mitarbeiter im Management und in die niemals die professionelle Ausbildung vernachlässigten, verwandten Bereichen im Dien-ste der Wirtschaft auszubilden. legten größten Nachdruck auf die Bildung von Werten, an-
Guillermo Hoyos Humboldt 3 Bildung – 6/84 Das Ideal der humanistischen Bildung Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz gefangen bei denen der Aufklärung, ebenso wie auf die Befähi- gung zum Denken und auf politisches Engagement. Copyright: Die Menschheit ist an einem Punkt der Wissenschafts-, der Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion Technik- und Technologiebeherrschung angelangt, der uns – Dezember 2012 insbesondere diejenigen, die keine religiöse Ader haben – dazu zu bringen scheint, der moralischen Sensibilität zu misstrauen Autor: und ihren Verheißungen rational zu begegnen, das heißt, indem Guillermo Hoyos Vásquez (1935, Medellín, Kolumbien), hat Phi- wir sie übergehen oder uns an die Ideale des Erfolgs anpassen, losophie und Geisteswissenschaften studiert, bevor er ein Theo- an den Wettbewerb und die Produktivität. Ganz offensichtlich logiestudium in Frankfurt/Main aufnahm und 1973 in Köln war es gerade die religiöse Tradition, die es darauf anlegte, den in Philosophie promovierte. Er ist emeritierter Professor der zutiefst menschlichen Charakter der Gefühle unterzubewerten. Universidad Nacional de Colombia, wo er über 25 Jahre lang Die Erziehung zur Empfindsamkeit führte oft zu ihrer Repres- Philosophie lehrte. Zurzeit leitet er das Instituto de Bioética der sion. Die Askese der religiösen Erziehung, welche in ihrer Pontificia Universidad Javeriana in Bogotá. Zahlreiche Veröffent- negativen Form die griechische Tradition der Katharsis ablöste, lichungen zu Moralphilosophie, politischer und Rechtsphilosophie. erhob die rationale Kontrolle der Leidenschaften, besonders ihrer Wurzel, der Gefühle, zum menschlichen Bildungsideal. Der Übersetzung aus dem Spanischen: wohlgebildete Mensch kontrolliert seine Leidenschaften und ist Ulrike Prinz Herr über seine Gefühle. Eines der positiven Ergebnisse der sogenannten Postmoderne war das Infragestellen des Rationalismus, der sich in Begriffen der Modernisierung eben der Moderne bemächtigt hatte. Die Tatsache, dass meine Vernünftigkeit, meine Auffassung vom Guten nicht unbedingt mit derjenigen anderer Personen übereinstimmen muss, setzt voraus, dass wir, vor allem bei Wertefragen, die Vernunftbegabtheit des anderen verstehen. Es geht darum, den anderen in seiner Andersartigkeit und Differenz und damit als ebenbürtigen Gesprächspartner anzuerkennen. Und das wiederum hat zu tun mit der Kritik der Postmoderne an einer Modernisierung, die unsere Lebenswelt in vollständiger Abhängigkeit hält. Im gleichen Maße, wie Wissenschaft und Technologie sie ernüchtert hat, müssen wir sie wieder verzaubern, damit wir uns in ihr wieder zu Hause fühlen können. Martha Nussbaum selbst plädiert für eine Erziehung der Gefühle, und zwar ausgehend vom Mitgefühl – in seinem etymologischen Sinn als „mit-fühlen“ mit dem anderen –, um unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu bereichern, um eine humanere, fürsorglichere Gesellschaft aufzubauen, eine, die solidarischer ist, verständnisvoller und pluralisti- scher. Deshalb besteht sie auf der Erziehung zu einem nar- rativen Vorstellungsvermögen, einer kulturwissenschaftlichen, ästhetischen und allgemein literarischen Bildung, um den kosmopolitischen Verständnishorizont zu erweitern. Den Jugendlichen von heute wird vorgeworfen, sie hätten keine Werte, verhielten sich intolerant und indifferent. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir nicht nur auf eine Erziehung der Vernunft, sondern auch auf eine des Herzens setzen, werden wir feststellen, dass Toleranz und Pluralismus, Engagement für Fairness und für Respekt vor der Differenz, die Redlichkeit als Attribut der Gegenseitigkeit und der Solidarität heute ebenso zu den Werten der Jugendlichen zählen. Wenn wir vor allem mehr der moralischen Sensibilität trauten als Druck auszuüben, mehr der Erziehung zu Werten als der Androhung von Strafe, mehr dem Gerechtigkeitsgefühl wie der Fairness als der Rechtsprechung und jahrelangen Gefängnisstrafen, so würden wir sehen, dass es sich lohnt, den Frieden zu suchen, anstatt den Krieg zu erklären. Denn die Jugend ist von Natur aus pazifistisch. <
Humboldt 3 Bildung – 7/84 Jorge Volpi Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz Die Emotionsmaschine Literatur bildet sowohl das Hirn als auch das Herz. Sie befeuert die Emotionen und dient nicht nur der Bildung, sondern auch der Manipulation. Poyet, „Der Kopf des Erfinders“, Titelbild von „La Nature“, 1890, Nr. 1, Buchdruck. © Leipzig, Universitätsbibliothek. Foto: Courtesy Deutsches Hygienemuseum, Dresden Nach António Damásio sind die Emotionen (emotion) ein kom- Nicht ohne Grund glaubten die Alten, dass wir Menschen plexes System von chemischen und neuronalen Reaktionen, die durch unsere Leidenschaften regiert würden und dass es die ein charakteristisches Muster bilden, während es sich bei den Aufgabe der Zivilisierung sei, diese zu zähmen, als wären es Empfindungen oder Gefühlen (feeling) um die Wahrnehmung wilde Tiere. Die Emotionen wurden seitdem als übermächtige von körperlichen Zuständen handle. In anderen Worten: Eine Kräfte gesehen, die uns in die schlimmsten Exzesse stürzen Emotion beschreibt einen Zustand des Geistes, während eine können. Dieser Eindruck ist nicht ganz abwegig: In der Tat Empfindung oder ein Gefühl vor allem eine körperliche Wahr- leiten sich die Emotionen nicht aus einem rationalen Impuls ab, nehmung ist. Das erklärt, nach Damásio, dass die Emotionen sondern aus der Veranlagung des Gehirns, möglichst schnell auf den Gefühlen vorausgehen. Bedrohungen von außen zu reagieren.
Jorge Volpi Humboldt 3 Bildung – 8/84 Die Emotionsmaschine Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz Fiktionen haben neben vielen anderen Funktionen – zum Beispiel als Gedächtnisspeicher, Übermittler von Ideen und Maßstäben, Zukunftsbreviers – auch die Funktion einer Emo- tionsmaschine. In einen Film, eine Fernsehserie, eine Seifenoper, ein Theaterstück oder eine Geschichte einzutauchen ist eine Achterbahn der Emotionen: Wir springen von einer Figur zur anderen, und mit jeder einzelnen leiden, lieben, genießen wir, erheben wir uns, erstarren oder brechen wir zusammen – manchmal auch gegen unseren Willen. Es gibt Gemüter, die einen solchen Wahnsinn nicht aushalten. Die Fiktion macht uns plötzlich zu multiplen Persönlichkeiten: Mir schaudert, fast gleichzeitig, wie jenem und jenem und jenem, unaufhörlich, einer nach dem anderen. Ich bin nicht nur Emma Bovary, sondern ich langweile mich, bin frustriert, verwirrt und lasse mich im Stich wie Emma Bovary. Und nur ein paar Sekunden – Seiten – weiter leide ich, werde misstrauisch und wütend auf Charles, ihren Ehemann. Madame Bovary c’est moi, ohne Zweifel, aber Pierre Bovary c’est moi aussi. Ein Roman ist ein emotionaler Feldversuch: Wenn Platon die Dichter aus seiner Republik verstoßen ließ, so deshalb, um seinen Bürgern diesen inneren Gefühlssturm zu ersparen, der sie letztlich von ihren alltäglichen geordneten Pflichten ablenken würde. Platon verstand nicht – oder verstand umgekehrt sehr gut –, dass die durch Fiktion (oder durch die Poesie) heraufbeschworenen Emotionen uns lehren, wahrhaft menschlich zu sein. Totalitäre Regimes, erpicht darauf, die Fiktion zu sanktionieren und zu regulieren, wie die Sowjetunion oder das maoistische China, hatten sich darauf versteift, ihre Untergebenen in formbare, leicht manipulierbare, berechenbare Geschöpfe zu verwandeln, und zwar über Romane, Erzählungen und Gedichte, die nur solche Emotionen erregen sollten, die für ihre Ziele geeignet waren, an erster Stelle jene Grundemotionen, die so leicht zu instrumentalisieren sind wie der Patriotismus und die Angst vor dem anderen oder die Treue. < Copyright: Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion Dezember 2012 Autor: Jorge Volpi (1968, Mexiko-Stadt) studierte Jura und Literatur und promovierte im spanischen Salamanca. Seit 1992 Schrift- steller, ist er Gründungsmitglied der „Generación del Crack“, eines literarischen Zirkels von Autoren, deren Manifest eine Abkehr vom magischen Realismus fordert. Volpi war Kultur- attaché in Paris und Programmdirektor des mexikanischen Kulturfernsehens (Canal 22). Wichtige Bücher: „El temperamento melancólico“ (1996; dt. „Der Würgeengel“, 2002), „En busca de Klingsor“ (1999; dt. „Das Klingsor-Paradox“, 2001), „No será la tierra“ (2006; dt. „Zeit der Asche“, 2009), „La tejedora de sombras“ (2011). Übersetzung aus dem Spanischen: Ulrike Prinz
Humboldt 3 Bildung – 9/84 Cristina Peri Rossi Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz Der vollkommene Genuss Nicht nur die Naturwissenschaften, auch die Künste beschreiben menschliche Wirklichkeit und werden von ihr bestimmt, sie bilden Herz und Verstand. Charles Bell (1774–1842), „Oberflächliche Sektion des Gehirns“, in: „The Anatomy of the Brain, Explained in a Series of Engravings“ (Die Anatomie des Gehirns, beschrieben in einer Serie von Stichen), Manuskript, Tafel 1, 1802, Aquarell mit Bleistift. © Wellcome Library, London. Foto: Courtesy Deutsches Hygiene- museum, Dresden Allen wissenschaftlichen Disziplinen ist ein Wunschtraum Orgasmus haben, wenn sie ein Tor schießen, so bereitet auch das gemein: die Wirklichkeit zu begreifen. Aber auch die Künste und Betrachten einer Reihe von Aminosäuren Freude, die Form einer die Lebenswissenschaften wollen die Wirklichkeit begreifen: Schneeflocke, Lavendelduft, die Gebärden eines Schimpansen das Verlangen, die Konflikte, die Beziehungen zwischen den oder das Lachen eines Mädchens. Deshalb müssen sich die Personen, ihre Träume, ihre Obsessionen. Deshalb ist es ebenso verschiedenen Disziplinen verbinden: sowohl zur Bildung des wichtig, die Rolle der Proteine in der Entwicklung von Krebs Menschen als auch zu seiner Freude. Jedes Mal, wenn sich zwei zu erforschen wie Das Eismeer bzw. Die gescheiterte Hoffnung Wissensbereiche kreuzen, ist der intellektuelle Genuss garantiert von Caspar David Friedrich zu betrachten, Kafkas Brief an den (Leonardo, Goethe). Denn es gibt menschliche Angelegenheiten, Vater zu lesen oder die Bachiana No. 5 von Heitor Villa-Lobos die wir ohne Multidisziplinarität nicht verstehen können. Der zu hören. Was bringt uns ihr Verständnis? Nicht nur Kenntnis: Es Sinn des Bösen, zum Beispiel, kann nicht ausschließlich aus dem bereitet Genuss. Wenn manche Fußballer sagen, dass sie einen Blickwinkel der Wissenschaft analysiert werden, für die das Böse
Cristina Peri Rossi Humboldt 3 Bildung – 10/84 Der vollkommene Genuss Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz höchstens ein körperliches Leiden sein kann. Vom Bösen sprechen alle Religionen, die Ethik, die Philosophie, die Psychologie und Copyright: Sozialtheoretikerinnen wie Hannah Arendt, die von der „Banalität Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion des Bösen“ gesprochen hat, ausgehend von den Schandtaten Dezember 2012 des Dritten Reichs. (Das Böse kann aber nie banal sein, weil es Schaden anrichtet, wohingegen die Ausführenden mittelmäßige, Autorin: banale, „normale“ Personen sein können.) Cristina Peri Rossi (1941, Montevideo, Uruguay) gilt als eine der Die Notwendigkeit, die Disziplinen zusammenzubringen, wichtigen spanischsprachigen Stimmen. Ihr Werk wurde in 20 fand ich am besten in einem Aphorismus des Physikers Jorge Sprachen übersetzt. Es umfasst alle Genres: Poesie, Erzählung, Wagensberg ausgedrückt: „Wissenschaft und Poesie sublimieren Roman, Essay, Zeitschriftenartikel. 1972 musste sie aus politischen die Freude allen Ausdrucks, indem sie mit kleinstem Aufwand Gründen Uruguay verlassen, seit 1974 hat sie die spanische das Größte bewirken.“ Das Größte bewirken: die Reichweite Staatsbürgerschaft. Peri Rossi wurde vielfach ausgezeichnet, einer mathematischen Formel, ein Farbfleck auf einer Lein- zuletzt erhielt sie für ihr Buch „Playstation 2008“ den renom- wand oder ein unvergesslicher Vers. Die Relativitätstheorie von mierten Internationalen Poesiepreis der Loewe-Stiftung. Einstein (E = mc2) ist der minimale Ausdruck einer Reihe von sehr großen Erkenntnissen, ebenso wie der Vers von Pablo Neruda, Übersetzung aus dem Spanischen: „Wie das Meer. Wie der Zeitlauf. Alles in dir war Schiffbruch!“, Ulrike Prinz der minimale Ausdruck einer Vielzahl von Bedeutungen ist. (Wissenschaftliche Formeln sind wie literarische Metaphern.) Das Konzept der Multidisziplinarität ist allerdings nicht mit dem der Multikulturalität zu verwechseln. Weder sind Kulturen gleich, noch haben sie alle dieselbe zivilisatorische Kapazität. Die Kulturen unterscheiden sich grundlegend voneinander durch ihre Ethik, und diese basiert zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf der Einhaltung der Menschenrechte, ungeachtet der Religion, der sozialen Schicht, des Geschlechts oder des Alters. Meiner Meinung nach sind diejenigen Kulturen überlegen, welche die Bedürftigen, die Schwachen schützen, also die Kulturen, die das Mitgefühl umsetzen. Mitgefühlt heißt, den Schmerz des anderen fühlen, Leid teilen. Keiner zweifelt am technischen Fortschritt des 21. Jahrhunderts, aber der moralische Fortschritt kommt sehr viel langsamer voran: Vielleicht war der wichtigste Aufschwung die Anerkennung der Rechte der Frauen und, in manchen Gesellschaften, diejenige der Rechte der Homosexuellen und Transsexuellen. Jeder moralische Fortschritt beruht also auf dem Mitgefühl. Daher ist die Krise Europas Beweis für sein langsames moralisches Fortkommen, denn wie beim großen Crash von 1929 sind es wieder die Ärmsten, die für sie zahlen. <
Humboldt 3 Bildung – 11/84 Matthias Kross Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz Fühlt mein Gehirn? Philosophische Bemerkungen zur Lage der Emotionsforschung in Deutschland Katharine Dowson (*1962), „My Soul“, 2005, cristal, 24,3 x 40 x 30 cm. Courtesy Katharine Dowson (www.katharinedowson.com) und GV Art (www.gvart.co.uk). Foto: Courtesy Sunderland University Im Jahre 2004 haben „elf führende Neurowissenschaftler“ in der Neurophysiologie. Die Psychologen fürchten schlicht um ihre deutschen Zeitschrift Gehirn & Geist ein Manifest veröffentlicht, Existenzberechtigung. Etwas Ähnliches trug sich anlässlich der in dem sie verkündeten, dass „sämtliche innerpsychischen Gründung des Bremer Hanse-Wissenschaftskollegs 1995 zu, das Prozesse durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind“. von dem renommierten deutschen Hirnforscher Gerhard Roth Kurz darauf erhoben fünf Psychologen im Namen ihres Fachs gegründet wurde. Der Germanist Wolfgang Frühwald, damaliger dagegen Einspruch: „Psychologie und Hirnforschung beziehen Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, flehte in seiner sich auf ganz unterschiedliche Analyseebenen.“ Hinter dieser Eröffnungsansprache die Kollegen der Neurowissenschaften recht schwachen Verteidigung der eigenen Disziplin steckte ein geradezu an, für die Geistes- und Kulturwissenschaften noch unverhohlen vorgetragener Versuch der Anbiederung an die einen Katzentisch an der Forschertafel beizustellen.
Matthias Kross Humboldt 3 Bildung – 12/84 Fühlt mein Gehirn? Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz Experimentelle Hirnforschung auf Eroberung sie symbolisch vermittelt sind) geben. Willensfreiheit umfasst Unterdessen arbeiteten Spitzenforscher in Deutschland fie- offenkundig mehr als die Entscheidung, den Arm zu heben. berhaft an der Umsetzung des neurologischen Manifests. Kurz: Sobald man das Experimentallabor verlässt und sich den Dank großzügiger Forschungsförderung und den Fortschrit- Menschen in ihrer komplexen Lebenswelt zuwendet, wirkt der ten der digitalisierenden „bildgebenden Verfahren“ und neurowissenschaftliche Reduktionismus stumpf und unbeholfen. nicht zuletzt dank medienwirksamer Verschlagwortung ihrer Ergebnisse entstand auch in Deutschland bald das, das man Lernfähige Schaltzentrale Ergiebiger scheint da schon einen „Wissenschaftshype“ nennt. Die Max-Planck-Gesellschaft die vom Heidelberger Psychiater Thomas Fuchs vertretene allen voran gründete gar eigene Institute für Kognitions- Auffassung, dass das Gehirn vor allem ein „Beziehungsorgan“ und Neurowissenschaften. Und berauscht von schnellen ist, eine Schaltzentrale, die die Lebensvorgänge des Men- Erfolgen und vermeintlich spektakulären Ergebnissen verließ schen und seine bewusste Selbstreflexion koordiniert und in die experimentale Hirnforschung alsbald das akademische aktives Handeln umsetzt. Zugleich verfügt das Hirn über eine Forschungslabor und die Klinik, um in das Feld der Sozial- beträchtliche „Plastizität“; es verändert sich beim und durch das wissenschaften, der Rechtstheorie sowie der Philosophie und Lernen als Organ, das heißt in seiner physiologischen Struktur. Theologie vorzustoßen. Sie okkupierte den Bereich der Bild- und Um seine Leistungen angemessen zu erfassen, muss die gesamte Medienwissenschaften ebenso wie den der Ökonomie oder der Umwelt einbezogen werden, in die es eingebettet ist: vor allem Werbepsychologie. sein allgemeines Körpergefühl, die Interaktion mit seiner Umwelt sowie die Intersubjektivität, das heißt die soziale Nahbegegnung Sie sind Ihr Gehirn Ihr Erfolgsgeheimnis dürfte dabei vor und gesellschaftliche Kommunikation – mit einem Wort: Neuro- allem darin zu suchen sein, dass mit der neuen Technologie wissenschaften sind nur als „verkörperte“ sinnvoll (engl. bildgebender Verfahren eine über jeden Zweifel erhabene embodied cognitive neurosciences). So wie das Gehirn unseren Methode gefunden schien, die auf verblüffend einfache Weise Leib und unser Verhalten steuert, so wirken unsere Umwelt und jahrtausendealte Fragen zu beantworten gestattete: „Unser Ich die vielen Funktionen unseres Leibes, die sich der bewussten ist […] eine Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir, die oder verstandesmäßigen Steuerung entziehen, auf die Fiktion, der Traum, nichts wissen können“, schrieb zum Beispiel neuronalen Aktivitäten unseres Gehirns ein. Gerhard Roth (1994). Oder der Psychologe, Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer: „Sie haben Ihr Gehirn nicht, Sie Sprache der Emotionen Das Ich ist kein Gehirn, sondern sind Ihr Gehirn“ (2005). Vielen erschien diese reduktionistische hat einen Leib mit einem Gehirn. Nimmt man ihren Einwand Antwort auf die Frage nach dem Ich des Menschen wie der Stein ernst, ergeben sich für die Geistes- und Kulturwissenschaften der Weisen, die Lösung des größten Welträtsels. Und bis heute auf dem Gebiet der Emotionsforschung neue Chancen, Emotion halten viele Neurowissenschaftler daran fest. So verkündete der aus ihrer Umklammerung durch neurowissenschaftliche Philosoph und Neurowissenschaftler Thomas Metzinger (2009): Messverfahren zu befreien und in die kulturelle und historische „Die moderne Neurowissenschaft hat gezeigt, dass der Inhalt Vielfalt ihrer Ausdrucksformen zurückzuholen. In Deutschland unseres bewussten Erlebens nicht nur ein inneres Konstrukt, wurden diese Chancen vor allem mit dem 2006 eingerichteten sondern auch eine höchst selektive Form der Darstellung von Exzellenz-Cluster „Languages of Emotion“ an der FU Berlin Information ist. […] Unser Gehirn erzeugt eine Simulation der genutzt, das bis 2012 bestand und in dem internationale Welt, die so perfekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem Forscherteams aus zwanzig Disziplinen zusammenwirkten. eigenen Geist erkennen können.“ Es ging vor allem darum, „die Zusammenhänge zwischen Emotionen und Zeichenpraktiken“, also der „Sprache“ der Kampf um die Willensfreiheit Nach einer Weile des Emotionen, in ihrer thematischen Vielfalt und in historischer zunächst wohl ungläubigen, dann lähmenden Erstaunens Variabilität zu erforschen: Was und wie wir fühlen, sei zu einem begann sich etwa seit der Jahrtausendwende in den Geistes- großen Teil durch Sprache und Bilder geprägt. Ebenso wie und Kulturwissenschaften ein breiterer Widerstand gegen den die Neurowissenschaft die Rolle der Sprache vernachlässigt Universalitätsanspruch der Neurowissenschaften zu regen. Zwar habe, so hatte die Sprachforschung die Rolle der Emotionen stellte man ihre Befunde nicht in Frage – dass die Neuronen, unterbelichtet. Dem wollte der multidisziplinäre Cluster vor allem die sogenannten Spiegelneuronen, der „Sitz“ des Hu- entgegenwirken, denn Gefühle beförderten oder behinderten manen sind und das soziale Miteinander erst ermöglichen, unseren Spracherwerb; umgekehrt wirke sich sprachliche wird von vielen Forschern mittlerweile anerkannt. Doch er- Kompetenz auf Fähigkeiten emotionaler Kommunikation geben sich begründete Vorbehalte gegen die philosophischen aus. Dem Cluster ging es also in erster Linie darum, dem Schlüsse, die einige der wortgewandten Vertreter der Neurologie naturwissenschaftlichen Reduktionismus die Komplexität des daraus gezogen haben. Denn es wird schnell klar, dass selbst so emotiven Zeichengebrauchs in seinem „Ausgreifen in Bereiche spektakuläre Versuche wie das Libet-Experiment (das „beweist“, des Möglichen, des Fiktiven und Imaginären“, also vor allem in dass der Entschluss zu handeln von unbewussten Gehirn- seinen künstlerischen Ausdrucksformen, entgegenzustellen. prozessen gefällt wird, bevor er als Absicht ins Bewusstsein dringt) zur Willensfreiheit keinen angemessenen Begriff von Parallelaktionen Die Ergebnisse des Clusters haben der Komplexität menschlichen Handlungen (vor allem, wenn allerdings nur wenige greifbare Fortschritte auf dem Weg zur
Matthias Kross Humboldt 3 Bildung – 13/84 Fühlt mein Gehirn? Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz angestrebten Annäherung zwischen Natur- und Human- bedurften sie als Affekte des Körpers, Passionen der Seele oder wissenschaften gebracht. Das kann am Ende nicht erstaunen. Begleiter der Vorstellungen des Verstandes der ethischen Zucht Denn obwohl der Cluster eine faszinierende Fülle von Aspekten (Regimentation), um dem Menschen bei seinem Streben nach und Manifestationsformen des Emotionalen gesammelt hat, ist Glück, Seelenfrieden oder seinem Heil zu helfen. Die Askese, das es ihm nicht gelungen, die Ergebnisse der Neurowissenschaften heißt im eigentlichen Wortsinn die ethische Übung der Affekte in die kulturell geformte „Sprache“ der Gefühle zu übersetzen, und Gefühle, galt mehr als zwei Jahrtausende lang, von Platon geschweige denn zu integrieren. Es blieb letztendlich bei dem, bis Nietzsche, dabei als die vornehmste Pflicht des Philosophen was der Schriftsteller Robert Musil so treffend „Parallelaktion“ in uns – gleichgültig, ob der Weg zum Glück beziehungsweise genannt hat: So wie die Neurowissenschaftler von der drei- Heil nun über das Ideal der Abwesenheit von Gefühlen dimensionalen Kartografierung des Gehirns träumen, um auf (Stoizismus), über die Herstellung eines Gefühlsgleichgewichts ihr philosophische Konzepte wie das Ich als Selbst, Identität, (Aristoteles), über die Förderung der für ein gottgefälliges Leben Verantwortung und Entscheidung, Religion und Ethik, praktisches wichtigen Gefühle (Augustinus) oder aber über die Erzeugung der Handeln und theoretische Spekulation zu lokalisieren, so subjektiven emotiven Voraussetzungen für das im kategorischen entwarf der Cluster eine metikulöse Registratur der Emotionen, Sinne moralische Verhalten (Kant) führen sollte. Stets wurde in der sich möglichst alle wissenschaftlich erfassbaren den Emotionen auch ein moral sense (Hutcheson) beigelegt, Varietäten von Affekten und Gefühlen in ihren unterschiedlichen verbunden mit der Aufforderung, auf ihre Regungen zu achten, Äußerungsformen und Spuren verzeichnen und klassifizieren den guten zu folgen und die schädlichen zu bekämpfen, in jedem lassen. Falle aber: an und mit ihnen zu arbeiten. Dass damit die Annäherung der „Sprachen“ von Kultur- und Neurowissenschaften nicht zuwege zu bringen ist, kann Emotion und Ethik Es war vor allem Jean-Jacques Rousseau, aus philosophischer Sicht nicht überraschen. Während die der in seiner Schrift Émile, ou De l’éducation (1762; dt. Emile neurowissenschaftliche „Sprache“ mit den Mitteln der experi- oder über die Erziehung) die Leidenschaften des Individuums in mentellen Anordnung darauf vertraut, einen außer-sprachlichen soziale Gefühle übersetzt hat. Er hat damit den entscheidenden Gegenstand angemessen zu „repräsentieren“ und zu beschreiben, Schritt getan, den Emotionen jene symbolische Eindeutigkeit zu müssen sich die Kultur- und Geisteswissen-schaften auf die nehmen, die für eine ethische Bildung unerlässlich gewesen war. (in weitestem Sinne) sprachlich-symbolischen, das heißt Seit Rousseau können wir nicht mehr hinter ihre Ambivalenz medialen Manifestationen dieser Zustände beschränken. Wie zurück. Sie haben sich ebenso widerstandslos der Intimisierung der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) mit der Gefühlskultur des 19. Jahrhunderts gefügt, wie sie sich seinem „Privatsprachen-Argument“ gezeigt hat, gibt es aber im 20. Jahrhundert für totalitäre Ideologien ausbeuten ließen keine Möglichkeit, mittels der Sprache auf die Existenz solcher und heute der exhibitionistischen Zurschaustellung in der Zustände zu schließen. Über Emotionen oder innere Zustände zu Medienkultur dienen („Wer weint, kommt ins Fernsehen“). sprechen setzt nicht voraus, dass die beschriebenen Emotionen Wenn neben dem Public Viewing auch das Public Crying erlaubt oder Zustände wirklich bestehen. Wir kommen über das ist, dann sind Emotionen keine verlässlichen Indikatoren für Sprachspiel beziehungsweise das Zeichenensemble, in dem sie eine bestimmte ethische Haltung mehr; sie sind zu intensiven vorkommen, nicht hinaus. Manifestation wandelbarer sozialer Konstellationen geworden. Es muss daher heute offen bleiben, ob die Emotionen noch Arbeit an den Emotionen Die thematisch-methodische einmal in der Sprache einer moralischen Haltung beschrieben Fixierung des Clusters hat zudem dazu geführt, zu übersehen, werden können. Für die Position des neurowissenschaftlichen dass die heutige vorherrschende wissenschaftlich-klassifi- Reduktionismus sind ethische Fragen nicht relevant; dem katorische Emotionsforschung nur eine von vielen Weisen Kulturwissenschaftler und Philosophen bleibt bis auf Weiteres, der Auseinandersetzung mit Affekten und Gefühlen ist. Die so scheint es, wohl nichts anderes, als die Vielfalt ihrer Dialekte meisten nicht neurologisch oder medizinisch orientierten zu katalogisieren, ohne selbst eine philosophisch verbindliche Emotionstheorien sind derzeit maßgeblich von der Philo- Lebenskunst als ethische Haltung formulieren zu können. Und sophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts geprägt vielleicht liegt es an diesem Unvermögen, dass wir den oft so (zum Beispiel von Max Scheler und Helmuth Plessner). Im lautstark seine Gefühle und damit seine Gesinnung zeigenden Anschluss an Friedrich Nietzsches „Umwertung“ der Affekte Moralisten nicht verstehen können. < (gemäß ihrem Beitrag zur Lebenssteigerung) ging die Philoso- phische Anthropologie davon aus, dass die menschliche Vernunft wesentlich von Emotionen gesteuert und in den Leib „eingebettet“ ist. Wie die „verkörpernden Neurowissenschaften“ begreift sie den Menschen in der Ganzheit seiner Lebenswelt. Nietzsche selbst hatte bei seiner „Umwertung“ der Affekte aber auf eine noch viel ältere und bedeutendere Tradition der Affektlehre zurückgreifen können, in der den Emotionen im Wechselspiel von Körper, Seele und Verstand vor allem eine ethische Bedeutung beigemessen wurde. Dieser Tradition gemäß
Matthias Kross Humboldt 3 Bildung – 14/84 Fühlt mein Gehirn? Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz Copyright: Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion Dezember 2012 Autor: Matthias Kross (1953) promovierte über die Sozialphilosophie Ludwig Wittgensteins. Er arbeitet seit 1996 als Wissenschaftlicher Referent mit dem Fachgebiet Philosophie des 20. Jahrhunderts am Einstein Forum in Potsdam und ist Lehrbeauftragter für Allgemeine Soziologie an der Universität Potsdam. Bildzusatzinformation: Katharine Dowson (1962) lotet mit ihren Arbeiten die Grenzen zwischen Kunst und (medizinischer) Wissenschaft aus: „I had an MRI scan as part of the research into Dyslexia and all the resulting work ‚My Soul‘ and ‚Brain Bricks‘ are of my life size brain.” Die neurologische Struktur als „Seele” zu bezeichnen ist ein Statement, unterläuft dies doch die kategoriale Scheidung zwischen Geist und Seele, zwischen Materie und Spiritualität. Hinter der ästhetischen Schönheit des fragilen, vegetabil anmutenden Gewächses von „Memory of a brain malformation“ verbergen sich Krankheit und überwundene Gefahr: „‘Memory of a Brain Malformation‘ is a Venus Ulterior Malformation that was successfully lasered out of my cousins brain.“
Humboldt 3 Bildung – 15/84 Ute Frevert Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz Herzensbildung Gefühle und Empfindungen: Vom Wandel der Erziehungsideale über die Jahrhunderte Darstellungen der aristotelischen Theorien zum Bewusstsein. Aus: „De corpore et anima“, um 1497, Manuskript, 22 x 15,8 x 1,1 cm. Manchester, The John Rylands University Library, The University of Manchester. © Reproduktion: Courtesy of the University Librarian and Director. Aus der Ausstellung „Images of the Mind“, Deutsches Hygienemuseum Dresden Herzensbildung – das ist ein Wort aus der deutschen Klassik. Wer glücklich ist, dem weitet sich das Herz, und wer trauert, Friedrich Schiller sprach oft davon, Wilhelm von Humboldt dem krampft es sich. bevorzugte den Ausdruck „Bildung des Gemüths“. Das Herz Wie aber lässt sich ein Herz bilden? Sind Gefühle nicht galt damals als Sitz von Gefühl und Gemüt, und noch angeboren und damit eigentlich unverfügbar? Haben wir heute benutzen wir Ausdrücke und Zeichen, die sich dieser nicht alle, wie uns Psychologen weismachen wollen, ein Set Topographie verschreiben: Wer liebt, verschenkt Ringe oder sogenannter Basisgefühle, wie Angst und Freude, Hass und Schokolade in Herzform; wer Liebeskummer hat, dem wurde Trauer, Ekel und Wut? Und folgen jene Gefühle nicht einem das Herz gebrochen, und es schmerzt ihn am und im Herzen. natürlichen Rhythmus, einem biodynamischen Konzept, das sich
Ute Frevert Humboldt 3 Bildung – 16/84 Herzensbildung Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz den Menschen evolutionär vermittelt und eingeprägt hat? Was auch Mut und Energie, das empfundene Mitgefühl in die Tat könnte unter solchen Umständen Bildung heißen und bewirken? umzusetzen und aktiv zu helfen, wo es nottat. Das sind Fragen, die schon in der Antike diskutiert wurden, die aber seit dem sogenannten pädagogischen Jahrhundert – Vernunft und Empfindsamkeit Dass Herzensbildung dem achtzehnten – an Bedeutung und Sprengkraft gewannen. ihren Ort auch, wenn auch nicht allein, in der Schule fand, war Wer den Menschen in Körper, Geist und Seele als bildungsfähiges unter Pädagogen unumstritten. Ebenso einig war man sich und bildungsbedürftiges Wesen ansah und wer sich von seiner darin, dass sie stets mit Verstandesbildung einhergehen müsse. Bildung einen zivilisatorischen Fortschritt versprach, konnte an Wer bei Kindern und jungen Leuten nur Empfindungen und der Herzensbildung nicht achtlos vorbeigehen. Gebildet werden Empfindsamkeit kultiviere, erziehe Schwärmer und Enthusiasten, sollte nicht nur der Geist, der Verstand, also das, was Wilhelm warnte 1780 der Gymnasialrektor Immanuel Johann Georg von Humboldt „Kenntnis der Kenntnis“ nannte. Gebildet werden Scheller. Der Verstand dürfe nicht schlafen, sondern müsse sollten auch Gefühle und Empfindungen. Sie galten einerseits das Gefühl und die Phantasie kenntnisreich und urteilsstark als naturgegeben und dem Menschen unmittelbar zugänglich. an die Hand nehmen. Joachim Heinrich Campe, Hauslehrer der Andererseits schien es problematisch, sie im ungefilterten Humboldt-Söhne und einflussreicher Schulreformer, verwendete Naturzustand zu belassen. Sicher war jeder Mensch, wie die das Bild vom Körper als Schiff, dem die Vernunft das Steuer schottischen Moralphilosophen betonten, fähig zum Mitgefühl führte und die Empfindsamkeit die Segel setzte. (sympathy). Aber ob diese Fähigkeit auch genutzt und gepflegt Schulische Lehrpläne enthielten denn auch gemeinhin drei wurde, stand auf einem anderen Blatt. Bei manchen Menschen Schwerpunkte: Körper-, Geistes- und Herzensbildung. Seine konnte sie verschüttet sein oder von konkurrierenden Gefühlen Schüler, versprach der Leiter einer 1801 neugegründeten Ber- der Selbstliebe bedrängt. Hier tat Erziehung not, um das, was liner „Erziehungsanstalt für Söhne von sechs bis vierzehn dem Menschen eignete, auch zum Vorschein kommen zu lassen Jahren“, würden dort zu „moralisch guten Menschen“ erzogen, und in die Praxis umzusetzen. „an Verstand und Herzen gebildet“, an „Reinlichkeit, Ordnung, Thätigkeit, Bescheidenheit und Gefälligkeit“ gewöhnt und mit Kontrolle und Formung der Gefühle Andere Gefühle – Liebe für „ihr Vaterland und die Verfassung desselben“ erfüllt. Neid und Gier, Zorn und Hass – waren hingegen vielleicht im Über- „Herzensbildung“ umfasste hier die „sanfte, liebreiche Lenkung maß vorhanden und störten das gedeihliche Zusammenleben der jugendlichen Triebe“, „Abmahnung von Fehltritten“ und in einer bürgerlichen Gesellschaft. Wer sich von solchen nega- „Vorstellung der natürlichen Folgen der Tugend und des Lasters tiven Gefühlen und Leidenschaften beherrschen ließ, war eine durch Beispiele aus dem Menschenleben“. Gefahr für sich selber und für andere. Auch hier mussten Eltern und Pädagogen intervenieren, um Exzesse zu verhindern und Abrichtung und Einfühlung Wie sanft und liebreich für wohltemperierte emotionale Haushalte zu sorgen. Das Schulen im 19. Jahrhundert die Gefühle und „Triebe“ ihrer Ziel solcher Interventionen war der selbstgesteuerte Mensch, Zöglinge tatsächlich lenkten, steht auf einem anderen Blatt. der sich beobachtete, kontrollierte, kultivierte und dessen In den Volksschulen beschränkte sich Herzensbildung im Gefühlsvermögen den Prozess der Zivilisation unterstützte, Wesentlichen darauf, den Jungen und Mädchen Pflichtbewusst- anstatt ihn zu behindern. sein und Gehorsam gegenüber der kirchlichen und staatlichen Wie die Herzensbildung genau aussehen und organisiert Obrigkeit beizubringen. Gymnasien warteten zwar mit einem werden sollte, war heiß umkämpft. Manche Pädagogen legten differenzierteren moralischen und ästhetischen Curriculum auf. großes Gewicht auf eine ästhetische Erziehung, die Gefühle des Doch nicht nur Harry Graf Kessler erlebte seine Hamburger Schönen und Erhabenen in der jugendlichen Seele verankern Schulzeit in den 1880er-Jahren als „Abrichtung“: „Wir sollten sollte. Eine frühe Hinführung zu Musik, Lyrik und bildender eigentlich gar nicht Griechisch oder Latein lernen, sondern Kunst schien dafür unverzichtbar. Andere warnten vor zu arbeiten. Arbeiten um seiner selbst willen; man wollte uns viel Schöngeistigem. Die Lektüre von Romanen galt ihnen abrichten zu Arbeitstieren. Vom Ideal des humanen, die ganze als gefährlich, für beide Geschlechter: Bei Frauen konnte Menschheit und ihre Kultur in Kopf und Herz tragenden sie zu übersteigerter Einbildungskraft und unerfüllbaren Menschen, das die Goethezeit entflammt hatte, war nur Wunschphantasien führen, die das wahre Leben nur enttäuschen der ungeheure Fleiß übrig geblieben, der nötig war, um den würde. Junge Männer vergäßen über den Romanen ihre unermesslichen Stoff aufzunehmen.“ Statt die „Seele sowohl nach eigentliche Bestimmung in der Welt und bildeten zartbesaitete ihrer Geistes- wie auch nach ihrer Gefühlsseite“ aufzuschließen, Gemüter aus, die mit ihren handfesten Pflichten in Politik, vermittelte die Schule nur noch Fertigkeiten und Einstellungen, Wirtschaft und Gesellschaft schwer vereinbar seien. Zwar stand die, wie Kessler schalt, „den Herren der neuen Zeit die für die Empfindsamkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Mechanisierung der Wirtschaft benötigten unermüdlichen und hoch im Kurs, und nicht nur Gotthold Ephraim Lessing hielt den selbstzufriedenen Sklaven“ lieferten. mitleidigen Menschen für den besten. Dennoch durfte man des Wenig Herz und Humanität ließ der gymnasiale Bildungskanon Guten nicht zu viel tun. Wem die Tränen allzu locker saßen, wer auch dort erkennen, wo es um soziale Fragen ging. Für die daraus geradezu einen Kult des authentischen Gefühls machte, Sorgen, Nöte und Sehnsüchte unterbürgerlicher Schichten der gab sich, wie Immanuel Kant kritisierte, der „Empfindeley“ hatte man kein Sensorium. Je mehr sich zudem nationale hin. Gefragt war nicht bloß ein mitleidiges Herz, sondern Belange und Orientierungen in den Vordergrund schoben, desto
Ute Frevert Humboldt 3 Bildung – 17/84 Herzensbildung Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz blasser wurde auch die kosmopolitische Botschaft der Weimarer Dioskuren. Schillers emphatische Forderung und Prognose Copyright: einer weltumspannenden Brüderlichkeit rückte in weite Ferne. Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion Obwohl die Welt mittels kolonialer Großprojekte spürbar Dezember 2012 zusammenwuchs, war der imperiale Habitus nicht von Soli- darität und Geschwisterliebe geprägt, sondern von sozialem, Autorin: zunehmend rassisch überformtem Überlegenheitsdünkel. Wer Ute Frevert lehrte Neuere Geschichte in Berlin, Konstanz den eigenen zivilisatorischen Standards nicht entsprach, erntete und Bielefeld. Von 2003 bis 2007 war sie Professorin an der Herablassung, Verachtung und, im Extremfall, Vernichtung. Yale University, USA. Seit 2008 ist sie Direktorin am Berliner Wie schlecht es um die allgemeine Herzensbildung bestellt Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, wo sie den For- war, zeigte sich nicht nur während des wilhelminischen Zweiten schungsbereich „Geschichte der Gefühle“ leitet. Ihre Forschungs- Reichs, das sich bei der aggressiven Identifizierung innerer und schwerpunkte sind unter anderem Sozial- und Kulturgeschichte äußerer Feinde kaum überbieten ließ. Es zeigte sich noch viel der Moderne, Geschlechtergeschichte, Neue Politikgeschichte radikaler und rabiater in den Jahren des nationalsozialistischen und Geschichte der Gefühle. Dritten Reichs, das Feindschaft nicht nur politisch, sondern auch und vor allem rassisch definierte. Mitleid, hieß es 1939 in Meyers Lexikon, gelte lediglich für „Gemeinschaftsgenossen“; nur mit denjenigen, die zur Volksgemeinschaft gehörten, könne man miterleben und mitfühlen, und nur ihnen werde „tätige, leidlindernde oder leidbehebende Hilfe“ zuteil. Das Leid derer, die sich aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen sahen, zählte nicht. Wer ihnen Mitgefühl bekundete oder gar half, machte sich verdächtig und riskierte scharfe Sanktionen. Gerade diese Erfahrung, so steht zu vermuten, bewog manche Zeitgenossen nach 1945, Herzensbildung als schulisches Erziehungsziel ausdrücklich zu betonen. Der Vorschlag des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner, dies in der Verfassung des Freistaates Bayern zu verankern, wurde von der Verfassungsgebenden Versammlung einstim- mig angenommen. Bis heute erlegt Paragraph 131 bayerischen Schulen die Aufgabe auf, „nicht nur Wissen und Können [zu] vermitteln, sondern auch Herz und Charakter [zu] bilden“. „Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortung- sfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne.“ Außerdem seien Schüler „in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen“. Modernes Empathietraining Der Streit der Pädagogen, ob und wie solche Bildungsziele erreicht werden können, tobt nicht weniger heftig als um 1800. Manche lehnen sie als arrogante und naive Zumutung ab, andere bringen ein „Schatzbuch der Herzensbildung“ heraus und übersetzen Letztere in die managementtaugliche Sprache der „emotionalen Intelligenz“. Während viele Politiker dabei vornehmlich an Werteerziehung denken, experimentieren neuerdings immer mehr Schulen mit Empathietraining – die seit Langem konkreteste und praktischste Umsetzung der alten Idee, dass „allgemeine Menschenbildung“ nicht nur Körper und Geist, sondern auch das Herz und seine Gefühle umfasst.
Humboldt 3 Bildung – 18/84 Juan Antonio Flores Martos Goethe-Institut 2012 zwischen Hirn und Herz Turbulenzen des Verlangens und der Emotion Ethnografie der Affektkulturen in Veracruz: Vom Ritual zur Selbsthilfegruppe Graffiti-Werk von Suso 33 für die Ausstellung „Esto no es Graffiti“ im CICUS (Zentrum für kulturelle Initiativen der Universität von Sevilla). Foto: José Martos (Sevilla Creativa, estudio@sevillacreativa.com) Die Hafenbewohner von Veracruz oder auch „Jarochos” sind Welt der Leidenschaften, der Gefühlsbetontheit und einem Hang schon immer durch den Blick von außen charakterisiert wor- zum Exzess verankern. Die heitere und vergnügungsfreudige Art den, bis hin zu einer sehr scharfen Abgrenzung stereotyper steht als Synonym und Identitätsattribut für die Hafenbewohner Charakteristika innerhalb der Nationalkultur. Man erfand eine von Veracruz, sie ist Teil ihrer Selbstdarstellung und ihres echte „Jarocho-Physiologie“, mit bestimmten körperlichen, emo- Stolzes. Daher war es für mich ziemlich überraschend und tionalen und sexuellen Wesenszügen, die den Jarocho in der unerklärlich, dass meine Gewährsleute von Anfang an immer
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