BILDUNG - ZWISCHEN HIRN UND HERZ - EINE PUBLIKATION DES GOETHE-INSTITUTS

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BILDUNG - ZWISCHEN HIRN UND HERZ - EINE PUBLIKATION DES GOETHE-INSTITUTS
BILDUNG —                               HUMBOLDT 3

ZWISCHEN HIRN
  UND HERZ
  EINE PUBLIKATION DES GOETHE-INSTITUTS
BILDUNG - ZWISCHEN HIRN UND HERZ - EINE PUBLIKATION DES GOETHE-INSTITUTS
Humboldt 3 / Bildung – zwischen Hirn und Herz

Editorial Ulrike Prinz und Isabel Rith-Magni 3

Guillermo Hoyos Das Ideal der humanistischen Bildung 5

Jorge Volpi Die Emotionsmaschine 7

Cristina Peri Rossi Der vollkommene Genuss 9

Matthias Kross Fühlt mein Gehirn? 11

Ute Frevert Herzensbildung 15

Juan Antonio Flores Martos Turbulenzen des Verlangens und der Emotion 18

Wolfgang Frühwald Vom Bildungskanon im Zeitalter des Internet 22

Janna Degener Macht Mehrsprachigkeit schlau? 26

Manfred Spitzer Bildung ohne System 29

Sérgio Branco Verstand und Gefühl im Klassenzimmer 33

Rilo Chmielorz Oxford in Madrid 36

Rosa Tennenbaum Bildung zum schönen Charakter 39

Marcelo da Veiga Wie viel Geist benötigt Bildung? 42

Victoria Eglau „Unser Orchester ist ein Schatz“ 45

Sibylle Lewitscharoff Bildung 48

Rike Bolte Literarische Hausbesuche und andere Alphabetisierungsbrücken 51

Ulrike Prinz MARIPOSA oder die transformative Kraft der Kunst 54

Wolfgang Behrens Intime Bekenntnisse eines „Schwarzmarkt“-Besuchers 56

Ricardo Bada Mafalda als Schulkind 58

Björn Kuhligk E Rito Ramón Aroche transversalia 60

Miguel Giusti Kultur der Toleranz. Kultur der Anerkennung 63

Mariangela Giaimo „Antígona Oriental“ 67

Guillermo Calderón Beben in Düsseldorf 70

Frieder Reininghaus Hoher Zoll für den Aztekenfürsten 73

Mark Münzel Urtext im Schrank 76

Anne Huffschmid „Mirar y creer“ – Schauen und glauben 79

Berthold Zilly ENTREMUNDOS 81

Impressum 84
BILDUNG - ZWISCHEN HIRN UND HERZ - EINE PUBLIKATION DES GOETHE-INSTITUTS
Humboldt 3               Bildung –                     3/84
Ulrike Prinz und Isabel Rith-Magni                                          Goethe-Institut 2012     zwischen Hirn und Herz

                             Bildung –
                       zwischen Hirn und Herz

                         Susan Aldworth, „Cogito Ergo Sum 3“, 2006, Gicléedruck, 250 x 200 cm.
                         Courtesy of the artist and GV Art London

Bildungsideale wechseln zurzeit schneller als Handytarife. Die             Aus-Bildung und Berufswahl im Hinblick auf den Arbeitsmarkt
Bildungsinstitutionen kommen kaum hinterher, und alles, was sie            geht – nämlich um die Frage: Was macht unsere Bildung im
versuchen, erscheint systemlos. Wir leben heute in einer hoch              Innersten aus, und welches Lebenswissen brauchen wir in der
flexiblen „Wissenswelt“, deren Devise lifelong learning heißt.             postindustriellen Gesellschaft?
Doch was lohnt zu lernen in einer sich ständig beschleunigenden                Neuere Erkenntnisse der Hirnforschung bringen auch unser
digitalisierten Welt, in der das Wissen von heute morgen                   Verständnis von Bildung in Bewegung. Sie zeigen uns Lern-
keinen Pfifferling mehr wert zu sein scheint? In diesem Heft               prozesse als hochkomplexe neuronale Vernetzungssysteme.
betrachten wir Bildung im Spannungsfeld zwischen Herz und                  Dabei unterliegt das Gehirn im Laufe eines Lebens drastischen
Hirn – zwischen Emotion und Verstand. Eine zentrale und                    Veränderungen. Große Hoffnungen richten sich auf die Ergeb-
gesellschaftlich relevante Thematik, in der es um mehr als um              nisse der Neurowissenschaften, deren bildgebende Verfahren
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Ulrike Prinz und Isabel Rith-Magni                                       Humboldt 3                  Bildung –                         4/84
Editorial                                                                Goethe-Institut 2012        zwischen Hirn und Herz

den Eindruck vermitteln, man könnte dem Hirn beim Denken                 bewusst war: Denn die Betonung von Emotionalität schürt
zusehen. Die Schlüsse jedoch, die man aus den Bildern                    gleichzeitig die Angst vor der Verführbarkeit der empfindsamen
zieht, fallen sehr unterschiedlich aus. Vor einem Reduktio-              Herzen. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür liefert Victoria
nismus auf die physiologische Struktur des Gehirns durch                 Eglau mit ihrem Bericht über die magische Kraft der Musik im
die Neurowissenschaften, die in den letzten Jahren zur                   bolivianischen Tiefland, mit der die Jesuiten im 17. Jahrhundert
Leitwissenschaft avanciert sind, aber warnt nicht nur der                ihre Missionierung intensivierten. Nach deren Vertreibung aus
Philosoph Matthias Kross. Geistes- und Kulturwissenschaften              Amerika 1767 bewahrten die Indianer der Chiquitania die alten
halten dem neurowissenschaftlichen Materialismus entgegen,               Notenblätter auf und erwecken die Partituren heute in ihren
dass das menschliche Gehirn immer in einen Leib eingebettet              Orchestern zu neuem Leben. Kunst weckt Begeisterung und
und damit auch kulturellen, historischen und gesellschaftlichen          Kreativität; musische Bildung kann demnach die Welt bewegen.
Bedingungen unterworfen ist. Der Emotionsforschung, die seit                 Wenn der koreanische Architekt Eun Young Yi bei einem
einiger Zeit en vogue ist, geht es daher auch weniger um das             Wissensspeicher, wie es die von ihm entworfene Stuttgarter
Durchbuchstabieren persönlicher Gefühle, sondern vielmehr um             Bibliothek ist, das Kernstück des Gebäudes als symbolisches
die soziale Perspektive, darum also, wie bestimmte Schichten,            „Herz“ und „Wurzel des Wissens“ bezeichnet, dann macht dies
Kulturen oder Gesellschaften Gefühle zum Ausdruck bringen.               deutlich: Ratio und Emotion müssen keineswegs Gegenspieler
Einen Wandel solcher Strategien zeigt die Studie von Juan                sein. Immer häufiger ist von „emotionaler Intelligenz“ die Rede.
Antonio Flores in Veracruz, Mexiko, wo sich eine deutliche               Erfahrungsgemäß lernen wir besser, wenn uns die Dinge auch
Verschiebung von traditionellen, eher körperbetonten rituellen           emotional ansprechen, durch gute Literatur zum Beispiel. Diese
Maßnahmen hin zu narrativen Strategien zur Beherrschung von              erweitert unseren Horizont, wie der Philosoph Guillermo
Emotionen nachweisen lässt.                                              Hoyos betont; für Cristina Peri Rossi vermittelt sie Freude am
    Der emotional turn, die neue Hinwendung zu den Gefühlen              Erkenntnisgewinn, Mitgefühl und Verständnis, und Jorge Volpi
als Forschungsgegenstand sowohl in den Natur- als auch in den            sieht in der Fiktion eine veritable Gefühlsmaschine, die Bildung
Geisteswissenschaften, bringt ganz unterschiedliche Erkenntnisse –       und Erkenntnisgewinn des Menschen fördert, ihn aber auch
nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Frage nach einer „vernünftigen“   verführen kann.
und unserer Gesellschaft angemessenen Bildung. So fällt zum                  Bildung ist immer auch Herzensbildung; sie sollte motivieren
Beispiel auf, dass in letzter Zeit ältere Bildungsideale wieder          und begeistern können, denn – um mit Robert Musil zu sprechen –
in Stellung gebracht wurden in der schon verloren geglaubten             „nichts ist trauriger als anzusehen, wie aus einem lebendigen,
Schlacht gegen die voranschreitende Wissensfragmentierung. Auf           Hoffnung versprechenden jungen Menschen ein ganz normaler
der Suche nach neuen Bildungskonzepten werden immer wieder               Erwachsener wird“. <
auch die Theorien von Wilhelm von Humboldt (1767–1835) und
jüngere reformpädagogische Ansätze ins Spiel gebracht, die seit
eh und je für einen erweiterten Begriff von Bildung plädierten,
die auch das Herz und die Gefühle anspricht. Ist unsere Epoche           Copyright:
am Beginn des 21. Jahrhunderts für ihre Renaissance reif?                Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion
    Klüger, so resümiert die Germanistin Rosa Tennenbaum,                Dezember 2012
seien wir in der Gesellschaft, die Wissen zum Produkt gemacht
hat, jedenfalls bisher nicht geworden. Die Anhäufung von Wissen          Bildzusatzinformation:
führt nicht notwendig zur Bildung einer kritischen Urteilskraft,         Susan Aldworth (1955, Epsom, Großbritannien) beschäftigt sich
auf die es letztendlich – dem Germanisten Wolfgang Frühwald              künstlerisch mit Druckgrafik, digitalen Drucktechniken, Film und
zufolge – ankommt, wenn es darum geht, die Informationsberge             Installation. Ihr Ansatz ist interdisziplinär und von der Medizin
zu sortieren. Bildung ist immer Personenbildung. Es geht, wie            inspiriert, wobei sie sich besonders mit dem menschlichen Gehirn
auch der Philosoph und Pädagoge Marcelo da Veiga unterstreicht,          und Ausdrucksformen der Persönlichkeit befasst, jüngst auch
um ein Verstehen des anderen und um ein Verstehen der Welt.              mit Schizophrenie. Ausgangsmaterial auf ihrer Suche nach dem
Und in der Schule? Ob die nicht aufzuhaltende Digitalisierung den        stofflichen Fundament für das, was wir Persönlichkeit nennen, sind
Unterricht wirklich verbessert, bezweifelt der Hirnforscher und          wissenschaftliche Hirnscans, wobei sie zu den elektrochemischen
Psychologe Manfred Spitzer massiv und warnt eindringlich vor             neurologischen Prozessen visuelle Analogien schafft.
oberflächlichen Lernverfahren, die durch den Einsatz digitaler
Medien begünstigt werden. Sérgio Branco hingegen, Lehrer und
Forscher am Centro de Tecnologia e Sociedade da FGV Direito
Rio, zeigt, dass der Einsatz digitaler Medien selbst gesteuertes,
aktives Lernen unterstützt und die Lernmotivation fördert.
    Wie aber sähe eine Bildung aus, die gleichermaßen Herz und
Verstand einbezieht? Zu Zeiten der Brüder Humboldt ging es
darum, das Schöne, Gute und Erhabene in den jungen Seelen
zu verankern – durch Musik, Literatur und bildende Kunst.
Obgleich man sich, wie Ute Frevert ausführt, auch der Gefahren
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Guillermo Hoyos                                                          Goethe-Institut 2012              zwischen Hirn und Herz

                                 Das Ideal
                            der humanistischen
                                  Bildung
                    Welche Art der Bildung – zwischen Hirn und Herz –
                  brauchen junge Menschen in Zeiten des ökonomischen
                            Wettbewerbs und Pragmatismus?

                       Darstellung der Seele als präzise zugeschnittene Reihe von Vermögen, aus: Gregor Reisch (1470–
                       1525), „Margarita, philosophica nova“, 1512, Holzschnitt. © Dresden, Sächsische Landes-, Staats-
                       und Universitätsbibliothek / Deutsche Fotothek / Regine Richter. Foto: Courtesy Deutsches Hygiene-
                       museum, Dresden

In Lateinamerika gibt es viele Vorschläge zur Bildungsreform. Dabei vernachlässigt man die Geisteswissenschaften, die Phi-
Die meisten scheinen sich genau daran zu orientieren, was losophie und die Sozialwissenschaften, als ob sie dabei im
die nordamerikanische Philosophin jüdischer Abstammung Wege seien.
Martha C. Nussbaum in ihrem Buch Nicht für den Profit!            Heute hält man das Bildungsideal von Wilhelm von
Warum Demokratie Bildung braucht (Überlingen, 2012) kriti- Humboldt, das eine Erziehung der Person in Abgeschiedenheit
siert. Darin zeigt sie auf, wie sich die Bildung heute an öko- und Freiheit vorsah, eine Erziehung zur Kooperation und
nomischen Interessen orientiert und sowohl der private zur höheren Bildung, die Forschung und Lehre vereint, nicht
als auch der öffentliche Bereich seine Bemühungen darauf mehr für besonders notwendig. Diese humanistischen Ideale,
richtet, professionelle Mitarbeiter im Management und in die niemals die professionelle Ausbildung vernachlässigten,
verwandten Bereichen im Dien-ste der Wirtschaft auszubilden. legten größten Nachdruck auf die Bildung von Werten, an-
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Guillermo Hoyos                                                     Humboldt 3                  Bildung –                         6/84
Das Ideal der humanistischen Bildung                                Goethe-Institut 2012        zwischen Hirn und Herz

gefangen bei denen der Aufklärung, ebenso wie auf die Befähi-
gung zum Denken und auf politisches Engagement.                     Copyright:
    Die Menschheit ist an einem Punkt der Wissenschafts-, der       Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion
Technik- und Technologiebeherrschung angelangt, der uns –           Dezember 2012
insbesondere diejenigen, die keine religiöse Ader haben – dazu
zu bringen scheint, der moralischen Sensibilität zu misstrauen      Autor:
und ihren Verheißungen rational zu begegnen, das heißt, indem       Guillermo Hoyos Vásquez (1935, Medellín, Kolumbien), hat Phi-
wir sie übergehen oder uns an die Ideale des Erfolgs anpassen,      losophie und Geisteswissenschaften studiert, bevor er ein Theo-
an den Wettbewerb und die Produktivität. Ganz offensichtlich        logiestudium in Frankfurt/Main aufnahm und 1973 in Köln
war es gerade die religiöse Tradition, die es darauf anlegte, den   in Philosophie promovierte. Er ist emeritierter Professor der
zutiefst menschlichen Charakter der Gefühle unterzubewerten.        Universidad Nacional de Colombia, wo er über 25 Jahre lang
Die Erziehung zur Empfindsamkeit führte oft zu ihrer Repres-        Philosophie lehrte. Zurzeit leitet er das Instituto de Bioética der
sion. Die Askese der religiösen Erziehung, welche in ihrer          Pontificia Universidad Javeriana in Bogotá. Zahlreiche Veröffent-
negativen Form die griechische Tradition der Katharsis ablöste,     lichungen zu Moralphilosophie, politischer und Rechtsphilosophie.
erhob die rationale Kontrolle der Leidenschaften, besonders
ihrer Wurzel, der Gefühle, zum menschlichen Bildungsideal. Der      Übersetzung aus dem Spanischen:
wohlgebildete Mensch kontrolliert seine Leidenschaften und ist      Ulrike Prinz
Herr über seine Gefühle.
    Eines der positiven Ergebnisse der sogenannten Postmoderne
war das Infragestellen des Rationalismus, der sich in Begriffen
der Modernisierung eben der Moderne bemächtigt hatte.
Die Tatsache, dass meine Vernünftigkeit, meine Auffassung
vom Guten nicht unbedingt mit derjenigen anderer Personen
übereinstimmen muss, setzt voraus, dass wir, vor allem bei
Wertefragen, die Vernunftbegabtheit des anderen verstehen. Es
geht darum, den anderen in seiner Andersartigkeit und Differenz
und damit als ebenbürtigen Gesprächspartner anzuerkennen.
Und das wiederum hat zu tun mit der Kritik der Postmoderne
an einer Modernisierung, die unsere Lebenswelt in vollständiger
Abhängigkeit hält. Im gleichen Maße, wie Wissenschaft und
Technologie sie ernüchtert hat, müssen wir sie wieder verzaubern,
damit wir uns in ihr wieder zu Hause fühlen können.
    Martha Nussbaum selbst plädiert für eine Erziehung
der Gefühle, und zwar ausgehend vom Mitgefühl – in seinem
etymologischen Sinn als „mit-fühlen“ mit dem anderen –,
um unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu bereichern,
um eine humanere, fürsorglichere Gesellschaft aufzubauen,
eine, die solidarischer ist, verständnisvoller und pluralisti-
scher. Deshalb besteht sie auf der Erziehung zu einem nar-
rativen Vorstellungsvermögen, einer kulturwissenschaftlichen,
ästhetischen und allgemein literarischen Bildung, um den
kosmopolitischen Verständnishorizont zu erweitern.
    Den Jugendlichen von heute wird vorgeworfen, sie hätten
keine Werte, verhielten sich intolerant und indifferent. Das
Gegenteil ist der Fall. Wenn wir nicht nur auf eine Erziehung der
Vernunft, sondern auch auf eine des Herzens setzen, werden
wir feststellen, dass Toleranz und Pluralismus, Engagement für
Fairness und für Respekt vor der Differenz, die Redlichkeit als
Attribut der Gegenseitigkeit und der Solidarität heute ebenso zu
den Werten der Jugendlichen zählen. Wenn wir vor allem mehr
der moralischen Sensibilität trauten als Druck auszuüben, mehr
der Erziehung zu Werten als der Androhung von Strafe, mehr dem
Gerechtigkeitsgefühl wie der Fairness als der Rechtsprechung
und jahrelangen Gefängnisstrafen, so würden wir sehen, dass es
sich lohnt, den Frieden zu suchen, anstatt den Krieg zu erklären.
Denn die Jugend ist von Natur aus pazifistisch. <
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Jorge Volpi                                                                  Goethe-Institut 2012                zwischen Hirn und Herz

                         Die Emotionsmaschine
                    Literatur bildet sowohl das Hirn als auch das Herz.
               Sie befeuert die Emotionen und dient nicht nur der Bildung,
                              sondern auch der Manipulation.

                           Poyet, „Der Kopf des Erfinders“, Titelbild von „La Nature“, 1890, Nr. 1, Buchdruck. © Leipzig,
                           Universitätsbibliothek. Foto: Courtesy Deutsches Hygienemuseum, Dresden

Nach António Damásio sind die Emotionen (emotion) ein kom-                       Nicht ohne Grund glaubten die Alten, dass wir Menschen
plexes System von chemischen und neuronalen Reaktionen, die                  durch unsere Leidenschaften regiert würden und dass es die
ein charakteristisches Muster bilden, während es sich bei den                Aufgabe der Zivilisierung sei, diese zu zähmen, als wären es
Empfindungen oder Gefühlen (feeling) um die Wahrnehmung                      wilde Tiere. Die Emotionen wurden seitdem als übermächtige
von körperlichen Zuständen handle. In anderen Worten: Eine                   Kräfte gesehen, die uns in die schlimmsten Exzesse stürzen
Emotion beschreibt einen Zustand des Geistes, während eine                   können. Dieser Eindruck ist nicht ganz abwegig: In der Tat
Empfindung oder ein Gefühl vor allem eine körperliche Wahr-                  leiten sich die Emotionen nicht aus einem rationalen Impuls ab,
nehmung ist. Das erklärt, nach Damásio, dass die Emotionen                   sondern aus der Veranlagung des Gehirns, möglichst schnell auf
den Gefühlen vorausgehen.                                                    Bedrohungen von außen zu reagieren.
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Die Emotionsmaschine                                                Goethe-Institut 2012   zwischen Hirn und Herz

    Fiktionen haben neben vielen anderen Funktionen – zum
Beispiel als Gedächtnisspeicher, Übermittler von Ideen und
Maßstäben, Zukunftsbreviers – auch die Funktion einer Emo-
tionsmaschine. In einen Film, eine Fernsehserie, eine Seifenoper,
ein Theaterstück oder eine Geschichte einzutauchen ist eine
Achterbahn der Emotionen: Wir springen von einer Figur zur
anderen, und mit jeder einzelnen leiden, lieben, genießen wir,
erheben wir uns, erstarren oder brechen wir zusammen –
manchmal auch gegen unseren Willen. Es gibt Gemüter, die einen
solchen Wahnsinn nicht aushalten. Die Fiktion macht uns plötzlich
zu multiplen Persönlichkeiten: Mir schaudert, fast gleichzeitig,
wie jenem und jenem und jenem, unaufhörlich, einer nach dem
anderen. Ich bin nicht nur Emma Bovary, sondern ich langweile
mich, bin frustriert, verwirrt und lasse mich im Stich wie Emma
Bovary. Und nur ein paar Sekunden – Seiten – weiter leide ich,
werde misstrauisch und wütend auf Charles, ihren Ehemann.
Madame Bovary c’est moi, ohne Zweifel, aber Pierre Bovary
c’est moi aussi. Ein Roman ist ein emotionaler Feldversuch:
Wenn Platon die Dichter aus seiner Republik verstoßen ließ,
so deshalb, um seinen Bürgern diesen inneren Gefühlssturm
zu ersparen, der sie letztlich von ihren alltäglichen geordneten
Pflichten ablenken würde. Platon verstand nicht – oder verstand
umgekehrt sehr gut –, dass die durch Fiktion (oder durch die
Poesie) heraufbeschworenen Emotionen uns lehren, wahrhaft
menschlich zu sein. Totalitäre Regimes, erpicht darauf, die
Fiktion zu sanktionieren und zu regulieren, wie die Sowjetunion
oder das maoistische China, hatten sich darauf versteift, ihre
Untergebenen in formbare, leicht manipulierbare, berechenbare
Geschöpfe zu verwandeln, und zwar über Romane, Erzählungen
und Gedichte, die nur solche Emotionen erregen sollten, die für
ihre Ziele geeignet waren, an erster Stelle jene Grundemotionen,
die so leicht zu instrumentalisieren sind wie der Patriotismus
und die Angst vor dem anderen oder die Treue. <

Copyright:
Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion
Dezember 2012

Autor:
Jorge Volpi (1968, Mexiko-Stadt) studierte Jura und Literatur
und promovierte im spanischen Salamanca. Seit 1992 Schrift-
steller, ist er Gründungsmitglied der „Generación del Crack“,
eines literarischen Zirkels von Autoren, deren Manifest eine
Abkehr vom magischen Realismus fordert. Volpi war Kultur-
attaché in Paris und Programmdirektor des mexikanischen
Kulturfernsehens (Canal 22). Wichtige Bücher: „El temperamento
melancólico“ (1996; dt. „Der Würgeengel“, 2002), „En busca de
Klingsor“ (1999; dt. „Das Klingsor-Paradox“, 2001), „No será
la tierra“ (2006; dt. „Zeit der Asche“, 2009), „La tejedora de
sombras“ (2011).

Übersetzung aus dem Spanischen:
Ulrike Prinz
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Cristina Peri Rossi                                                           Goethe-Institut 2012               zwischen Hirn und Herz

                     Der vollkommene Genuss
                      Nicht nur die Naturwissenschaften, auch die Künste
                      beschreiben menschliche Wirklichkeit und werden
                        von ihr bestimmt, sie bilden Herz und Verstand.

                       Charles Bell (1774–1842), „Oberflächliche Sektion des Gehirns“, in: „The Anatomy of the Brain, Explained in
                       a Series of Engravings“ (Die Anatomie des Gehirns, beschrieben in einer Serie von Stichen), Manuskript,
                       Tafel 1, 1802, Aquarell mit Bleistift. © Wellcome Library, London. Foto: Courtesy Deutsches Hygiene-
                       museum, Dresden

Allen wissenschaftlichen Disziplinen ist ein Wunschtraum                      Orgasmus haben, wenn sie ein Tor schießen, so bereitet auch das
gemein: die Wirklichkeit zu begreifen. Aber auch die Künste und               Betrachten einer Reihe von Aminosäuren Freude, die Form einer
die Lebenswissenschaften wollen die Wirklichkeit begreifen:                   Schneeflocke, Lavendelduft, die Gebärden eines Schimpansen
das Verlangen, die Konflikte, die Beziehungen zwischen den                    oder das Lachen eines Mädchens. Deshalb müssen sich die
Personen, ihre Träume, ihre Obsessionen. Deshalb ist es ebenso                verschiedenen Disziplinen verbinden: sowohl zur Bildung des
wichtig, die Rolle der Proteine in der Entwicklung von Krebs                  Menschen als auch zu seiner Freude. Jedes Mal, wenn sich zwei
zu erforschen wie Das Eismeer bzw. Die gescheiterte Hoffnung                  Wissensbereiche kreuzen, ist der intellektuelle Genuss garantiert
von Caspar David Friedrich zu betrachten, Kafkas Brief an den                 (Leonardo, Goethe). Denn es gibt menschliche Angelegenheiten,
Vater zu lesen oder die Bachiana No. 5 von Heitor Villa-Lobos                 die wir ohne Multidisziplinarität nicht verstehen können. Der
zu hören. Was bringt uns ihr Verständnis? Nicht nur Kenntnis: Es              Sinn des Bösen, zum Beispiel, kann nicht ausschließlich aus dem
bereitet Genuss. Wenn manche Fußballer sagen, dass sie einen                  Blickwinkel der Wissenschaft analysiert werden, für die das Böse
BILDUNG - ZWISCHEN HIRN UND HERZ - EINE PUBLIKATION DES GOETHE-INSTITUTS
Cristina Peri Rossi                                                   Humboldt 3                  Bildung –                         10/84
Der vollkommene Genuss                                                Goethe-Institut 2012        zwischen Hirn und Herz

höchstens ein körperliches Leiden sein kann. Vom Bösen sprechen
alle Religionen, die Ethik, die Philosophie, die Psychologie und      Copyright:
Sozialtheoretikerinnen wie Hannah Arendt, die von der „Banalität      Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion
des Bösen“ gesprochen hat, ausgehend von den Schandtaten              Dezember 2012
des Dritten Reichs. (Das Böse kann aber nie banal sein, weil es
Schaden anrichtet, wohingegen die Ausführenden mittelmäßige,          Autorin:
banale, „normale“ Personen sein können.)                              Cristina Peri Rossi (1941, Montevideo, Uruguay) gilt als eine der
    Die Notwendigkeit, die Disziplinen zusammenzubringen,             wichtigen spanischsprachigen Stimmen. Ihr Werk wurde in 20
fand ich am besten in einem Aphorismus des Physikers Jorge            Sprachen übersetzt. Es umfasst alle Genres: Poesie, Erzählung,
Wagensberg ausgedrückt: „Wissenschaft und Poesie sublimieren          Roman, Essay, Zeitschriftenartikel. 1972 musste sie aus politischen
die Freude allen Ausdrucks, indem sie mit kleinstem Aufwand           Gründen Uruguay verlassen, seit 1974 hat sie die spanische
das Größte bewirken.“ Das Größte bewirken: die Reichweite             Staatsbürgerschaft. Peri Rossi wurde vielfach ausgezeichnet,
einer mathematischen Formel, ein Farbfleck auf einer Lein-            zuletzt erhielt sie für ihr Buch „Playstation 2008“ den renom-
wand oder ein unvergesslicher Vers. Die Relativitätstheorie von       mierten Internationalen Poesiepreis der Loewe-Stiftung.
Einstein (E = mc2) ist der minimale Ausdruck einer Reihe von sehr
großen Erkenntnissen, ebenso wie der Vers von Pablo Neruda,           Übersetzung aus dem Spanischen:
„Wie das Meer. Wie der Zeitlauf. Alles in dir war Schiffbruch!“,      Ulrike Prinz
der minimale Ausdruck einer Vielzahl von Bedeutungen ist.
(Wissenschaftliche Formeln sind wie literarische Metaphern.)
    Das Konzept der Multidisziplinarität ist allerdings nicht mit
dem der Multikulturalität zu verwechseln. Weder sind Kulturen
gleich, noch haben sie alle dieselbe zivilisatorische Kapazität.
Die Kulturen unterscheiden sich grundlegend voneinander durch
ihre Ethik, und diese basiert zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf
der Einhaltung der Menschenrechte, ungeachtet der Religion,
der sozialen Schicht, des Geschlechts oder des Alters. Meiner
Meinung nach sind diejenigen Kulturen überlegen, welche die
Bedürftigen, die Schwachen schützen, also die Kulturen, die das
Mitgefühl umsetzen. Mitgefühlt heißt, den Schmerz des anderen
fühlen, Leid teilen. Keiner zweifelt am technischen Fortschritt des
21. Jahrhunderts, aber der moralische Fortschritt kommt sehr
viel langsamer voran: Vielleicht war der wichtigste Aufschwung
die Anerkennung der Rechte der Frauen und, in manchen
Gesellschaften, diejenige der Rechte der Homosexuellen und
Transsexuellen. Jeder moralische Fortschritt beruht also auf
dem Mitgefühl. Daher ist die Krise Europas Beweis für sein
langsames moralisches Fortkommen, denn wie beim großen
Crash von 1929 sind es wieder die Ärmsten, die für sie zahlen. <
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                                     Fühlt mein Gehirn?
                                     Philosophische Bemerkungen zur Lage
                                     der Emotionsforschung in Deutschland

      Katharine Dowson (*1962), „My Soul“, 2005, cristal, 24,3 x 40 x 30 cm. Courtesy Katharine Dowson (www.katharinedowson.com) und GV Art
      (www.gvart.co.uk). Foto: Courtesy Sunderland University

Im Jahre 2004 haben „elf führende Neurowissenschaftler“ in der               Neurophysiologie. Die Psychologen fürchten schlicht um ihre
deutschen Zeitschrift Gehirn & Geist ein Manifest veröffentlicht,            Existenzberechtigung. Etwas Ähnliches trug sich anlässlich der
in dem sie verkündeten, dass „sämtliche innerpsychischen                     Gründung des Bremer Hanse-Wissenschaftskollegs 1995 zu, das
Prozesse durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind“.                 von dem renommierten deutschen Hirnforscher Gerhard Roth
Kurz darauf erhoben fünf Psychologen im Namen ihres Fachs                    gegründet wurde. Der Germanist Wolfgang Frühwald, damaliger
dagegen Einspruch: „Psychologie und Hirnforschung beziehen                   Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, flehte in seiner
sich auf ganz unterschiedliche Analyseebenen.“ Hinter dieser                 Eröffnungsansprache die Kollegen der Neurowissenschaften
recht schwachen Verteidigung der eigenen Disziplin steckte ein               geradezu an, für die Geistes- und Kulturwissenschaften noch
unverhohlen vorgetragener Versuch der Anbiederung an die                     einen Katzentisch an der Forschertafel beizustellen.
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Fühlt mein Gehirn?                                                     Goethe-Institut 2012       zwischen Hirn und Herz

Experimentelle Hirnforschung auf Eroberung                             sie symbolisch vermittelt sind) geben. Willensfreiheit umfasst
Unterdessen arbeiteten Spitzenforscher in Deutschland fie-             offenkundig mehr als die Entscheidung, den Arm zu heben.
berhaft an der Umsetzung des neurologischen Manifests.                 Kurz: Sobald man das Experimentallabor verlässt und sich den
Dank großzügiger Forschungsförderung und den Fortschrit-               Menschen in ihrer komplexen Lebenswelt zuwendet, wirkt der
ten der digitalisierenden „bildgebenden Verfahren“ und                 neurowissenschaftliche Reduktionismus stumpf und unbeholfen.
nicht zuletzt dank medienwirksamer Verschlagwortung ihrer
Ergebnisse entstand auch in Deutschland bald das, das man              Lernfähige Schaltzentrale Ergiebiger scheint da schon
einen „Wissenschaftshype“ nennt. Die Max-Planck-Gesellschaft           die vom Heidelberger Psychiater Thomas Fuchs vertretene
allen voran gründete gar eigene Institute für Kognitions-              Auffassung, dass das Gehirn vor allem ein „Beziehungsorgan“
und Neurowissenschaften. Und berauscht von schnellen                   ist, eine Schaltzentrale, die die Lebensvorgänge des Men-
Erfolgen und vermeintlich spektakulären Ergebnissen verließ            schen und seine bewusste Selbstreflexion koordiniert und in
die experimentale Hirnforschung alsbald das akademische                aktives Handeln umsetzt. Zugleich verfügt das Hirn über eine
Forschungslabor und die Klinik, um in das Feld der Sozial-             beträchtliche „Plastizität“; es verändert sich beim und durch das
wissenschaften, der Rechtstheorie sowie der Philosophie und            Lernen als Organ, das heißt in seiner physiologischen Struktur.
Theologie vorzustoßen. Sie okkupierte den Bereich der Bild- und        Um seine Leistungen angemessen zu erfassen, muss die gesamte
Medienwissenschaften ebenso wie den der Ökonomie oder der              Umwelt einbezogen werden, in die es eingebettet ist: vor allem
Werbepsychologie.                                                      sein allgemeines Körpergefühl, die Interaktion mit seiner Umwelt
                                                                       sowie die Intersubjektivität, das heißt die soziale Nahbegegnung
Sie sind Ihr Gehirn Ihr Erfolgsgeheimnis dürfte dabei vor              und gesellschaftliche Kommunikation – mit einem Wort: Neuro-
allem darin zu suchen sein, dass mit der neuen Technologie             wissenschaften sind nur als „verkörperte“ sinnvoll (engl.
bildgebender Verfahren eine über jeden Zweifel erhabene                embodied cognitive neurosciences). So wie das Gehirn unseren
Methode gefunden schien, die auf verblüffend einfache Weise            Leib und unser Verhalten steuert, so wirken unsere Umwelt und
jahrtausendealte Fragen zu beantworten gestattete: „Unser Ich          die vielen Funktionen unseres Leibes, die sich der bewussten
ist […] eine Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir, die          oder verstandesmäßigen Steuerung entziehen, auf die
Fiktion, der Traum, nichts wissen können“, schrieb zum Beispiel        neuronalen Aktivitäten unseres Gehirns ein.
Gerhard Roth (1994). Oder der Psychologe, Psychiater und
Hirnforscher Manfred Spitzer: „Sie haben Ihr Gehirn nicht, Sie         Sprache der Emotionen Das Ich ist kein Gehirn, sondern
sind Ihr Gehirn“ (2005). Vielen erschien diese reduktionistische       hat einen Leib mit einem Gehirn. Nimmt man ihren Einwand
Antwort auf die Frage nach dem Ich des Menschen wie der Stein          ernst, ergeben sich für die Geistes- und Kulturwissenschaften
der Weisen, die Lösung des größten Welträtsels. Und bis heute          auf dem Gebiet der Emotionsforschung neue Chancen, Emotion
halten viele Neurowissenschaftler daran fest. So verkündete der        aus ihrer Umklammerung durch neurowissenschaftliche
Philosoph und Neurowissenschaftler Thomas Metzinger (2009):            Messverfahren zu befreien und in die kulturelle und historische
„Die moderne Neurowissenschaft hat gezeigt, dass der Inhalt            Vielfalt ihrer Ausdrucksformen zurückzuholen. In Deutschland
unseres bewussten Erlebens nicht nur ein inneres Konstrukt,            wurden diese Chancen vor allem mit dem 2006 eingerichteten
sondern auch eine höchst selektive Form der Darstellung von            Exzellenz-Cluster „Languages of Emotion“ an der FU Berlin
Information ist. […] Unser Gehirn erzeugt eine Simulation der          genutzt, das bis 2012 bestand und in dem internationale
Welt, die so perfekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem   Forscherteams aus zwanzig Disziplinen zusammenwirkten.
eigenen Geist erkennen können.“                                        Es ging vor allem darum, „die Zusammenhänge zwischen
                                                                       Emotionen und Zeichenpraktiken“, also der „Sprache“ der
Kampf um die Willensfreiheit Nach einer Weile des                      Emotionen, in ihrer thematischen Vielfalt und in historischer
zunächst wohl ungläubigen, dann lähmenden Erstaunens                   Variabilität zu erforschen: Was und wie wir fühlen, sei zu einem
begann sich etwa seit der Jahrtausendwende in den Geistes-             großen Teil durch Sprache und Bilder geprägt. Ebenso wie
und Kulturwissenschaften ein breiterer Widerstand gegen den            die Neurowissenschaft die Rolle der Sprache vernachlässigt
Universalitätsanspruch der Neurowissenschaften zu regen. Zwar          habe, so hatte die Sprachforschung die Rolle der Emotionen
stellte man ihre Befunde nicht in Frage – dass die Neuronen,           unterbelichtet. Dem wollte der multidisziplinäre Cluster
vor allem die sogenannten Spiegelneuronen, der „Sitz“ des Hu-          entgegenwirken, denn Gefühle beförderten oder behinderten
manen sind und das soziale Miteinander erst ermöglichen,               unseren Spracherwerb; umgekehrt wirke sich sprachliche
wird von vielen Forschern mittlerweile anerkannt. Doch er-             Kompetenz auf Fähigkeiten emotionaler Kommunikation
geben sich begründete Vorbehalte gegen die philosophischen             aus. Dem Cluster ging es also in erster Linie darum, dem
Schlüsse, die einige der wortgewandten Vertreter der Neurologie        naturwissenschaftlichen Reduktionismus die Komplexität des
daraus gezogen haben. Denn es wird schnell klar, dass selbst so        emotiven Zeichengebrauchs in seinem „Ausgreifen in Bereiche
spektakuläre Versuche wie das Libet-Experiment (das „beweist“,         des Möglichen, des Fiktiven und Imaginären“, also vor allem in
dass der Entschluss zu handeln von unbewussten Gehirn-                 seinen künstlerischen Ausdrucksformen, entgegenzustellen.
prozessen gefällt wird, bevor er als Absicht ins Bewusstsein
dringt) zur Willensfreiheit keinen angemessenen Begriff von            Parallelaktionen Die Ergebnisse des Clusters haben
der Komplexität menschlichen Handlungen (vor allem, wenn               allerdings nur wenige greifbare Fortschritte auf dem Weg zur
Matthias Kross                                                   Humboldt 3                 Bildung –                       13/84
Fühlt mein Gehirn?                                               Goethe-Institut 2012       zwischen Hirn und Herz

angestrebten Annäherung zwischen Natur- und Human- bedurften sie als Affekte des Körpers, Passionen der Seele oder
wissenschaften gebracht. Das kann am Ende nicht erstaunen. Begleiter der Vorstellungen des Verstandes der ethischen Zucht
Denn obwohl der Cluster eine faszinierende Fülle von Aspekten (Regimentation), um dem Menschen bei seinem Streben nach
und Manifestationsformen des Emotionalen gesammelt hat, ist Glück, Seelenfrieden oder seinem Heil zu helfen. Die Askese, das
 es ihm nicht gelungen, die Ergebnisse der Neurowissenschaften heißt im eigentlichen Wortsinn die ethische Übung der Affekte
in die kulturell geformte „Sprache“ der Gefühle zu übersetzen, und Gefühle, galt mehr als zwei Jahrtausende lang, von Platon
geschweige denn zu integrieren. Es blieb letztendlich bei dem, bis Nietzsche, dabei als die vornehmste Pflicht des Philosophen
was der Schriftsteller Robert Musil so treffend „Parallelaktion“ in uns – gleichgültig, ob der Weg zum Glück beziehungsweise
genannt hat: So wie die Neurowissenschaftler von der drei- Heil nun über das Ideal der Abwesenheit von Gefühlen
 dimensionalen Kartografierung des Gehirns träumen, um auf (Stoizismus), über die Herstellung eines Gefühlsgleichgewichts
ihr philosophische Konzepte wie das Ich als Selbst, Identität, (Aristoteles), über die Förderung der für ein gottgefälliges Leben
Verantwortung und Entscheidung, Religion und Ethik, praktisches wichtigen Gefühle (Augustinus) oder aber über die Erzeugung der
Handeln und theoretische Spekulation zu lokalisieren, so subjektiven emotiven Voraussetzungen für das im kategorischen
 entwarf der Cluster eine metikulöse Registratur der Emotionen, Sinne moralische Verhalten (Kant) führen sollte. Stets wurde
in der sich möglichst alle wissenschaftlich erfassbaren den Emotionen auch ein moral sense (Hutcheson) beigelegt,
Varietäten von Affekten und Gefühlen in ihren unterschiedlichen verbunden mit der Aufforderung, auf ihre Regungen zu achten,
Äußerungsformen und Spuren verzeichnen und klassifizieren den guten zu folgen und die schädlichen zu bekämpfen, in jedem
lassen.                                                          Falle aber: an und mit ihnen zu arbeiten.
     Dass damit die Annäherung der „Sprachen“ von Kultur-
und Neurowissenschaften nicht zuwege zu bringen ist, kann Emotion und Ethik Es war vor allem Jean-Jacques Rousseau,
aus philosophischer Sicht nicht überraschen. Während die der in seiner Schrift Émile, ou De l’éducation (1762; dt. Emile
neurowissenschaftliche „Sprache“ mit den Mitteln der experi- oder über die Erziehung) die Leidenschaften des Individuums in
mentellen Anordnung darauf vertraut, einen außer-sprachlichen soziale Gefühle übersetzt hat. Er hat damit den entscheidenden
Gegenstand angemessen zu „repräsentieren“ und zu beschreiben, Schritt getan, den Emotionen jene symbolische Eindeutigkeit zu
müssen sich die Kultur- und Geisteswissen-schaften auf die nehmen, die für eine ethische Bildung unerlässlich gewesen war.
(in weitestem Sinne) sprachlich-symbolischen, das heißt Seit Rousseau können wir nicht mehr hinter ihre Ambivalenz
 medialen Manifestationen dieser Zustände beschränken. Wie zurück. Sie haben sich ebenso widerstandslos der Intimisierung
 der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) mit der Gefühlskultur des 19. Jahrhunderts gefügt, wie sie sich
seinem „Privatsprachen-Argument“ gezeigt hat, gibt es aber im 20. Jahrhundert für totalitäre Ideologien ausbeuten ließen
keine Möglichkeit, mittels der Sprache auf die Existenz solcher und heute der exhibitionistischen Zurschaustellung in der
Zustände zu schließen. Über Emotionen oder innere Zustände zu Medienkultur dienen („Wer weint, kommt ins Fernsehen“).
sprechen setzt nicht voraus, dass die beschriebenen Emotionen Wenn neben dem Public Viewing auch das Public Crying erlaubt
 oder Zustände wirklich bestehen. Wir kommen über das ist, dann sind Emotionen keine verlässlichen Indikatoren für
Sprachspiel beziehungsweise das Zeichenensemble, in dem sie eine bestimmte ethische Haltung mehr; sie sind zu intensiven
vorkommen, nicht hinaus.                                         Manifestation wandelbarer sozialer Konstellationen geworden.
                                                                     Es muss daher heute offen bleiben, ob die Emotionen noch
Arbeit an den Emotionen Die thematisch-methodische einmal in der Sprache einer moralischen Haltung beschrieben
Fixierung des Clusters hat zudem dazu geführt, zu übersehen, werden können. Für die Position des neurowissenschaftlichen
 dass die heutige vorherrschende wissenschaftlich-klassifi- Reduktionismus sind ethische Fragen nicht relevant; dem
katorische Emotionsforschung nur eine von vielen Weisen Kulturwissenschaftler und Philosophen bleibt bis auf Weiteres,
 der Auseinandersetzung mit Affekten und Gefühlen ist. Die so scheint es, wohl nichts anderes, als die Vielfalt ihrer Dialekte
meisten nicht neurologisch oder medizinisch orientierten zu katalogisieren, ohne selbst eine philosophisch verbindliche
Emotionstheorien sind derzeit maßgeblich von der Philo- Lebenskunst als ethische Haltung formulieren zu können. Und
sophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts geprägt vielleicht liegt es an diesem Unvermögen, dass wir den oft so
(zum Beispiel von Max Scheler und Helmuth Plessner). Im lautstark seine Gefühle und damit seine Gesinnung zeigenden
Anschluss an Friedrich Nietzsches „Umwertung“ der Affekte Moralisten nicht verstehen können. <
(gemäß ihrem Beitrag zur Lebenssteigerung) ging die Philoso-
phische Anthropologie davon aus, dass die menschliche
Vernunft wesentlich von Emotionen gesteuert und in den Leib
„eingebettet“ ist. Wie die „verkörpernden Neurowissenschaften“
begreift sie den Menschen in der Ganzheit seiner Lebenswelt.
Nietzsche selbst hatte bei seiner „Umwertung“ der Affekte
aber auf eine noch viel ältere und bedeutendere Tradition der
Affektlehre zurückgreifen können, in der den Emotionen im
Wechselspiel von Körper, Seele und Verstand vor allem eine
 ethische Bedeutung beigemessen wurde. Dieser Tradition gemäß
Matthias Kross                                                       Humboldt 3             Bildung –                14/84
Fühlt mein Gehirn?                                                   Goethe-Institut 2012   zwischen Hirn und Herz

Copyright:
Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion
Dezember 2012

Autor:
Matthias Kross (1953) promovierte über die Sozialphilosophie
Ludwig Wittgensteins. Er arbeitet seit 1996 als Wissenschaftlicher
Referent mit dem Fachgebiet Philosophie des 20. Jahrhunderts
am Einstein Forum in Potsdam und ist Lehrbeauftragter für
Allgemeine Soziologie an der Universität Potsdam.

Bildzusatzinformation:
Katharine Dowson (1962) lotet mit ihren Arbeiten die Grenzen
zwischen Kunst und (medizinischer) Wissenschaft aus: „I had
an MRI scan as part of the research into Dyslexia and all the
resulting work ‚My Soul‘ and ‚Brain Bricks‘ are of my life size
brain.” Die neurologische Struktur als „Seele” zu bezeichnen ist
ein Statement, unterläuft dies doch die kategoriale Scheidung
zwischen Geist und Seele, zwischen Materie und Spiritualität.
Hinter der ästhetischen Schönheit des fragilen, vegetabil
anmutenden Gewächses von „Memory of a brain malformation“
verbergen sich Krankheit und überwundene Gefahr: „‘Memory of
a Brain Malformation‘ is a Venus Ulterior Malformation that was
successfully lasered out of my cousins brain.“
Humboldt 3                        Bildung –                15/84
Ute Frevert                                                              Goethe-Institut 2012              zwischen Hirn und Herz

                                      Herzensbildung
                                       Gefühle und Empfindungen:
                                     Vom Wandel der Erziehungsideale
                                         über die Jahrhunderte

                       Darstellungen der aristotelischen Theorien zum Bewusstsein. Aus: „De corpore et anima“, um 1497,
                       Manuskript, 22 x 15,8 x 1,1 cm. Manchester, The John Rylands University Library, The University of
                       Manchester. © Reproduktion: Courtesy of the University Librarian and Director. Aus der Ausstellung
                       „Images of the Mind“, Deutsches Hygienemuseum Dresden

Herzensbildung – das ist ein Wort aus der deutschen Klassik.             Wer glücklich ist, dem weitet sich das Herz, und wer trauert,
Friedrich Schiller sprach oft davon, Wilhelm von Humboldt                dem krampft es sich.
bevorzugte den Ausdruck „Bildung des Gemüths“. Das Herz                      Wie aber lässt sich ein Herz bilden? Sind Gefühle nicht
galt damals als Sitz von Gefühl und Gemüt, und noch                      angeboren und damit eigentlich unverfügbar? Haben wir
heute benutzen wir Ausdrücke und Zeichen, die sich dieser                nicht alle, wie uns Psychologen weismachen wollen, ein Set
Topographie verschreiben: Wer liebt, verschenkt Ringe oder               sogenannter Basisgefühle, wie Angst und Freude, Hass und
Schokolade in Herzform; wer Liebeskummer hat, dem wurde                  Trauer, Ekel und Wut? Und folgen jene Gefühle nicht einem
das Herz gebrochen, und es schmerzt ihn am und im Herzen.                natürlichen Rhythmus, einem biodynamischen Konzept, das sich
Ute Frevert                                                         Humboldt 3                 Bildung –                       16/84
Herzensbildung                                                      Goethe-Institut 2012       zwischen Hirn und Herz

den Menschen evolutionär vermittelt und eingeprägt hat? Was         auch Mut und Energie, das empfundene Mitgefühl in die Tat
könnte unter solchen Umständen Bildung heißen und bewirken?         umzusetzen und aktiv zu helfen, wo es nottat.
    Das sind Fragen, die schon in der Antike diskutiert wurden,
die aber seit dem sogenannten pädagogischen Jahrhundert –           Vernunft und Empfindsamkeit Dass Herzensbildung
dem achtzehnten – an Bedeutung und Sprengkraft gewannen.            ihren Ort auch, wenn auch nicht allein, in der Schule fand, war
Wer den Menschen in Körper, Geist und Seele als bildungsfähiges     unter Pädagogen unumstritten. Ebenso einig war man sich
und bildungsbedürftiges Wesen ansah und wer sich von seiner         darin, dass sie stets mit Verstandesbildung einhergehen müsse.
Bildung einen zivilisatorischen Fortschritt versprach, konnte an    Wer bei Kindern und jungen Leuten nur Empfindungen und
der Herzensbildung nicht achtlos vorbeigehen. Gebildet werden       Empfindsamkeit kultiviere, erziehe Schwärmer und Enthusiasten,
sollte nicht nur der Geist, der Verstand, also das, was Wilhelm     warnte 1780 der Gymnasialrektor Immanuel Johann Georg
von Humboldt „Kenntnis der Kenntnis“ nannte. Gebildet werden        Scheller. Der Verstand dürfe nicht schlafen, sondern müsse
sollten auch Gefühle und Empfindungen. Sie galten einerseits        das Gefühl und die Phantasie kenntnisreich und urteilsstark
als naturgegeben und dem Menschen unmittelbar zugänglich.           an die Hand nehmen. Joachim Heinrich Campe, Hauslehrer der
Andererseits schien es problematisch, sie im ungefilterten          Humboldt-Söhne und einflussreicher Schulreformer, verwendete
Naturzustand zu belassen. Sicher war jeder Mensch, wie die          das Bild vom Körper als Schiff, dem die Vernunft das Steuer
schottischen Moralphilosophen betonten, fähig zum Mitgefühl         führte und die Empfindsamkeit die Segel setzte.
(sympathy). Aber ob diese Fähigkeit auch genutzt und gepflegt           Schulische Lehrpläne enthielten denn auch gemeinhin drei
wurde, stand auf einem anderen Blatt. Bei manchen Menschen          Schwerpunkte: Körper-, Geistes- und Herzensbildung. Seine
konnte sie verschüttet sein oder von konkurrierenden Gefühlen       Schüler, versprach der Leiter einer 1801 neugegründeten Ber-
der Selbstliebe bedrängt. Hier tat Erziehung not, um das, was       liner „Erziehungsanstalt für Söhne von sechs bis vierzehn
dem Menschen eignete, auch zum Vorschein kommen zu lassen           Jahren“, würden dort zu „moralisch guten Menschen“ erzogen,
und in die Praxis umzusetzen.                                       „an Verstand und Herzen gebildet“, an „Reinlichkeit, Ordnung,
                                                                    Thätigkeit, Bescheidenheit und Gefälligkeit“ gewöhnt und mit
Kontrolle und Formung der Gefühle Andere Gefühle –                  Liebe für „ihr Vaterland und die Verfassung desselben“ erfüllt.
Neid und Gier, Zorn und Hass – waren hingegen vielleicht im Über-   „Herzensbildung“ umfasste hier die „sanfte, liebreiche Lenkung
maß vorhanden und störten das gedeihliche Zusammenleben             der jugendlichen Triebe“, „Abmahnung von Fehltritten“ und
in einer bürgerlichen Gesellschaft. Wer sich von solchen nega-      „Vorstellung der natürlichen Folgen der Tugend und des Lasters
tiven Gefühlen und Leidenschaften beherrschen ließ, war eine        durch Beispiele aus dem Menschenleben“.
Gefahr für sich selber und für andere. Auch hier mussten Eltern
und Pädagogen intervenieren, um Exzesse zu verhindern und           Abrichtung und Einfühlung Wie sanft und liebreich
für wohltemperierte emotionale Haushalte zu sorgen. Das             Schulen im 19. Jahrhundert die Gefühle und „Triebe“ ihrer
Ziel solcher Interventionen war der selbstgesteuerte Mensch,        Zöglinge tatsächlich lenkten, steht auf einem anderen Blatt.
der sich beobachtete, kontrollierte, kultivierte und dessen         In den Volksschulen beschränkte sich Herzensbildung im
Gefühlsvermögen den Prozess der Zivilisation unterstützte,          Wesentlichen darauf, den Jungen und Mädchen Pflichtbewusst-
anstatt ihn zu behindern.                                           sein und Gehorsam gegenüber der kirchlichen und staatlichen
    Wie die Herzensbildung genau aussehen und organisiert           Obrigkeit beizubringen. Gymnasien warteten zwar mit einem
werden sollte, war heiß umkämpft. Manche Pädagogen legten           differenzierteren moralischen und ästhetischen Curriculum auf.
großes Gewicht auf eine ästhetische Erziehung, die Gefühle des      Doch nicht nur Harry Graf Kessler erlebte seine Hamburger
Schönen und Erhabenen in der jugendlichen Seele verankern           Schulzeit in den 1880er-Jahren als „Abrichtung“: „Wir sollten
sollte. Eine frühe Hinführung zu Musik, Lyrik und bildender         eigentlich gar nicht Griechisch oder Latein lernen, sondern
Kunst schien dafür unverzichtbar. Andere warnten vor zu             arbeiten. Arbeiten um seiner selbst willen; man wollte uns
viel Schöngeistigem. Die Lektüre von Romanen galt ihnen             abrichten zu Arbeitstieren. Vom Ideal des humanen, die ganze
als gefährlich, für beide Geschlechter: Bei Frauen konnte           Menschheit und ihre Kultur in Kopf und Herz tragenden
sie zu übersteigerter Einbildungskraft und unerfüllbaren            Menschen, das die Goethezeit entflammt hatte, war nur
Wunschphantasien führen, die das wahre Leben nur enttäuschen        der ungeheure Fleiß übrig geblieben, der nötig war, um den
würde. Junge Männer vergäßen über den Romanen ihre                  unermesslichen Stoff aufzunehmen.“ Statt die „Seele sowohl nach
eigentliche Bestimmung in der Welt und bildeten zartbesaitete       ihrer Geistes- wie auch nach ihrer Gefühlsseite“ aufzuschließen,
Gemüter aus, die mit ihren handfesten Pflichten in Politik,         vermittelte die Schule nur noch Fertigkeiten und Einstellungen,
Wirtschaft und Gesellschaft schwer vereinbar seien. Zwar stand      die, wie Kessler schalt, „den Herren der neuen Zeit die für die
Empfindsamkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts           Mechanisierung der Wirtschaft benötigten unermüdlichen und
hoch im Kurs, und nicht nur Gotthold Ephraim Lessing hielt den      selbstzufriedenen Sklaven“ lieferten.
mitleidigen Menschen für den besten. Dennoch durfte man des             Wenig Herz und Humanität ließ der gymnasiale Bildungskanon
Guten nicht zu viel tun. Wem die Tränen allzu locker saßen, wer     auch dort erkennen, wo es um soziale Fragen ging. Für die
daraus geradezu einen Kult des authentischen Gefühls machte,        Sorgen, Nöte und Sehnsüchte unterbürgerlicher Schichten
der gab sich, wie Immanuel Kant kritisierte, der „Empfindeley“      hatte man kein Sensorium. Je mehr sich zudem nationale
hin. Gefragt war nicht bloß ein mitleidiges Herz, sondern           Belange und Orientierungen in den Vordergrund schoben, desto
Ute Frevert                                                        Humboldt 3                 Bildung –                       17/84
Herzensbildung                                                     Goethe-Institut 2012       zwischen Hirn und Herz

blasser wurde auch die kosmopolitische Botschaft der Weimarer
Dioskuren. Schillers emphatische Forderung und Prognose            Copyright:
einer weltumspannenden Brüderlichkeit rückte in weite Ferne.       Goethe-Institut e. V., Humboldt Redaktion
Obwohl die Welt mittels kolonialer Großprojekte spürbar            Dezember 2012
zusammenwuchs, war der imperiale Habitus nicht von Soli-
darität und Geschwisterliebe geprägt, sondern von sozialem,        Autorin:
zunehmend rassisch überformtem Überlegenheitsdünkel. Wer           Ute Frevert lehrte Neuere Geschichte in Berlin, Konstanz
den eigenen zivilisatorischen Standards nicht entsprach, erntete   und Bielefeld. Von 2003 bis 2007 war sie Professorin an der
Herablassung, Verachtung und, im Extremfall, Vernichtung.          Yale University, USA. Seit 2008 ist sie Direktorin am Berliner
    Wie schlecht es um die allgemeine Herzensbildung bestellt      Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, wo sie den For-
war, zeigte sich nicht nur während des wilhelminischen Zweiten     schungsbereich „Geschichte der Gefühle“ leitet. Ihre Forschungs-
Reichs, das sich bei der aggressiven Identifizierung innerer und   schwerpunkte sind unter anderem Sozial- und Kulturgeschichte
äußerer Feinde kaum überbieten ließ. Es zeigte sich noch viel      der Moderne, Geschlechtergeschichte, Neue Politikgeschichte
radikaler und rabiater in den Jahren des nationalsozialistischen   und Geschichte der Gefühle.
Dritten Reichs, das Feindschaft nicht nur politisch, sondern
auch und vor allem rassisch definierte. Mitleid, hieß es 1939 in
Meyers Lexikon, gelte lediglich für „Gemeinschaftsgenossen“;
nur mit denjenigen, die zur Volksgemeinschaft gehörten, könne
man miterleben und mitfühlen, und nur ihnen werde „tätige,
leidlindernde oder leidbehebende Hilfe“ zuteil. Das Leid derer,
die sich aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen sahen, zählte
nicht. Wer ihnen Mitgefühl bekundete oder gar half, machte sich
verdächtig und riskierte scharfe Sanktionen.
    Gerade diese Erfahrung, so steht zu vermuten, bewog
manche Zeitgenossen nach 1945, Herzensbildung als schulisches
Erziehungsziel ausdrücklich zu betonen. Der Vorschlag des
sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner,
dies in der Verfassung des Freistaates Bayern zu verankern,
wurde von der Verfassungsgebenden Versammlung einstim-
mig angenommen. Bis heute erlegt Paragraph 131 bayerischen
Schulen die Aufgabe auf, „nicht nur Wissen und Können [zu]
vermitteln, sondern auch Herz und Charakter [zu] bilden“.
„Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor
religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen,
Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortung-
sfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles
Wahre, Gute und Schöne.“ Außerdem seien Schüler „in der Liebe
zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne
der Völkerversöhnung zu erziehen“.

Modernes Empathietraining Der Streit der Pädagogen, ob
und wie solche Bildungsziele erreicht werden können, tobt nicht
weniger heftig als um 1800. Manche lehnen sie als arrogante
und naive Zumutung ab, andere bringen ein „Schatzbuch
der Herzensbildung“ heraus und übersetzen Letztere in die
managementtaugliche Sprache der „emotionalen Intelligenz“.
Während viele Politiker dabei vornehmlich an Werteerziehung
denken, experimentieren neuerdings immer mehr Schulen mit
Empathietraining – die seit Langem konkreteste und praktischste
Umsetzung der alten Idee, dass „allgemeine Menschenbildung“
nicht nur Körper und Geist, sondern auch das Herz und seine
Gefühle umfasst.
Humboldt 3                          Bildung –                18/84
Juan Antonio Flores Martos                                                     Goethe-Institut 2012                zwischen Hirn und Herz

                                  Turbulenzen
                               des Verlangens und
                                   der Emotion
                              Ethnografie der Affektkulturen in Veracruz:
                                   Vom Ritual zur Selbsthilfegruppe

                     Graffiti-Werk von Suso 33 für die Ausstellung „Esto no es Graffiti“ im CICUS (Zentrum für kulturelle Initiativen
                     der Universität von Sevilla). Foto: José Martos (Sevilla Creativa, estudio@sevillacreativa.com)

Die Hafenbewohner von Veracruz oder auch „Jarochos” sind                       Welt der Leidenschaften, der Gefühlsbetontheit und einem Hang
schon immer durch den Blick von außen charakterisiert wor-                     zum Exzess verankern. Die heitere und vergnügungsfreudige Art
den, bis hin zu einer sehr scharfen Abgrenzung stereotyper                     steht als Synonym und Identitätsattribut für die Hafenbewohner
Charakteristika innerhalb der Nationalkultur. Man erfand eine                  von Veracruz, sie ist Teil ihrer Selbstdarstellung und ihres
echte „Jarocho-Physiologie“, mit bestimmten körperlichen, emo-                 Stolzes. Daher war es für mich ziemlich überraschend und
tionalen und sexuellen Wesenszügen, die den Jarocho in der                     unerklärlich, dass meine Gewährsleute von Anfang an immer
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