Call for Papers AGES-Tagung in Saarbrücken, 4.-6. Juni 2020 "Empörung, Revolte, Emotion" (Einreichefrist 7. September 2019) ...
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Call for Papers AGES-Tagung in Saarbrücken, 4.-6. Juni 2020 „Empörung, Revolte, Emotion“ (Einreichefrist 7. September 2019) http://ages2020.sciencesconf.org 1. Allgemeines: Revolte, Empörung und Emotion in der neueren geisteswissenschaftlichen Forschung Seit einigen Jahren kommt die geisteswissenschaftliche Emotionsforschung wieder in Schwung : Neben den traditionellen, immer noch aktuellen Herangehensweisen der Kulturgeschichte, der Anthropologie, der praktischen Philosophie, der Psychologie, der literarischen Rezeptionstheorie und der Rhetorik haben sich neue Herangehensweisen entwickelt, die einerseits das Erbe der poststrukturalistischen Kulturforschung antreten, und sich andererseits auf die neuen Erkenntnisse der kognitiven Psychologie berufen, die unser Verständnis von Emotionen verändern. Für Massumi (1995) beispielsweise ist Affektforschung die Chiffre zu einer neuen allgemeinen Theorie der Semiotik und der gesellschaftlichen Kommunikation überhaupt. Wie umstritten die Parole nach der „emotionalen Wende“ der Geisteswissenschaften auch ist (s. Leys 2011 für eine grundlegende Kritik), sie hat dennoch zur Entstehung einer neuen Reihe von Forschungen über Gefühle und Emotionen wesentlich beigetragen (für einen Überblick, s. etwa Greco & Stenner 2008 oder Lemmings & Brooks 2014). Das Ziel der 2020er Tagung der AGES ist, die Relevanz der aktuellen Emotionsforschung für die Germanistik zu besprechen, und die verschiedenen vorhandenen Ansätze ins Gespräch zu bringen. Besonders berücksichtigt wird dabei eine bestimmte Emotion: die Empörung, als individueller und als kollektiver Affekt, als ein Gefühl aber auch als ein Ereignis, das im Phänomen der individuellen und kollektiven Revolte gipfeln kann. Empörung und Revolte wurden schon von den traditionellen Herangehensweisen der Emotionsforschung gründlich behandelt und eignen sich daher für den gewünschten Dialog gut. Das Spannungsverhältnis zwischen Behauptung und Zerstörung (bzw. Positivität und Negativität) bei Empörung und Revolte gibt zumindest Anlass zur Besprechung von zwei Grundthemen der Affekttheorie Massumi’scher Prägung : den komplexen Verbindungen zwischen persönlichen Werteurteilen und emotionaler Intensität, und dem Verhältnis zwischen Emotionen und der „Virtualität“, d.h. der Menge aufkeimender, emergierender und unvollkommener Entwicklungen, durch welche die Futurität in der Gegenwart verankert aber auch teilweise gefangen ist. Ersucht werden Beiträge aus historischer, geistesgeschichtlicher, literarischer und linguistischer Perspektive zu den Phänomenen Revolte - Empörung - Emotion im deutschsprachigen Raum. Unter den möglichen allgemeinen Themen für Beiträge und Panels befinden sich die Sozialgeschichte der Empörung, die kulturellen und diskursiven Aspekte von Revolte, die literarische Behandlung von Revolte, Empörung und benachbarten Emotionen, die Rhetorik der Empörung und die Rolle von Empörung und Emotionen in der Sprachtätigkeit selber. 2. Emotionen und Empörung als Gegenstand der Sprachwissenschaft 1
Einen ersten Zugang zur sprachwissenschaftlichen Studie des Themenkomplexes Revolte, Empörung, Emotion bietet die korpusbasierte Erforschung stark emotionsbeladener bzw. empörerischer Diskurse an. Welche sprachlichen Phänomene sind da zu erwarten? Erste Angaben sind aus den neueren Studien zum Ausdruck der expressiven Funktion der Sprache (Bühler 1934, Jakobson 1960) zu erwarten (s. etwa den Überblick in Schwarz-Friesel 2007 oder Micheli et al. 2013, und die Sammelbände von Paulin 2007, Gautier & Monneret 2011, Chauvin & Kauffer 2013, Gutzmann & Gärtner 2013, d’Avis & Finkbeiner 2019, Mackenzie & Alba-Juez 2019). Auf der lexikalisch-semantischen Ebene verdienten Framingstrategien sowie auch der Rückgriff auf Idiome eine besondere Aufmerksamkeit (zu letzterem Punkt, s. Schmale 2013). Auch der Begriff der Intensivierung dürfte hier in den Vordergrund rücken: welche morphologischen und ggf. syntaktischen Intensivierungsverfahren werden in emotionalen, empörerischen Diskurse angewendet? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Intensivierung und Tabubruch oder Registerwechsel, und wenn ja, wie laufen diese Wechselwirkungen? Aus gesprächslinguistischer Sicht rückt hier die multimodale Dimension der Sprachtätigkeit in den Vordergrund: welche Rolle spielen Gestik, Mimik und Prosodie in solchen Diskursen (Mondada 2016)? Gibt es etwa charakteristische Züge einer polemischen Prosodie im Deutschen? Auf einer sprachtheoretisch fundamentalen Ebene werfen solche Kontexte ebenfalls die Frage nach der Arbitrarität nicht-segmentaler Spracheinheiten auf: Vor allem Prosodie und Gestik werden aus laienlinguistischer Sicht oft mit Emotion in Verbindung gebracht. Gibt es solche zwischensprachlichen Regelmäßigkeiten im Zusammenspiel von Gestik, Prosodie und Emotion tatsächlich? Die interaktive Dimension empörerischer, emotionaler Diskurse soll auch in Betracht gezogen worden, sowohl in mündlichen als auch in schriftlichen Interaktionen: Wie laufen footing- und face-taking- Strategien in solchen konfliktbeladenen Kontexten (Brown & Levinson 1987)? Welche Regelmäßigkeiten treten in diesen Interaktionen zutage, die die Grice’schen Kooperationsmaximen (vor allem die „Modalitätsmaxime“) oft missachten? Diese Fragestellungen zu den Charakteristika empörerisch-emotionaler Diskurse führen wiederum zu klassischen Fragen der Pragmatik und vor allem der Sprechakttheorie: Sind solche Diskurse wirklich immer adressiert? Über die Adressiertheit der für empörerisch-emotionalen Diskurse typischen Exklamationsakten herrscht noch keinen Konsens (s. Danon-Boileau & Morel 1995, Krause & Ruge 2004, Larrory-Wunder 2004 und 2016, D’Avis 2016). Inwieweit wirken die Bühler’schen Ausdruck- und Appellfunktionen hier zusammen? In die Studie der sprachlichen Revolte und Empörung gehört auch das blühende Feld der Semantik und Pragmatik von Beleidigung und Schimpfworte einbezogen (Milner 1978, Blakemore 2015, Gutzmann & McCready 2016, Finkbeiner, Meibauer & Wiese 2016): Verlangen Schimpfworte nach einem Adressaten? Welchen semantischen Verfahren unterliegt eine Beleidigung oder ein Schimpfwort? Hat ein solches Wort noch eine deskriptive Bedeutung? Welche semantischen Merkmale der Grundbedeutung des Lexems werden selegiert, welche beiseitegelassen? Welche soziolinguistischen und sprachhistorischen Wege gehen Beleidigungen und Schimpfworte? (Neuland 2018). Ein letzter möglicher Ansatzpunkt wäre die zunehmende Auseinandersetzung der theoretischen, auch formalen Linguistik mit Expressivität und Emotion (Gutzmann & Gärtner 2013): welche formalen Logiken können die Semantik und Pragmatik der Empörung und der Emotion modellieren (Potts 2007, Gutzmann 2015)? Wie werden wahrheits- und gebrauchskonditionale Semantik hier miteinander artikuliert? 2
Sollen Emotionen über den Rückgriff auf dem Emphase-Begriff (Trotzke 2017) in die Informationsstruktur und somit auch in die Syntax des Deutschen eingebaut werden? 3. Emotionen und Geschichte Historiker haben relativ früh die emotionale Wende zur Kenntnis genommen: sie sind den Fragen „Haben Gefühle eine Geschichte? und machen Gefühle Geschichte?“ nachgegangen und stellten mit Lucien Febvre erneut fest, dass Gefühle ein wichtiger Forschungsgegenstand der Gesellschaftsgeschichte sind: Standardwerke zur Geschichte der Emotionen in Deutschland und Frankreich wurden jüngst veröffentlicht (Frevert – 2016, Corbin, Courtine, Vigarello – 2017). Im 20. und 21. Jahrhundert lassen sich im Übrigen oft Emotionen mit Empörung bzw. Revolte verbinden, man denke nur an das weltweit gelesene und rezipierte Pamphlet von Stéphane Hessel: „Empört Euch!“ (2010). Im Kontext der Historisierung der deutschen Geschichte artikulierten sich Tagungen und Werke um die DDR-Geschichte oder die 68er Revolution sowie linke Bewegungen oder auch um Krisenzeiten, Kalten Krieg (Miard-Delacroix, Wirsching – 2018), Kapitalismus (Illouz, Benger – 2017) und Kampf um Umweltschutz (Geschichte der ökologischen Bewegung). Unterschiedliche Herangehensweisen wurden bevorzugt: Diskursgeschichte, Geschichtspolitik, Didaktisierung in Museen oder an Schulen (Brauer 2016). Wesentliche Impulse kamen auch aus der Politikwissenschaft, so konnte der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts thematisiert werden (Aschmann – 2005) oder auch durch Medienwissenschaftler mit der doppelten Funktion der Medien, Kaptation und Beeinflussung (Bösch, Borutta – 2006). Erwartet werden auch hier Beiträge, die die Perspektive der „Regards croisés“ berücksichtigen. 4. Literaturwissenschaft: Empörung, Revolte, Emotion In der antiken Rhetorik gehören Emotionen zu den Wesensmerkmalen der Literatur. Sie wurde als Kunst aufgefasst, die durch sprachliche Mittel eine gewisse Macht auf Zuhörer- bzw. Leserschaft ausüben kann und soll (cf. die von der aristotelischen Tragödie auszulösenden Reaktion von eleos und phobos ). Den Leser und den Zuhörer zu „erschüttern“ (movere) gehört bekanntlich neben den anderen Funktionen des Belehrens (docere) und Unterhaltens (delectare) zu den Hauptaufgaben der antiken Redekunst. Die Literatur des Barocks stand diesem rhetorischen Modell noch nahe. Zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert wurde Literatur u.a. als Instrument der Seelenerkundung begriffen. In dieser psychologischen Auffassung der Literatur spielen Emotionen, Gefühle und Empfindungen eine große Rolle. Literarische Bewegungen des 18. Jahrhunderts wie die „Empfindsamkeit“, der „Sturm und Drang“ oder auch der Pietismus lassen sich sogar als Reaktionen auf das Modell der antiken Rhetorik im Bereich der Emotionen interpretieren: als „Gegenmodell emotionaler Kommunikation“, das „das erlebnisästhetische“ gegen das rhetorische ausspiele, indem sie behaupteten, „Emotionen können nicht nur nachgeahmt, sondern faktisch erlebt werden“ (Anz). Gerade gegen dieses rhetorische und psychologische, als traditionell wahrgenommene, Verständnis der Literatur lehnte sich die Literatur der Moderne auf. Die Revolte der modernen Kunst richtete sich gegen den Vorrang der Emotionen in der Literatur und befürwortete dagegen eine Kunst des sprachlichen Experiments, der Selbstreflexion und des Kalküls. Nun lässt sich seit den 2000 er Jahren eine Art Rückkehr zu den noch vor 3
kurzem verpönten Emotionen in der Literaturwissenschaft beobachten. Der Erfolg der amerikanischen Moralphilosophie (Nussbaum), die der Literatur und ihrer Art, Emotionen darzustellen und einzusetzen, einen Erkenntniswert beimisst, da bestimmte Konzepte der Ethik dadurch neu gedacht werden können, mag dazu beigetragen haben. Die Frage nach der Macht der Literatur, die von der der Affekte nicht zu trennen ist (Bouju / Gefen), steht im Mittelpunkt der aktuellen theoretischen Reflexionen der Literaturwissenschaft. Emotionen dienen der Neubeschreibung von Gattungen (Meyer-Sickendiek) dank dem Begriff des „emotionstypischen Schlüsselszenarios“; sie werden in der Erzähltheorie eingesetzt, Empathie bzw. Sympathie etwa gehören zu den wichtigen Begriffen in der Analyse der Figuren in fiktiven Erzählungen. Die inter- bzw. transmediale Wende mag ein weiterer Grund sein für das neu erweckte Interesse an Emotionen, so stark emotionalisierend Bild und Sound im Film sein können (Grau / Keil). Unter den neu berücksichtigten Affekten kommt Empörung, in der Doppelbedeutung des Wortes als „Entrüstung bzw. Indignation“ und „Aufstand“, an der Schnittstelle also zwischen „Emotion“ und „Handlung“, eine Schlüsselrolle zu. Sie lässt sich dem Zorn zuordnen, wobei zwischen „thumos“ und „nemesis“ unterschieden werden soll. Während „thumos“ Zorn als einen individuellen Affekt bezeichnet, verweist „nemesis“ auf eine „legitime Indignation“ (Boyer-Weinmann), die dem Anderen zugewandt ist und auf das Zusammenspiel von Individuum und Kollektivum hinweist. Zorn kann verschiedene literarische Formen und Textsorten in Anspruch nehmen, wie die Satire (Kraus, Tucholsky, Jelinek), der Sarkasmus (Bernhard), das Pamphlet, das Flugblatt (Büchner) oder das Manifest, die Brand- und Streitschrift, das Kampflied oder die Hymne (Heine, Brecht, Biermann). Empörung rückt also das Verhältnis von Literatur und Politik, die Fähigkeit der Literatur, „die Welt zu verändern“ (Marx), in den Vordergrund, wobei die Parallelisierung von politischer und literarischer Avantgarde immer wieder in Frage gestellt wird (Enzensberger). Dass Protest mit formalästhetischen Mitteln durchaus wirksam – und vielleicht mit größerer Schlagkraft als mit einer pathetischen, gefühlsbeladenen Sprache – ausgedrückt werden kann, gehört zu den brisantesten Erkenntnissen der modernen Literatur, zudem der Widerspruch bzw. die Diskrepanz zwischen empfundenen, nachgeahmten Emotionen und kontrolliertem Schreibakt der Literatur innewohnt. Die Lyrik der angry young men Thomas Brasch oder Rolf Dieter Brinkmann, das Theater des jungen Handke lassen sich nicht unbedingt mit dem Stichwort „Emotion“ beschreiben, aber sie provozieren und skandalisieren, rufen Empörung bei der Leserschaft hervor und werden als eine Form von Gewalt wahrgenommen (s. den Film Brinkmanns Zorn von Harald Bergmann). Auf welcher Seite des Schreibakts steht also Zorn? Fungiert Zorn bzw. Empörung bei manchen Schriftstellern als Triebkraft des Schreibens? Wenn Zorn ein historischer Affekt ist, wie Michelet im Hinblick auf die Französische Revolution behauptete, was ist der Affekt der Literatur nach der geschichtlichen Katastrophe der Judenvernichtung? Kann Empörung neben der Melancholie mit den Texten Sebalds oder Celans in Verbindung gebracht werden, wie über Primo Levi oder Chalamov geschrieben wurde (Boyer-Weinmann)? Ist literarische Empörung männlich codiert, wobei Jelineks Schriften als prominente Ausnahmen firmieren würden? Einreichefrist: 7. September 2019 Bitte Vorschläge schicken an: ages2020(AT)sciencesconf.org Format: Arbeitstitel und Problemstellung (ca. 300 Wörter) 4
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