CARS Working Papers # 001 - Kritik des Antisemitismus heute Stephan Grigat 2022

 
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CARS Working Papers # 001 - Kritik des Antisemitismus heute Stephan Grigat 2022
CARS
Working Papers

# 001

                 Kritik des
                 Antisemitismus
                 heute

                 Stephan Grigat

                 2022
Abstract                                                 Der Autor
Ausgehend von Grundüberlegungen zu einer                 Stephan Grigat ist seit März 2022 Professor für
Kritischen Theorie des Antisemitismus werden             Theorien und Kritik des Antisemitismus an der
Unterschiede von Rassismus und Antisemitismus            Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen
skizziert, Gegenkonzepte zu antisemitischen Re-          und Co-Leiter des Centrums für Antisemitismus-
aktionsweisen diskutiert und Ausprägungen des            und Rassismusstudien (CARS) in Aachen. Grigat
Antisemitismus in der politischen Rechten und            ist zudem Research Fellow am Herzl Institute for
Linken beschrieben. Vor diesem Hintergrund               the Study of Zionism der Universität Haifa und
werden zentrale Varianten des Antizionismus als          am London Center for the Study of Contempo-
geopolitische Reproduktion des Antisemitismus            rary Antisemitism. Er ist u.a. Autor von Die Ein-
analysiert und in ihrer Genese in der Zeit vor der       samkeit Israels. Zionismus, die israelische Linke
israelischen Staatsgründung dargestellt. Der isla-       und die iranische Bedrohung (2014) und Heraus-
mische Antisemitismus wird überblicksartig hin-          geber von AfD & FPÖ. Antisemitismus, völkischer
sichtlich historischer und gegenwärtiger islamis-        Nationalismus und Geschlechterbilder (2017) so-
tischer Akteure wie der Muslimbruderschaft und           wie von Iran - Israel – Deutschland: Antisemitis-
des „Islamischen Staates“ untersucht, um davon           mus, Außenhandel & Atomprogramm (2017).
ausgehend den aktuellen Antisemitismus des
iranischen Regimes anhand der Reaktionen der
Führung in Teheran auf die Covid 19-Pandemie
zu illustrieren. Die durch das iranische Regime
geschaffene, aus der Kombination eines elimina-
torischen Antizionismus mit dem Streben nach
der Technologie der Massenvernichtung resul-
tierende spezifische Bedrohungssituation wird
als eine zentrale Herausforderung für eine prak-
tische Kritik des Antisemitismus ausgewiesen,
um abschließend eine Antisemitismusforschung
einzufordern, die jegliche Ausprägung des glo-
balen Antisemitismus umfasst und in der Lage
ist, eine Gewichtung der Gefahren vorzunehmen,
die von den jeweiligen antisemitischen Akteuren
in aktuellen politischen Konstellationen ausge-
hen.

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Kritik des Antisemitismus heute
Zur kritischen Theorie antijüdischer Projektionen, der
Persistenz des Antizionismus und der aktuellen Gefahr
des islamischen Antisemitismus1
Von Stephan Grigat
                                                           der zur Entschuldigung der Antisemiten noch der
Ideologiekritische Vorbemerkung                            Gesellschaft taugt (vgl. Scheit 2004: 14). Auch in
                                                           einer die Entfaltungs- und Entscheidungsmög-
Die akademische Beschäftigung mit Antisemitis-             lichkeiten der Individuen beschränkenden Ge-
mus kann keine interesselose sein, sondern die             sellschaft sind Subjekte, die sich für Hass und Ge-
Beschäftigung mit dem Gegenstand impliziert                walt gegenüber Juden, jüdischen Institutionen
notwendigerweise dessen Verurteilung. Einer                oder dem jüdischen Staat entscheiden, für ihre
Kritik des Antisemitismus muss es um die Verun-            Entscheidungen zur Verantwortung zu ziehen.
möglichung des Antisemitismus und um seine                 In einigen Richtungen der akademisch etablier-
ideologiekritische Dechiffrierung gehen. Jede              ten Forschung wird suggeriert, Antisemitismus
noch so treffende Rekonstruktion des Bewusst-              resultiere aus Unkenntnis über Juden, das Juden-
seins der Antisemiten, und jede noch so detail-            tum oder den jüdischen Staat. Auch viele politi-
lierte Nacherzählung der Geschichte des Antise-            sche Programme zur Bekämpfung des Antisemi-
mitismus, steht letztlich staunend vor dem pro-            tismus beruhen auf dieser Annahme und kon-
jektiven Wahn des Judenhasses, dem es prak-                zentrieren sich dementsprechend auf das Sicht-
tisch gilt entgegenzutreten. Um es mit den Wor-            barmachen jüdischen Lebens in Deutschland.
ten von Maximilian Gottschlich zu sagen, der               Doch wäre die zentrale Ursache für Antisemitis-
auch ein „Plädoyer für eine neue christliche Soli-         mus tatsächlich Unkenntnis, wäre alles halb so
darität mit dem Judentum“ vorgelegt hat, die               schlimm und es wäre vergleichsweise einfach, et-
sich in der praktischen Bekämpfung des Juden-              was dagegen zu setzen, beispielsweise durch Be-
hasses zu erweisen habe (2015: 13): „In Wahrheit           gegnungsprogramme von jüdischen und nicht-
gibt es letztlich nur ein einziges tragendes Motiv,        jüdischen Jugendlichen, Tagen der offenen Sy-
sich mit Antisemitismus zu beschäftigen: ihm Wi-           nagoge und Informationsreisen nach Israel.
derstand entgegenzusetzen.“ (2012: 9) Und doch             Selbstverständlich spricht alles dafür, genau das
sind sowohl die ideologiekritische Rekonstruk-             auch zu praktizieren, auch in stärkerem Ausmaß
tion des antisemitischen Bewusstseins als auch             als bisher, aber man muss dabei im Bewusstsein
die präzise historische Darstellung der Modifika-          behalten, dass so der Antisemitismus nicht aus
tionen des Antisemitismus zwingend erforderlich            der Welt zu schaffen ist, da es sich bei ihm um
– allein schon um sich bei seiner Bekämpfung               eine umfassende, wahnhaft-projektive Weltsicht
keinen Illusionen hinzugeben, die Grenzen der              handelt.
theoretischen Kritik auszuloten und die Notwen-            Anstatt Antisemitismus als simples Vorurteil zu
digkeit der praktischen Gegenwehr zu verdeutli-            verharmlosen, über das man allein durch bessere
chen.                                                      Information aufklären könne, sollte er als eine
Es ist die Aufgabe einer jeden Antisemitismuskri-          Kritik an der „antisemitischen Gesellschaft“ im
tik, den Zusammenhang zwischen den Antisemi-               Sinne von Theodor W. Adornos und Max Hork-
ten und der Gesellschaft, die sie hervorbringt,            heimers Dialektik der Aufklärung dechiffriert
sichtbar zu machen. Zugleich gilt es jedoch zu             werden (1997: 225). Der Hass auf Juden und das
verdeutlichen, dass dieser Zusammenhang we-                Judentum existiert zwar seit Jahrtausenden (vgl.

1 Das Paper basiert auf dem Vortrag „Kritik des Antisemitismus“, der am 7.12.2020 bei der Eröffnung des Centrums
  für Antisemitismus- und Rassismusstudien an der Katholischen Hochschule NRW in Aachen online gehalten wurde.

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Nirenberg 2017), aber Antisemitismus ist keine            nomischer Prozesse, die in den Juden biologi-
anthropologische Konstante, sondern eine je un-           siert wird. Das Nicht-Greifbare wird so versucht
terschiedliche, wahnhaft-projektive Reaktion auf          dingfest zu machen (vgl. Salzborn 2010: 157-
die jeweils historisch bestehenden Gesellschaf-           168). Am deutlichsten wurde das bei der im Na-
ten (vgl. Enderwitz 2018). Eine entfaltete Kritik         tionalsozialismus vorgenommenen Trennung in
des Antisemitismus muss in Abgrenzung zu ei-              deutsches „schaffendes Kapital” und jüdisches
nem traditionellen Theorieverständnis sich stets          „raffendes Kapital”. Die Grundlage dieser Tren-
dem Anspruch verpflichtet fühlen, ein, wie Hork-          nung ist aber keine Erfindung der nationalsozia-
heimer es früh für eine allgemeine kritische The-         listischen Ideologie, sondern die tendenziell al-
orie der Gesellschaft formuliert hat, „einziges           len Subjekten geläufige Unterscheidung in Ar-
entfaltetes Existentialurteil zu sein“ (1995: 244).       beitsplätze schaffende, verantwortungsbewusste
In diesem Verständnis ist der Antisemitismus des          Industriekapitalisten einerseits und das unpro-
19., 20. und 21. Jahrhunderts die antiemanzipa-           duktive Kapital der Zirkulationssphäre anderer-
torische Ideologie schlechthin: In ihm bündelt            seits. Die Unbegriffenheit der globalen Kapital-
sich der Hass auf Aufklärung, Selbstreflexion und         verwertung und die ressentimenthafte Kritik an
Freiheit.                                                 ihren Erscheinungsformen, sowie eine in zahlrei-
Der moderne Antisemitismus ist wesentlich eine            chen politischen Lagern anzutreffende ideologi-
Reaktionsweise auf eine nicht begriffene, feti-           sche Herangehensweise, in der die Ökonomie in
schistische, sich selbst mystifizierende Gesell-          eine konkretistisch verklärte produktive einer-
schaft (vgl. Postone 2005: 175-194). Der Drang            seits und eine moralisch zu attackierende speku-
zur wahnhaften Konkretisierung der Abstraktion            lative andererseits aufgespalten wird, führt mit
ist eines der maßgeblichen Elemente des Antise-           einer gewissen Notwendigkeit zu einer ressenti-
mitismus und der modernen Gesellschaft mit ih-            menthaften Konkretisierung des als bedrohlich
rer zunehmenden Ablöse von unmittelbaren und              Empfundenen, das aus den unterschiedlichen re-
persönlichen Herrschaftsverhältnissen durch               ligiösen Traditionen heraus und in je historischen
sachlich vermittelte inhärent (vgl. Scheit 2004:          Kontexten mit Juden identifiziert wird. Allein
246-254). Der Antisemitismus ist eine regressive          schon dieser zentrale Aspekt des projektiven
Revolte gegen das globale Prinzip subjektloser            Wahns des Antisemitismus macht deutlich, dass
Herrschaft, durch das sich Menschen ‚anonymen             die antisemitische ideologische Welterklärung
Mächten‘ ausgesetzt sehen, und gegen die als              nicht einfach mit anderen Formen von „Men-
Zumutung und Bedrohung empfundene Abs-                    schenfeindlichkeit“ oder Diskriminierungen auf
traktheit von Ökonomie und Politik. So verstan-           eine Stufe gestellt werden kann.
den ist der Antisemitismus eine Basisideologie
der modernen Gesellschaften, die ihre eigene              Rassismus- und Antisemitismuskritik
Negation – im positiven wie im negativen Sinne
– hervorbringen.                                          Eine Kritik des Antisemitismus muss zeigen, dass
Die in der Kritik der politischen Ökonomie des            er nicht einfach ein gegen Juden gerichteter Ras-
19. Jahrhunderts entwickelte Kritik des Fetischis-        sismus ist. Es geht hierbei nicht darum zu be-
mus und Mystizismus der modernen Gesellschaft             haupten, der Antisemitismus müsse mehr be-
ist von entscheidender Bedeutung für die Kritik           kämpft werden als der Rassismus, sondern da-
dieser ideologischen Weltbetrachtung und lie-             rum, sich die unterschiedliche Funktionsweise
fert die Grundlage für eine Kritische Theorie des         von Rassismus und Antisemitismus zu vergegen-
Antisemitismus: Die Begriffsschärfe der entfalte-         wärtigen, um sie jeweils besser bekämpfen zu
ten Kritik der politischen Ökonomie ist notwen-           können. So sehr Rassismus und Antisemitismus
dig, um das Umschlagen einer Ökonomiekritik in            auch zusammenhängen und miteinander korres-
ein verfolgendes Ressentiment zu verunmögli-              pondieren, existiert doch ein fundamentaler Un-
chen oder zumindest entscheidend zu erschwe-              terschied: Es ist allein der Antisemitismus, der als
ren (vgl. Grigat 2007: 273-281).                          allumfassende Welterklärung auftritt und eine
Ein zentrales Moment des modernen Antisemi-               existentielle Feinderklärung vornimmt (vgl. Rens-
tismus ist der Hass auf die abstrakte Seite öko-          mann 1999: 195). Etwas schematisch lässt sich

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der zentrale Unterschied wie folgt auf den Punkt             der Rassifizierten. Zu denken wäre hier an die
bringen: Die Abgrenzung gegen die ‚Minderwer-                Vorstellungen von angeblicher sexueller Omni-
tigen’ findet im Rassismus seinen Ausdruck. Ge-              potenz, die allerdings an der Einschätzung der
gen die ‚Überwertigen’ richtet sich der Antisemi-            Opfer des Rassismus als Unterwertige nichts än-
tismus. Den Opfern des Rassismus wird nicht ihre             dert und die Reduzierung der Rassifizierten auf
Überlegenheit, sondern ihre Unterlegenheit vor-              die erste Natur nur mehr um eine weitere Facette
geworfen (vgl. Bruhn 2019: 89-124). Der Rassis-              ergänzt. Außerdem lassen sich auch hier wichtige
mus biologisiert historisch und aktuell real exis-           Unterschiede zwischen antisemitischen und ras-
tierende Produktivitätsgefälle; er wendet sich ge-           sistischen Zuschreibungen aufzeigen. „Schwar-
gen die Ohnmacht der Rassifizierten.2 Die Anti-              ze“ imaginiert sich das rassistische Bewusstsein
semiten wissen insgeheim um die zumindest bis                in der Regel als muskelbepackte Omnipotente.
zur Gründung Israels existierende Schutzlosig-               Häufig kommt dazu noch das Bild vom „schwar-
keit der Juden, was ihnen ein jederzeitiges Los-             zen“ Vergewaltiger. Der Jude hingegen fungiert
schlagen gegen sie ermöglicht. Dennoch imagi-                in der klassischen antisemitischen Projektion
nieren sie ihre prospektiven Opfer im klaren Ge-             nicht als Vergewaltiger, sondern als Verführer, als
gensatz zu den Opfern des Rassismus gerade                   hinterhältiger Verderber, der seine Opfer nicht,
nicht als ohnmächtig, sondern als allmächtig. Als            wie der rassifizierte Schwarze, durch physische
Verkörperung der Abstraktheit beherrschen Ju-                Gewalt oder äußerliche Reize ins Elend stürzt,
den in den Augen der Antisemiten die ganze                   sondern durch eine Art emotionaler und psychi-
Welt, wozu die Opfer des Rassismus im Bewusst-               scher Heimtücke oder durch Geld. Das entspre-
sein der Rassisten gar nicht in der Lage wären.              chende Bild ist nicht das vom naturverbundenen,
Anders formuliert: kein Mensch fantasiert von ei-            wohlgeformten jungen Kerl, sondern jenes vom
ner „afrikanischen Weltverschwörung“.                        alten, gekrümmten geilen Bock (vgl. Ja-
In beiden Fällen, beim Rassismus wie beim Anti-              coby/Lwanga 1990).
semitismus, handelt es sich um fetischistische               Die Besonderheit des Antisemitismus resultiert in
Reflexionen moderner Gesellschaftlichkeit, und               erster Linie aus dem unterstellten spezifischen
in beiden Fällen, beim Rassismus wie beim Anti-              Umgang mit Geld und Geist, woraus für Antise-
semitismus, handelt es sich um Bedrohungssze-                miten die besondere Gefährlichkeit der Juden
narien, die sich die Subjekte halluzinieren. Die Art         folgt. Auf Grund ihrer besonderen Bedrohlich-
der Bedrohung, die halluziniert wird, ist aber               keit, die nicht aus ihrer Quantität, sondern ihrer
doch entscheidend anders: Antisemiten imagi-                 unterstellten Qualität resultiert, sind sie es, die
nieren sich ihre Vernichtung durch den überle-               als „Gegenrasse, als negative[s] Prinzip als sol-
genen Geist, die ‚Herren des Geldes’ oder die als            ches“ (Adorno/Horkheimer 1997: 192) ins Visier
illegitim begriffene jüdische Staatlichkeit. Dieser          genommen werden. Aus dieser halluzinierten
imaginierten Bedrohung gedenken sie durch die                Bedrohung resultiert eine spezifische Verfol-
Vernichtung der personifizierten beziehungs-                 gungspraxis, die – in der ‚Logik‘ des Antisemitis-
weise zur politischen Souveränität gelangten                 mus nur konsequent – aufs Ganze geht. Am
Abstraktheit in Gestalt der Juden beziehungs-                deutlichsten wurde das im Nationalsozialismus,
weise des jüdischen Staates zuvorzukommen.                   in dem sowohl der Antisemitismus als auch der
Dabei muss hervorgehoben werden, dass es sich                Rassismus zu millionenfachem Massenmord ge-
hierbei zunächst nur um eine idealtypische be-               führt haben. Während es hinsichtlich der jüdi-
griffliche Bestimmung von Rassismus handelt.                 schen „Gegenrasse“ jedoch um totale Vernich-
Natürlich finden sich im rassistischen Bewusst-              tung ging, war im Fall des antislawischen Rassis-
sein auch Phantasien von einer Allmächtigkeit                mus im Nationalsozialismus nach dem millionen-

2 In der Kritik des Rassismus wäre es dringend geboten, sich gegen rein identitätspolitische Ansätze wieder stärker
  auf materialistische Theorietraditionen zu besinnen, die in einigen aktuellen Arbeiten erneut stark gemacht werden
  (vgl. Marz 2017b; Egger 2019; Marz 2020). Vor dem Hintergrund einer Kritischen Theorie des Rassismus wäre dann
  auch das Verhältnis beispielsweise von Antiziganismus und Antisemitismus zu bestimmen (vgl. Grigat 2007: 312f.;
  Scholz 2009, Böttcher 2016).

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fachen Mord, der insbesondere im Zuge des Ver-               macht werden kann. Im Antisemitismus „bleiben
nichtungskrieges im Osten begangen wurde, die                alle Ambivalenzen der modernen bürgerlichen
partielle Beherrschung der „rassisch Minderwer-              Gesellschaft kognitiv nicht nur unverstanden und
tigen“ ins Auge gefasst – was allein dadurch                 unreflektiert, sondern affektiv auch der emotio-
möglich wurde, dass in den Augen der Rassisten               nalen Bearbeitung vorenthalten, da Gefühle abs-
„die Slawen“ oder „die Afrikaner“ zu jener unter-            trahiert werden und damit die ambivalente Zer-
stellten spezifisch jüdischen Handhabung von                 rissenheit des modernen Subjekts nicht ertragen
Geld und Geist gar nicht fähig sind.                         wird.“ (Salzborn 2015: 159)
                                                             Ein Mittel zur Bekämpfung der antisemitischen
Erziehung zu Mündigkeit und Adornos kate-                    Reaktionsweise wäre die massenhafte Herausbil-
gorischer Imperativ                                          dung selbstreflexiver Individuen, die lernen, in ei-
                                                             ner mündigen und verantwortlichen Art und
Zum Wesen des Antisemitismus gehört es, Juden                Weise mit diesen sowohl individuellen als auch
in eine ausweglose Situation zu versetzen. Dem               gesellschaftlichen Ambivalenzen, Widersprü-
reichen Juden wird sein Erfolg angekreidet, der              chen und Krisenerscheinungen umzugehen.
arme als Schnorrer verachtet. Der Assimilant er-             Doch in der Kritik des Antisemitismus muss man
scheint als heimtückischer Zersetzer des Volks-              sich stets über die „Grenzen der Aufklärung“ be-
körpers, der Traditionsbewusste als anpassungs-              wusst bleiben, eine Formulierung, die nicht zu-
unfähiger Sonderling. Der sexuell Aktive gilt als            fällig als Untertitel für Adornos und Horkheimers
Verderber und Verführer der Jugend, der Ent-                 berühmten Text Elemente des Antisemitismus in
haltsame als impotenter Schwächling. Was auch                der Dialektik der Aufklärung gewählt (1997: 192)
immer Juden tun, sie liefern den Antisemiten                 und später unter anderem von Detlev Claussen
stets nur neues Material zur Illustration ihres              aufgegriffen wurde (2005). Wo immer es verwirk-
Wahns. Passt ein Verhalten einmal nicht in die               lichbar ist, gilt es, gesellschaftliche Verhältnisse
projektive Bilderwelt des Antisemiten, wird es               herbeizuführen, die ein Mindestmaß an Selbstre-
gerade dadurch integriert, dass in solch einem               flexion und zu Erfahrung fähiger Mündigkeit auf-
unerwarteten Agieren eine besondere Perfidie                 rechterhalten (vgl. Adorno 1971). Es ginge da-
zwecks Verschleierung der wahren Absichten                   rum, zumindest die Möglichkeit zu bewahren,
vermutet wird.                                               den antisemitischen Wahn aufzubrechen, die
Eine Kritik des Antisemitismus im Sinne der Kriti-           Antisemiten vor sich selbst erschrecken zu las-
schen Theorie beschäftigt sich dementsprechend               sen, zur Selbstbesinnung anzuhalten und bes-
vorrangig nicht mit den Objekten, sondern den                tenfalls zur Selbstkritik anzustiften. Das Problem
Subjekten des Antisemitismus; also nicht mit Ju-             ist jedoch, dass die modernen Formen der Ver-
den, dem Judentum oder dem jüdischen Staat,                  gesellschaftung die Möglichkeiten der Heraus-
sondern mit den psychischen Bedürfnissen und                 bildung einer selbstreflexiven, mündigen Indivi-
den mal bewussten, mal unbewussten Motiven                   dualität einerseits schaffen und andererseits sa-
der Judenhasser.3 Antisemiten bekämpfen in ei-               botieren. Sich über die „Grenzen der Aufklärung“
ner wahnhaften Projektion im ‚jüdischen Prinzip’             bewusst zu sein bedeutet: wo das nicht geht, gilt
und seinen vermeintlichen Verkörperungen ge-                 es, die Antisemiten mit allen zur Verfügung ste-
sellschaftliche und individuelle Ambivalenzen,               henden Mitteln an der Umsetzung ihrer letztlich
Widersprüche und Krisenerscheinungen, was als                massenmörderischen Ziele zu hindern. Schon
wesentliches Element in den unterschiedlichen                Adorno verwies darauf, dass es gegen manifes-
Äußerungsformen des Antisemitismus ausge-                    ten Antisemitismus stets gelte, die „zur Verfü-

3 Unabhängig von dieser Wendung aufs Subjekt bleibt es notwendig, darauf zu reflektieren, inwiefern Besonder-
  heiten der jüdischen Religion Juden, das Judentum und in späterer Folge auch den jüdischen Staat für den Hass
  von Menschen prädisponieren, die sich von Vermittlung, Vernunft, Intellektualität und Zweifel bedroht fühlen.
  Insofern spielen die Unterschiede zwischen den Religionen bezüglich ihres jeweiligen Verhältnisses zu Vermitt-
  lung, Vernunft etc. eine zentrale Rolle, wenn es um die Untersuchung der sehr spezifischen religiösen Traditionen
  des Antisemitismus geht.

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gung stehenden Machtmittel ohne Sentimenta-               zielt Adorno in seiner Negativen Dialektik, wenn
lität“ anzuwenden (1997b: 364). Das gilt im nati-         er schreibt, dass es darum geht, „im Stande der
onalstaatlichen Rahmen ebenso wie in der Aus-             Unfreiheit“ alles „Denken und Handeln so einzu-
einandersetzung mit antisemitischen Akteuren in           richten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole,
der internationalen Politik – und letzteres müsste        nichts Ähnliches geschehe.“ (1997c: 358) Das ist
in der gegenwärtigen Kritik des Antisemitismus,           nach Adorno der neue kategorische Imperativ
sowohl in seiner praktischen Bekämpfung als               nach dem Nationalsozialismus. Bei diesem wäre
auch bei seiner akademischen Durchdringung,               allerdings stets zu konkretisieren, was das in der
sehr viel stärker in den Vordergrund treten.              jeweils aktuellen politischen Konstellation be-
Gegen die antisemitische Agitation, die notwen-           deutet. Ansonsten droht selbst noch dieser Im-
dig ist, um das verfolgende Bewusstsein hervor-           perativ zur rhetorischen Spielmarke eines in
zubringen oder am Leben zu erhalten, ist man              Deutschland mittlerweile weit verbreiteten fol-
keineswegs machtlos. Der Antisemitismus kann              genlosen Gedenkens an die Vergangenheit zu
letztlich nur durch die Aufhebung seiner gesell-          verkommen.
schaftlichen Gründe zum Verschwinden ge-
bracht werden. Ein „Ende des Antisemitismus“,             Antisemitismus in der Rechten und Linken
wie es 2018 auf einer großen internationalen
Konferenz an der Universität Wien halb verkün-            Dass Antisemitismus heute keineswegs allein ein
det, halb eingefordert wurde, würde letztlich be-         Problem bei Parteien am äußersten rechten poli-
deuten, eine befreite Gesellschaft zu konstituie-         tischen Spektrum darstellt, wurde in den letzten
ren, in der jeder ohne Angst und Zwang verschie-          Jahren immer wieder herausgearbeitet, nicht nur
den sein könnte: „die Verwirklichung des Allge-           für die deutschsprachigen Länder (vgl. Reiter
meinen in der Versöhnung der Differenzen“ (A-             2001; Haury 2002; Späti 2006; Kraushaar 2007;
dorno 1997a: 116). Gegen die antisemitische               Kloke 2020), sondern beispielsweise auch für den
Agitation und Praxis existieren aber auch in der          anglosächsischen Raum (vgl. Shindler 2012;
heute bestehenden Gesellschaft gewisse Instru-            Arnold 2016; Rich 2016, Fine/Spencer 2016; Hirsh
mente. Jede Aktion, sei sie politisch, polizeilich,       2018). Als historisch entscheidender Protagonist
juristisch oder auch militärisch, die unmittelbar         des offenen Antisemitismus hat die Rechte in die-
auf die Verhinderung antisemitischer Praxis und           ser Hinsicht dennoch weiterhin besondere Auf-
Propaganda gerichtet ist, zeigt, dass es durchaus         merksamkeit verdient. Im klassischen Rechtsext-
effektive Mittel gibt, um sich gegen Antisemitis-         remismus sowie im neonazistischen und rechts-
mus zur Wehr zu setzen. Aus der Welt schaffen             terroristischen Milieu spielt offen artikulierter
kann diese dringend notwendige Gegenwehr                  Antisemitismus weiterhin eine zentrale und in-
den Antisemitismus allerdings nicht.                      tegrierende Rolle (vgl. Botsch/Kopke 2016;
In dieser Gleichzeitigkeit der Notwendigkeit ei-          Quent/Rathje 2019; Botsch 2019a; Botsch 2019b;
ner allgemeinen Kritik an gesellschaftlichen Ver-         Salzborn 2020b). Und es wäre fatal, bei der Lin-
hältnissen, die Antisemitismus und Rassismus              ken richtigerweise immer wieder auch implizit,
immer wieder hervorbringen, und der Notwehr               sekundär und strukturell antisemitische Argu-
gegen unmittelbare Bedrohungen, drückt sich               mentationen ins Visier zu nehmen, bei der poli-
das Spannungsverhältnis zwischen universalisti-           tischen Rechten jenseits des klassischen Konser-
schen und zwangsweise partikularen Formen der             vativismus aber Entwarnung zu geben, nur weil
Emanzipation aus: Ein universalistischer Ansatz           sich dort abseits der offen neonazistischen Grup-
erinnert uns an die Notwendigkeit allgemeiner             pierungen und Parteien mittlerweile nur mehr in
Emanzipation, allein schon, um zumindest die              Ausnahmefällen offen judenfeindliche Äußerun-
Denkmöglichkeit festzuhalten, dem Antisemitis-            gen finden lassen. So wie bei der Linken muss
mus und Rassismus perspektivisch tatsächlich              auch bei Parteien wie der AfD, der FPÖ und ver-
ein „Ende“ zu setzen. Gleichzeitig gilt es aber,          gleichbaren politischen Formationen gefragt
sich der Notwendigkeit bewusst zu bleiben, im             werden, wie sie unabhängig von offen artikulier-
hier und jetzt Antisemitismus und Rassismus               tem Judenhass mit ihrer Ideologie und ihren po-
ganz konkret entgegenzutreten. Genau darauf               litischen Verlautbarungen eine antisemitische

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Sicht auf die Welt befördern. Zu betrachten wäre           rechtspopulistischen Propaganda nicht nur der
hier neben dem insbesondere für die FPÖ cha-               AfD und der FPÖ, sondern weltweit als eine Art
rakteristischen Geraune über „raffgierige Bank-            neuer Rothschild herhalten muss, sowie die Ta-
manager“, das „internationale Spekulantentum“              xierung der vermeintlichen Drahtzieher des „gro-
und die „Zocker von der Ostküste“ (vgl. Schiedel           ßen Austauschs“ (zu dessen Planung und Orga-
2017: 111) insbesondere die aggressive Abwehr              nisation die rassifizierten Migranten im antisemi-
der Vergangenheit und die geschichtsrevisionis-            tischen und rassistischen Bewusstseins selbst gar
tischen Vorstöße, wie sie sich in den letzten Jah-         nicht in der Lage wären), liefern Paradebeispiele
ren insbesondere bei Funktionsträgern, Mitglie-            für den oben thematisierten Hass auf das vaga-
dern und in der Anhängerschaft der bis zu den              bundierende, vermeintlich volkszersetzende Fi-
Bundestagswahlen 2021 größten deutschen Op-                nanzkapital der Zirkulationssphäre.
positionspartei zeigen.                                    Letztere wird auch in Teilen der Linken und ins-
Das in der AfD nahezu strömungsübergreifend                besondere in einigen Fraktionen der Antiglobali-
gängige Anprangern von einem vermeintlichen                sierungsbewegung ausgehend von einem nicht
„Schuldkult“, das sich auch in zahlreichen pro-            in der Kritik der politischen Ökonomie, sondern
grammatischen         Schriften     findet     (vgl.       in einer ressentimenthaften Personalisierung
Grimm/Kahmann 2017), zeigt die AfD als einen               gründendem Antikapitalismus ins Visier genom-
aktuell entscheidenden Protagonisten eines                 men, der zumindest strukturelle Ähnlichkeiten
Schuldabwehr-Antisemitismus, für dessen Ana-               zum antisemitischen Weltbild aufweist (vgl.
lyse sich die Schriften der klassischen Kritischen         Knothe 2009). Zur Kritik an dieser ressentiment-
Theorie auch heute noch als ausgesprochen                  geladenen Aufspaltung der Ökonomie bietet
fruchtbar erweisen – nicht nur, wie Lars Rens-             sich abermals ein Rückgriff auf Adorno und
mann zuletzt gezeigt hat (2017), im deutschen              Horkheimer an, die bereits in ihren Elementen
Kontext. Allein die Aussage einer strömungs-               des Antisemitismus darauf verwiesen haben, in-
übergreifenden parteiinternen Integrationsfigur            wiefern die „Verantwortlichkeit der Zirkulations-
wie Alexander Gauland, er wolle auf die deut-              sphäre für die Ausbeutung gesellschaftlich not-
schen Soldaten im Zweiten Weltkrieg stolz sein             wendiger Schein“ (1997: 198) ist und die antise-
dürfen (vgl. Salzborn 2020a: 25), also auf jene            mitisch-projektive Sicht auf die moderne Gesell-
Wehrmachtssoldaten, die den rassistischen Ver-             schaft befördert.
nichtungskrieg geführt haben und auch für die              Hannah Arendt wusste schon in den 1950er-Jah-
Massenvernichtung der europäischen Juden un-               ren, dass es sich bei der Annahme, Antisemitis-
abdingbar waren, wirft ein Schlaglicht auf den             mus sei ausschließlich ein Phänomen der politi-
politischen Charakter dieser Partei. In ihrer Au-          schen Rechten, um ein hartnäckiges Vorurteil
ßendarstellung versuchen Teile der AfD sich als            handelt (vgl. 1986: 91). Wenn von einem spezi-
antisemitismuskritisch darzustellen, obwohl Pro-           fisch linken Antisemitismus die Rede ist, der
tagonisten der sich selbst als „Neue Rechte“ be-           durch seine politische Wirkung erheblichen Ein-
greifenden Formationen die Partei immer stärker            fluss auf den gesellschaftlichen Mainstream ha-
prägen. Eines der Hauptcharakteristika dieser              ben kann (vgl. Rensmann 2019; Rensmann 2020),
„Neuen Rechten“ ist, dass sie sich selbstbewusst           lassen sich vier Punkte unterschieden, die in der
in die Tradition der intellektuellen Vorbereiter           Literatur behandelt werden: Erstens die marxisti-
des Nationalsozialismus – der sogenannten                  schen Klassiker, ihr Umgang mit Antisemitismus
„Konservativen Revolution“ (vgl. Weiß 2017) –              und ihr Verhältnis zum Judentum, zweitens die
stellen, und sich explizit auf die Philosophie von         sich auf diese Klassiker berufende traditionelle
Martin Heidegger beziehen. Das bedeutet: Sie               Arbeiterbewegung sowie die inzwischen selbst
reihen sich ganz offen in eine antisemitische Tra-         historische Neue Linke, drittens die Affinitäten
dition (vgl. Scheit 2020) ein, die sie zugleich per        falscher und ressentimentgetriebener Kapitalis-
Deklaration und gegen jede Evidenz von jegli-              muskritik zu antisemitischen Ressentiments, und
chem Antisemitismus freisprechen.                          viertens das Verhältnis der Linken zum israeli-
Die Agitation gegen einen Finanzmagnaten wie               schen Staat, worauf sich im Folgenden kon-
George Soros, der in der rechtsradikalen und               zentriert werden soll.

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Antizionismus und israelbezogener Antise-                  den Ausprägungen des Antisemitismus in den
mitismus                                                   mannigfaltigen Strömungen des politischen Is-
                                                           lams zuzuwenden. Hier existieren, wie zuletzt
Die Analyse der geopolitischen Reproduktion                Matthias Küntzel herausgearbeitet hat (2018), in
des Antisemitismus im Antizionismus ist heute              Teilen der institutionalisierten Antisemitismus-
eine der zentralen Aufgaben sowohl einer kriti-            forschung in Deutschland gravierende Versäum-
schen Theorie des Antisemitismus als auch für              nisse.
die historische Aufarbeitung der globalen Juden-           In den meisten Spielarten des Antizionismus tre-
feindschaft. In der Diskussion über den israe-             ten antisemitische Ressentiments heute als eine
lisch-palästinensischen Konflikt trifft man immer          spezifische Form des Antisemitismus nach
wieder auf die Behauptung, der Antisemitismus              Auschwitz auf. Einerseits aus Mangel an konkre-
in den arabischen und den islamisch geprägten              ten Hassobjekten, andererseits wegen der Tabu-
Ländern sei ein Resultat des Nahost-Konflikts,             isierung von offener Judenfeindschaft zumindest
also eine Folge der Gründung Israels. Um es                in Europa, richten sie sich gegen den kollektiven
gleich praktisch zu wenden: Diesbezüglich ginge            Juden, also den Staat Israel. Ideologiekritik in der
es darum, dass Bildungsangebote auf allen Ebe-             Tradition der Kritischen Theorie kann nicht nur
nen verdeutlichen, inwiefern das nicht den histo-          zeigen, inwiefern der Antisemitismus die Biologi-
rischen Tatsachen entspricht. Der arabische und            sierung und Personalisierung von Krisenerschei-
islamische Antisemitismus muss als eine der                nungen, Ambivalenzen und Widersprüchen einer
zentralen Ursachen dieses Konfliktes herausgear-           kapitalakkumulierenden Ökonomie betreibt,
beitet werden. In vielen Aspekten ist er nicht             sondern auch deutlich machen, inwiefern der
Folge, sondern Grund dieses Konfliktes und                 Antizionismus in den allermeisten seiner Ausprä-
prägt dessen Verlauf bis heute maßgeblich.                 gungen eine geopolitische Reproduktion des
Für eine Bildungsarbeit gegen israelbezogenen              Antisemitismus darstellt. Schlaglichtartig lässt
Antisemitismus gilt es, einerseits im Bewusstsein          sich das wie folgt auf den Punkt bringen: Der An-
zu halten, dass sich Ressentiments gegen den jü-           tisemitismus als quasi ökonomische Seite des Ju-
dischen Staat kaum für die realen Verhältnisse im          denhasses konstruiert das Bild des Shylock-Ju-
Nahen Osten interessieren und dementspre-                  den und spaltet darin jene notwendigerweise
chend auch die Kritik des Antizionismus zunächst           zum Kapital gehörigen, aber als bedrohlich, un-
gar nichts über die je spezifische Ausgestaltung           moralisch, illegitim, gemeinschaftsfremd und
israelischer Politik und zionistischer Praxis aussa-       zersetzend empfundenen Elemente des ökono-
gen kann und muss. Zugleich besteht anderer-               mischen Prozesses ab. Dieses schon für den vor-
seits die Notwendigkeit, die Geschichte Israels            modernen Antisemitismus charakteristische Bild
und der Konflikte in der Region stärker in die Kri-        des Shylock-Juden wird in der antizionistischen
tik des Antisemitismus zu integrieren, allein              Propaganda ergänzt durch jenes des Rambo-Ju-
schon, um den antiisraelischen Narrativen (und             den (vgl. Markovits 2004: 218), dessen sinnbildli-
das heißt allzu oft: Erfindungen oder verzerrten           che Verkörperung der angeblich alles nieder-
historischen Darstellungen) mit Fakten gewapp-             trampelnde, auf völkische Homogenität set-
net entgegentreten zu können, um zumindest in              zende israelische Soldat sein soll. So wie sich der
jenen Fällen Erfolge zu erzielen, bei denen israel-        Antisemitismus im Gegensatz zum Rassismus
feindliche Aussagen in erster Linie auf eklatan-           nicht gegen die tatsächlich oder vermeintlich
tem Unwissen beruhen.                                      Unterlegenen richtet, sondern gegen die als
Im akademischen Bereich wären Institute für An-            überlegen Wahrgenommenen, so richtet sich der
tisemitismuskritik erforderlich, die sich nicht auf        Antizionismus nicht gegen die loser states in der
die historische Aufarbeitung des europäischen              internationalen Konkurrenz der Souveräne, son-
Judenhasses beschränken, sondern gerade den                dern gegen jene, denen ihr Erfolg verübelt wird.
aktuellen und den israelbezogenen Antisemitis-             Selbstverständlich existierten und existieren For-
mus in einer global vergleichenden Perspektive             men des Antizionismus, die nicht antisemitisch
ins Zentrum stellen. Das würde insbesondere be-            sind: Etwa ultraorthodoxe jüdische Gruppierun-
deuten, sich in viel stärkerem Ausmaß als bisher           gen, die den Zionismus aus religiösen Gründen

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ablehnen, oder universalistische, meist linke Ar-             der antiimperialistischen radikalen Linken (vgl.
gumentationen, die sich im Rahmen einer allge-                Weiß 2005; Gerber 2007; Ebbrecht-Hartmann
meinen Staats- und Nationskritik „in der Welt vor             2020) und in den diversen Spielarten des Islamis-
Auschwitz, als die Begriffe noch stimmten” (Diner             mus. Deutsche Neo-Nazis stellen sich heute ganz
1991: 78), in den heftig geführten innerjüdischen             unmittelbar in diese Tradition und postulieren:
Debatten gegen den Zionismus wandten. Aber                    „Israel ist unser Unglück“ (zit. n. Rensmann
schon lange vor der Staatsgründung Israels bil-               2021).4
den sich eindeutig antisemitische Ausprägungen                Nach 1945 hatten Teile der antiimperialistischen
des Antizionismus heraus, sowohl in der politi-               Linken maßgeblichen Anteil an der Perpetuie-
schen Rechten wie in der Linken, im Islamismus                rung des Antizionismus. Die Grundlagen für die
ebenso wie im arabischen Nationalismus – und                  antizionistische Agitation, wie sie sich gegenwär-
um diese geht es bei der Kritik eines israelbezo-             tig insbesondere in der globalen BDS-Kampagne
genen Antisemitismus.                                         findet (vgl. Nelson/Brahm 2015; Nelson 2019;
In aktuellen Debatten über Zionismus und Anti-                Feuerherdt/Markl 2020), wurde in den Zeiten des
zionismus ist zu wenig präsent, dass der Natio-               Kalten Krieges gelegt, und die Grundmotive des
nalsozialismus von Beginn an nicht nur traditio-              marxistisch-leninistischen Antizionismus lassen
nell antisemitisch, sondern auch explizit antizio-            sich bis in die Zeit vor dem Nationalsozialismus
nistisch war. Der maßgebliche nationalsozialisti-             zurückverfolgen. Jeffrey Herf hat zuletzt gezeigt,
sche Text zum Zionismus stammt von Alfred Ro-                 inwiefern die Indienstnahme eines Jargons der
senberg, der das jüdische Staatsgründungspro-                 Menschenrechte und des Antifaschismus in der
jekt als „staatsfeindlich“ qualifizierte (1938).              Agitation gegen Israel ein Spezifikum des linken
Adolf Hitler attestierte den Juden, sie seien                 Antizionismus darstellt und insbesondere im ost-
„mangels eigener produktiver Fähigkeiten“ zu ei-              deutschen, seinem Selbstverständnis nach „ers-
nem „Staatsbau räumlich empfundener Art“                      ten antifaschistischen Staat auf deutschem Bo-
nicht in der Lage (zit. n. Weinberg 1961: 220).               den“ perfektioniert wurde. Er verdeutlicht, wie
Würden Juden ein staatsähnliches Gebilde er-                  durch die Punzierung des jüdischen Staates als
schaffen, so könne das wie schon im antiken Je-               Nachfolger Nazideutschlands in den theoreti-
rusalem nichts anderes sein als eine Art Univer-              schen und geschichtswissenschaftlichen Verlaut-
sität für den jüdischen Zersetzungsgeist, der die             barungen des Ostblockmarxismus und des west-
echten Staaten ins Unglück stürze: In einer Rede              deutschen linken Antizionismus die Angriffe auf
von 1920 führt Hitler aus, der „ganze Zionisten-              Israel in die Tradition des Antifaschismus geho-
staat soll nichts werden als die letzte vollendete            ben wurden (2019). Olaf Kistenmacher hat an-
Hochschule ihrer internationalen Lumpereien“                  hand des Beispiels der Kommunistischen Partei
(zit. n. Jäckel/Kuhn 1980: 190).                              Deutschlands gezeigt, dass die ressentiment-
Die oben erwähnte Entgegensetzung von Abs-                    hafte Ablehnung des jüdischen Staatsgrün-
traktem und Konkretem, von „raffendem“ und                    dungsprogramms auch in Teilen der Linken
„schaffendem“ Kapital, wird hier ins Politische               schon lange vor 1948 existierte: Die antizionisti-
übersetzt: Den vermeintlich organischen, echten               schen Positionen, die in der westeuropäischen
Staaten wird als zersetzende Negation der                     Linken nach dem Sechstagekrieg und in der ost-
„künstliche Zionismus“ entgegengestellt. Diese                europäischen Staatslinken seit Beginn der
Entgegensetzung fand ihren Nachhall nach 1945                 1950er-Jahre vertreten wurden, mussten „nicht
sowohl im arabischen Nationalismus als auch in                erst 1967 oder nach 1945 erfunden werden.

4 Zur Israel-Diskussion in rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien wie der AfD und der FPÖ, die sich in
  diesem Punkt mittlerweile vom offenen Israelhass des traditionellen Rechtsextremismus abzusetzen versuchen,
  indem sie eine Art Simulation von Israel-Solidarität betreiben (vgl. Scheit 2017: 170), die mitunter zu konkreten
  pro-israelischen politischen Initiativen und Interventionen führt, siehe den instruktiven Beitrag von Niko Schreiter
  (2019). Zu früheren Positionierungen zum jüdischen Staat in diesem Spektrum siehe Pallade (2009). Es gilt, diese
  Debatte im europäischen und globalen Maßstab weiterzuverfolgen und gegebenenfalls die Brüche im rechten
  Spektrum hinsichtlich des Antisemitismus und der Positionierung zu Israel aufzuzeigen.

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In den Grundzügen bestand diese Position schon              Bezugspunkt war, hat sich in den letzten zwei
vor 1933.“ (2016: 281)5 Kistenmacher kann über-             Dekaden ein abstrakter Antinationalismus und
zeugend darlegen, dass die Annahme, der linke               ein unhistorischer Universalismus zur maßgebli-
Antizionismus habe erst nach 1945 seine antise-             chen Legitimation des Antizionismus entwickelt,
mitische Aufladung erhalten und vor dem Natio-              die durch die sozialwissenschaftlichen Debatten
nalsozialismus habe es sich stets nur um eine aus           der letzten Jahrzehnte weit in den politischen
einer allgemeinen Kritik des Nationalismus spei-            Mainstream hineinwirken. Das hat mit dazu ge-
sende Ablehnung des jüdischen Staatsgrün-                   führt, dass zionistischen Juden in gewissen linken
dungsprogramms gehandelt, nicht haltbar ist. Er             Milieus nun nicht mehr vorgeworfen wird, sie
legt dar, dass die antizionistischen Positionen             könnten gar keinen richtigen Staat, sondern nur
der KPD vor 1933 zahlreiche Parallelen zum ge-              ein „künstliches Gebilde“ erschaffen, sondern
genwärtigen, vermeintlich ‚neuen‘, israelbezoge-            ganz im Gegenteil, sie würden starrsinnig an ih-
nen Antisemitismus aufweisen. Die Bewertung                 rem Staat und ihrer Nation festhalten, obwohl
des Zionismus durch die KPD „nach ganz ande-                das Konzept der Nationalstaatlichkeit historisch
ren Maßstäben als andere nationale Bewegun-                 doch längst obsolet sei. Bereits zu Zeiten der
gen“ kann so als „Vorläufer“ der „späteren Dä-              zweiten Intifada erklärte beispielsweise Tony
monisierung und Delegitimierung Israels“ be-                Judt, der Zionismus sei als Nationalismus heute
griffen werden (ebd.: 280, 282). Selbst die Gleich-         nur mehr ein „Anachronismus“ (2003).
setzung des Zionismus mit dem Nationalsozialis-             Auch die Verschiebung von materialistischen,
mus wurde von der KPD bereits Anfang der                    kritisch-theoretischen Paradigmen hin zu post-
1930er-Jahre praktiziert: 1932 erklärte das Zent-           modernen, poststrukturalistischen und postko-
ralkomitee der KP in ihrer programmatischen                 lonialen Ansätzen in der akademischen Linken
Schrift Kommunismus und Judenfrage, man be-                 (kritisch dazu Elbe 2020: 242-275) prägt die ge-
kämpfe „den Zionismus genauso wie den deut-                 genwärtige Auseinandersetzung über israelbe-
schen Faschismus“ (zit. n. ebd.: 251). Derartige            zogenen Antisemitismus, wie sich zuletzt in der
Positionierungen hatten schon in den 1920er-                Debatte über Achille Mbembe gezeigt hat. In
Jahren dazu geführt, dass die deutschen Partei-             dessen Schriften findet sich nicht nur eine den
kommunisten die wiederholten pogromartigen                  Realitäten im Nahen Osten spottende Dämoni-
Ausschreitungen gegen Juden im Mandatsge-                   sierung und Delegitimierung Israels, dessen
biet Palästina zu einem „antiimperialistischen              „global isolation“ Mbembe fordert (2015: viii),
Aufstand“ verklärten und als solchen auch offen             sondern auch Formulierungen, die sich des Fun-
unterstützten (vgl. Grigat 2009; Kistenmacher               dus des klassischen christlichen Antisemitismus
2021).                                                      bedienen, was von seinen Verteidigern ebenso
Gerade beim linken Antizionismus wäre es heute              ignoriert wurde wie die explizite Israel-Feind-
wichtig, den konkreten Erscheinungsformen und               schaft (vgl. Gruber 2021).
insbesondere den Transformationen nachzuspü-                Gerade in der Mbembe-Debatte wurde noch-
ren, da bei den theoretischen Bezügen des linken            mals deutlich, wie hilfreich eine Arbeitsdefinition
Antizionismus deutliche Verschiebungen statt-               für Antisemitismus wie jene der International Ho-
gefunden haben. Während in den 1920er und                   locaust Remembrance Alliance sein kann, die ex-
30er-Jahren und noch viel stärker in den Jahr-              plizit Formen des israelbezogenen Antisemitis-
zehnten des Kalten Krieges ein antiimperialisti-            mus anführt (vgl. IHRA 2016). Die gegen die
scher, auf den Marxismus-Leninismus rekurrie-               IHRA-Definition gerichtete, im März 2021 veröf-
render ‚Befreiungsnationalismus’ der zentrale               fentlichte Jerusalem Declaration on Antisemitism

5 Zur Kommunistischen Partei Österreichs, die 1925 den Zionistenkongress in Wien in ihrer Parteizeitung Rote Fahne
  als „Kongreß der englischen Fremdenlegionäre“ diffamierte und 1929, als es zu pogromartigen Ausschreitungen
  gegen Juden im Mandatsgebiet Palästina mit zahlreichen Toten kam, Hinweise auf die antisemitisch motivierten
  Morde als „niederträchtigste Geschichtsfälschung, die überhaupt denkbar ist“ bezeichnete, vgl. Grigat 2022. Ende
  2021 hat sich die KPÖ in Graz nach einem beeindruckenden Wahlerfolg zum Existenzrecht Israels bekannt und
  explizit gegen BDS ausgesprochen, was darauf hindeutet, dass die Debatten über Antisemitismus und Zionismus
  auch weiterhin eine entscheidende Rolle beim Ausdifferenzierungsprozess der Linken spielen werden.

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hingegen, die von Nachrichtenagenturen des                 Linksruck und marx21 waren beziehungsweise
iranischen Regimes freudig begrüßt (vgl. IQNA              sind mit der International Socialist Tendency as-
2021) und auch von linksorientierten Akademi-              soziiert, die nicht nur offen israelfeindlich agiert,
kern und Akademikerinnen in Deutschland und                sondern auch zur Avantgarde der Kooperation
Österreich unterzeichnet wurde, zielt auf die Le-          von radikalen Linken mit Gruppierungen des po-
gitimierung des linken Antizionismus sowie die             litischen Islam gehört, wobei sich der Hass auf Is-
Exkulpierung der BDS-Kampagne und anderer                  rael als „antisemitische Integrationsideologie“
antiisraelischer Organisationen vom Antisemitis-           (Salzborn 2018: 139) erweist.7
musvorwurf. So sehr im akademischen Kontext
gerade vor dem Hintergrund einer Kritischen                Islamischer Antisemitismus
Theorie der Gesellschaft die Darstellung eines
Gegenstandes durch seine ideologiekritische                Die Beurteilung eines eindeutig antisemitischen
Durchdringung einer festgezurrten und notwen-              Antizionismus in den unterschiedlichen Spielar-
digerweise komplexitätsreduzierenden Defini-               ten des Islamismus, der seit der Jahrtausend-
tion vorzuziehen ist, so notwendig ist eine derar-         wende als „aggressivste und brutalste Variante“
tige Arbeitsdefinition doch, um antisemitismus-            eines „universalen Antiuniversalismus“ (ebd.:
kritische Standards insbesondere hinsichtlich ei-          125) gelten muss, ist um ein Vielfaches unum-
nes israelbezogenen Antisemitismus festzule-               strittener als in den mannigfaltigen Fraktionen
gen.6                                                      der Linken. Die Deutlichkeit und die Offenheit
Diese wären auch für gegenwärtige Debatten                 der Formulierungen inklusive expliziter Vernich-
über Israelfeindschaft in der traditionellen Linken        tungsdrohungen erinnern eher an rechtsradikale
notwendig, bei der sich zeigt, dass der Marxis-            europäische Traditionen des Antizionismus denn
mus-Leninismus keineswegs vollends ausge-                  an linke, deren Besonderheit gerade darin be-
dient hat. Durch Entwicklungen in der Partei Die           steht, sich selbst von jeglichem Antisemitismus
Linke erfahren traditionelle Begründungsmuster             frei zu sprechen.
für eine linke Israelfeindschaft wieder an Bedeu-          Yusuf al-Qaradawi, als Fernsehprediger auf Al
tung: Janine Wissler, seit 2021 eine der Vorsit-           Jazeera und Vorsitzender des European Council
zenden von Die Linke, war lange Jahre in einer             for Fatwa and Research einer der einflussreichs-
offen antiisraelischen Organisation aktiv, und be-         ten Vordenker des sunnitischen Islam, hat den
merkenswerterweise spielte das bei den öffentli-           Holocaust für vorbildlich erklärt: Hitler sei die
chen Debatten in der Linken über den zukünfti-             „letzte Strafe“ für das jüdische Volk gewesen, die
gen Vorsitz so gut wie keine Rolle, obwohl es              Allah ihm wegen „seiner Verkommenheit“ aufer-
nach wie vor durchaus explizit pro-israelische             legt habe, und in der Zukunft sollten die Muslime
Stimmen in der Partei gibt. Wissler stammt,                selbst Hand anlegen. 2009 erklärte al-Qua-
ebenso wie Christine Buchholz, die für Die Linke           radawi: „So Gott will, wird das nächste Mal diese
bis 2021 im Verteidigungsausschuss des Bundes-             Strafe durch die Hand der Gläubigen erfolgen“
tages und im Bundesvorstand der Partei saß, aus            (zit. n. Cáceres 2010). Die ägyptische Muslimbru-
der trotzkistischen Gruppierung Linksruck, die             derschaft, aus der al-Qaradawi stammt, war für
seit 2007 als marx21 fungiert und über die Par-            fast alle späteren Richtungen des radikalen Islam
teiströmung Sozialistische Linke mit einem klas-           prägend. Das gilt auch für das iranische Regime
sischen Konzept des Entrismus Einfluss auf die             und die Hisbollah, die in einigen Aspekten zwar
Partei nimmt. Auch Jules El-Khatib, einer der bei-         mit Gruppierungen und Parteien der Muslimbru-
den Vorsitzenden von Die Linke in Nordrhein-               derschaft konkurrieren, aber immer wieder mit
Westfalen, stammt aus der Gruppe marx21.                   ihnen kooperieren – insbesondere bei der

6 Eine umfassende Verteidigung der IHRA-Definition gegen ihre mannigfaltigen Kritiker hat zuletzt die Redaktion
  des Online-Journals fathom: For a deeper understanding of Israel and the region vorgelegt (Johnson 2021).
7 Zu früheren Kontroversen über Antisemitismus in der Partei Die Linke siehe Salzborn/Voigt 2011; Ullrich/Werner
  2011; Salzborn 2012.

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Bekämpfung Israels.                                        zis kollaborierenden und ab 1941 in Berlin resi-
Gerade beim politischen Islam ist zu betonen,              dierenden Mufti von Jerusalem. El-Husseini
dass hier der Antisemitismus deutlich älter ist als        konnte sich einer Strafverfolgung durch die Alli-
der jüdische Staat – was auch für viele Ausprä-            ierten entziehen, indem ihm nach dem Zweiten
gungen des arabischen Nationalismus gilt, der              Weltkrieg die Flucht nach Kairo gelang. Dort er-
jahrzehntelang für die politischen Entwicklungen           klärte der bis heute verehrte Führer der ägypti-
in der Region bedeutender war als der Islamis-             schen Muslimbruderschaft al-Banna noch 1946:
mus, mit dem er zumindest anfänglich in klarer
Konkurrenz stand. Die Muslimbruderschaft ent-              „Was für ein Held, was für ein Wunder von Mann
stand 1928 als Prototyp einer islamistischen Or-           […] der mit der Hilfe Hitlers und Deutschlands ein
ganisation nahezu zeitgleich mit den faschisti-            Empire herausforderte und gegen den Zionismus
schen Massenbewegungen in Europa. Die Natio-               kämpfte. Deutschland und Hitler sind nicht mehr,
nalsozialisten haben die Etablierung der Muslim-           aber Amin Al-Husseini wird den Kampf fortsetzen”
brüder materiell und ideologisch aktiv unter-              (zit. n. Herf 2010b: 285).
stützt. Mit etwa einer Millionen Mitgliedern war
die Muslimbruderschaft nach 1945 die „größte               Bei der Kritik des islamischen Antisemitismus
antisemitische Bewegung der Welt.“ (Küntzel                sollte es weniger um Religionsexegese als viel-
2019a: 120) Der sprunghafte Anstieg ihrer Mit-             mehr um ein ideologiekritisches Verständnis ge-
glieder resultierte Anfang der 1930er-Jahre –              hen, in dem der moderne islamische Judenhass
ganz so wie beim europäischen Faschismus und               als pathisch-projektive Abwehr einer neuen, am-
Nationalsozialismus, aber in einem anderen reli-           bivalenten, das Potential der Emanzipation in
giösen und gesellschaftlichen Kontext – aus einer          sich aufhebenden Form von Gesellschaft dechif-
massenhaften, wahnhaft projektiven Reaktions-              friert wird: als eine Form des modernen Antimo-
weise auf die hereinbrechende krisenhafte Mo-              dernismus (vgl. Lewed 2010; Marz 2017a). Zu-
derne. Diese Reaktion auf die Ambivalenzen und             gleich müssen die Spezifika des islamischen, so-
emanzipativen Potenziale der Moderne war spä-              wohl für die Muslimbruderschaft und andere
ter auch einer der zentralen Gründe für die Mas-           sunnitische Islamisten als auch für das iranische
senunterstützung Khomeinis seit den 1970er-                Regime und die Hisbollah charakteristischen An-
Jahren im Iran.                                            tisemitismus betont werden:
Die Schriften des Gründers der Muslimbruder-
schaft, Hassan al-Banna, und des späteren Vor-             „Nur hier verschmelzen der degradierende Anti-Ju-
denkers Sayyid Qutb haben bis heute zentrale               daismus des Frühislam und der verschwörungsbe-
Bedeutung für die diversen Richtungen des poli-            zogene Antisemitismus der Moderne zu einer Ein-
tischen Islam, sowohl des legalistischen als auch          heit.“ (Küntzel 2019a: 34)
des terroristischen. Dazu zählen etwa Qutbs
1950 veröffentlichtes Pamphlet Unser Kampf mit             Die islamisch-antijüdischen Traditionen prägten
den Juden, das bis heute islamistische Attentäter          über Jahrhunderte die arabischen Gesellschaf-
rund um den Globus inspiriert, und al-Bannas               ten. Die Situation von Juden in den islamischen
Todesindustrie aus dem Jahr 1938. Die Schriften            Gesellschaften war noch im 19. Jahrhundert in
Qutbs wurden in den Jahrzehnten vor der Islami-            der Regel besser als jene der meisten jüdischen
schen Revolution vom heutigen obersten geistli-            Minderheiten in den christlich geprägten Gesell-
chen Führer des Iran, Ali Khamenei, ins Persische          schaften Europas. Das bedeutet aber nicht, dass
übersetzt und bilden einen zentralen ideologi-             Juden in den islamischen Gesellschaften gleich-
schen Bezugspunkt der iranischen Islamisten                berechtigt leben konnten: Auch in den ver-
(vgl. Ünal 2016). Al-Banna, der vom österreichi-           gleichsweise unblutigen Perioden des jüdisch-
schen Politikwissenschaftler und Aktivisten Farid          muslimischen Zusammenlebens in der arabi-
Hafez als wichtiger demokratischer Vordenker               schen Welt, in denen Juden als „Schutzbefoh-
verharmlost wird (vgl. Markl 2021), veröffent-             lene“ (dhimmis) toleriert wurden, handelte es
lichte noch 1946 Lobpreisungen für Amin el-                sich um eine Toleranz, „die aus Verachtung be-
Husseini, den offen antisemitischen, mit den Na-           stand“ (Bensoussan 2019: 146). Die Institution

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der dhimma war ein „Status der Demütigung, der            Der Antisemitismus unter Muslimen sowohl in
Entwürdigung und der Erniedrigung“ (Wein-                 Europa (vgl. Jikeli 2015; Embacher/Edt-
stock: 293), der Juden zahlreichen exkludieren-           maier/Preitschopf 2019: 24-31) als auch im glo-
den Sonderregelungen unterwarf, die heute bei-            balen Maßstab stellt heute eine der größten Her-
spielsweise im Iran weiterhin eine wichtige Rolle         ausforderungen für die Antisemitismuskritik dar.
spielen (vgl. Grigat 2018: 202f.).                        Dabei geht es nicht ausschließlich um radikale,
Schon lange vor 1948 hat die auf Verachtung be-           fundamentalistische und djihadistische Ausprä-
ruhende Diskriminierung immer wieder auch zu              gungen des Islam, sondern durchaus auch um
blutiger Verfolgung geführt: Eines der ersten             Protagonisten eines orthodox-konservativen
Pogrome gegen Juden in Europa mit etwa 4.000              Mehrheitsislam. Einflussreiche Vordenker, die als
Opfern war bereits im Jahr 1066 das Massaker              Kritiker des islamistischen Djihadismus gelten,
von Granada, das zu dieser Zeit unter islamischer         können nichtsdestotrotz Protagonisten eines is-
Herrschaft stand. Ende des 18. Jahrhunderts wur-          lamischen Antisemitismus sein: Der 2010 ver-
den die Juden aus dem saudi-arabischen Dsch-              storbene Mohammed Sayyid Tantawi war einer
idda vertrieben, 1790 kam es zu einem Pogrom              der renommiertesten Gelehrten des sunnitischen
im marokkanischen Tetuan, 1828 zu einem in                Islam und Großscheich der Al-Azhar-Universität
Bagdad, 1834 zu Gewaltausbrüchen gegen die                von Kairo, die weit über die Grenzen Ägyptens
jüdische Gemeinde im heute in Israel gelegenen            Einfluss hat. Tantawi verteidigte den französi-
Safed. Im 19. Jahrhundert nehmen Ritualmord-              schen Holocaustleugner Roger Garaudy (vgl.
beschuldigungen gegen Juden im Osmanischen                Nordbruch 2001), und mit seiner in mehreren
Reich massiv zu. Forciert werden sie zunächst             Auflagen publizierten Dissertation hat Tantawi
vorrangig von christlichen Propagandisten, Ende           einen antisemitischen Klassiker geschrieben mit
des 19. Jahrhunderts werden sie jedoch immer              Kapiteln wie „Das jüdische Unheilstiften auf Er-
öfter in islamischen Publikationen aufgegriffen           den“, in dem er erklärt, dass das Verzehren nicht-
(vgl. Lewis 2004: 142-144).                               jüdischen Blutes ein religiöser Ritus bei den Ju-
Die Etablierung des jüdischen Staates 1948 fun-           den sei. Tantawi zitiert zustimmend Mein Kampf
gierte als Ferment für die Transformation der tra-        und beruft sich auf den antisemitischen Klassiker
ditionellen Verachtung der jüdischen dhimmis in           Die Protokolle der Weisen von Zion (vgl. Künztel
einen Hass auf die sich selbst zur Souveränität           2008: 24-26). Ein anderes Beispiel ist Mahathir
ermächtigenden „Schutzbefohlenen“. Diese Ra-              Mohamad, der ehemalige Premierminister Ma-
dikalisierung der arabisch-islamischen Juden-             laysias, der zwar Islamisten in seinem Land be-
feindschaft vor der israelischen Staatsgründung           kämpfte, aber von einem rabiaten Antisemitis-
wurde zum einen durch die nationalsozialistische          mus getrieben ist. 1994 verbot er Schindlers Liste
Propaganda im Nahen und Mittleren Osten be-               und 1997 erklärte er die Juden zu den Verant-
feuert (vgl. Herf 2010a; Küntzel 2019b). Zum an-          wortlichen für die Finanzkrise in Asien. 2003 er-
deren war sie eine Reaktion auf die partielle Au-         öffnete er die bis dahin größte Tagung der Or-
toemanzipation der Juden in den arabischen Ge-            ganisation der Islamischen Konferenz (OIC), dem
sellschaften. Ähnlich wie im europäischen Anti-           wichtigsten Zusammenschluss islamisch domi-
semitismus, aber eingebettet in islamische Tradi-         nierter Staaten, und führte aus:
tionen, wurden die Juden in der arabischen Welt
als Repräsentanten von ökonomischen und ge-               „Die Juden beherrschen heute mittels ihrer Stroh-
sellschaftspolitischen Modernisierungsprozes-             männer diese Welt. Sie lassen andere für sich kämp-
sen attackiert, die zu massiver Verunsicherung            fen und sterben. […] Die Juden erfanden und för-
führten. Besonders anschaulich wird das beim              derten erfolgreich Sozialismus, Kommunismus,
algerischen Vordenker des Islamismus Malek                Menschenrechte und Demokratie. […] Mit diesen
Bennabi, der 1965 beklagte: „Dies ist das Jahr-           Rechten haben sie nun die Kontrolle über die mäch-
hundert der Frau, des Juden und des Dollars“,             tigsten Länder gewonnen“ (zit. n. ebd: 22).
und der von einer „Judaisierung des Westens“
sprach (zit. n. Bensoussan 2019: 86f.).                   Das Ausmaß des Problems wird deutlich, wenn

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