AKTIONEN, ERFOLGE, ZAHLEN + FAKTEN. DAS JAHR 2020 - RECHENSCHAFTSBERICHT
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
IMPRESSUM © Amnesty International Deutschland e.V. V.i.S.d.P.: Anton Landgraf Redaktion: Sylvia Degen, Mascha Rohner, Birgit Stegmayer Lektorat: Wera Reusch Redaktionelle Mitarbeit: Matthias Adler, Hannah el-Hitami, Andreas Koob, Ramin Nowzad, Ralf Rebmann, Natacha Rothenbühler, Stefan Wirner Gestaltung: schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck Nürnberg Art.Nr.: 04021 Titelfoto: Amnesty auf der #unteilbar-Demonstration am 14. Juni 2020 in Berlin. Foto: Jarek Godlewski / Amnesty SPENDENKONTO: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX AMNESTY INTERNATIONAL setzt sich auf der Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für eine Welt ein, in der die Rechte aller Menschen geachtet werden. Die Stärke der Organisation liegt im Engagement von weltweit zehn Hier Gruppenadresse einstempeln: Millionen Menschen unterschied- licher Nationalitäten und Kulturen. Gemeinsam setzen sie Mut, Kraft und Fantasie für eine Welt ohne Foto: Jarek Godlewski / Amnesty Menschenrechtsverletzungen ein. 1977 erhielt Amnesty den Friedensnobelpreis. 2 AMNESTY INTERNATIONAL | RECHENSCHAFTSBERICHT 2020
VEREHRTE UNTERSTÜTZER_INNEN, LIEBE FREUND_INNEN, 2020 war ein Jahr, in dem Covid-19 weltweit Pläne über den Haufen warf, bisherige Sicherheiten und Erwartungen durcheinanderwirbelte und Selbstverständlichkeiten in kürzester Zeit infrage stellte. Wie wird der Staat seiner Schutzpflicht für Risikogrup- pen gerecht? Erhalten alle die nötige Gesundheitsversor- gung? Welche Rechte dürfen wann und wie eingeschränkt werden? Wie gewährleisten wir das Recht auf Bildung? Was bedeutet Solidarität in der Krise, wie achten wir auf die Schwächsten in unserer Gesellschaft? Fragen, die in demokratischen Rechtsstaaten mit intakten Gesundheitssystemen und wirtschaftlichen Sofortprogrammen die Gemüter erhitzten. In anderen Teilen der Welt führte die Pandemie zu vielfältigen Menschenrechtsverstößen und massiven Auswirkungen für Menschen, die fern von zu Hause gestrandet waren, Foto: Henning Schacht die plötzlich ohne Einkommen, Dach über dem Kopf oder Nahrung waren; die häuslicher Gewalt oder drakonischen, behördlichen Maßnahmen ausgesetzt waren. Die Corona- Krise war und ist eine Menschenrechtskrise! Staaten mit »Vorerkrankungen« bei Rechtsstaatlichkeit schooling und der Sorge um Eltern betroffen waren (siehe oder mit mangelnden Sozialsystemen missachteten ihre Seiten 10–11). Möglich gemacht haben das die vielen Schutzpflicht, erklärten die Pandemie zur »leichten Grip- Amnesty-Unterstützer_innen, Spender_innen und För- pe«, nahmen Tote und Folgen für die Schwächsten »in der_innen, die uns in der Krise treu geblieben sind und Kauf«. Autoritäre Staaten nutzten Covid-19, um Rechte uns weiter unterstützt haben. Danke! einzuschränken, digitale Überwachungssysteme auszubau- Wir müssen zwar alle weiterhin Abstand halten, aber en oder bestimmte Bevölkerungsgruppen bewusst schutz- Amnesty wird dennoch hinschauen. Und aktiv bleiben. los zu lassen. Vielerorts – in Venezuela, der Türkei, im Zu den Auswirkungen der Pandemie. Zu Konflikten und Niger oder in China – wurden Menschen verfolgt, die über Krisen. Ob in Myanmar, Hongkong oder in Äthiopien. Ob Fehler bei der Pandemiebekämpfung berichteten. Im Iran für Schutzsuchende und Lebensretter_innen auf dem ging man mit Gewalt gegen Protestierende vor, die den Mittelmeer (siehe Seite 25) oder für Rechtsstaatlichkeit fehlenden Schutz in Gefängnissen kritisierten, in Angola in Polen und Ungarn (siehe Seite 23). Weiter im Blick wurden Ausgangssperren mit Schusswaffen durchgesetzt. behalten wir auch die Zukunftsherausforderungen Klima- Und selbst »die Helden an der Pandemie-Front«, wie zum krise und Digitalisierung (siehe Seiten 13–15). Beispiel Beschäftigte im Gesundheitswesen, wurden oft 2021 bleibt ein herausforderndes Jahr. Mut machen allein gelassen. mir die vielen Menschen, die sich mit uns für die Amnesty reagierte: Unsere Researcher fanden Wege, Menschenrechte einsetzen. Ihnen allen – Danke!!! trotz Lockdown und Reisebeschränkungen Menschen- rechtsverletzungen zu dokumentieren, Betroffene zu inter- Ihr viewen und Beweismaterial, wie Satellitenbilder, zu si- chern und zu sichten. Ehrenamtlich Aktive und Mitarbeiter_innen an unter- schiedlichsten Orten der Welt fanden Wege, die Arbeit Markus N. Beeko fortzusetzen, auch wenn sie selbst von Lockdowns, Home- Generalsekretär 3
ERFOLGE WELTWEIT FRANKREICH: Sein Einsatz wurde zum Symbol für Mitmenschlichkeit: Der Oli- venbauer Cédric Herrou aus dem franzö- sischen Roya-Tal wurde 2016 und 2017 mehrmals festgenommen, weil er Hun- derte junge Flüchtlinge bei sich aufge- nommen hatte. Andere Bewohner_innen des Bergdorfs spendeten Essen und Klei- dung. Die Staatsanwaltschaft klagte Her- rou schließlich wegen »Beihilfe zu illega- ler Einreise und illegalem Aufenthalt« an, ihm drohten fünf Jahre Haft und eine Geldstrafe von bis zu 30.000 Euro. Welt- weit solidarisierten sich Menschen mit ihm, auch Amnesty setzte sich für ihn ein. Die Aktionen zeigten Wirkung: Im Mai 2020 sprach ihn ein Gericht frei. USA: Sie landete unter Donald Trump im Gefängnis: Die Transfrau Kelly González MALTA: Mehr als einen Monat hat die mal- Aguilar war in den USA drei tesische Regierung Hunderte Migrant_in- Jahre lang inhaftiert, davon nen auf Schiffen gefangen gehalten – mehrere Monate in Isolationshaft. Ihr ein- ohne jeden Kontakt zur Außenwelt. Nach ziges Verbrechen: Sie war 2017 in das internationalen Protesten durften die Land geflüchtet, weil sie in ihrer Heimat rund 425 Menschen Anfang Juni 2020 Honduras wegen ihrer Identität Gewalt endlich an Land. Wochen zuvor waren und Missbrauch erfahren musste. Zehn- sie im Mittelmeer in Seenot geraten und tausende Menschen hatten sich nach ih- nach ihrer Rettung auf eigens dafür ge- rer Festnahme gemeinsam mit Amnesty pachtete Fährschiffe verfrachtet worden. für sie eingesetzt. Am 14. Juli 2020 durf- Die maltesischen Behörden nutzen die te sie endlich die Haftanstalt verlassen. Corona-Pandemie ab April 2020 gezielt »Ich danke euch allen für eure Unter- als Vorwand, um Migrant_innen nicht an stützung«, sagte sie nach ihrer Freilas- Land zu lassen. sung. »Dank eurer enormen Anstrengun- gen wurde mein Recht auf Freiheit end- lich anerkannt. Ich bin glücklich.« GUATEMALA: Gerechtigkeit für Corona-Hel- ARGENTINIEN: Es ist eine histo- fer_innen: Ohne sie wäre die Behand- rische Entscheidung: Argenti- lung von Infizierten nicht möglich gewe- nien hat im Dezember 2020 sen, trotzdem wurden sie auf die Straße Schwangerschaftsabbrüche gesetzt. Ein provisorisches Covid-19- legalisiert. Künftig können Krankenhaus in Guatemala-Stadt hatte Schwangerschaften bis zur 14. Woche im Juni 2020 Dutzende Menschen ent- straffrei beendet werden, die Kosten da- lassen, die für Reinigung und Instandhal- für trägt das öffentliche Gesundheitssys- tung der Klinik zuständig waren – ohne tem. In dem Land gab es staatlichen sie für ihre Arbeit zu bezahlen. Die 46 Schätzungen zufolge jedes Jahr zwi- Personen hatten zweieinhalb Monate für schen 370.000 und 520.000 heimliche das Krankenhaus gearbeitet, doch auf ih- Schwangerschaftsabbrüche. Komplika- ren Lohn warteten sie bis zuletzt verge- tionen kosteten unzähligen Menschen blich. Amnesty International sammelte das Leben. »Dies ist ein Sieg der Frauen- weltweit Unterschriften, um gegen dieses bewegung in Argentinien, die seit Jahr- Unrecht zu protestieren. Mit Erfolg: Im zehnten für ihre Rechte kämpft«, sagte August wurden die Entlassenen endlich Mariela Belski, die Geschäftsführerin von für ihre geleistete Arbeit bezahlt. Amnesty International Argentinien. 4 AMNESTY INTERNATIONAL | RECHENSCHAFTSBERICHT 2020
Tagtäglich werden die Rechte von Menschen weltweit verletzt. Amnesty International setzt sich für diese Menschen ein: Mit Appellaktionen, Recherchen vor Ort, Länder- und Themenberichten sowie Kampagnen- und Lobbyarbeit. Dadurch konnten auch im Jahr 2020 wieder zahlreiche Menschen aus der Haft befreit, Menschenrechtsverstöße aufgedeckt und diskriminierende Gesetze abgeschafft werden. Hier sind einige Beispiele. DÄNEMARK: Es ist ein großer Sieg im Kampf gegen sexuali- sierte Gewalt: Das dänische AFGHANISTAN: Opfer von Menschenrechts- Parlament hat im Dezember verletzungen in Afghanistan dürfen auf 2020 ein Gesetz verabschie- Gerechtigkeit hoffen: Fatou Bensouda, det, das endlich anerkennt, was selbst- die Chefanklägerin des Internationalen verständlich sein sollte: Sex ohne Zu- Strafgerichtshofs, wird wegen mutmaß- stimmung ist Vergewaltigung. Damit licher Kriegsverbrechen in Afghanistan folgte das Land seinem Nachbarn ermitteln – auch gegen das US-Militär Schweden, das bereits 2018 ein ähnli- und die CIA. Zunächst hatten ihr die ches Gesetz eingeführt hatte. Zuvor spra- Richter_innen in Den Haag die Ermittlun- chen die dänischen Behörden nur dann gen untersagt, da eine Strafverfolgung von Vergewaltigung, wenn der Täter Ge- keine Aussicht auf Erfolg habe. Amnesty walt angewendet oder mit Gewalt gedroht hatte die Entscheidung damals kritisiert. hatte oder wenn sich das Opfer in einem Die USA erkennen den Internationalen Zustand befand, in dem es sich dem Vor- Strafgerichtshof nicht an und haben be- gehen nicht widersetzen konnte. reits angekündigt, Bensouda und andere Mitarbeiter_innen des Gerichts mit Sank- tionen zu belegen. VIETNAM: Ihre Freilassung kam völlig überraschend: Die Bloggerin Tran Thi Nga konnte im Januar 2020 das Gefängnis verlassen. Ein Ge- richt hatte sie 2017 zu neun Jahren Haft verurteilt, weil sie im Internet über Men- schenrechtsverletzungen in ihrer Heimat berichtet hatte. Nach ihrer Freilassung musste sie ihr Land verlassen, inzwi- schen lebt sie mit ihrem Lebensgefährten und ihren beiden Söhnen in den USA. »Ich danke Amnesty International für den unermüdlichen Einsatz für meine Freiheit«, sagte Tran Thi Nga vor ihrer Ausreise. »Ich bin froh, dass meine Fa- SÜDSUDAN: Drei Jahre musste ÄGYPTEN: Die ehemalige milie nun wieder vereint ist und dass wir er um sein Leben fürchten, Schauspielerin Amal Fathy in Frieden leben können.« nun ist die Todesstrafe abge- muss nicht mehr um ihre wendet. Magai Matiop Freiheit bangen. Die junge Ngong war gerade einmal 15 Ägypterin hatte ab Mai 2018 Jahre alt, als ihn 2017 ein Gericht zum acht Monate in Untersuchungshaft ver- Tode verurteilte. Der Grund: Während ei- bracht, weil sie auf Facebook ein Video nes Streits hatte sich ein Schuss aus sei- hochgeladen hatte, in dem sie sich be- nem Gewehr gelöst und seinen Cousin klagte, in einer Bank sexuell belästigt getötet. Nach internationalem Recht dür- worden zu sein. Außerdem kritisierte sie, fen gegen Minderjährige keine Todesur- der Staat schütze Frauen nicht ausrei- teile verhängt werden. Amnesty sammel- chend. Die Staatsanwaltschaft eröffnete te weltweit mehr als 750.000 Unter- daraufhin ein Verfahren wegen Verbrei- schriften, um Druck auf die Behörden tung »falscher Nachrichten« und Veröf- auszuüben – mit Erfolg: Am 14. Juli 2020 fentlichung eines »unanständigen Videos hob das südsudanesische Berufungsge- mit schmutziger Sprache« gegen sie. Der richt das Todesurteil gegen Magai Matiop Prozess zog sich zwei Jahre lang hin, bis Ngong auf. Das Oberste Gericht des Lan- im April 2020 endlich die erlösende des soll nun eine angemessene Strafe Nachricht kam: Das Oberste Gericht hat verhängen. Amal Fathy freigesprochen. 5
rechtsarbeit zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter anderem den Per-Anger-Preis der schwedischen Regie- rung und den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar. Narges Mohammadi war Vizepräsidentin der iranischen Menschenrechtsorganisation Defenders of Human Rights Center (DHRC), die 2008 von der iranischen Regierung verboten wurde. Wegen ihrer Arbeit bei der DHRC geriet die Menschen- rechtsverteidigerin 2008 erstmals ins Visier der iranischen Behörden. Sie wurde mehrfach festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt, weil sie angeblich die nationale Si- cherheit gefährdet hatte. Nachdem sie 2014 bei einem Treffen mit der damaligen EU-Außenbeauftragten Catheri- ne Ashton über die Menschenrechtssituation im Iran ge- sprochen hatte, wurde sie erneut festgenommen und zu weiteren 16 Jahren Gefängnis verurteilt. Während ihrer Inhaftierung hat Narges Mohammadi regelmäßig über die Misshandlungen und die miserablen Zustände in irani- schen Gefängnissen berichtet. Trotz mehrerer Anklagen wegen "Gefährdung der nationalen Sicherheit" setzte sie ihre Menschenrechtsaktivitäten auch im Gefängnis fort. So gab sie Erklärungen gegen die Todesstrafe, verlängerte Einzelhaft und andere Formen der Folter und Misshand- lung sowie gegen die Tötung von Protestierenden im No- vember 2019 heraus. Der Gesundheitszustand der Menschenrechtlerin ver- schlechterte sich in der Haft zusehends. Doch trotz meh- Foto: privat rerer Vorerkrankungen verweigerten ihr die Gefängnisbe- Die iranische Menschenrechtsverteidigerin Narges Mohammadi. (Archivbild) hörden die medizinische Versorgung und den Kontakt zu ihrer Familie. Angesichts der Corona-Pandemie und den unhygienischen Bedingungen in den iranischen Gefängnis- EINSATZ sen wurden 2020 vermehrt Forderungen laut, Narges Mo- hammadi aus gesundheitlichen Gründen freizulassen. Im MIT ERFOLG Juli infizierte sie sich mit dem Virus – und erhielt keine medizinische Behandlung, obwohl sie wegen einer Vorer- krankung der Lunge zur Risikogruppe zählt. Weltweit beteiligen sich Hunderttausende Nach mehr als acht Jahren im Gefängnis kam die Menschen an Appellaktionen von Amnesty Menschenrechtsverteidigerin schließlich am 8. Oktober International. Mit Briefen, E-Mails und 2020 vorzeitig aus der Haft frei und bedankte sich in ei- Petitionsunterschriften bewirken sie ner Videobotschaft bei Amnesty International: »Ohne eu- Freilassungen, verhindern Folter, schützen ren Schutz wäre dies nicht möglich gewesen.« Trotz al- Menschen vor unfairen Prozessen und retten lem, was Narges Mohammadi erlebt hat, denkt sie nicht Leben. Dass dieses gemeinsame Engagement daran, ihre Menschenrechtsarbeit aufzugeben: »Ich hoffe, erfolgreich ist, zeigt der Fall der Frauenrechtlerin dass ich euch eines Tages sagen kann, dass im Iran keine Narges Mohammadi aus dem Iran. Hinrichtungen mehr vorgenommen werden, Frauen ihre Rechte erhalten haben und die Menschenrechtslage in Das Evin-Gefängnis in Teheran ist berüchtigt für Folter meinem Land sich verbessert hat. Ich bin entschlossen, und notorische Überbelegung. Hunderte gewaltlose politi- alles dafür zu tun, und bin überzeugt, dass wir es schaf- sche Gefangene sind dort unter unmenschlichen Bedin- fen können. Gemeinsam für Frieden und Menschenrech- gungen eingesperrt – so auch lange Zeit Narges Moham- te!« madi. Die bekannte Menschenrechtsverteidigerin setzt Weitere Erfolgsmeldungen: www.amnesty.de/erfolge sich seit vielen Jahren gegen die Todesstrafe und für Werde jetzt aktiv: www.amnesty.de/urgent-actions Frauenrechte im Iran ein. Sie hat für ihre Menschen- oder www.amnesty.de/BgdV 6 AMNESTY INTERNATIONAL | RECHENSCHAFTSBERICHT 2020
DEIN BRIEF KANN LEBEN RETTEN Auch im Corona-Jahr 2020 haben wieder Millionen Menschen beim Amnesty-Briefmarathon Briefe, Faxe und Mails für Menschen in Gefahr und Not verschickt. »Ich danke euch so sehr, mir fehlen helfen und für Gerechtigkeit einzuste- 325.000. Trotz der Corona-Krise die Worte«, sagte Magai Matiop hen. konnte das Ergebnis im Vergleich zum Ngong, nachdem sein Leben gerettet So wie im Fall der beiden jungen Vorjahr um gut 20.000 gesteigert wer- wurde. »Ihr habt keine Ahnung, wie Südafrikanerinnen Popi Qwabe und den. Die Briefe signalisieren den Be- sehr mein Herz mit Glück erfüllt ist.« Bongeka Phungula. Die beiden troffenen und ihren Familien, dass sie Er war gerade einmal 15 Jahre alt, als Schauspielschülerinnen träumten von in ihrem Kampf für Gerechtigkeit ihn ein Gericht im Südsudan 2017 einer großen Karriere. Doch im Mai nicht allein sind. Und sie setzen die zum Tode verurteilte. Im Sommer 2017 fanden ihre Träume ein trauri- Regierungen unter Druck, Unrecht zu 2020 hob ein Gericht das Todesurteil ges Ende: Sie wurden erschossen auf- beenden. gegen ihn auf – nachdem Amnesty gefunden, wahrscheinlich waren bei- Der Briefmarathon widmete sich beim Briefmarathon 2019 mehr als de Frauen zuvor vergewaltigt worden. 2020 auch dem Schicksal des algeri- 750.000 Unterschriften für ihn ge- Die Polizei ermittelte nicht gründlich, schen Journalisten Khaled Drareni. Er sammelt hatte. ließ zwei tatverdächtige Männer sofort war im März 2020 festgenommen Sein Fall zeigt: Briefe können Le- wieder frei, und das Verfahren wurde worden, weil er über regierungskriti- ben retten! Auch im Corona-Jahr eingestellt. Der Fall ist symptoma- sche Demonstrationen berichtet hatte. 2020 haben wieder Millionen Men- tisch: In Südafrika wird Gewalt gegen Das Urteil lautete zunächst drei Jahre schen beim Amnesty-Briefmarathon Frauen nur selten geahndet. Beim Haft, später wurde es auf zwei Jahre mitgemacht: Sie schickten Solidari- Briefmarathon 2020 schickten Hun- reduziert. Weltweit machten sich un- tätsschreiben an Gefangene und poli- derttausende Menschen weltweit Brie- zählige Menschen beim Briefmara- tisch Verfolgte. Und sie forderten Re- fe, Mails und SMS an die südafrikani- thon für den jungen Algerier stark. gierungen auf, Unrecht zu beenden. schen Behörden und forderten Ge- Mit Erfolg: Am 19. Februar 2021 be- Der Briefmarathon, der jedes Jahr im rechtigkeit für Popi und Bongeka. gnadigte ihn der algerische Präsident. Dezember stattfindet, zeigt die geball- Weltweit kamen im Dezember »Heute nehme ich meinen Kampf für te Kraft der weltweiten Amnesty-Be- 2020 mehrere Millionen Briefe, E- die Pressefreiheit wieder auf«, sagte wegung: An wenigen Tagen engagie- Mails und Faxe für insgesamt zehn Khaled Drareni nach seiner Freilas- ren sich Aktivist_innen rund um den Menschen oder Gruppen zusammen. sung. »Nie werde ich eure unerschüt- Globus, um Menschen in Gefahr zu Allein in Deutschland waren es rund terliche Unterstützung vergessen!« © Amnesty International 7
VIELFÄLTIGE KAMPAGNEN UND AKTIONEN 2020 hat sich Amnesty International in verschiedenen Kampagnen und Aktionen für Menschen und ihre Rechte eingesetzt: für eine menschenwürdige Asylpolitik und gegen Rassismus, für Menschenrechtsverteidiger_innen und gegen Exporte von Überwachungstechnologie. Der rassistische Terroranschlag in Hanau im Februar pflichtende Anti-Rassismus-Trainings für die Polizei, eine 2020, bei dem neun Menschen ermordet wurden, der Null-Toleranz-Politik gegenüber Rechtsextremismus und Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 und Rassismus in den Reihen der Sicherheitsbehörden und die Entdeckung rechtsextremer Chatgruppen in der Polizei wissenschaftliche Untersuchungen zum Ausmaß rassisti- haben gezeigt, dass in Deutschland noch massiver Hand- scher Einstellungen in der Polizei. lungsbedarf im Kampf gegen Rassismus besteht. Die Er- mordung des US-Amerikaners George Floyd durch einen EXPORT VON ÜBERWACHUNGSTECHNOLOGIE weißen Polizisten und die anschließenden »Black Lives Im Pandemiejahr 2020 haben wir mehr digital kommuni- Matter«-Demonstrationen in den USA haben unterstri- ziert als je zuvor. Die Vorstellung, dass alles abgehört und chen, wie wichtig antirassistisches Engagement weltweit mitgeschnitten werden könnte, ist bedrohlich. Für viele ist. Menschenrechtsverteidiger_innen weltweit ist das bereits Rassismus ist ein Angriff auf die Grundidee der Men- Realität. Sie müssen nicht nur um ihre Privatsphäre fürch- schenrechte: die Freiheit und Gleichheit aller Menschen. ten, sondern auch um ihre Freiheit und manchmal auch Amnesty International hatte schon 2016 für die Kampa- um ihr Leben. Denn Informationen, die digital abgegriffen gne »Nimm Rassismus persönlich« Materialien entwickelt, wurden, werden verdreht und vor Gericht oder in Schmutz- die sich dazu eignen, sich mit Alltagsrassismus und eige- kampagnen gegen sie verwendet – eine perfide Methode, nen Vorurteilen auseinanderzusetzen, und Empfehlungen um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Amnes- enthalten, wie man sich bei rassistischen Übergriffen ver- ty hat 2020 mit der Kampagne »Nie allein« EU-Staaten halten kann. 2020 bestellten mehr als 10.000 Menschen dazu aufgefordert, Exporte von Überwachungstechnologie diese Materialien, und wir erreichten damit geschätzt zu kontrollieren. Denn oft ist es europäische und auch 40.000 bis 50.000 Menschen. Amnesty-Aktivist_innen deutsche Technik, die in China, der Türkei oder Bahrain zu beteiligten sich zudem deutschlandweit an Demonstratio- Menschenrechtsverletzungen beiträgt. Im Rahmen der nen gegen Rassismus. Im Mittelpunkt der Lobbyarbeit Kampagne hat sich Amnesty außerdem für die Freilassung stand die Polizei: Amnesty forderte unter anderem ver- des Bloggers Ahmed Mansoor eingesetzt, der seit 2006 © Amnesty International Aktion der Hochschulgruppe Würzburg gegen die Unterbringung von Geflüchteten in Lagern (31. Mai 2020). 8 AMNESTY INTERNATIONAL | RECHENSCHAFTSBERICHT 2020
Foto: Jarek Godlewski / Amnesty Amnesty-Mitglieder auf der #unteilbar-Demonstration unter dem Motto #SoGehtSolidarisch in Berlin (14. Juni 2020). die Menschenrechtslage in den Vereinigten Arabischen Abholzung, Bergbau sowie den Drogenanbau durch krimi- Emiraten dokumentiert hatte und dafür zu zehn Jahren nelle bewaffnete Gruppen in seiner Heimatregion einge- Haft verurteilt wurde. setzt hatte. Im vergangenen Jahr sammelte Amnesty Inter- national weltweit weiterhin Unterschriften für eine Peti- SOLIDARITÄT MIT MENSCHENRECHTSVERTEIDIGER_INNEN tion, mit der die mexikanische Regierung aufgefordert Weltweit riskieren Menschenrechtsverteidiger_innen ihre wurde, den Mord an Carrillo aufzuklären und seine Ge- Sicherheit, ihre Freiheit oder sogar ihr Leben, indem sie meinde zu schützen. Mit Erfolg: Im Oktober 2020 kündig- sich für die Rechte anderer einsetzen. Amnesty stellt sich te der Gouverneur des mexikanischen Bundesstaates Chi- mit der Kampagne »Mut braucht Schutz« an ihre Seite huahua einen Bericht zur Ermordung Carrillos an. und übt Druck auf die verantwortlichen Behörden und Re- gierungen aus. 2020 setzte sich Amnesty weiterhin für die FLÜCHTLINGSLAGER MORIA elf Menschenrechtsaktivist_innen in der Türkei ein, die Bilder aus Moria zeigten schon vor 2020 die menschenun- seit Sommer 2017 ohne jegliche Beweise wegen Mitglied- würdigen Zustände in dem Flüchtlingslager auf der grie- schaft in einer terroristischen Organisation angeklagt wa- chischen Insel Lesbos. Während des Lockdowns wurde ren. Im Juli kam dann das schockierende Urteil: Das Ge- noch drastischer deutlich, wie unsicher und beengt die richt sprach fünf der Angeklagten frei, verhängte aber Menschen dort eingepfercht waren. Angesichts der Coro- mehrjährige Haftstrafen gegen den Ehrenvorsitzenden von na-Pandemie rief Amnesty gemeinsam mit anderen Orga- Amnesty International in der Türkei Taner Kılıç, die ehe- nisationen erneut dazu auf, das Lager zu evakuieren, um malige türkische Amnesty-Direktorin İdil Eser sowie zwei die Menschen dort nicht noch zusätzlich zu isolieren und weitere Amnesty-Mitglieder. Es war das erste Mal, dass gesundheitlichen Gefahren auszusetzen. Amnesty-Mitglie- Amnesty-Aktivist_innen für ihre Menschenrechtsarbeit ver- der brachten mit Demonstrationen ihre Solidarität mit den urteilt wurden. »Die Verurteilungen sind politisch moti- Menschen in Moria zum Ausdruck. Außerdem richtete Am- viert, willkürlich und missachten jegliche rechtsstaat- nesty zusammen mit anderen Organisationen einen offe- lichen Standards«, sagte der deutsche Amnesty-General- nen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel. »Es braucht sekretär Markus N. Beeko und forderte deutliche interna- einen konzertierten europäischen Rettungsplan, die sofor- tionale Reaktionen, auch der Bundesregierung, auf den tige Evakuierung der Flüchtlinge und die Aufnahme der Tabubruch. Menschen in Deutschland und anderen europäischen Was internationaler Druck bewirken kann, zeigte sich Staaten. Jetzt!«, heißt es darin. Deutschland müsse sich im Fall des ermordeten mexikanischen Umwelt- und Land- während des EU-Ratsvorsitzes für einen Paradigmenwech- rechtsaktivisten Julián Carrillo. Er war 2018 von Unbe- sel in der europäischen Flüchtlingspolitik einsetzen, for- kannten erschossen worden, weil er sich öffentlich gegen derten die Unterzeichner_innen. 9
Amnesty-Mitglied auf der #unteilbar-Demonstration unter dem Motto #SoGehtSolidarisch in Berlin (14. Juni 2020). Queeramnesty auf dem Global Pride Day in Hamburg (Juli 2020). AUF ABSTAND UND DOCH ZUSAMMEN Amnesty International hat auch im Pandemie-Jahr 2020 viele kreative Aktionen auf die Beine gestellt – online und offline. Gemeinsam aktiv werden trotz Ab- mane Asylpolitik einzutreten. Im Juni nicht zum Erliegen. Im Herbst starte- standsregeln? Geht! Amnesty Interna- beteiligte sich Amnesty an Demons- ten ehren- und hauptamtliche Ex- tional hat 2020 gezeigt, dass der trationen des Bündnisses #Unteilbar. pert_innen Online-Workshops zu The- Kampf für die Menschenrechte in Mehrere Tausend Menschen spannten men wie Menschenrechte und Corona Ausnahmesituationen weitergehen in Berlin und weiteren Städten ein oder Digitalisierung. Im Dezember or- kann – und muss: Denn globale Kri- »Band der Solidarität« auf. Unter Ein- ganisierten Aktivist_innen mehr als sen wie die Corona-Pandemie ver- haltung der Abstandsregeln machten 100 Offline- und Online-Aktionen schärfen bestehende Ungleichheiten sie deutlich, dass Menschenrechte zum Briefmarathon. Mit einer kreati- und treffen besonders verwundbare weltweit der Maßstab für die Bewälti- ven Idee brachte Amnesty zum Tag Teile der Gesellschaft mit voller gung der Pandemie sein müssen. der Menschenrechte am 10. Dezem- Wucht. Amnesty-Mitglieder haben am Außerdem forderten sie einen gesell- ber Licht in die dunkle Jahreszeit: 30. Mai 2020 in verschiedenen Städ- schaftlichen Pakt gegen Rassismus, Bundesweit machten Projektionen an ten Deutschlands Mahnwachen und Antisemitismus und Angriffe von Hauswänden auf das Schicksal von Demos veranstaltet, um die Evakuie- rechts. Auch der Winter und die stei- Menschenrechtsverteidiger_innen auf rung des griechischen Flüchtlingsla- genden Infektionszahlen brachten das der ganzen Welt aufmerksam und gers Moria zu fordern und für eine hu- Engagement der Amnesty-Mitglieder animierten zum Briefeschreiben. 10 AMNESTY INTERNATIONAL | RECHENSCHAFTSBERICHT 2020
Amnesty-Tour durch Deutschland (August 2020). Lichtprojektion zum Tag der Menschenrechte in Hanau (11.Dezember 2020). »Retten verboten!« – Amnesty-Aktion in Friedrichsdorf (26. September 2020). Alle Fotos: © Amnesty International Amnesty-Aktion gegen Rassismus in Konstanz (28. August 2020). 11
AKTIV GEGEN RASSISMUS Von diskriminierenden Erfahrungen im Alltag bis hin zu schrecklichen Gewalttaten wie dem Attentat in Hanau – Rassismus ist leider für viele Menschen eine alltägliche Bedrohung. Mit zahlreichen Aktionen forderte Amnesty 2020 dazu auf, Rassismus persönlich zu nehmen. viele verschiedene Veranstaltungen zu diesem Thema organisiert, zum Bei- spiel ein Kulturfest in Ulm, einen Info- stand mit Flashmob in Darmstadt, eine Malaktion in Ellwangen, eine Kundge- bung in Ravensburg und einen Rund- funkgottesdienst in Sankt Wendel. Pandemiebedingt fanden viele Ak- © Amnesty International tionen online statt, auch zum Interna- tionalen Tag gegen Rassismus am 21. März 2020. Amnesty stellte Mate- Amnesty-Aktion gegen Rassismus in Ellwangen (28. August 2020). Rassismus ist ein Angriff auf die Grundidee der Menschenrechte: die Freiheit und Gleichheit aller Men- schen. Wie tödlich Rassismus ist, hat sich im vergangenen Jahr gezeigt: Neun Menschen ermordete der Atten- täter von Hanau im Februar 2020. Foto: Bernd Hartung Und in den USA tötete ein Polizist den Schwarzen George Floyd. Diese Taten haben das Thema Rassismus Amnesty-Generalsekretär Markus N. Beeko (links) und Oberbürgermeister Claus Kaminsky enthüllten wieder stark in den Blickpunkt der eine übergroße Ausgabe der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Hanau (30. Oktober 2020). Öffentlichkeit gerückt. Millionen Akti- vist_innen kamen weltweit in Solida- recht und eine Aufgabe der inneren rial zur Verfügung, das über die sozia- rität mit der »Black Lives Matter«-Be- Sicherheit«, sagte der Generalsekretär len Medien geteilt oder ins Fenster wegung, im Gedenken an die Opfer von Amnesty in Deutschland Markus gehängt werden konnte, um ein klares von Hanau und zu antirassistischen N. Beeko bei der Enthüllung der Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Kundgebungen zusammen. Auch Am- Skulptur in Hanau. »Hier bleiben Po- Wer die Zeit zu Hause während des nesty-Mitglieder unterstützten diese lizei, Justiz und Sicherheitsbehörden Lockdowns für antirassistische Weiter- Demonstrationen bundesweit. gefragt, auch im kritischen Blick nach bildung nutzen wollte, konnte ein kos- Am 30. Oktober stellte Amnesty innen. Hanau, Halle, die Opfer des tenloses Aktionspaket bestellen International gemeinsam mit der NSU, der Mord an Walter Lübcke, die (www.amnesty.de/bestelle-dein-kos- Stadt Hanau auf dem dortigen Frei- vielen Opfer rassistischer Gewalt der tenloses-aktionspaket-gegen-ras- heitsplatz eine überdimensionale All- vergangenen Jahre – sie nehmen uns sismus). Es ist immer noch erhältlich gemeine Erklärung der Menschen- alle in die Pflicht.« und umfasst u. a. eine Broschüre, in rechte auf – als Zeichen für gesell- Rassismus äußert sich aber nicht der Betroffene von alltäglichem Ras- schaftlichen Zusammenhalt und ge- nur in Form von Gewalttaten, sondern sismus in Deutschland erzählen, Ar- gen Rassismus und Gewalt. Das 2,60 auch ganz subtil im Alltag. Amnesty gumentationshilfen sowie Tipps, um Meter hohe Buch ist begehbar, und möchte dazu beitragen, dass Betroffe- auf rassistische Übergriffe zu reagie- man kann darin die 30 Artikel der All- ne gehört werden und Menschen ihr ren. So kann jed_r Einzelne Verant- gemeinen Erklärung der Menschen- Denken, Sprechen und Handeln sowie wortung übernehmen und gegen ras- rechte nachlesen. »Der Schutz vor eigene Privilegien hinterfragen. Akti- sistische Grundannahmen Stellung rassistischer Gewalt ist ein Menschen- vist_innen haben daher im Sommer beziehen. 12 AMNESTY INTERNATIONAL | RECHENSCHAFTSBERICHT 2020
KLIMASCHUTZ IST MENSCHENRECHTSSCHUTZ Die Erderwärmung hat bereits jetzt verheerende Auswirkungen auf die Menschenrechte. Amnesty setzt sich dafür ein, dass der Klimawandel aufgehalten wird und die Menschen geschützt werden, die sich an vorderster Front für Klimagerechtigkeit engagieren. Die Klimakrise ist auch eine Krise der Menschenrechte. abhängig ist. 2008 gründete Jani Silva eine Organisation, Denn die Folgen des Klimawandels machen ein gesundes um das Reservat »La Perla Amazónica« zu schützen. und sicheres Leben unmöglich. Naturkatastrophen töten Wie sie setzen sich viele Menschenrechtsverteidiger_in- Menschen oder vertreiben sie aus ihrer Heimat. Extreme nen weltweit für ihre Rechte und ihre Umwelt ein. Weil ihr Wetterbedingungen verknappen Nahrung und Trinkwasser Engagement so extrem gefährlich ist, macht Amnesty auf und fördern die Ausbreitung von Krankheiten. Außerdem ihr Schicksal aufmerksam und fordert Regierungen auf, verstärkt der Klimawandel Ungleichheit, Diskriminierung sie zu schützen, Straftaten gegen sie aufzuklären und die und Ungerechtigkeit, denn seine Folgen treffen die Men- Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der globale schen besonders hart, die ohnehin schon benachteiligt Kampf gegen die Klimakrise ist eines der wichtigsten The- sind. Aktivist_innen, die sich gegen den Klimawandel ein- men des 21. Jahrhunderts. Amnesty steht solidarisch an setzen, riskieren vielerorts ihre Freiheit und ihr Leben – der Seite derer, die ihn an vorderster Front führen. vor allem dort, wo Grundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht respektiert wer- den. Klimaschutz bedeutet deshalb auch Men- schenrechtsschutz. 2019 gründete Amnesty Deutschland die Themenkoordinationsgruppe »Klimakrise und Menschenrechte«, die sich den Verflechtungen dieser beiden wichtigen Themen widmet. 2020 schlossen sich Amnes- ty-Mitglieder dem globalen Klimastreik an, zu dem die »Fridays for Future«-Bewegung aufge- rufen hatte. Unter Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln gingen sie in Deutschland und weltweit für Klimagerechtigkeit auf die Straße und forderten Regierungen auf, Klima- schutzmaßnahmen zu verstärken und auf sau- bere Energie zu setzen. Gleichzeitig mahnten die Aktivist_innen, dass Klimaschutzmaßnah- men nicht auf Kosten von Menschenrechten ge- hen dürfen, sondern alle Menschen einschlie- ßen müssen. Bei Straßenaktionen und mit einer Online- Petition forderte Amnesty Schutz für die kolum- bianische Umweltaktivistin Jani Silva, die ver- folgt, von Unbekannten eingeschüchtert und mit dem Tode bedroht wird. Silva lebt in einer kleinbäuerlichen Gemeinde in der Amazonasre- gion, die für ihre einmalige Biodiversität be- © Amnesty International kannt ist. Seit 2006 haben Erdölunternehmen die Erlaubnis, dort zu arbeiten. Seither gab es mindestens zwei Öllecks, die Wasserquellen vergifteten, von denen die örtliche Bevölkerung Amnesty beim Klimastreik in Hannover (25. September 2020). 13
DER SPION IN DER HOSENTASCHE Überwachungstechnologie aus Europa gefährdet Menschenrechtsverteidiger_innen in aller Welt. Das Amnesty Security Lab versucht, ihnen zu helfen. Hier ein Klick, da ein Like – alles ganz einfach von unter- gierung ein Jahr zuvor das Internet abgeschaltet hatte, um wegs. Beim Warten auf den Bus schnell noch eine Nach- zu vertuschen, dass bei der Niederschlagung von Protes- richt schreiben oder eine E-Mail lesen. Nur wenige küm- ten mindestens 300 Menschen getötet wurden. mern sich darum, wie die kleinen High-Tech-Geräte in un- Etienne Mayniers Arbeit besteht jedoch darin, Späh- serer Hosentasche eigentlich genau funktionieren. Sind angriffe auf Menschenrechtsaktivist_innen aufzudecken. wir überhaupt die einzigen, die Zugriff auf unser Handy »Wir haben auf dem Handy von Bui Thanh Hieu eine Mail haben? Was ist, wenn Fremde auf Kamera, GPS oder von einer Gruppe namens Ocean Lotus gefunden«, sagt er. Mikrofon zugreifen und private Nachrichten mitlesen? »Wir können nicht beweisen, dass die vietnamesische Da gibt es beispielsweise den Fall von Bui Thanh Hieu. Regierung hinter den Angriffen steckt, aber wir sind uns Der Vietnamese lebt in Deutschland und bloggt unter dem ziemlich sicher.« Pseudonym Nguoi Buon Gio kritisch über die Regierung in Ein anderer Fall ist der des preisgekrönten marokkani- Hanoi. Irgendwann erhielt er eine Mail. Sie wirkte, als schen Journalisten Omar Radi. Der Regierungskritiker stamme sie vom Veranstalter einer Konferenz, an der er wandte sich an die Spezialist_innen von Amnesty Interna- teilnehmen wollte. Als Bui Thanh Hieu die Mail anklickte, tional, als er bemerkte, dass vertrauliche Informationen lud er sich Spähsoftware auf sein Handy, mit dem sich die an die Öffentlichkeit gelangten, wie zum Beispiel seine Angreifer_innen heimlich Zugriff verschafften. Kontoauszüge und sensible Gesprächsinhalte. Etienne Etienne Maynier hat die Spyware auf dem Handy des Maynier und sein Team fanden Spuren von Pegasus, einer vietnamesischen Bloggers entdeckt. Der Franzose ist für Software, mit der sich das Handy praktisch fernsteuern das Amnesty Security Lab tätig, das 2019 in Berlin einge- lässt. richtet wurde. »Wir haben bei Amnesty-Tech zwei Haupt- »Im Fall von Ocean Lotus fiel sofort auf, dass vietna- bereiche«, erklärt Maynier. »Ein Teil von uns wertet Videos, mesische Staatsbürger angegriffen wurden. Daher gab es Fotos und andere Daten aus, um Menschenrechtsverlet- einen schweren Anfangsverdacht, den wir zu beweisen ver- zungen nachzuweisen.« So veröffentlichte Amnesty im No- suchen. Bei Omar Radi war es etwas anders. Das italieni- vember 2020 einen Bericht darüber, wie die iranische Re- sche Spähunternehmen Hacking-Team wurde selbst Opfer Foto: Fanny Hedenmo Der Journalist Omar Radi im März 2019 in Casablanca, Marokko. 14 AMNESTY INTERNATIONAL | RECHENSCHAFTSBERICHT 2020
Zeichnung: Doan Troung / Amnesty eines Hacks, und die Daten verrieten, dass die marokkani- dem die ersten Vorschläge von EU-Kommission und EU- sche Regierung mit dem Unternehmen zusammenarbeite- Parlament Hoffnungen weckten, ist die tatsächliche Bilanz te. Die gefundene Pegasus-Software stammt jedoch aus der Dual-Use-Reform eher durchwachsen«, urteilt Rohr- Israel.« bach. Mit der Kampagne »Nie Allein« hat Amnesty an das Marokko, Vietnam, Israel – das klingt zunächst nach Bundeswirtschaftsministerium appelliert, damit Software- einer weit entfernten Bedrohung. Es sind jedoch zahl- Exporte, die Menschenrechtsverteidiger_innen in große reiche europäische Unternehmen, die autoritären Regimes Gefahr bringen können, besser kontrolliert werden. »Es rund um den Globus die Überwachung unliebsamer Per- gibt jetzt tatsächlich ein paar greifbare Verbesserungen, sonen ermöglichen. Da ist zum Beispiel das schwedische aber weiterhin stehen viele Produkte, die zu Menschen- Unternehmen Axis Communications, das hochauflösende rechtsverletzungen führen können, nicht auf den Listen«, Netzwerkkameras zur Videoüberwachung an Chinas Si- zeigt sich Rohrbach enttäuscht. cherheitsbehörden verkauft hat. Die Firma Idemia aus Auch Etienne Maynier fordert: »Wir brauchen klare Frankreich lieferte modernste Gesichtserkennungstechno- Rahmenbedingungen. Das Internet wurde nicht mit dem logie nach Shanghai. Und der Staatstrojaner Finspy des Ziel erfunden, besonders sicher zu sein. Daher müssen die Münchner Unternehmens Finfisher wurde nicht nur von Regeln nun immer weiter nachjustiert werden.« Und die deutschen Behörden erworben, er wurde auch schon in User selber? Worauf sollten sie seiner Meinung nach ach- Ägypten, Äthiopien, Bahrain, Marokko, Nigeria und den ten? »Dass Daten gesammelt werden, ist ja bekannt. Die Vereinigten Arabischen Emiraten nachgewiesen. Geschäftsmodelle von Google, Facebook oder Amazon sind Dass der Export von Spionagesoftware überhaupt grundsätzlich kaum mit den Menschenrechten kompati- erlaubt ist, liegt an zahlreichen Gesetzeslücken und bel. Allerdings steht bei ihnen die Werbung im Vorder- Grauzonen, sagt Lena Rohrbach, Fachreferentin bei Am- grund. Letztendlich muss jede Person selber wissen, wie- nesty International Deutschland. »Produkte, die sowohl viel ihr ihre Privatsphäre wert ist.« militärisch als auch zivil genutzt werden können, werden Wirklich skeptisch sollten User aber werden, wenn sie als ›Dual-Use-Güter‹ bezeichnet. Chemikalien gehören Nachrichten erhalten, die sie dazu auffordern, bestimmte dazu, aber auch bestimmte Elektronik oder Maschinen. Dinge zu tun: »Bei Nachrichten, die Angst erzeugen, ist Die EU führt Listen mit Dual-Use-Gütern, deren Export auf jeden Fall Vorsicht geboten. Wenn mir jemand genehmigungspflichtig ist. Auf diesen Listen stehen aber schreibt, vielleicht sogar ein Freund, den ich gut kenne, nur wenige Überwachungstechnologien. Biometrische dass ich unbedingt auf diese oder jene Seite klicken soll. Gesichtsüberwachung wird zum Beispiel nicht aufge- Oder wenn mir suggeriert wird, dass ich gehackt wurde, führt.« und ich nun unbedingt eine ganz bestimmte Webseite Erst im November einigten sich die EU-Staaten auf besuchen soll, dann sind das Warnsignale, die auf einen neue Exportkontrollen solcher Güter. Allerdings: »Nach- gezielten Angriff hinweisen können.« 15
DIE DIGITAL-PROFIS BEI AMNESTY Die Onlineredaktion koordiniert einen Großteil der Internet-Aktivitäten der deutschen Amnesty-Sektion. Das Team tüftelt außerdem an neuen Möglichkeiten, damit sich Unterstützer_innen auf digitalem Weg für die Menschenrechte einsetzen können. Ein Anliegen, das durch die Corona-Pandemie noch wichtiger geworden ist. Ein blaues Amnesty-Logo, leicht ver- pixelt, keine Fotos und vier Menü- punkte: Aktionen, Brennpunkt, Infos, Suchen. Schlicht und übersichtlich © Amnesty International sah die deutschsprachige Amnesty- Website im Jahr 1997 aus. Wer will, kann sich das ehrenamtliche Gemein- schaftsprojekt der Amnesty-Sektionen Die Online-Redaktion im Homeoffice: Daniel Kreuz, Clara Sölch, Parastu Sherafatian, aus Deutschland, Österreich und der Matthias Wahsner und Jarek Godlewski. Schweiz auch heute noch mithilfe der Non-Profit-Plattform »Wayback Ma- Sektion zum Internet und betreut die gen Hate Speech gehört zum Aufga- chine« anschauen. diversen Social-Media-Kanäle sowie benbereich. Im Jahr 2020 ist die deutsche Am- den Amnesty-Newsletter. Kein Tag Doch die Mühe lohnt sich, denn nesty-Website weitaus komplexer, die ohne Output: Sechs Webartikel, Jour- Online-Aktionen motivieren immer Arbeitsabläufe sind vielfältiger und die nal-Beiträge und Pressemitteilungen wieder viele Unterstützer_innen, sich Menschen, die sich darum kümmern, veröffentlicht die Onlineredaktion im für Menschenrechte einzusetzen. Wie zahlreicher. Der technologische Fort- Wochendurchschnitt. Hinzu kommen zum Beispiel im Fall der saudi-arabi- schritt hat die Arbeit von Amnesty ver- mindestens 100 Social-Media-Pos- schen Frauenrechtlerin Loujain al- ändert, der Einsatz für den Einzelfall tings auf Twitter, Instagram und Face- Hathloul. Nach mehr als 1.000 Tagen ist geblieben. »Unser Blick gilt immer book. Während des Briefmarathons im Gefängnis wurde sie im Februar dem aktuellen Geschehen und den können es aber auch mal 150 wer- 2021 endlich aus der Haft entlassen. Menschen, die unsere Hilfe benöti- den. Alle Veröffentlichungen folgen Zuvor hatten Amnesty-Unterstüt- gen«, sagt Jarek Godlewski, Fachrefe- einer abgestimmten Kommunikations- zer_innen im Rahmen zahlreicher On- rent im Team Onlineredaktion, Digital strategie, um auf wichtige Themen line-Aktionen und der Amnesty-Kam- & Social Media. Zusammen mit zwei schnell reagieren zu können. pagne »Mut braucht Schutz« ihre weiteren Referenten und zwei Werkstu- Das Online-Team muss die Social- Freilassung gefordert. dentinnen gehört er zum Kernteam der Media-Kanäle im Blick behalten und Die Digitalisierung verändert die Onlineredaktion. Unterstützung erhal- dafür sorgen, dass Anfragen, Be- Menschenrechtsarbeit von Amnesty ten sie von externen Mitarbeiter_innen schwerden oder Hilferufe beantwortet und auch die Möglichkeiten, wie sich – denn zu tun gibt es immer etwas. werden. Bei insgesamt mehr als Unterstützer_innen für die Menschen- Ob Online-Aktionen, Kampagnen, 452.000 Personen, die Amnesty auf rechte engagieren können. Diese Ent- Berichte oder Interviews: Die Online- Instagram, Twitter und Facebook fol- wicklung im Sinne von Amnesty zu redaktion bildet die Schnittstelle der gen, keine leichte Aufgabe. Denn gestalten und einzusetzen – dafür Aktivitäten der deutschen Amnesty- auch das konsequente Vorgehen ge- sorgt die Onlineredaktion. 16 AMNESTY INTERNATIONAL | RECHENSCHAFTSBERICHT 2020
»DIE PROTESTE WERDEN NICHT AUFHÖREN« Die Rechtsanwältin Jovanka Worner engagiert sich seit mehr als zehn Jahren in einer Amnesty-Koordinationsgruppe für die Menschenrechte in Belarus. Ausgerechnet im Pandemie-Jahr 2020 gingen in dem Land Hunderttausende auf die Straße. Es kommt nicht oft vor, dass Amnesty die Menschen treffen sich nun eher rung weiter verstärkt. Als die Pande- International in die Botschaft eines in Hinterhöfen, was nicht minder mie in Belarus ausbrach, nahm autoritären Staats eingeladen wird. gefährlich ist. Seit dem Beginn der Staatspräsident Lukaschenko sie Doch genau dies ist Ihnen passiert. Proteste haben die Sicherheitskräfte überhaupt nicht ernst. Er empfahl als Wie kam es dazu? Als nach der Präsi- mindestens 27.000 Menschen inhaf- Gegenmaßnahmen, Wodka zu trinken, dentschaftswahl in Belarus im Som- tiert, vier Demonstrierende wurden in die Sauna zu gehen und Traktor zu mer 2020 Massenproteste ausbra- getötet. Wer festgenommen wird, fahren. Und er machte sich über die- chen, reagierte der Sicherheitsapparat muss mit dem Schlimmsten rechnen. jenigen lustig, die an Corona gestor- mit brutaler Gewalt. Wir riefen Am- Im Gefängnis werden Menschen ver- ben waren. Auch das brachte die nesty-Mitglieder dazu auf, gegen die- prügelt, müssen stundenlang in Menschen gegen ihn auf. ses Unrecht zu protestieren. Men- schmerzhaften Positionen verharren Auch für Ihre menschenrechtliche schen aus ganz Deutschland schick- oder werden mit Schlafentzug gefol- Arbeit hatte die Corona-Krise Konse- ten uns Selfies, auf denen sie Protest- tert. Wir konnten Anfang dieses Jah- quenzen. Sie konnten ausgerechnet schilder in die Kamera hielten. Wir res mit der LGBTI-Aktivistin Victoria im Protestjahr 2020 nicht nach Bela- machten daraus eine Collage und Biran sprechen, die selbst in Haft rus einreisen. Ja, darüber waren wir fragten bei der Botschaft an, ob wir war. Ihre Schilderungen waren scho- sehr traurig. Es ist für uns wichtig, re- sie persönlich übergeben können. ckierend. gelmäßig das Land zu besuchen, um Und das klappte? Ja, wir waren Wie hat sich die Corona-Krise auf unsere Kontakte zu pflegen. Wir hof- selbst überrascht. Der Botschafter hat die Stimmung in Belarus ausgewirkt? fen, dass wir unsere Reise in diesem uns persönlich empfangen. Gleich zu Sie hat den Unmut gegen die Regie- Jahr nachholen können. Beginn des Gesprächs erzählte er, dass er fast täglich Protestschreiben von Amnesty-Unterstützer_innen auf dem Schreibtisch hat. Rund eine Stunde konnten wir mit ihm über die Menschenrechtsverletzungen in Bela- rus sprechen. Natürlich waren wir unterschiedlicher Meinung, aber es ist positiv, dass wir unsere Forderun- gen deutlich machen konnten. Belarus erlebte 2020 die größten Proteste seit dem Ende der Sowjet- union. Auch in der Vergangenheit gab es Proteste gegen Wahlfälschungen. Doch dieses Mal gingen Menschen aus allen Bevölkerungsschichten im ganzen Land auf die Straße. Sie ha- ben sich jahrzehntelang vieles gefal- len gelassen. Aber jetzt hat es ihnen Foto: Ralf Rebmann gereicht. Sie werden auch nicht mehr aufhören, zu protestieren. Doch gehen inzwischen deutlich Ungewöhnlicher Besuch: Jovanka Worner und Amnesty-Generalsekretär Markus N. Beeko vor der weniger Menschen auf die Straße. Ja, belarussischen Botschaft in Berlin (10. September 2020). 17
LERNEN, DEN EIGENEN VORURTEILEN ZU MISSTRAUEN Thomas Müller ist pensionierter Polizeibeamter und Sprecher der Themenkoordinationsgruppe Polizei und Menschenrechte. Im Gespräch erzählt er, warum er sich bei Amnesty engagiert. Mitten in der Corona-Pandemie rüttelte ein Video die Welt »Knapp ein Drittel der Gruppenmitglieder hat tatsäch- auf. Es zeigte die letzten Sekunden im Leben von George lich Polizeibezug, der Rest hat keinen. Das hilft uns, ei- Floyd, der einen Polizisten, der auf seinem Hals kniet, an- nen Tunnelblick zu vermeiden.« Etwa zwei Mal im Jahr flehte, ihn atmen zu lassen. Weltweit gingen daraufhin die trifft sich die Gruppe. Corona-bedingt gibt es derzeit aller- Menschen auf die Straße, um gegen Rassismus und Poli- dings nur regelmäßige Online-Meetings. zeigewalt zu demonstrieren – auch in Deutschland. »Über meine Arbeit als Integrationsbeauftragter in Bre- »Dieser tragische Tod hat unsere Arbeit weit mehr be- men bin ich 2010 zu Amnesty gestoßen«, erklärt Müller. einflusst, als alles andere zuvor«, sagt Thomas Müller, Die ersten Jahre habe er seine Mitgliedschaft noch geheim Sprecher der Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Polizei gehalten, um nicht als Nestbeschmutzer zu gelten. »Es und Menschenrechte. »Die ‚Black Lives Matter‘-Bewegung gab schon ein paar, die mich für einen Verräter hielten.« hat uns wie eine Welle erwischt.« Mit »uns« meint Müller Seine Vorgesetzten hingegen hätten ihn immer unter- seine elf Mitstreiter_innen in der Gruppe: »Im Zuge der stützt. Demos haben sich viele Interessierte bei uns gemeldet.« Hat denn die deutsche Polizei wirklich ein Rassismus- Künftig könnte die Gruppe fast doppelt so groß werden. problem? »Ich würde sagen, die inneren Strukturen der Der pensionierte Polizeibeamte hat in seiner 40-jähri- Polizei sind nicht per se rassistisch. Sie verhindern Ras- gen Dienstzeit viel erlebt. Nach 18 Jahren Streifendienst sismus aber auch nicht. Und daran müssen wir arbeiten. in Bremen studierte er Kriminologie und wechselte zur Als Polizist ist es wichtig, den eigenen Vorurteilen zu Kripo. Er kennt die schönen und weniger schönen Seiten misstrauen.« des Berufes. Er weiß auch, was gemeint ist, wenn von In den elf Jahren Amnesty-Arbeit habe sich viel getan, »Korpsgeist« bei der Polizei die Rede ist. versichert Müller. »Wir sind damals in Bremen regelrecht ausgelacht worden. Aber im neuen Bremer Polizeigesetz sind inzwischen sehr viele unserer Forderungen be- rücksichtigt. Auch in Nord- rhein-Westfalen haben wir viel bewirkt. Das waren di- cke Bretter, die wir da ge- bohrt haben.« Trotzdem gibt es noch viel zu tun: »Polizisten ler- nen von Polizisten, die von Polizisten gelernt haben. Daher müssen die Ausbilder besser geschult werden. Es gibt auch noch keinen wirk- lichen Schutz von Whistle- blowern. Das muss sich än- dern.« Und Müllers Zu- Foto: Grzegorz Żukowski kunftswunsch? »In gutem Austausch bleiben. Man muss die Polizei ernst neh- Polizeieinsatz bei Protesten gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze in Polen, Warschau (29. Januar 2021). men, und das tun wir.« 18 AMNESTY INTERNATIONAL | RECHENSCHAFTSBERICHT 2020
»CORONA DARF KEINE AUSREDE SEIN« Politischer Aktivismus in Zeiten der Pandemie ist nicht einfach. Doch für die Amnesty-Jugend war es im Corona-Jahr 2020 wichtiger denn je, lautstarken Protest zu organisieren. Abstand halten? Hände waschen? Abends mit den Großeltern chatten? Im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos war daran 2020 nicht zu denken. »Natürlich hat uns die Pandemie auch in Deutsch- land hart getroffen«, sagt Alena Dietl, Sprecherin der Jugendvertretung von Amnesty. »Sie darf aber keine Ausre- de sein, sich nur noch mit sich selbst zu beschäftigen und die Augen davor zu verschließen, was an Europas Außengrenzen passiert.« Für die Amnesty-Jugend war es da- her wichtig, gerade in Zeiten der Pan- demie auf die Brutalität der europäi- schen Asylpolitik aufmerksam zu ma- chen. Moria ist längst zu deren Sinn- bild geworden: Das Flüchtlingslager war ursprünglich für 2.800 Menschen ausgelegt, Anfang 2020 lebten dort jedoch etwa 20.000 Geflüchtete – also mehr als sieben Mal so viele. Nahrung war knapp, wer sich die © Amnesty International Hände waschen wollte, musste Schlange stehen, ständig fehlte Seife. Für das gesamte Lager gab es offiziell nur zwei Ärzte. Im Oktober machte Jugendsprecherin Alena Dietl bei einer Kundgebung in Göttingen (30. Mai 2020). ein Großbrand mehr als die Hälfte der Geflüchteten obdachlos. das Thema traurig und furchtbar ist, Doch je länger die Corona-Krise Als im Mai der erste Lockdown in hat uns die Kundgebung auch Kraft andauerte, desto mehr wurde spürbar, Deutschland endete, organisierte die gegeben«, so Alena Dietl. »Wir haben dass Videokonferenzen und Online- Amnesty-Jugend Demos in zehn deut- nach den langen Wochen des Lock- Aktionen echte Begegnungen nicht er- schen Städten, um ihre Solidarität downs und Isoliert-Seins endlich wie- setzen können. »Wenn alles nur noch mit den Geflüchteten auszudrücken. der gespürt: Wir können etwas be- digital stattfindet, fehlt einfach viel«, »Ich war auf der Kundgebung in Göt- wegen, wir sind lebendig.« sagt Alena Dietl. »Der lockere Aus- tingen«, sagt Alena Dietl. »Rund 100 Ansonsten spielte sich auch für tausch beim Mittagessen, das infor- Menschen demonstrierten mit uns. Es die Jugend- und Hochschulgruppen melle Gespräch in der Pause und die war eine sehr verrückte Situation, weil das meiste im digitalen Raum ab. So Blicke der anderen, die so wichtig zwei Straßen weiter eine riesige Pro- machten sie beispielsweise bei der sind, um Emotionen zu deuten.« Eines testkundgebung von Corona- Jugendaktionswoche kurz vor Pfings- ist 2020 klar geworden: Der Kampf Leugner_innen stattfand.« ten mit Online-Diskussionen, digitalen für eine gerechtere Welt ist in Zeiten Die jungen Aktivist_innen forder- Vorträgen und einer Social-Media- von Abstand halten und Kontaktbe- ten alle europäischen Staaten auf, die Kampagne auf die digitale Überwa- schränkungen keine leichte Sache. Geflüchteten aus Moria und anderen chung von Menschenrechtsverteidi- Denn menschenrechtlicher Aktivismus Massenlagern zu evakuieren. »Obwohl ger_innen aufmerksam. will soziale Distanz überwinden. 19
Sie können auch lesen