AKTIONEN, ERFOLGE, ZAHLEN + FAKTEN. DAS JAHR 2020 - RECHENSCHAFTSBERICHT

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AKTIONEN, ERFOLGE, ZAHLEN + FAKTEN. DAS JAHR 2020 - RECHENSCHAFTSBERICHT
AKTIONEN, ERFOLGE,
ZAHLEN + FAKTEN.
DAS JAHR 2020
RECHENSCHAFTSBERICHT
AKTIONEN, ERFOLGE, ZAHLEN + FAKTEN. DAS JAHR 2020 - RECHENSCHAFTSBERICHT
IMPRESSUM
    © Amnesty International Deutschland e.V.
    V.i.S.d.P.: Anton Landgraf
    Redaktion: Sylvia Degen, Mascha Rohner, Birgit Stegmayer
    Lektorat: Wera Reusch
    Redaktionelle Mitarbeit: Matthias Adler, Hannah el-Hitami,
    Andreas Koob, Ramin Nowzad, Ralf Rebmann,
    Natacha Rothenbühler, Stefan Wirner
    Gestaltung: schrenkwerk.de
    Druck: Hofmann Druck Nürnberg
    Art.Nr.: 04021
    Titelfoto: Amnesty auf der #unteilbar-Demonstration
    am 14. Juni 2020 in Berlin.
    Foto: Jarek Godlewski / Amnesty

    SPENDENKONTO:
    Amnesty International
    Bank für Sozialwirtschaft
    IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00
    BIC: BFS WDE 33XXX

                                                                   AMNESTY INTERNATIONAL setzt sich auf
                                                                   der Grundlage der Allgemeinen
                                                                   Erklärung der Menschenrechte für
                                                                   eine Welt ein, in der die Rechte
                                                                   aller Menschen geachtet werden.
                                                                   Die Stärke der Organisation liegt im
                                                                   Engagement von weltweit zehn
    Hier Gruppenadresse einstempeln:                               Millionen Menschen unterschied-
                                                                   licher Nationalitäten und Kulturen.
                                                                   Gemeinsam setzen sie Mut, Kraft
                                                                   und Fantasie für eine Welt ohne
                                                                                                                     Foto: Jarek Godlewski / Amnesty

                                                                   Menschenrechtsverletzungen ein.
                                                                   1977 erhielt Amnesty den
                                                                   Friedensnobelpreis.

2                                                                AMNESTY INTERNATIONAL | RECHENSCHAFTSBERICHT 2020
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VEREHRTE UNTERSTÜTZER_INNEN,
LIEBE FREUND_INNEN,
2020 war ein Jahr, in dem Covid-19 weltweit Pläne über
den Haufen warf, bisherige Sicherheiten und Erwartungen
durcheinanderwirbelte und Selbstverständlichkeiten in
kürzester Zeit infrage stellte.
    Wie wird der Staat seiner Schutzpflicht für Risikogrup-
pen gerecht? Erhalten alle die nötige Gesundheitsversor-
gung? Welche Rechte dürfen wann und wie eingeschränkt
werden? Wie gewährleisten wir das Recht auf Bildung?
Was bedeutet Solidarität in der Krise, wie achten wir auf
die Schwächsten in unserer Gesellschaft?
    Fragen, die in demokratischen Rechtsstaaten mit
intakten Gesundheitssystemen und wirtschaftlichen
Sofortprogrammen die Gemüter erhitzten. In anderen
Teilen der Welt führte die Pandemie zu vielfältigen
Menschenrechtsverstößen und massiven Auswirkungen
für Menschen, die fern von zu Hause gestrandet waren,

                                                                                                                             Foto: Henning Schacht
die plötzlich ohne Einkommen, Dach über dem Kopf oder
Nahrung waren; die häuslicher Gewalt oder drakonischen,
behördlichen Maßnahmen ausgesetzt waren. Die Corona-
Krise war und ist eine Menschenrechtskrise!
    Staaten mit »Vorerkrankungen« bei Rechtsstaatlichkeit     schooling und der Sorge um Eltern betroffen waren (siehe
oder mit mangelnden Sozialsystemen missachteten ihre          Seiten 10–11). Möglich gemacht haben das die vielen
Schutzpflicht, erklärten die Pandemie zur »leichten Grip-     Amnesty-Unterstützer_innen, Spender_innen und För-
pe«, nahmen Tote und Folgen für die Schwächsten »in           der_innen, die uns in der Krise treu geblieben sind und
Kauf«. Autoritäre Staaten nutzten Covid-19, um Rechte         uns weiter unterstützt haben. Danke!
einzuschränken, digitale Überwachungssysteme auszubau-            Wir müssen zwar alle weiterhin Abstand halten, aber
en oder bestimmte Bevölkerungsgruppen bewusst schutz-         Amnesty wird dennoch hinschauen. Und aktiv bleiben.
los zu lassen. Vielerorts – in Venezuela, der Türkei, im      Zu den Auswirkungen der Pandemie. Zu Konflikten und
Niger oder in China – wurden Menschen verfolgt, die über      Krisen. Ob in Myanmar, Hongkong oder in Äthiopien. Ob
Fehler bei der Pandemiebekämpfung berichteten. Im Iran        für Schutzsuchende und Lebensretter_innen auf dem
ging man mit Gewalt gegen Protestierende vor, die den         Mittelmeer (siehe Seite 25) oder für Rechtsstaatlichkeit
fehlenden Schutz in Gefängnissen kritisierten, in Angola      in Polen und Ungarn (siehe Seite 23). Weiter im Blick
wurden Ausgangssperren mit Schusswaffen durchgesetzt.         behalten wir auch die Zukunftsherausforderungen Klima-
Und selbst »die Helden an der Pandemie-Front«, wie zum        krise und Digitalisierung (siehe Seiten 13–15).
Beispiel Beschäftigte im Gesundheitswesen, wurden oft             2021 bleibt ein herausforderndes Jahr. Mut machen
allein gelassen.                                              mir die vielen Menschen, die sich mit uns für die
    Amnesty reagierte: Unsere Researcher fanden Wege,         Menschenrechte einsetzen. Ihnen allen – Danke!!!
trotz Lockdown und Reisebeschränkungen Menschen-
rechtsverletzungen zu dokumentieren, Betroffene zu inter-     Ihr
viewen und Beweismaterial, wie Satellitenbilder, zu si-
chern und zu sichten.
    Ehrenamtlich Aktive und Mitarbeiter_innen an unter-
schiedlichsten Orten der Welt fanden Wege, die Arbeit         Markus N. Beeko
fortzusetzen, auch wenn sie selbst von Lockdowns, Home-       Generalsekretär

                                                                                                                         3
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ERFOLGE WELTWEIT

                                                                        FRANKREICH: Sein Einsatz wurde zum
                                                                        Symbol für Mitmenschlichkeit: Der Oli-
                                                                        venbauer Cédric Herrou aus dem franzö-
                                                                        sischen Roya-Tal wurde 2016 und 2017
                                                                        mehrmals festgenommen, weil er Hun-
                                                                        derte junge Flüchtlinge bei sich aufge-
                                                                        nommen hatte. Andere Bewohner_innen
                                                                        des Bergdorfs spendeten Essen und Klei-
                                                                        dung. Die Staatsanwaltschaft klagte Her-
                                                                        rou schließlich wegen »Beihilfe zu illega-
                                                                        ler Einreise und illegalem Aufenthalt« an,
                                                                        ihm drohten fünf Jahre Haft und eine
                                                                        Geldstrafe von bis zu 30.000 Euro. Welt-
                                                                        weit solidarisierten sich Menschen mit
                                                                        ihm, auch Amnesty setzte sich für ihn
                                                                        ein. Die Aktionen zeigten Wirkung: Im
                                                                        Mai 2020 sprach ihn ein Gericht frei.
USA: Sie landete unter Donald
Trump im Gefängnis: Die
Transfrau Kelly González                                                MALTA: Mehr als einen Monat hat die mal-
Aguilar war in den USA drei                                             tesische Regierung Hunderte Migrant_in-
Jahre lang inhaftiert, davon                                            nen auf Schiffen gefangen gehalten –
mehrere Monate in Isolationshaft. Ihr ein-                              ohne jeden Kontakt zur Außenwelt. Nach
ziges Verbrechen: Sie war 2017 in das                                   internationalen Protesten durften die
Land geflüchtet, weil sie in ihrer Heimat                               rund 425 Menschen Anfang Juni 2020
Honduras wegen ihrer Identität Gewalt                                   endlich an Land. Wochen zuvor waren
und Missbrauch erfahren musste. Zehn-                                   sie im Mittelmeer in Seenot geraten und
tausende Menschen hatten sich nach ih-                                  nach ihrer Rettung auf eigens dafür ge-
rer Festnahme gemeinsam mit Amnesty                                     pachtete Fährschiffe verfrachtet worden.
für sie eingesetzt. Am 14. Juli 2020 durf-                              Die maltesischen Behörden nutzen die
te sie endlich die Haftanstalt verlassen.                               Corona-Pandemie ab April 2020 gezielt
»Ich danke euch allen für eure Unter-                                   als Vorwand, um Migrant_innen nicht an
stützung«, sagte sie nach ihrer Freilas-                                Land zu lassen.
sung. »Dank eurer enormen Anstrengun-
gen wurde mein Recht auf Freiheit end-
lich anerkannt. Ich bin glücklich.«

                            GUATEMALA: Gerechtigkeit für Corona-Hel-              ARGENTINIEN: Es ist eine histo-
                            fer_innen: Ohne sie wäre die Behand-                  rische Entscheidung: Argenti-
                            lung von Infizierten nicht möglich gewe-              nien hat im Dezember 2020
                            sen, trotzdem wurden sie auf die Straße               Schwangerschaftsabbrüche
                            gesetzt. Ein provisorisches Covid-19-                 legalisiert. Künftig können
                            Krankenhaus in Guatemala-Stadt hatte                  Schwangerschaften bis zur 14. Woche
                            im Juni 2020 Dutzende Menschen ent-                   straffrei beendet werden, die Kosten da-
                            lassen, die für Reinigung und Instandhal-             für trägt das öffentliche Gesundheitssys-
                            tung der Klinik zuständig waren – ohne                tem. In dem Land gab es staatlichen
                            sie für ihre Arbeit zu bezahlen. Die 46               Schätzungen zufolge jedes Jahr zwi-
                            Personen hatten zweieinhalb Monate für                schen 370.000 und 520.000 heimliche
                            das Krankenhaus gearbeitet, doch auf ih-              Schwangerschaftsabbrüche. Komplika-
                            ren Lohn warteten sie bis zuletzt verge-              tionen kosteten unzähligen Menschen
                            blich. Amnesty International sammelte                 das Leben. »Dies ist ein Sieg der Frauen-
                            weltweit Unterschriften, um gegen dieses              bewegung in Argentinien, die seit Jahr-
                            Unrecht zu protestieren. Mit Erfolg: Im               zehnten für ihre Rechte kämpft«, sagte
                            August wurden die Entlassenen endlich                 Mariela Belski, die Geschäftsführerin von
                            für ihre geleistete Arbeit bezahlt.                   Amnesty International Argentinien.

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AKTIONEN, ERFOLGE, ZAHLEN + FAKTEN. DAS JAHR 2020 - RECHENSCHAFTSBERICHT
Tagtäglich werden die Rechte von Menschen weltweit verletzt. Amnesty International setzt sich für
  diese Menschen ein: Mit Appellaktionen, Recherchen vor Ort, Länder- und Themenberichten sowie
  Kampagnen- und Lobbyarbeit. Dadurch konnten auch im Jahr 2020 wieder zahlreiche Menschen aus
  der Haft befreit, Menschenrechtsverstöße aufgedeckt und diskriminierende Gesetze abgeschafft
  werden. Hier sind einige Beispiele.

            DÄNEMARK: Es ist ein großer
            Sieg im Kampf gegen sexuali-
            sierte Gewalt: Das dänische
                                                                                           AFGHANISTAN: Opfer von Menschenrechts-
            Parlament hat im Dezember
                                                                                           verletzungen in Afghanistan dürfen auf
            2020 ein Gesetz verabschie-
                                                                                           Gerechtigkeit hoffen: Fatou Bensouda,
            det, das endlich anerkennt, was selbst-
                                                                                           die Chefanklägerin des Internationalen
            verständlich sein sollte: Sex ohne Zu-
                                                                                           Strafgerichtshofs, wird wegen mutmaß-
            stimmung ist Vergewaltigung. Damit
                                                                                           licher Kriegsverbrechen in Afghanistan
            folgte das Land seinem Nachbarn
                                                                                           ermitteln – auch gegen das US-Militär
            Schweden, das bereits 2018 ein ähnli-
                                                                                           und die CIA. Zunächst hatten ihr die
            ches Gesetz eingeführt hatte. Zuvor spra-
                                                                                           Richter_innen in Den Haag die Ermittlun-
            chen die dänischen Behörden nur dann
                                                                                           gen untersagt, da eine Strafverfolgung
            von Vergewaltigung, wenn der Täter Ge-
                                                                                           keine Aussicht auf Erfolg habe. Amnesty
            walt angewendet oder mit Gewalt gedroht
                                                                                           hatte die Entscheidung damals kritisiert.
            hatte oder wenn sich das Opfer in einem
                                                                                           Die USA erkennen den Internationalen
            Zustand befand, in dem es sich dem Vor-
                                                                                           Strafgerichtshof nicht an und haben be-
            gehen nicht widersetzen konnte.
                                                                                           reits angekündigt, Bensouda und andere
                                                                                           Mitarbeiter_innen des Gerichts mit Sank-
                                                                                           tionen zu belegen.

                                                                                           VIETNAM: Ihre Freilassung
                                                                                           kam völlig überraschend:
                                                                                           Die Bloggerin Tran Thi Nga
                                                                                           konnte im Januar 2020 das
                                                                                           Gefängnis verlassen. Ein Ge-
                                                                                           richt hatte sie 2017 zu neun Jahren Haft
                                                                                           verurteilt, weil sie im Internet über Men-
                                                                                           schenrechtsverletzungen in ihrer Heimat
                                                                                           berichtet hatte. Nach ihrer Freilassung
                                                                                           musste sie ihr Land verlassen, inzwi-
                                                                                           schen lebt sie mit ihrem Lebensgefährten
                                                                                           und ihren beiden Söhnen in den USA.
                                                                                           »Ich danke Amnesty International für
                                                                                           den unermüdlichen Einsatz für meine
                                                                                           Freiheit«, sagte Tran Thi Nga vor ihrer
                                                                                           Ausreise. »Ich bin froh, dass meine Fa-
SÜDSUDAN: Drei Jahre musste                    ÄGYPTEN: Die ehemalige
                                                                                           milie nun wieder vereint ist und dass wir
er um sein Leben fürchten,                     Schauspielerin Amal Fathy
                                                                                           in Frieden leben können.«
nun ist die Todesstrafe abge-                  muss nicht mehr um ihre
wendet. Magai Matiop                           Freiheit bangen. Die junge
Ngong war gerade einmal 15                     Ägypterin hatte ab Mai 2018
Jahre alt, als ihn 2017 ein Gericht zum        acht Monate in Untersuchungshaft ver-
Tode verurteilte. Der Grund: Während ei-       bracht, weil sie auf Facebook ein Video
nes Streits hatte sich ein Schuss aus sei-     hochgeladen hatte, in dem sie sich be-
nem Gewehr gelöst und seinen Cousin            klagte, in einer Bank sexuell belästigt
getötet. Nach internationalem Recht dür-       worden zu sein. Außerdem kritisierte sie,
fen gegen Minderjährige keine Todesur-         der Staat schütze Frauen nicht ausrei-
teile verhängt werden. Amnesty sammel-         chend. Die Staatsanwaltschaft eröffnete
te weltweit mehr als 750.000 Unter-            daraufhin ein Verfahren wegen Verbrei-
schriften, um Druck auf die Behörden           tung »falscher Nachrichten« und Veröf-
auszuüben – mit Erfolg: Am 14. Juli 2020       fentlichung eines »unanständigen Videos
hob das südsudanesische Berufungsge-           mit schmutziger Sprache« gegen sie. Der
richt das Todesurteil gegen Magai Matiop       Prozess zog sich zwei Jahre lang hin, bis
Ngong auf. Das Oberste Gericht des Lan-        im April 2020 endlich die erlösende
des soll nun eine angemessene Strafe           Nachricht kam: Das Oberste Gericht hat
verhängen.                                     Amal Fathy freigesprochen.

                                                                                                                                        5
AKTIONEN, ERFOLGE, ZAHLEN + FAKTEN. DAS JAHR 2020 - RECHENSCHAFTSBERICHT
rechtsarbeit zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter
                                                                                          anderem den Per-Anger-Preis der schwedischen Regie-
                                                                                          rung und den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar.
                                                                                          Narges Mohammadi war Vizepräsidentin der iranischen
                                                                                          Menschenrechtsorganisation Defenders of Human Rights
                                                                                          Center (DHRC), die 2008 von der iranischen Regierung
                                                                                          verboten wurde.
                                                                                              Wegen ihrer Arbeit bei der DHRC geriet die Menschen-
                                                                                          rechtsverteidigerin 2008 erstmals ins Visier der iranischen
                                                                                          Behörden. Sie wurde mehrfach festgenommen und zu
                                                                                          Haftstrafen verurteilt, weil sie angeblich die nationale Si-
                                                                                          cherheit gefährdet hatte. Nachdem sie 2014 bei einem
                                                                                          Treffen mit der damaligen EU-Außenbeauftragten Catheri-
                                                                                          ne Ashton über die Menschenrechtssituation im Iran ge-
                                                                                          sprochen hatte, wurde sie erneut festgenommen und zu
                                                                                          weiteren 16 Jahren Gefängnis verurteilt. Während ihrer
                                                                                          Inhaftierung hat Narges Mohammadi regelmäßig über die
                                                                                          Misshandlungen und die miserablen Zustände in irani-
                                                                                          schen Gefängnissen berichtet. Trotz mehrerer Anklagen
                                                                                          wegen "Gefährdung der nationalen Sicherheit" setzte sie
                                                                                          ihre Menschenrechtsaktivitäten auch im Gefängnis fort. So
                                                                                          gab sie Erklärungen gegen die Todesstrafe, verlängerte
                                                                                          Einzelhaft und andere Formen der Folter und Misshand-
                                                                                          lung sowie gegen die Tötung von Protestierenden im No-
                                                                                          vember 2019 heraus.
                                                                                              Der Gesundheitszustand der Menschenrechtlerin ver-
                                                                                          schlechterte sich in der Haft zusehends. Doch trotz meh-
Foto: privat

                                                                                          rerer Vorerkrankungen verweigerten ihr die Gefängnisbe-
               Die iranische Menschenrechtsverteidigerin Narges Mohammadi. (Archivbild)   hörden die medizinische Versorgung und den Kontakt zu
                                                                                          ihrer Familie. Angesichts der Corona-Pandemie und den
                                                                                          unhygienischen Bedingungen in den iranischen Gefängnis-
               EINSATZ                                                                    sen wurden 2020 vermehrt Forderungen laut, Narges Mo-
                                                                                          hammadi aus gesundheitlichen Gründen freizulassen. Im

               MIT ERFOLG                                                                 Juli infizierte sie sich mit dem Virus – und erhielt keine
                                                                                          medizinische Behandlung, obwohl sie wegen einer Vorer-
                                                                                          krankung der Lunge zur Risikogruppe zählt.
               Weltweit beteiligen sich Hunderttausende                                       Nach mehr als acht Jahren im Gefängnis kam die
               Menschen an Appellaktionen von Amnesty                                     Menschenrechtsverteidigerin schließlich am 8. Oktober
               International. Mit Briefen, E-Mails und                                    2020 vorzeitig aus der Haft frei und bedankte sich in ei-
               Petitionsunterschriften bewirken sie                                       ner Videobotschaft bei Amnesty International: »Ohne eu-
               Freilassungen, verhindern Folter, schützen                                 ren Schutz wäre dies nicht möglich gewesen.« Trotz al-
               Menschen vor unfairen Prozessen und retten                                 lem, was Narges Mohammadi erlebt hat, denkt sie nicht
               Leben. Dass dieses gemeinsame Engagement                                   daran, ihre Menschenrechtsarbeit aufzugeben: »Ich hoffe,
               erfolgreich ist, zeigt der Fall der Frauenrechtlerin                       dass ich euch eines Tages sagen kann, dass im Iran keine
               Narges Mohammadi aus dem Iran.                                             Hinrichtungen mehr vorgenommen werden, Frauen ihre
                                                                                          Rechte erhalten haben und die Menschenrechtslage in
               Das Evin-Gefängnis in Teheran ist berüchtigt für Folter                    meinem Land sich verbessert hat. Ich bin entschlossen,
               und notorische Überbelegung. Hunderte gewaltlose politi-                   alles dafür zu tun, und bin überzeugt, dass wir es schaf-
               sche Gefangene sind dort unter unmenschlichen Bedin-                       fen können. Gemeinsam für Frieden und Menschenrech-
               gungen eingesperrt – so auch lange Zeit Narges Moham-                      te!«
               madi. Die bekannte Menschenrechtsverteidigerin setzt                       Weitere Erfolgsmeldungen: www.amnesty.de/erfolge
               sich seit vielen Jahren gegen die Todesstrafe und für                      Werde jetzt aktiv: www.amnesty.de/urgent-actions
               Frauenrechte im Iran ein. Sie hat für ihre Menschen-                       oder www.amnesty.de/BgdV

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AKTIONEN, ERFOLGE, ZAHLEN + FAKTEN. DAS JAHR 2020 - RECHENSCHAFTSBERICHT
DEIN BRIEF KANN LEBEN RETTEN
Auch im Corona-Jahr 2020 haben wieder Millionen Menschen beim Amnesty-Briefmarathon
Briefe, Faxe und Mails für Menschen in Gefahr und Not verschickt.

»Ich danke euch so sehr, mir fehlen       helfen und für Gerechtigkeit einzuste-    325.000. Trotz der Corona-Krise
die Worte«, sagte Magai Matiop            hen.                                      konnte das Ergebnis im Vergleich zum
Ngong, nachdem sein Leben gerettet            So wie im Fall der beiden jungen      Vorjahr um gut 20.000 gesteigert wer-
wurde. »Ihr habt keine Ahnung, wie        Südafrikanerinnen Popi Qwabe und          den. Die Briefe signalisieren den Be-
sehr mein Herz mit Glück erfüllt ist.«    Bongeka Phungula. Die beiden              troffenen und ihren Familien, dass sie
Er war gerade einmal 15 Jahre alt, als    Schauspielschülerinnen träumten von       in ihrem Kampf für Gerechtigkeit
ihn ein Gericht im Südsudan 2017          einer großen Karriere. Doch im Mai        nicht allein sind. Und sie setzen die
zum Tode verurteilte. Im Sommer           2017 fanden ihre Träume ein trauri-       Regierungen unter Druck, Unrecht zu
2020 hob ein Gericht das Todesurteil      ges Ende: Sie wurden erschossen auf-      beenden.
gegen ihn auf – nachdem Amnesty           gefunden, wahrscheinlich waren bei-           Der Briefmarathon widmete sich
beim Briefmarathon 2019 mehr als          de Frauen zuvor vergewaltigt worden.      2020 auch dem Schicksal des algeri-
750.000 Unterschriften für ihn ge-        Die Polizei ermittelte nicht gründlich,   schen Journalisten Khaled Drareni. Er
sammelt hatte.                            ließ zwei tatverdächtige Männer sofort    war im März 2020 festgenommen
    Sein Fall zeigt: Briefe können Le-    wieder frei, und das Verfahren wurde      worden, weil er über regierungskriti-
ben retten! Auch im Corona-Jahr           eingestellt. Der Fall ist symptoma-       sche Demonstrationen berichtet hatte.
2020 haben wieder Millionen Men-          tisch: In Südafrika wird Gewalt gegen     Das Urteil lautete zunächst drei Jahre
schen beim Amnesty-Briefmarathon          Frauen nur selten geahndet. Beim          Haft, später wurde es auf zwei Jahre
mitgemacht: Sie schickten Solidari-       Briefmarathon 2020 schickten Hun-         reduziert. Weltweit machten sich un-
tätsschreiben an Gefangene und poli-      derttausende Menschen weltweit Brie-      zählige Menschen beim Briefmara-
tisch Verfolgte. Und sie forderten Re-    fe, Mails und SMS an die südafrikani-     thon für den jungen Algerier stark.
gierungen auf, Unrecht zu beenden.        schen Behörden und forderten Ge-          Mit Erfolg: Am 19. Februar 2021 be-
Der Briefmarathon, der jedes Jahr im      rechtigkeit für Popi und Bongeka.         gnadigte ihn der algerische Präsident.
Dezember stattfindet, zeigt die geball-       Weltweit kamen im Dezember            »Heute nehme ich meinen Kampf für
te Kraft der weltweiten Amnesty-Be-       2020 mehrere Millionen Briefe, E-         die Pressefreiheit wieder auf«, sagte
wegung: An wenigen Tagen engagie-         Mails und Faxe für insgesamt zehn         Khaled Drareni nach seiner Freilas-
ren sich Aktivist_innen rund um den       Menschen oder Gruppen zusammen.           sung. »Nie werde ich eure unerschüt-
Globus, um Menschen in Gefahr zu          Allein in Deutschland waren es rund       terliche Unterstützung vergessen!«

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                                                                                                                         7
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VIELFÄLTIGE KAMPAGNEN UND AKTIONEN
2020 hat sich Amnesty International in verschiedenen Kampagnen und Aktionen für Menschen
und ihre Rechte eingesetzt: für eine menschenwürdige Asylpolitik und gegen Rassismus,
für Menschenrechtsverteidiger_innen und gegen Exporte von Überwachungstechnologie.

Der rassistische Terroranschlag in Hanau im Februar                       pflichtende Anti-Rassismus-Trainings für die Polizei, eine
2020, bei dem neun Menschen ermordet wurden, der                          Null-Toleranz-Politik gegenüber Rechtsextremismus und
Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 und                    Rassismus in den Reihen der Sicherheitsbehörden und
die Entdeckung rechtsextremer Chatgruppen in der Polizei                  wissenschaftliche Untersuchungen zum Ausmaß rassisti-
haben gezeigt, dass in Deutschland noch massiver Hand-                    scher Einstellungen in der Polizei.
lungsbedarf im Kampf gegen Rassismus besteht. Die Er-
mordung des US-Amerikaners George Floyd durch einen                       EXPORT VON ÜBERWACHUNGSTECHNOLOGIE
weißen Polizisten und die anschließenden »Black Lives                     Im Pandemiejahr 2020 haben wir mehr digital kommuni-
Matter«-Demonstrationen in den USA haben unterstri-                       ziert als je zuvor. Die Vorstellung, dass alles abgehört und
chen, wie wichtig antirassistisches Engagement weltweit                   mitgeschnitten werden könnte, ist bedrohlich. Für viele
ist.                                                                      Menschenrechtsverteidiger_innen weltweit ist das bereits
     Rassismus ist ein Angriff auf die Grundidee der Men-                 Realität. Sie müssen nicht nur um ihre Privatsphäre fürch-
schenrechte: die Freiheit und Gleichheit aller Menschen.                  ten, sondern auch um ihre Freiheit und manchmal auch
Amnesty International hatte schon 2016 für die Kampa-                     um ihr Leben. Denn Informationen, die digital abgegriffen
gne »Nimm Rassismus persönlich« Materialien entwickelt,                   wurden, werden verdreht und vor Gericht oder in Schmutz-
die sich dazu eignen, sich mit Alltagsrassismus und eige-                 kampagnen gegen sie verwendet – eine perfide Methode,
nen Vorurteilen auseinanderzusetzen, und Empfehlungen                     um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Amnes-
enthalten, wie man sich bei rassistischen Übergriffen ver-                ty hat 2020 mit der Kampagne »Nie allein« EU-Staaten
halten kann. 2020 bestellten mehr als 10.000 Menschen                     dazu aufgefordert, Exporte von Überwachungstechnologie
diese Materialien, und wir erreichten damit geschätzt                     zu kontrollieren. Denn oft ist es europäische und auch
40.000 bis 50.000 Menschen. Amnesty-Aktivist_innen                        deutsche Technik, die in China, der Türkei oder Bahrain zu
beteiligten sich zudem deutschlandweit an Demonstratio-                   Menschenrechtsverletzungen beiträgt. Im Rahmen der
nen gegen Rassismus. Im Mittelpunkt der Lobbyarbeit                       Kampagne hat sich Amnesty außerdem für die Freilassung
stand die Polizei: Amnesty forderte unter anderem ver-                    des Bloggers Ahmed Mansoor eingesetzt, der seit 2006

                                                                                                                                                      © Amnesty International

Aktion der Hochschulgruppe Würzburg gegen die Unterbringung von Geflüchteten in Lagern (31. Mai 2020).

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Foto: Jarek Godlewski / Amnesty
Amnesty-Mitglieder auf der #unteilbar-Demonstration unter dem Motto #SoGehtSolidarisch in Berlin (14. Juni 2020).

die Menschenrechtslage in den Vereinigten Arabischen                         Abholzung, Bergbau sowie den Drogenanbau durch krimi-
Emiraten dokumentiert hatte und dafür zu zehn Jahren                         nelle bewaffnete Gruppen in seiner Heimatregion einge-
Haft verurteilt wurde.                                                       setzt hatte. Im vergangenen Jahr sammelte Amnesty Inter-
                                                                             national weltweit weiterhin Unterschriften für eine Peti-
SOLIDARITÄT MIT MENSCHENRECHTSVERTEIDIGER_INNEN                              tion, mit der die mexikanische Regierung aufgefordert
Weltweit riskieren Menschenrechtsverteidiger_innen ihre                      wurde, den Mord an Carrillo aufzuklären und seine Ge-
Sicherheit, ihre Freiheit oder sogar ihr Leben, indem sie                    meinde zu schützen. Mit Erfolg: Im Oktober 2020 kündig-
sich für die Rechte anderer einsetzen. Amnesty stellt sich                   te der Gouverneur des mexikanischen Bundesstaates Chi-
mit der Kampagne »Mut braucht Schutz« an ihre Seite                          huahua einen Bericht zur Ermordung Carrillos an.
und übt Druck auf die verantwortlichen Behörden und Re-
gierungen aus. 2020 setzte sich Amnesty weiterhin für die                    FLÜCHTLINGSLAGER MORIA
elf Menschenrechtsaktivist_innen in der Türkei ein, die                      Bilder aus Moria zeigten schon vor 2020 die menschenun-
seit Sommer 2017 ohne jegliche Beweise wegen Mitglied-                       würdigen Zustände in dem Flüchtlingslager auf der grie-
schaft in einer terroristischen Organisation angeklagt wa-                   chischen Insel Lesbos. Während des Lockdowns wurde
ren. Im Juli kam dann das schockierende Urteil: Das Ge-                      noch drastischer deutlich, wie unsicher und beengt die
richt sprach fünf der Angeklagten frei, verhängte aber                       Menschen dort eingepfercht waren. Angesichts der Coro-
mehrjährige Haftstrafen gegen den Ehrenvorsitzenden von                      na-Pandemie rief Amnesty gemeinsam mit anderen Orga-
Amnesty International in der Türkei Taner Kılıç, die ehe-                    nisationen erneut dazu auf, das Lager zu evakuieren, um
malige türkische Amnesty-Direktorin İdil Eser sowie zwei                     die Menschen dort nicht noch zusätzlich zu isolieren und
weitere Amnesty-Mitglieder. Es war das erste Mal, dass                       gesundheitlichen Gefahren auszusetzen. Amnesty-Mitglie-
Amnesty-Aktivist_innen für ihre Menschenrechtsarbeit ver-                    der brachten mit Demonstrationen ihre Solidarität mit den
urteilt wurden. »Die Verurteilungen sind politisch moti-                     Menschen in Moria zum Ausdruck. Außerdem richtete Am-
viert, willkürlich und missachten jegliche rechtsstaat-                      nesty zusammen mit anderen Organisationen einen offe-
lichen Standards«, sagte der deutsche Amnesty-General-                       nen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel. »Es braucht
sekretär Markus N. Beeko und forderte deutliche interna-                     einen konzertierten europäischen Rettungsplan, die sofor-
tionale Reaktionen, auch der Bundesregierung, auf den                        tige Evakuierung der Flüchtlinge und die Aufnahme der
Tabubruch.                                                                   Menschen in Deutschland und anderen europäischen
    Was internationaler Druck bewirken kann, zeigte sich                     Staaten. Jetzt!«, heißt es darin. Deutschland müsse sich
im Fall des ermordeten mexikanischen Umwelt- und Land-                       während des EU-Ratsvorsitzes für einen Paradigmenwech-
rechtsaktivisten Julián Carrillo. Er war 2018 von Unbe-                      sel in der europäischen Flüchtlingspolitik einsetzen, for-
kannten erschossen worden, weil er sich öffentlich gegen                     derten die Unterzeichner_innen.

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Amnesty-Mitglied auf der #unteilbar-Demonstration unter dem Motto
#SoGehtSolidarisch in Berlin (14. Juni 2020).                         Queeramnesty auf dem Global Pride Day in Hamburg (Juli 2020).

AUF ABSTAND UND DOCH ZUSAMMEN
Amnesty International hat auch im Pandemie-Jahr 2020 viele kreative Aktionen
auf die Beine gestellt – online und offline.

Gemeinsam aktiv werden trotz Ab-                  mane Asylpolitik einzutreten. Im Juni       nicht zum Erliegen. Im Herbst starte-
standsregeln? Geht! Amnesty Interna-              beteiligte sich Amnesty an Demons-          ten ehren- und hauptamtliche Ex-
tional hat 2020 gezeigt, dass der                 trationen des Bündnisses #Unteilbar.        pert_innen Online-Workshops zu The-
Kampf für die Menschenrechte in                   Mehrere Tausend Menschen spannten           men wie Menschenrechte und Corona
Ausnahmesituationen weitergehen                   in Berlin und weiteren Städten ein          oder Digitalisierung. Im Dezember or-
kann – und muss: Denn globale Kri-                »Band der Solidarität« auf. Unter Ein-      ganisierten Aktivist_innen mehr als
sen wie die Corona-Pandemie ver-                  haltung der Abstandsregeln machten          100 Offline- und Online-Aktionen
schärfen bestehende Ungleichheiten                sie deutlich, dass Menschenrechte           zum Briefmarathon. Mit einer kreati-
und treffen besonders verwundbare                 weltweit der Maßstab für die Bewälti-       ven Idee brachte Amnesty zum Tag
Teile der Gesellschaft mit voller                 gung der Pandemie sein müssen.              der Menschenrechte am 10. Dezem-
Wucht. Amnesty-Mitglieder haben am                Außerdem forderten sie einen gesell-        ber Licht in die dunkle Jahreszeit:
30. Mai 2020 in verschiedenen Städ-               schaftlichen Pakt gegen Rassismus,          Bundesweit machten Projektionen an
ten Deutschlands Mahnwachen und                   Antisemitismus und Angriffe von             Hauswänden auf das Schicksal von
Demos veranstaltet, um die Evakuie-               rechts. Auch der Winter und die stei-       Menschenrechtsverteidiger_innen auf
rung des griechischen Flüchtlingsla-              genden Infektionszahlen brachten das        der ganzen Welt aufmerksam und
gers Moria zu fordern und für eine hu-            Engagement der Amnesty-Mitglieder           animierten zum Briefeschreiben.

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Amnesty-Tour durch Deutschland (August 2020).

Lichtprojektion zum Tag der Menschenrechte in Hanau (11.Dezember 2020).   »Retten verboten!« – Amnesty-Aktion in Friedrichsdorf (26. September 2020).

                                                                                                                                                        Alle Fotos: © Amnesty International

Amnesty-Aktion gegen Rassismus in Konstanz (28. August 2020).

                                                                                                                                                   11
AKTIV GEGEN RASSISMUS
                          Von diskriminierenden Erfahrungen im Alltag bis hin zu schrecklichen Gewalttaten wie
                          dem Attentat in Hanau – Rassismus ist leider für viele Menschen eine alltägliche Bedrohung.
                          Mit zahlreichen Aktionen forderte Amnesty 2020 dazu auf, Rassismus persönlich zu nehmen.

                                                                                                                         viele verschiedene Veranstaltungen zu
                                                                                                                         diesem Thema organisiert, zum Bei-
                                                                                                                         spiel ein Kulturfest in Ulm, einen Info-
                                                                                                                         stand mit Flashmob in Darmstadt, eine
                                                                                                                         Malaktion in Ellwangen, eine Kundge-
                                                                                                                         bung in Ravensburg und einen Rund-
                                                                                                                         funkgottesdienst in Sankt Wendel.
                                                                                                                             Pandemiebedingt fanden viele Ak-
© Amnesty International

                                                                                                                         tionen online statt, auch zum Interna-
                                                                                                                         tionalen Tag gegen Rassismus am
                                                                                                                         21. März 2020. Amnesty stellte Mate-
                          Amnesty-Aktion gegen Rassismus in Ellwangen
                          (28. August 2020).

                          Rassismus ist ein Angriff auf die
                          Grundidee der Menschenrechte: die
                          Freiheit und Gleichheit aller Men-
                          schen. Wie tödlich Rassismus ist, hat
                          sich im vergangenen Jahr gezeigt:
                          Neun Menschen ermordete der Atten-
                          täter von Hanau im Februar 2020.

                                                                                                                                                                            Foto: Bernd Hartung
                          Und in den USA tötete ein Polizist
                          den Schwarzen George Floyd. Diese
                          Taten haben das Thema Rassismus               Amnesty-Generalsekretär Markus N. Beeko (links) und Oberbürgermeister Claus Kaminsky enthüllten
                          wieder stark in den Blickpunkt der            eine übergroße Ausgabe der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Hanau (30. Oktober 2020).
                          Öffentlichkeit gerückt. Millionen Akti-
                          vist_innen kamen weltweit in Solida-          recht und eine Aufgabe der inneren               rial zur Verfügung, das über die sozia-
                          rität mit der »Black Lives Matter«-Be-        Sicherheit«, sagte der Generalsekretär           len Medien geteilt oder ins Fenster
                          wegung, im Gedenken an die Opfer              von Amnesty in Deutschland Markus                gehängt werden konnte, um ein klares
                          von Hanau und zu antirassistischen            N. Beeko bei der Enthüllung der                  Zeichen gegen Rassismus zu setzen.
                          Kundgebungen zusammen. Auch Am-               Skulptur in Hanau. »Hier bleiben Po-             Wer die Zeit zu Hause während des
                          nesty-Mitglieder unterstützten diese          lizei, Justiz und Sicherheitsbehörden            Lockdowns für antirassistische Weiter-
                          Demonstrationen bundesweit.                   gefragt, auch im kritischen Blick nach           bildung nutzen wollte, konnte ein kos-
                              Am 30. Oktober stellte Amnesty            innen. Hanau, Halle, die Opfer des               tenloses Aktionspaket bestellen
                          International gemeinsam mit der               NSU, der Mord an Walter Lübcke, die              (www.amnesty.de/bestelle-dein-kos-
                          Stadt Hanau auf dem dortigen Frei-            vielen Opfer rassistischer Gewalt der            tenloses-aktionspaket-gegen-ras-
                          heitsplatz eine überdimensionale All-         vergangenen Jahre – sie nehmen uns               sismus). Es ist immer noch erhältlich
                          gemeine Erklärung der Menschen-               alle in die Pflicht.«                            und umfasst u. a. eine Broschüre, in
                          rechte auf – als Zeichen für gesell-              Rassismus äußert sich aber nicht             der Betroffene von alltäglichem Ras-
                          schaftlichen Zusammenhalt und ge-             nur in Form von Gewalttaten, sondern             sismus in Deutschland erzählen, Ar-
                          gen Rassismus und Gewalt. Das 2,60            auch ganz subtil im Alltag. Amnesty              gumentationshilfen sowie Tipps, um
                          Meter hohe Buch ist begehbar, und             möchte dazu beitragen, dass Betroffe-            auf rassistische Übergriffe zu reagie-
                          man kann darin die 30 Artikel der All-        ne gehört werden und Menschen ihr                ren. So kann jed_r Einzelne Verant-
                          gemeinen Erklärung der Menschen-              Denken, Sprechen und Handeln sowie               wortung übernehmen und gegen ras-
                          rechte nachlesen. »Der Schutz vor             eigene Privilegien hinterfragen. Akti-           sistische Grundannahmen Stellung
                          rassistischer Gewalt ist ein Menschen-        vist_innen haben daher im Sommer                 beziehen.

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KLIMASCHUTZ IST
MENSCHENRECHTSSCHUTZ
Die Erderwärmung hat bereits jetzt verheerende Auswirkungen auf die Menschenrechte.
Amnesty setzt sich dafür ein, dass der Klimawandel aufgehalten wird und die Menschen
geschützt werden, die sich an vorderster Front für Klimagerechtigkeit engagieren.

Die Klimakrise ist auch eine Krise der Menschenrechte.            abhängig ist. 2008 gründete Jani Silva eine Organisation,
Denn die Folgen des Klimawandels machen ein gesundes              um das Reservat »La Perla Amazónica« zu schützen.
und sicheres Leben unmöglich. Naturkatastrophen töten                 Wie sie setzen sich viele Menschenrechtsverteidiger_in-
Menschen oder vertreiben sie aus ihrer Heimat. Extreme            nen weltweit für ihre Rechte und ihre Umwelt ein. Weil ihr
Wetterbedingungen verknappen Nahrung und Trinkwasser              Engagement so extrem gefährlich ist, macht Amnesty auf
und fördern die Ausbreitung von Krankheiten. Außerdem             ihr Schicksal aufmerksam und fordert Regierungen auf,
verstärkt der Klimawandel Ungleichheit, Diskriminierung           sie zu schützen, Straftaten gegen sie aufzuklären und die
und Ungerechtigkeit, denn seine Folgen treffen die Men-           Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der globale
schen besonders hart, die ohnehin schon benachteiligt             Kampf gegen die Klimakrise ist eines der wichtigsten The-
sind. Aktivist_innen, die sich gegen den Klimawandel ein- men des 21. Jahrhunderts. Amnesty steht solidarisch an
setzen, riskieren vielerorts ihre Freiheit und ihr Leben –        der Seite derer, die ihn an vorderster Front führen.
vor allem dort, wo Grundrechte wie Meinungs-
und Versammlungsfreiheit nicht respektiert wer-
den.
    Klimaschutz bedeutet deshalb auch Men-
schenrechtsschutz. 2019 gründete Amnesty
Deutschland die Themenkoordinationsgruppe
»Klimakrise und Menschenrechte«, die sich
den Verflechtungen dieser beiden wichtigen
Themen widmet. 2020 schlossen sich Amnes-
ty-Mitglieder dem globalen Klimastreik an, zu
dem die »Fridays for Future«-Bewegung aufge-
rufen hatte. Unter Einhaltung von Abstands-
und Hygieneregeln gingen sie in Deutschland
und weltweit für Klimagerechtigkeit auf die
Straße und forderten Regierungen auf, Klima-
schutzmaßnahmen zu verstärken und auf sau-
bere Energie zu setzen. Gleichzeitig mahnten
die Aktivist_innen, dass Klimaschutzmaßnah-
men nicht auf Kosten von Menschenrechten ge-
hen dürfen, sondern alle Menschen einschlie-
ßen müssen.
    Bei Straßenaktionen und mit einer Online-
Petition forderte Amnesty Schutz für die kolum-
bianische Umweltaktivistin Jani Silva, die ver-
folgt, von Unbekannten eingeschüchtert und
mit dem Tode bedroht wird. Silva lebt in einer
kleinbäuerlichen Gemeinde in der Amazonasre-
gion, die für ihre einmalige Biodiversität be-
                                                                                                                                © Amnesty International

kannt ist. Seit 2006 haben Erdölunternehmen
die Erlaubnis, dort zu arbeiten. Seither gab es
mindestens zwei Öllecks, die Wasserquellen
vergifteten, von denen die örtliche Bevölkerung       Amnesty beim Klimastreik in Hannover (25. September 2020).

                                                                                                                           13
DER SPION IN DER HOSENTASCHE
                      Überwachungstechnologie aus Europa gefährdet Menschenrechtsverteidiger_innen in aller Welt.
                      Das Amnesty Security Lab versucht, ihnen zu helfen.

                      Hier ein Klick, da ein Like – alles ganz einfach von unter-     gierung ein Jahr zuvor das Internet abgeschaltet hatte, um
                      wegs. Beim Warten auf den Bus schnell noch eine Nach-           zu vertuschen, dass bei der Niederschlagung von Protes-
                      richt schreiben oder eine E-Mail lesen. Nur wenige küm-         ten mindestens 300 Menschen getötet wurden.
                      mern sich darum, wie die kleinen High-Tech-Geräte in un-            Etienne Mayniers Arbeit besteht jedoch darin, Späh-
                      serer Hosentasche eigentlich genau funktionieren. Sind          angriffe auf Menschenrechtsaktivist_innen aufzudecken.
                      wir überhaupt die einzigen, die Zugriff auf unser Handy         »Wir haben auf dem Handy von Bui Thanh Hieu eine Mail
                      haben? Was ist, wenn Fremde auf Kamera, GPS oder                von einer Gruppe namens Ocean Lotus gefunden«, sagt er.
                      Mikrofon zugreifen und private Nachrichten mitlesen?            »Wir können nicht beweisen, dass die vietnamesische
                          Da gibt es beispielsweise den Fall von Bui Thanh Hieu.      Regierung hinter den Angriffen steckt, aber wir sind uns
                      Der Vietnamese lebt in Deutschland und bloggt unter dem         ziemlich sicher.«
                      Pseudonym Nguoi Buon Gio kritisch über die Regierung in             Ein anderer Fall ist der des preisgekrönten marokkani-
                      Hanoi. Irgendwann erhielt er eine Mail. Sie wirkte, als         schen Journalisten Omar Radi. Der Regierungskritiker
                      stamme sie vom Veranstalter einer Konferenz, an der er          wandte sich an die Spezialist_innen von Amnesty Interna-
                      teilnehmen wollte. Als Bui Thanh Hieu die Mail anklickte,       tional, als er bemerkte, dass vertrauliche Informationen
                      lud er sich Spähsoftware auf sein Handy, mit dem sich die       an die Öffentlichkeit gelangten, wie zum Beispiel seine
                      Angreifer_innen heimlich Zugriff verschafften.                  Kontoauszüge und sensible Gesprächsinhalte. Etienne
                          Etienne Maynier hat die Spyware auf dem Handy des           Maynier und sein Team fanden Spuren von Pegasus, einer
                      vietnamesischen Bloggers entdeckt. Der Franzose ist für         Software, mit der sich das Handy praktisch fernsteuern
                      das Amnesty Security Lab tätig, das 2019 in Berlin einge-       lässt.
                      richtet wurde. »Wir haben bei Amnesty-Tech zwei Haupt-              »Im Fall von Ocean Lotus fiel sofort auf, dass vietna-
                      bereiche«, erklärt Maynier. »Ein Teil von uns wertet Videos,    mesische Staatsbürger angegriffen wurden. Daher gab es
                      Fotos und andere Daten aus, um Menschenrechtsverlet-            einen schweren Anfangsverdacht, den wir zu beweisen ver-
                      zungen nachzuweisen.« So veröffentlichte Amnesty im No-         suchen. Bei Omar Radi war es etwas anders. Das italieni-
                      vember 2020 einen Bericht darüber, wie die iranische Re-        sche Spähunternehmen Hacking-Team wurde selbst Opfer
Foto: Fanny Hedenmo

                      Der Journalist Omar Radi im März 2019 in Casablanca, Marokko.

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Zeichnung: Doan Troung / Amnesty

                                   eines Hacks, und die Daten verrieten, dass die marokkani-   dem die ersten Vorschläge von EU-Kommission und EU-
                                   sche Regierung mit dem Unternehmen zusammenarbeite-         Parlament Hoffnungen weckten, ist die tatsächliche Bilanz
                                   te. Die gefundene Pegasus-Software stammt jedoch aus        der Dual-Use-Reform eher durchwachsen«, urteilt Rohr-
                                   Israel.«                                                    bach. Mit der Kampagne »Nie Allein« hat Amnesty an das
                                       Marokko, Vietnam, Israel – das klingt zunächst nach     Bundeswirtschaftsministerium appelliert, damit Software-
                                   einer weit entfernten Bedrohung. Es sind jedoch zahl-       Exporte, die Menschenrechtsverteidiger_innen in große
                                   reiche europäische Unternehmen, die autoritären Regimes     Gefahr bringen können, besser kontrolliert werden. »Es
                                   rund um den Globus die Überwachung unliebsamer Per-         gibt jetzt tatsächlich ein paar greifbare Verbesserungen,
                                   sonen ermöglichen. Da ist zum Beispiel das schwedische      aber weiterhin stehen viele Produkte, die zu Menschen-
                                   Unternehmen Axis Communications, das hochauflösende         rechtsverletzungen führen können, nicht auf den Listen«,
                                   Netzwerkkameras zur Videoüberwachung an Chinas Si-          zeigt sich Rohrbach enttäuscht.
                                   cherheitsbehörden verkauft hat. Die Firma Idemia aus            Auch Etienne Maynier fordert: »Wir brauchen klare
                                   Frankreich lieferte modernste Gesichtserkennungstechno-     Rahmenbedingungen. Das Internet wurde nicht mit dem
                                   logie nach Shanghai. Und der Staatstrojaner Finspy des      Ziel erfunden, besonders sicher zu sein. Daher müssen die
                                   Münchner Unternehmens Finfisher wurde nicht nur von         Regeln nun immer weiter nachjustiert werden.« Und die
                                   deutschen Behörden erworben, er wurde auch schon in         User selber? Worauf sollten sie seiner Meinung nach ach-
                                   Ägypten, Äthiopien, Bahrain, Marokko, Nigeria und den       ten? »Dass Daten gesammelt werden, ist ja bekannt. Die
                                   Vereinigten Arabischen Emiraten nachgewiesen.               Geschäftsmodelle von Google, Facebook oder Amazon sind
                                       Dass der Export von Spionagesoftware überhaupt          grundsätzlich kaum mit den Menschenrechten kompati-
                                   erlaubt ist, liegt an zahlreichen Gesetzeslücken und        bel. Allerdings steht bei ihnen die Werbung im Vorder-
                                   Grauzonen, sagt Lena Rohrbach, Fachreferentin bei Am-       grund. Letztendlich muss jede Person selber wissen, wie-
                                   nesty International Deutschland. »Produkte, die sowohl      viel ihr ihre Privatsphäre wert ist.«
                                   militärisch als auch zivil genutzt werden können, werden        Wirklich skeptisch sollten User aber werden, wenn sie
                                   als ›Dual-Use-Güter‹ bezeichnet. Chemikalien gehören        Nachrichten erhalten, die sie dazu auffordern, bestimmte
                                   dazu, aber auch bestimmte Elektronik oder Maschinen.        Dinge zu tun: »Bei Nachrichten, die Angst erzeugen, ist
                                   Die EU führt Listen mit Dual-Use-Gütern, deren Export       auf jeden Fall Vorsicht geboten. Wenn mir jemand
                                   genehmigungspflichtig ist. Auf diesen Listen stehen aber    schreibt, vielleicht sogar ein Freund, den ich gut kenne,
                                   nur wenige Überwachungstechnologien. Biometrische           dass ich unbedingt auf diese oder jene Seite klicken soll.
                                   Gesichtsüberwachung wird zum Beispiel nicht aufge-          Oder wenn mir suggeriert wird, dass ich gehackt wurde,
                                   führt.«                                                     und ich nun unbedingt eine ganz bestimmte Webseite
                                       Erst im November einigten sich die EU-Staaten auf       besuchen soll, dann sind das Warnsignale, die auf einen
                                   neue Exportkontrollen solcher Güter. Allerdings: »Nach-     gezielten Angriff hinweisen können.«

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DIE DIGITAL-PROFIS BEI AMNESTY
Die Onlineredaktion koordiniert einen Großteil der Internet-Aktivitäten der deutschen
Amnesty-Sektion. Das Team tüftelt außerdem an neuen Möglichkeiten, damit sich
Unterstützer_innen auf digitalem Weg für die Menschenrechte einsetzen können.
Ein Anliegen, das durch die Corona-Pandemie noch wichtiger geworden ist.

Ein blaues Amnesty-Logo, leicht ver-
pixelt, keine Fotos und vier Menü-
punkte: Aktionen, Brennpunkt, Infos,
Suchen. Schlicht und übersichtlich

                                                                                                                                                 © Amnesty International
sah die deutschsprachige Amnesty-
Website im Jahr 1997 aus. Wer will,
kann sich das ehrenamtliche Gemein-
schaftsprojekt der Amnesty-Sektionen       Die Online-Redaktion im Homeoffice: Daniel Kreuz, Clara Sölch, Parastu Sherafatian,
aus Deutschland, Österreich und der        Matthias Wahsner und Jarek Godlewski.
Schweiz auch heute noch mithilfe der
Non-Profit-Plattform »Wayback Ma-          Sektion zum Internet und betreut die               gen Hate Speech gehört zum Aufga-
chine« anschauen.                          diversen Social-Media-Kanäle sowie                 benbereich.
    Im Jahr 2020 ist die deutsche Am-      den Amnesty-Newsletter. Kein Tag                       Doch die Mühe lohnt sich, denn
nesty-Website weitaus komplexer, die       ohne Output: Sechs Webartikel, Jour-               Online-Aktionen motivieren immer
Arbeitsabläufe sind vielfältiger und die   nal-Beiträge und Pressemitteilungen                wieder viele Unterstützer_innen, sich
Menschen, die sich darum kümmern,          veröffentlicht die Onlineredaktion im              für Menschenrechte einzusetzen. Wie
zahlreicher. Der technologische Fort-      Wochendurchschnitt. Hinzu kommen                   zum Beispiel im Fall der saudi-arabi-
schritt hat die Arbeit von Amnesty ver-    mindestens 100 Social-Media-Pos-                   schen Frauenrechtlerin Loujain al-
ändert, der Einsatz für den Einzelfall     tings auf Twitter, Instagram und Face-             Hathloul. Nach mehr als 1.000 Tagen
ist geblieben. »Unser Blick gilt immer     book. Während des Briefmarathons                   im Gefängnis wurde sie im Februar
dem aktuellen Geschehen und den            können es aber auch mal 150 wer-                   2021 endlich aus der Haft entlassen.
Menschen, die unsere Hilfe benöti-         den. Alle Veröffentlichungen folgen                Zuvor hatten Amnesty-Unterstüt-
gen«, sagt Jarek Godlewski, Fachrefe-      einer abgestimmten Kommunikations-                 zer_innen im Rahmen zahlreicher On-
rent im Team Onlineredaktion, Digital      strategie, um auf wichtige Themen                  line-Aktionen und der Amnesty-Kam-
& Social Media. Zusammen mit zwei          schnell reagieren zu können.                       pagne »Mut braucht Schutz« ihre
weiteren Referenten und zwei Werkstu-          Das Online-Team muss die Social-               Freilassung gefordert.
dentinnen gehört er zum Kernteam der       Media-Kanäle im Blick behalten und                     Die Digitalisierung verändert die
Onlineredaktion. Unterstützung erhal-      dafür sorgen, dass Anfragen, Be-                   Menschenrechtsarbeit von Amnesty
ten sie von externen Mitarbeiter_innen     schwerden oder Hilferufe beantwortet               und auch die Möglichkeiten, wie sich
– denn zu tun gibt es immer etwas.         werden. Bei insgesamt mehr als                     Unterstützer_innen für die Menschen-
    Ob Online-Aktionen, Kampagnen,         452.000 Personen, die Amnesty auf                  rechte engagieren können. Diese Ent-
Berichte oder Interviews: Die Online-      Instagram, Twitter und Facebook fol-               wicklung im Sinne von Amnesty zu
redaktion bildet die Schnittstelle der     gen, keine leichte Aufgabe. Denn                   gestalten und einzusetzen – dafür
Aktivitäten der deutschen Amnesty-         auch das konsequente Vorgehen ge-                  sorgt die Onlineredaktion.

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»DIE PROTESTE
WERDEN NICHT AUFHÖREN«
Die Rechtsanwältin Jovanka Worner engagiert sich seit mehr als zehn Jahren
in einer Amnesty-Koordinationsgruppe für die Menschenrechte in Belarus.
Ausgerechnet im Pandemie-Jahr 2020 gingen in dem Land Hunderttausende auf die Straße.

Es kommt nicht oft vor, dass Amnesty      die Menschen treffen sich nun eher             rung weiter verstärkt. Als die Pande-
International in die Botschaft eines      in Hinterhöfen, was nicht minder               mie in Belarus ausbrach, nahm
autoritären Staats eingeladen wird.       gefährlich ist. Seit dem Beginn der            Staatspräsident Lukaschenko sie
Doch genau dies ist Ihnen passiert.       Proteste haben die Sicherheitskräfte           überhaupt nicht ernst. Er empfahl als
Wie kam es dazu? Als nach der Präsi-      mindestens 27.000 Menschen inhaf-              Gegenmaßnahmen, Wodka zu trinken,
dentschaftswahl in Belarus im Som-        tiert, vier Demonstrierende wurden             in die Sauna zu gehen und Traktor zu
mer 2020 Massenproteste ausbra-           getötet. Wer festgenommen wird,                fahren. Und er machte sich über die-
chen, reagierte der Sicherheitsapparat    muss mit dem Schlimmsten rechnen.              jenigen lustig, die an Corona gestor-
mit brutaler Gewalt. Wir riefen Am-       Im Gefängnis werden Menschen ver-              ben waren. Auch das brachte die
nesty-Mitglieder dazu auf, gegen die-     prügelt, müssen stundenlang in                 Menschen gegen ihn auf.
ses Unrecht zu protestieren. Men-         schmerzhaften Positionen verharren                 Auch für Ihre menschenrechtliche
schen aus ganz Deutschland schick-        oder werden mit Schlafentzug gefol-            Arbeit hatte die Corona-Krise Konse-
ten uns Selfies, auf denen sie Protest-   tert. Wir konnten Anfang dieses Jah-           quenzen. Sie konnten ausgerechnet
schilder in die Kamera hielten. Wir       res mit der LGBTI-Aktivistin Victoria          im Protestjahr 2020 nicht nach Bela-
machten daraus eine Collage und           Biran sprechen, die selbst in Haft             rus einreisen. Ja, darüber waren wir
fragten bei der Botschaft an, ob wir      war. Ihre Schilderungen waren scho-            sehr traurig. Es ist für uns wichtig, re-
sie persönlich übergeben können.          ckierend.                                      gelmäßig das Land zu besuchen, um
    Und das klappte? Ja, wir waren            Wie hat sich die Corona-Krise auf          unsere Kontakte zu pflegen. Wir hof-
selbst überrascht. Der Botschafter hat    die Stimmung in Belarus ausgewirkt?            fen, dass wir unsere Reise in diesem
uns persönlich empfangen. Gleich zu       Sie hat den Unmut gegen die Regie-             Jahr nachholen können.
Beginn des Gesprächs erzählte er,
dass er fast täglich Protestschreiben
von Amnesty-Unterstützer_innen auf
dem Schreibtisch hat. Rund eine
Stunde konnten wir mit ihm über die
Menschenrechtsverletzungen in Bela-
rus sprechen. Natürlich waren wir
unterschiedlicher Meinung, aber es
ist positiv, dass wir unsere Forderun-
gen deutlich machen konnten.
    Belarus erlebte 2020 die größten
Proteste seit dem Ende der Sowjet-
union. Auch in der Vergangenheit gab
es Proteste gegen Wahlfälschungen.
Doch dieses Mal gingen Menschen
aus allen Bevölkerungsschichten im
ganzen Land auf die Straße. Sie ha-
ben sich jahrzehntelang vieles gefal-
len gelassen. Aber jetzt hat es ihnen
                                                                                                                                           Foto: Ralf Rebmann

gereicht. Sie werden auch nicht mehr
aufhören, zu protestieren.
    Doch gehen inzwischen deutlich        Ungewöhnlicher Besuch: Jovanka Worner und Amnesty-Generalsekretär Markus N. Beeko vor der
weniger Menschen auf die Straße. Ja,      belarussischen Botschaft in Berlin (10. September 2020).

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LERNEN, DEN EIGENEN
                          VORURTEILEN ZU MISSTRAUEN
                          Thomas Müller ist pensionierter Polizeibeamter und Sprecher
                          der Themenkoordinationsgruppe Polizei und Menschenrechte.
                          Im Gespräch erzählt er, warum er sich bei Amnesty engagiert.

                          Mitten in der Corona-Pandemie rüttelte ein Video die Welt                          »Knapp ein Drittel der Gruppenmitglieder hat tatsäch-
                          auf. Es zeigte die letzten Sekunden im Leben von George                        lich Polizeibezug, der Rest hat keinen. Das hilft uns, ei-
                          Floyd, der einen Polizisten, der auf seinem Hals kniet, an-                    nen Tunnelblick zu vermeiden.« Etwa zwei Mal im Jahr
                          flehte, ihn atmen zu lassen. Weltweit gingen daraufhin die                     trifft sich die Gruppe. Corona-bedingt gibt es derzeit aller-
                          Menschen auf die Straße, um gegen Rassismus und Poli-                          dings nur regelmäßige Online-Meetings.
                          zeigewalt zu demonstrieren – auch in Deutschland.                                  »Über meine Arbeit als Integrationsbeauftragter in Bre-
                              »Dieser tragische Tod hat unsere Arbeit weit mehr be-                      men bin ich 2010 zu Amnesty gestoßen«, erklärt Müller.
                          einflusst, als alles andere zuvor«, sagt Thomas Müller,                        Die ersten Jahre habe er seine Mitgliedschaft noch geheim
                          Sprecher der Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Polizei                         gehalten, um nicht als Nestbeschmutzer zu gelten. »Es
                          und Menschenrechte. »Die ‚Black Lives Matter‘-Bewegung                         gab schon ein paar, die mich für einen Verräter hielten.«
                          hat uns wie eine Welle erwischt.« Mit »uns« meint Müller                       Seine Vorgesetzten hingegen hätten ihn immer unter-
                          seine elf Mitstreiter_innen in der Gruppe: »Im Zuge der                        stützt.
                          Demos haben sich viele Interessierte bei uns gemeldet.«                            Hat denn die deutsche Polizei wirklich ein Rassismus-
                          Künftig könnte die Gruppe fast doppelt so groß werden.                         problem? »Ich würde sagen, die inneren Strukturen der
                              Der pensionierte Polizeibeamte hat in seiner 40-jähri-                     Polizei sind nicht per se rassistisch. Sie verhindern Ras-
                          gen Dienstzeit viel erlebt. Nach 18 Jahren Streifendienst                      sismus aber auch nicht. Und daran müssen wir arbeiten.
                          in Bremen studierte er Kriminologie und wechselte zur                          Als Polizist ist es wichtig, den eigenen Vorurteilen zu
                          Kripo. Er kennt die schönen und weniger schönen Seiten                         misstrauen.«
                          des Berufes. Er weiß auch, was gemeint ist, wenn von                               In den elf Jahren Amnesty-Arbeit habe sich viel getan,
                          »Korpsgeist« bei der Polizei die Rede ist.                                     versichert Müller. »Wir sind damals in Bremen regelrecht
                                                                                                                                           ausgelacht worden. Aber im
                                                                                                                                           neuen Bremer Polizeigesetz
                                                                                                                                           sind inzwischen sehr viele
                                                                                                                                           unserer Forderungen be-
                                                                                                                                           rücksichtigt. Auch in Nord-
                                                                                                                                           rhein-Westfalen haben wir
                                                                                                                                           viel bewirkt. Das waren di-
                                                                                                                                           cke Bretter, die wir da ge-
                                                                                                                                           bohrt haben.«
                                                                                                                                               Trotzdem gibt es noch
                                                                                                                                           viel zu tun: »Polizisten ler-
                                                                                                                                           nen von Polizisten, die von
                                                                                                                                           Polizisten gelernt haben.
                                                                                                                                           Daher müssen die Ausbilder
                                                                                                                                           besser geschult werden. Es
                                                                                                                                           gibt auch noch keinen wirk-
                                                                                                                                           lichen Schutz von Whistle-
                                                                                                                                           blowern. Das muss sich än-
                                                                                                                                           dern.« Und Müllers Zu-
Foto: Grzegorz Żukowski

                                                                                                                                           kunftswunsch? »In gutem
                                                                                                                                           Austausch bleiben. Man
                                                                                                                                           muss die Polizei ernst neh-
                          Polizeieinsatz bei Protesten gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze in Polen, Warschau (29. Januar 2021). men, und das tun wir.«

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»CORONA DARF KEINE AUSREDE SEIN«
Politischer Aktivismus in Zeiten der Pandemie ist nicht einfach.
Doch für die Amnesty-Jugend war es im Corona-Jahr 2020 wichtiger denn je,
lautstarken Protest zu organisieren.

Abstand halten? Hände waschen?
Abends mit den Großeltern chatten?
Im Flüchtlingslager Moria auf der
griechischen Insel Lesbos war daran
2020 nicht zu denken. »Natürlich hat
uns die Pandemie auch in Deutsch-
land hart getroffen«, sagt Alena Dietl,
Sprecherin der Jugendvertretung von
Amnesty. »Sie darf aber keine Ausre-
de sein, sich nur noch mit sich selbst
zu beschäftigen und die Augen davor
zu verschließen, was an Europas
Außengrenzen passiert.«
    Für die Amnesty-Jugend war es da-
her wichtig, gerade in Zeiten der Pan-
demie auf die Brutalität der europäi-
schen Asylpolitik aufmerksam zu ma-
chen. Moria ist längst zu deren Sinn-
bild geworden: Das Flüchtlingslager
war ursprünglich für 2.800 Menschen
ausgelegt, Anfang 2020 lebten dort
jedoch etwa 20.000 Geflüchtete –
also mehr als sieben Mal so viele.
Nahrung war knapp, wer sich die

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Hände waschen wollte, musste
Schlange stehen, ständig fehlte Seife.
Für das gesamte Lager gab es offiziell
nur zwei Ärzte. Im Oktober machte         Jugendsprecherin Alena Dietl bei einer Kundgebung in Göttingen (30. Mai 2020).
ein Großbrand mehr als die Hälfte der
Geflüchteten obdachlos.                   das Thema traurig und furchtbar ist,                  Doch je länger die Corona-Krise
    Als im Mai der erste Lockdown in      hat uns die Kundgebung auch Kraft                 andauerte, desto mehr wurde spürbar,
Deutschland endete, organisierte die      gegeben«, so Alena Dietl. »Wir haben              dass Videokonferenzen und Online-
Amnesty-Jugend Demos in zehn deut-        nach den langen Wochen des Lock-                  Aktionen echte Begegnungen nicht er-
schen Städten, um ihre Solidarität        downs und Isoliert-Seins endlich wie-             setzen können. »Wenn alles nur noch
mit den Geflüchteten auszudrücken.        der gespürt: Wir können etwas be-                 digital stattfindet, fehlt einfach viel«,
»Ich war auf der Kundgebung in Göt-       wegen, wir sind lebendig.«                        sagt Alena Dietl. »Der lockere Aus-
tingen«, sagt Alena Dietl. »Rund 100         Ansonsten spielte sich auch für                tausch beim Mittagessen, das infor-
Menschen demonstrierten mit uns. Es       die Jugend- und Hochschulgruppen                  melle Gespräch in der Pause und die
war eine sehr verrückte Situation, weil   das meiste im digitalen Raum ab. So               Blicke der anderen, die so wichtig
zwei Straßen weiter eine riesige Pro-     machten sie beispielsweise bei der                sind, um Emotionen zu deuten.« Eines
testkundgebung von Corona-                Jugendaktionswoche kurz vor Pfings-               ist 2020 klar geworden: Der Kampf
Leugner_innen stattfand.«                 ten mit Online-Diskussionen, digitalen            für eine gerechtere Welt ist in Zeiten
    Die jungen Aktivist_innen forder-     Vorträgen und einer Social-Media-                 von Abstand halten und Kontaktbe-
ten alle europäischen Staaten auf, die    Kampagne auf die digitale Überwa-                 schränkungen keine leichte Sache.
Geflüchteten aus Moria und anderen        chung von Menschenrechtsverteidi-                 Denn menschenrechtlicher Aktivismus
Massenlagern zu evakuieren. »Obwohl       ger_innen aufmerksam.                             will soziale Distanz überwinden.

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