CATHERINE BREILLAT MARCO FERRERI - JÄNNER BIS 26. FEBRUAR 2020 - Österreichisches Filmmuseum

Die Seite wird erstellt Hortensia-Luzy Petersen
 
WEITER LESEN
CATHERINE BREILLAT MARCO FERRERI - JÄNNER BIS 26. FEBRUAR 2020 - Österreichisches Filmmuseum
10. JÄNNER BIS 26. FEBRUAR 2020

CATHERINE BREILLAT
MARCO FERRERI
GERD KROSKE Deutschlandbilder
IN PERSON Siegfried A. Fruhauf

www.filmmuseum.at
Willkommen im
Österreichischen Filmmuseum
Das Österreichische Filmmuseum widmet sich seit 1964 der Samm-
lung, Bewahrung, Erforschung und Vermittlung des Mediums Film in
all seinen Aspekten. Das beinhaltet ganz zentral die Ausstellung und
Vermittlung von Film – als Kunstform, Kulturtechnik und Zeitdokument
– in unserem Kinosaal, dem »Unsichtbaren Kino« in der Albertina.
    Wir zeigen Werke aus der Geschichte des Films grundsätzlich im
jeweiligen Originalformat und in den weltweit bestmöglich erhalte-
nen Filmkopien (35mm bzw. 16mm). Werke, die ursprünglich auf
Video bzw. digital hergestellt oder präsentiert wurden, werden digi-
tal projiziert. In seltenen Fällen präsentieren wir auf Film hergestellte
Werke digital: Dies geschieht jeweils aus kuratorischen oder konser-
vatorischen Gründen und wird speziell ausgewiesen.
    Filme werden bei uns grundsätzlich in ihrer originalen Sprachfas-
sung gezeigt und gegebenenfalls untertitelt. Für unsere internationa-
len Gäste weisen wir Vorführungen in englischer Sprache bzw. Unter-
titelfassung gesondert aus (siehe Legende S. 2).

Screenings in English or with English subtitles
are marked with this symbol ★

INHALT
Allgemeine Informationen 2
Catherine Breillat / Marco Ferreri 3
Operate – Performatives Kino 35
In Person. Siegfried A. Fruhauf 36
Simon Wiesenthal im Interview 40
Gerd Kroske. Deutschlandbilder 42
Treibgut. Filme des Roten Wien 51
Europamaschine. Paradise Lost and Found 52
Schule im Kino 54
Zyklisches Programm. Was ist Film 29–42 55
Spielplan. Alle Filme von 10. Jänner bis 26. Februar 2020 59
Dank/Impressum 63
Innerhalb eines Themas sind die Filme in der Reihenfolge
ihrer Programmierung geordnet.
ALLGEMEINE INFORMATIONEN
SPIELORT/VEREINSSITZ
1010 Wien, Augustinerstraße 1
TICKETS
Kassaöffnungszeiten: Montag bis Freitag ab 15 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen
geöffnet ab einer Stunde vor Beginn der ersten Vorführung. Bei großem Andrang werden ab
30 Minuten vor Beginn nur mehr Karten für die unmittelbar bevorstehende Vorführung verkauft.
Einzelkarte für Mitglieder sowie Kinder und Jugendliche bis 18: 6 Euro
Ermäßigung für Studierende mit Mitgliedschaft: 5 Euro bzw. 3 Euro für Zyklus
Zehnerblock (für Mitglieder): 45 Euro
Jahresmitgliedschaft: 13,50 Euro
Partnermitgliedschaft: 23 Euro
Einzelkarte inklusive Tagesmitgliedschaft: 10,50 Euro
Informationen zur Fördernden Mitgliedschaft auf Seite 63 und
auf unserer Website www.filmmuseum.at
RESERVIERUNGEN
T +43/1/533 70 54 oder www.filmmuseum.at. Reservierte Karten müssen
spätestens 30 Minuten vor Beginn der jeweiligen Vorstellung abgeholt werden.
BÜRO/BIBLIOTHEK
1010 Wien, Hanuschgasse 3, Stiege 5, 2. Stock
Bibliothek: Mo & Mi, 12–18 Uhr; Katalog online unter www.filmmuseum.at
Videosichtungsplatz für Studienzwecke: Mi 12–18 Uhr (gegen Voranmeldung)
Büro: Mo bis Do 10–18 Uhr, Fr 10–13 Uhr, T 01/533 70 54, E-Mail office@filmmuseum.at
SAMMLUNGEN
1190 Wien, Heiligenstädter Straße 175 (Hof), T 01/533 70 54 -232

ABKÜRZUNGEN
R Regie B Drehbuch K Kamera S Schnitt M Musik D Darsteller UT Untertitel
• Veranstaltungen mit Gästen oder Einführungen ★ English language or subtitles

TEXTE VON
Christoph Huber, Michael Loebenstein, Jurij Meden, Ivana Miloš, Philipp Rohrbach,
Joachim Schätz, Gerald Weber, Constantin Wulff, Ingo Zechner

JÄNNER/FEBRUAR 2020                                                                 2
12. JÄNNER BIS 26. FEBRUAR 2020

                     Catherine Breillat /Marco Ferreri
CINETECA NAZIONALE

                     Sowohl die französische Filmemacherin Catherine Breillat (*1948) wie Dillinger è morto
                     auch der italienische Regisseur Marco Ferreri (1928–1997) sind als (1969,
                                                                                            Marco Ferreri)
                     Urheber*innen von »Skandalfilmen« bekannt. Zweifelsohne gehörte
                     die Provokation zu ihrem Metier und prägte die Wahrnehmung ihrer
                     Arbeit: Unvergessen etwa der Anblick Ferreris, wie er mit seinen welt-
                     berühmten Stars nach der umstrittenen Premiere von La grande
                     bouffe (Das große Fressen, 1973) auf den Stufen des Festival-Palais
                     von Cannes steht und einem Publikum, das ihn teilweise beschimpft
                     und bespuckt, glücklich lächelnd Kusshände zuwirft.
                        Aber Ferreri interessierte nicht der Tabubruch, ihm ging es um
                     die Beschreibung des modernen Lebens in der kapitalistischen
                     Welt, womit er quasi automatisch bei der Form der Groteske landete –
                     tatsächlich hat kaum ein anderer Film die Idee der Konsumgesell-

                     JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                 3
schaft und ihrer unvermeidlichen Selbstzerstörung so wörtlich umge-
setzt wie La grande bouffe (darin lag seine eigentliche Provokation).
Im Fokus von Ferreris unverwechselbarer Ästhetik – er selbst sprach
von einem »physiologischen Kino« – standen dabei stets die Ge-
schlechterverhältnisse, die er aus männlicher Perspektive subversiv
erforschte: Konfrontiert mit dem Zerbröckeln eines überkommenen
Patriarchats, fliehen seine (fast durchwegs männlichen) Protagonis-
ten vor der Realität in verschiedenste Formen der Regression, oft mit
radikalem Ausgang. Seine schonungslose Haltung zum eigenen Ge-
schlecht charakterisierte Ferreri anhand eines Bonmots, indem er sich
selbst als »50 Prozent Misogynist und 50 Prozent Feminist« beschrieb.
   Dieselbe Radikalität – wenn auch in völlig anderer Ausprägung
und aus resolut weiblichem Blickwinkel – kennzeichnet das Werk von
Catherine Breillat, die sich mit Ferreri auch in der unbedingten politi-
schen Unkorrektheit einer gleichermaßen leidenschaftlichen wie
zynischen Vision trifft. Ist Ferreri dabei eher ein lustvoller Sensualist,
so hat Breillat in einem Interview, das zum Erscheinen ihres Films
Romance (1999) veröffentlicht wurde, ihre Absicht dahingehend er-
klärt, dass sie einen Film machen wollte, der »brennt wie Eis«. Selten
hat eine Filmemacherin ihr Credo so knapp und poetisch – und dabei
völlig treffend – auf den Punkt gebracht. Das Kino Breillats brennt tat-
sächlich wie Eis und im Herzen aller Filme, die sie geschrieben und in-
szeniert hat, vereinigen sich scheinbar gegensätzliche Kräfte und
Ideen – Feuer und Eis, die Metaphysik und das Alltägliche, Sex und
Tod.
   Die in der Landgemeinde Bressuire geborene Breillat verließ im
Alter von 17 Jahren ihr strenges, katholisches Elternhaus und ging
nach Paris, wo sie ihren ersten Roman schrieb und sofort Aufsehen im
nationalen Kulturbetrieb erregte: Wegen seiner sexuellen Freizügig-
keit wurde das Buch erst ab 18 freigegeben. Breillat schrieb über
Dinge, über die sonst niemand schrieb – so wie sie später als
Regisseurin diese Dinge zeigen würde, wie sie sonst niemand zeigte,
und zwar auf eine Art, die unverschämt persönlich war und unbe-
irrbar explizit. Etwa das ungezügelte Verlangen eines Teenager-
Mädchens nach dem ersten Sex, egal mit wem, inklusive erotischer
Fantasien wie den in Nahaufnahme gezeigten Versuch, sich einen
zerstückelten Regenwurm in die Vagina zu schieben – zu sehen in
ihrem Debütfilm Une vraie jeune fille (Ein wirklich junges Mädchen),
den sie 1976 fertigstellte, der aber erst 1999 gezeigt werden konnte,

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                    4
im selben Jahr, als Breillat mit Romance ihren internationalen Durch-   Une vraie
bruch feierte und als designierte »Provokateurin« und Künstlerin        jeune fille (1976/
                                                                        1999, Catherine
auch über die Landesgrenzen hinaus entdeckt wurde.                      Breillat)
   Dabei arbeitete sich Breillat über die Jahre obsessiv – aber nicht
ausschließlich, was Werke wie der hintersinnige Historienfilm Une
vieille maîtresse (Die letzte Mätresse, 2007) belegen – an Tabuthemen
und sexuellen Erfahrungen ab. Ihre Protagonistinnen (männliche
Hauptfiguren sind in ihrer Filmografie eine rare Ausnahme) werden
von einem unkontrollierbaren Drang getrieben. Es geht um Sex jen-
seits aller herkömmlichen Moralvorstellungen, wieder und wieder,
alle Altersgrenzen überschreitend. Gewalt als Wunscherfüllung. Ver-
langen als Todeswunsch. Sex ist bei Breillat keine Destillation (oder
Reduktion) von Liebe, er wird zur Liebe selbst. Für sie gibt es keine
Tabus, aber bei aller Drastik ihrer Darstellungen von Sex und Gewalt
behandelt sie ihre transgressiven Sujets mit einer erstaunlichen
Delikatesse – sie bewegt sich in die Gegenrichtung zu den ausbeute-
rischen Tendenzen des Exploitationkinos (und, in gemilderter Form,
des Mainstream-Films).
   Breillats Figuren brennen nicht nur vor Leidenschaft, sie werden
buchstäblich von deren Flammen verzehrt. Sie suchen nach Augen-
blicken der Selbstvergessenheit, wenn ihr Fleisch mit dem Fleisch

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri               5
der oder des Geliebten verschmilzt – um jeden Preis. In dieser Hin-
sicht steht Breillat im französischen – und im europäischen – Kino
alleine da, sie ist vielmehr die Blutsschwester von David Cronenberg
und Ōshima Nagisa, zwei von ihr über alle Maßen verehrten Filme-
machern.
    Und doch hat Breillat eine Art antipodischen Antikonformismus-
Seelenverwandten im Mailänder Marco Ferreri, der ansonsten im
europäischen und italienischen Kino ebenso alleine dasteht. Auch
seine Figuren sind von Obsessionen und unerfüllbaren Sehnsüchten
getrieben – sein vorletzter Film heißt nochmal programmatisch
Diario di un vizio (Tagebuch einer Manie, 1993) – und überschreiten
dabei die gesellschaftlichen Normen. Wie bei Breillat führt die Auf -
lehnung von Ferreris Figuren dabei oft in die Absurdität, doch ist
sie bei ihm völlig anders gepolt: Nicht französische Philosophie, son-
dern der Geist der Commedia all’italiana liegt über seinem Werk,
selbst wo es in apokalyptische Dimensionen vorstößt. Der vormalige
Spirituosenvertreter Ferreri war in den 1950ern zu einer kleinen
Schlüsselfigur im italienischen Kino geworden, debütierte aber in
Spanien, in fruchtbarer Zusammenarbeit mit dem Autor Rafael
Azcona (der im kommenden März als ein Hausautor des großen
spanischen Regisseurs Luis García Berlanga wieder im Filmmuseum
gewürdigt wird).
    Mit Azcona entwarf Ferreri spanische Commedia-Pendants wie
El cochecito (Der Rollstuhl, 1960), bevor er nach Italien zurückkehrte
und eine Reihe von Meisterstücken des Genres vorlegte, die zugleich
schon seinen ganz idiosynkratischen Zugang zeigten – schon das
erste, Una storia moderna: L’ape regina (Die Bienenkönigin, 1963),
trug Ferreri den Ruf eines »Skandalregisseurs« ein. Ferreris Hang zur
anarchischen Geste paarte sich mit bitterbösen Gesellschaftsbe-
schreibungen sowie pessimistischen und sarkastischen, dabei aber
immer auch mitfühlenden Beziehungsbildern, die zugleich Röntgen-
bilder einer Epoche von zunehmender Entfremdung im Wohlstand
sind. Es ist kein Zufall, dass viele Starschauspieler*innen von Ferreri
wiederholt zu Höchstleistungen ihrer Karriere geführt wurden: Annie
Girardot, Catherine Deneuve, Ornella Muti oder Hanna Schygulla
ebenso wie Gérard Depardieu und Michel Piccoli. Insbesondere mit
Ugo Tognazzi und Marcello Mastroianni – der bei Ferreri eine sonst
ungeahnte Verwundbarkeit erkennen ließ – führte die langjährige
Kollaboration und Freundschaft zu unvergleichlichen Resultaten.

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                 6
Marco Ferreri, Catherine Breillat

   Doch trotz der großen Namen war es Ferreris Signatur, die prä-
gend blieb, gerade als La grande bouffe und La dernière femme (Die
letzte Frau, 1976) für Empörung wie Bewunderung sorgten. Im Rück-
blick ist die Aufregung längst verblasst, aber was bleibt, ist wie bei
allen Filmen Ferreris die Stichhaltigkeit seiner sozialen Analyse und
vor allem der sinnliche Sog seiner eigenwilligen, aber wirkmächtigen
Inszenierungsweise. Dillinger è morto (Dillinger ist tot, 1969) scheint
heute nicht nur wie die Essenz des Ferreri-Stils, sondern wie ein
Modellfilm für das Kunstkino der kommenden Dekaden, dem Ferreri
bis zu seinem verfrühten Tod eine ganze Reihe von Hauptwerken
schenkte, auch wenn sie nicht mehr dieselben Reaktionen auslösten:
Die Werkschau ist auch eine Gelegenheit, späte Triumphe wie das
programmatisch betitelte Drama Il futuro è donna (Die Zukunft heißt
Frau, 1984) – eine Art feministischer Umkehrung der Bienenkönigin –
oder den Berlinale-Sieger La casa del sorriso (Das Haus der Freuden,
1991) zu entdecken. (J. M. /C. H.)

Catherine Breillat wird am 17. und 18. Jänner im Filmmuseum zu Gast sein.
Die Retrospektive findet in Zusammenarbeit mit der Cineteca Nazionale,
dem Istituto Luce Cinecittà und der Cinémathèque suisse sowie mit Unterstützung
des Istituto Italiano di Cultura di Vienna statt.

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                              7
Dillinger è morto (Dillinger ist tot)
R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Sergio Bazzini K: Mario Vulpiani S: Mirella
Mercio M: Teo Usuelli D: Michel Piccoli, Anita Pallenberg, Annie Girardot.
Italien, 1969, 35mm, Farbe, 95 min. Italienisch mit engl. UT ★
Der reinste Ausdruck von Ferreris Vision – als visionärer Film, der fast               SONNTAG
alles, was sich modernes Kunstkino nennt, überschattet. Ein (schein-                   12.1. / 18.45
barer) Routine-Abend im Leben des Gasmasken-Konstrukteurs Glauco
(atemberaubend anti-schauspielernd: Michel Piccoli). Die Dinge des                     SONNTAG
(Wohlstands-)Lebens: Kochen und Essen, Medienkonsum, Spiele-                           2.2. / 20.30
reien mit den Besitztümern. Wie der Pistole, die in eine Zeitung mit
der Todesnachricht von John Dillinger eingewickelt ist. Was dem Film                   Courtesy
mit derselben Non-Sequitur-Methode zum Titel verhilft, die ihn zur                     Cineteca
                                                                                       Nazionale
unangestrengten Provokation macht: Surrealismus ganz aus Rea-
lismus geboren (und ihn allegorisch aushebelnd – in der kühnen
Ruhe ist Ferreri Wahlverwandter von Buñuel). Fast ohne Dialog, oft in
Echtzeit wird die Leere des Daseins beschworen, ohne eine Sekunde
Langeweile aufkommen zu lassen: Der sinnliche Sog und das berau-
schende Farbenspiel haben hypnotische Wirkung. Gipfelpunkt: ein
»revolutionärer« Befreiungsschlag als verstörende Entgrenzung
durch Regression. Zivilisationszersetzung nach 1968: die pure Anar-
chie, mit paradoxer Unaufgeregtheit serviert. (C. H.)

Una storia moderna: L’ape regina (Die Bienenkönigin)
R: Marco Ferreri B: Rafael Azcona, Marco Ferreri nach einem Einakter von Goffredo
Parise K: Ennio Guarnieri S: Lionello Massobrio M: Teo Usuelli D: Ugo Tognazzi,
Marina Vlady, Walter Giller, Linda Sini, Riccardo Fellini. Italien/Frankreich, 1963,
35mm, sw, 92 min. Italienisch mit dt. UT
Der erfolgreiche Autohändler Alfonso (Ugo Tognazzi) entschließt                        SONNTAG
sich auf Anraten eines Paters zur respektablen Familiengründung mit                    12.1. / 20.45
der hübschen, katholisch-ehrbar erzogenen Regina (Marina Vlady).
Tatsächlich ist ihr sexueller Appetit nach der Hochzeit kaum zu zü-                    SAMSTAG
geln: Doch Reginas Lust und List hat nur ein Ziel – die Fortpflanzung.                  8.2. / 18.30
Kaum ist sie schwanger, weist sie den von den Liebesanstrengungen
ausgezehrten Gatten strikt zurück: ein schwerer Schlag für dessen                      Courtesy
Männlichkeit. Commedia all’italiana in famoser Ferreri-Variation:                      Cineteca
                                                                                       Nazionale
Lachen, bis der Arzt kommt (der nur mehr den Tod feststellen kann).
Das subversive Sex-Lustspiel wurde in Italien zum Zensurfall: Ferreris
erster »Skandalfilm«. Der grandiose Mime Tognazzi wird dem Regis-
seur lange als wenig schmeichelhaftes Alter Ego dienen. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                              8
Una storia
                                                                                  moderna:
                                                                                  L’ape regina

El cochecito (Der Rollstuhl)
R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Rafael Azcona nach einer Erzählung
von Azcona K: Juan Julio Baena S: Pedro del Rey M: Miguel Asins Arbó
D: José Isbert, Pedro Porcel, José Luis López Vázquez. Spanien, 1960, 35mm,
sw, 85 min. Spanisch mit dt./frz. UT
Don Anselmo (der große Charakterdarsteller José Isbert), einst Minis-             MONTAG
ter, verlebt seinen Ruhestand mit der Familie seines geizigen Rechts-             13.1. / 18.30
anwaltssohnes in leiser Verbitterung: Als Familienoberhaupt hat er
nichts mehr zu sagen, also verbringt Don Anselmo seine Zeit lieber                MITTWOCH
mit seinem gelähmten Freund Lucca und dessen Bekannten, allesamt                  12.2. / 20.30
Rollstuhlfahrer. Bald setzt sich Don Anselmo in den Kopf, einen moto-
risierten Krankenfahrstuhl wie Lucca zu bekommen, um »dazuzuge-                   Courtesy
hören«. Erst spielt er seiner Umgebung dafür Theater vor, aber als das            Cinémathèque
                                                                                  suisse
nichts fruchtet, greift er zu anderen Mitteln. Marco Ferreris Regiekar-
riere begann in Spanien mit bissigen Satiren, in denen er parallel zur
Commedia all’italiana gesellschaftliche Zustände und menschliche
Schwächen pointiert schilderte. Höhepunkt seiner spanischen Phase
ist der makabre Kultklassiker El cochecito, in dem Ferreri mit be-
stechendem Blick die Welt der »Respektabilität« seziert und Einsam-
keit so schalkhaft wie einfühlsam porträtiert. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                          9
L’harem (Der Harem)
R, B: Marco Ferreri K: Luigi Kuveiller S: Enzo Micarelli M: Ennio Morricone
D: Carroll Baker, Gastone Moschin, William Berger, Renato Salvatori.
Italien/Frankreich, 1967, 35mm, Farbe, 96 min. Italienisch mit engl. UT ★
Am Morgen ihrer geplanten Hochzeit mit Geschäftsmann Gianni                        MONTAG
macht die schöne Margherita (Carroll Baker) einen Rückzieher: Sie                  13.1. / 20.30
kann und will sich zwischen ihren drei Geliebten nicht entscheiden.
Also macht sie Urlaub in Dubrovnik – und holt das Männer-Trio nach,                Courtesy
das ihr als Harem dienen soll. Die Herren lassen sich auf das Spiel ein,           Cineteca
                                                                                   Nazionale
aber wie lange können Machos mit »verkehrten« Verhältnissen um-
gehen? Ferreri stellt die Rollenbilder satirisch auf den Kopf, um mit
äußerster Konsequenz von der Unfähigkeit zum Wandel zu erzählen.
In die Komik kriecht jene beiläufige Bitterkeit, mit der Ferreri sukzes-
sive die Moderne und ihre Beziehungsbilder immer gnadenloser
durchleuchten wird: Die »skandalöse« Verstörung seines Kinos ist in
Wahrheit nur die schockierende Klarheit seiner Kritik. L’harem kleidet
sie in ein audiovisuelles Fest: Mit dem Einzug der Farbe wird der male-
rische Aspekt von Ferreris Filmen überdeutlich, untermalt von einem
der ungewöhnlichsten Soundtracks Ennio Morricones. (C.H.)

Il seme dell’uomo (Die Saat des Menschen)
R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Sergio Bazzini K: Mario Vulpiani S: Enzo
Micarelli M: Teo Usuelli D: Marzio Margine, Anne Wiazemsky, Annie Girardot.
Italien/Frankreich, 35mm, 1969, Farbe, 105 min. Italienisch mit engl. UT ★
Eine Katastrophe hat den Großteil der Menschheit ausgelöscht. Das                  MITTWOCH
junge Paar Cino und Dora wird zur Überlebenshoffnung. Sie werden                   15.1. / 18.30
in die Sonderzone hinter dem Kaugummiautomaten – nicht nur die
Katastrophe bleibt unerklärt! – verfrachtet und kommen in ein Haus                 Courtesy
am Meer (vor dem Marco Ferreri höchstselbst als Leiche thront). Im                 Cineteca
                                                                                   Nazionale
TV laufen Bilder der brennenden Welt, während das Pärchen lernt, vom
Vorgefundenen zu überleben. Bis versprengte Autoritäten eintreffen
und deklarieren, dass es Doras Pflicht ist, schwanger zu werden, was
sie im Angesicht der Apokalypse verweigert. Da taucht unerwartet
eine Kontrahentin auf … Eine mit postapokalyptischen Genre-Tupfern
getarnte Weiterführung der finster-absurden Ferreri-Zustandsbilder
von Gesellschaft und Mann-Frau-Beziehungen (u. a. taucht die Pop-
Art-Pistole aus Dillinger è morto wieder auf). Die drohende allegori-
sche Schwere läuft dabei gezielt ins Leere: Wenn hier etwas siegt,
dann nicht die Menschheit, sondern nur die Frechheit. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                          10
Liza (Allein mit Giorgio)
R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Jean-Claude Carrière, Ennio Flaiano nach
Flaianos Novelle Malampus K: Mario Vulpiani S: Giuliana Trippa M: Philippe
Sarde D: Marcello Mastroianni, Catherine Deneuve, Corinne Marchand, Michel
Piccoli. Italien/Frankreich, 1972, 35mm, Farbe, 96 min. Französisch mit dt. UT
Zeichner Giorgio (Marcello Mastroianni) hat sich mit seinem Hund auf                  MITTWOCH
eine einsame Insel zurückgezogen. Eines Tages taucht unerwartet                       15.1. / 20.30
Liza (Catherine Deneuve) auf, die von der Yacht ihres Geliebten geflo-
hen ist: Der Beginn einer bizarren Beziehung, die (vorläufig) darin                    MONTAG
kulminiert, dass Liza auf den Hund eifersüchtig wird, ihn beseitigt                   10.2. / 18.30
und glücklich dessen Rolle übernimmt … Eine Art Urlaubsfilm, in dem
Ferreri vor entspanntem Mittelmeer-Flair mit seinem Star-Paar eine                    Courtesy
mildere Variante seiner mehrdeutigen Allegorien über gesellschaft-                    Cinémathèque
                                                                                      suisse
lich anerzogene Verhaltensmuster und absurde Befreiungsversuche
durchspielt. Die befremdliche Melancholie bei den kurzen Landauf-
halten zwischendurch führt immer wieder zurück ins irritierende
Ferreri-Zwischenreich, wo die Grenze zwischen unterspieltem Ernst
und ironischer Übertreibung unsichtbar wird. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                             11
Chiedo asilo (Mein Asyl)
R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Gérard Brach, Roberto Benigni K: Pasquale Rachini
S: Mauro Bonanni M: Philippe Sarde D: Roberto Benigni, Dominique Laffin, Chiara
Moretti. Italien/Frankreich, 1979, 35mm, Farbe, 111 min. Italienisch mit engl. UT ★
Roberto Benigni wurde in seiner ersten Hauptrolle von Ferreri zu                       DONNERSTAG
seiner subtilsten und besten Leistung geführt: Kindergarten-Erzieher                   16.1. / 18.30
Roberto versucht in Bolognas Vorstadt mit unkonventionellen Metho-
den, den Kindern Kreativität und unverstelltes Erleben zu ermög-                       DONNERSTAG
lichen, als Gegenpol zur zunehmend reglementierten Gesellschaft                        13.2. / 20.45
und ihren freudlosen Betonfassaden. So bringt er die Kleinen in die
Fabriken, wo die Eltern arbeiten oder einen Esel in den Unterrichts-                   Courtesy Istituto
raum, damit sie Direktkontakt mit einem Tier haben (durch die Straßen                  Luce Cinecittà
paradiert indes ein Riesenroboter aus einer Anime-Serie: »Der Esel
hat gegen das Fernsehen verloren …«). Dass Roberto selbst kein ver-
antwortungsvoller Erwachsener ist, hat ihm die Hoffnung bewahrt.
Ferreris Quasi-Kinderfilm: verspielt und bei aller nachdenklichen Am-
bivalenz der Aufbruch in eine hoffnungsvollere Phase. (C. H.)

Storie di ordinaria follia / Tales of Ordinary Madness
R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Sergio Amidei nach Erections, Ejaculations,
Exhibitions, and General Tales of Ordinary Madness von Charles Bukowski
K: Tonino Delli Colli S: Ruggero Mastroianni M: Philippe Sarde D: Ben Gazzara,
Ornella Muti, Susan Tyrrell. Italien/Frankreich, 1981, 35mm, Farbe, 107 min.
Englisch mit dt./ frz. UT ★
»When Hemingway put his brains on the wall, that was style …«, do-                     DONNERSTAG
ziert eingangs der Säufer-Dichter Charles Serking (exzellent: Ben                      16.1. / 20.45
Gazzara mit einem spöttischen Glanz in den Augen, als wäre die Welt
nur ein kosmischer Witz). In den Elendsvierteln von Los Angeles                        SONNTAG
hängt er in Säuferkneipen ab und sucht sexuelle Abenteuer. Marco                       16.2. / 20.30
Ferreris Adaption von Charles Bukowskis autobiografischen Stories
ist eine Art Niederlage auf fremden Terrain: Wo sich in seinen Filmen                  Courtesy
sonst auch scheinbar disparate Versatzteile organisch zum Ganzen                       Cinémathèque
                                                                                       suisse
fügen, bleiben die bei Bukowski entlehnten Episoden wie für sich al-
leine stehen – die augenfällig scheinende Verbindung von Autor und
Auteur will nicht aufgehen. Aber als Einzelstücke leuchten hier Höhe-
punkte in Ferreris Werk, von der perversen Stalker-Episode mit Susan
Tyrell am Anfang über die kunstvolle Stilisierung Ornella Mutis zur un-
glücklichen Huren-Madonna bis zum in räumlicher Schönheit erstrah-
lenden Finale am Strand. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                             12
CINETECA NAZIONALE

                     Storia di Piera (Die Geschichte der Piera)
                     R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Piera Degli Esposti und Dacia Maraini nach dem
                     Buch von Degli Esposti und Maraini K: Ennio Guarnieri S: Ruggero Mastroianni
                     M: Philippe Sarde D: Isabelle Huppert, Hanna Schygulla, Marcello Mastroianni.
                     Italien/Frankreich/BRD, 1983, 35mm, Farbe, 107 min. Italienisch mit engl. UT ★
                     Verfilmung des autobiografischen Entwicklungsromans der Aktrice                       FREITAG
                     Piera Degli Esposti, die vor allem für ihre Bühnenauftritte berühmt ist,            17.1. / 18.30
                     aber auch im Kino reüssierte, etwa als Mutter in Nanni Morettis Sogni
                     d’oro oder als legendäre Sekretärin Giulio Andreottis in Il divo. Pieras            MONTAG
                     Kinderjahre in der Provinz Latina sind durch das exzentrische Ver-                  17.2. / 18.30
                     halten ihrer nymphomanen Mutter (Hanna Schygulla) geprägt. Der
                     nachgiebige Vater (Marcello Mastroianni), ein Angestellter der Kom-                 Courtesy
                     munistischen Partei, verliert dabei zusehends die Ausgeglichenheit –                Cineteca
                                                                                                         Nazionale
                     und schließlich seinen Job. Während die erwachsene Piera (Isabelle
                     Huppert) ihre ersten sexuellen Erfahrungen macht, gibt sie die
                     Schule auf, um sich als Schneiderin die Schauspielkarriere zu finan-
                     zieren. Der erste Film in Ferreris feministischem Diptychon der
                     1980er demonstriert eine Rückkehr zur Gelassenheit: Was anderen
                     zur inzestuösen Kolportage-Geschichte geworden wäre, wird bei ihm
                     zur bittersüßen Erzählung einer Emanzipation. (C. H.)

                     JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                           13
À ma sœur! (Meine Schwester)
R, B: Catherine Breillat K: Giorgos Arvanitis S: Pascale Chavance M: Fabrice
Nguyen Thai, Jean-Paul Jamot D: Anaïs Reboux, Roxane Mesquida, Arsinée
Khanjian, Libero De Rienzo. Frankreich/Italien, 2001, 35mm, Farbe, 86 min.
Französisch mit engl. UT ★
Zwei Teenager-Schwestern verbringen die Ferien mit ihren Eltern am                  FREITAG
Meer. Die Urlaubslangeweile wird kompensiert, indem das Duo auf                     17.1. / 20.30
Streifzügen durch den Ort ausgiebig über Sex diskutiert, insbeson-                   • In Anwesen-
dere Jungfräulichkeit – genauer genommen: deren Verlust. Die jün-                   heit von
                                                                                    Catherine Breillat
gere, dickliche Anaïs will von einem Fremden entjungfert werden,
damit die Sache schmerzlos erledigt ist, die hübsche, schlanke Elena                SONNTAG
will auf die große Liebe warten. Als Elena mit einem italienischen                  9.2. / 18.45
Studenten zu flirten beginnt, folgt bald die Probe aufs Exempel, vom
Nachbarbett aus beobachtet von Anaïs, was die Rivalität zwischen
den Schwestern weiter steigert. Breillats dynamischste und kühnste
Auseinandersetzung mit erwachender weiblicher Sexualität behan-
delt nicht nur die geschlechtlichen Beziehungen als ein Schlachtfeld:
Ihre politisch unkorrekten Thesen zur Initiationserfahrung werden
mit filmischer Virtuosität verstörend zugespitzt – zu einer Art finalem
Horror-Triumph. Vielleicht Breillats Meisterwerk. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                           14
L’uomo dei cinque palloni / Break-Up
R: Marco Ferreri D: Rafael Azcona, Marco Ferreri K: Aldo Tonti M: Teo Usuelli
S: Renzo Lucidi D: Marcello Mastroianni, Catherine Spaak, William Berger,
Ugo Tognazzi. Italien/Frankreich, 1965/67, 35mm, Farbe und sw, 85 min.
Italienisch mit engl. UT ★
Dasein und Beruf von Bonbonfabrikant Mario (Marcello Mastroianni)                    SAMSTAG
sind auf maximale Produktivität getrimmt. Bis der egozentrische                      18.1. / 18.30
Erfolgsmensch von einer Werbegeschenk-Idee abgelenkt wird. Als er
Luftballons aufbläst, erfasst ihn eine Besessenheit: exakt den Punkt                 SONNTAG
erreichen, bis zu dem sich der Ballon füllen lässt, bevor er platzt. Die             16.2. / 18.45
Obsession wird so allmächtig, dass seine ganze Existenz aus den
Fugen gerät. Unter Ferreris großen Meisterwerken das unbekann-                       Courtesy
teste, weil es von Produzent Carlo Ponti zuerst unterdrückt und zum                  Swedish Film
                                                                                     Institute
Episodenfilmteil zusammengeschnitten wurde – mit der Begrün-
dung, es würde Mastroiannis Karriere ruinieren. Tatsächlich war der
(brillant unterspielende) Italo-Superstar kaum je so unsympathisch
und doch so verletzlich wie in dieser vieldeutigen Allegorie (Impo-
tenzangst? Kapitalismuskritik? Konsumterror?), in der Ferreri das
Grauen der Gegenwart im Geiste des Surrealismus – samt psychede-
lischer Farb-Einlage – als humoristische Höllenfahrt gestaltet. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                            15
Une vraie jeune fille (Ein wirklich junges Mädchen)
R, B: Catherine Breillat nach ihrem Roman Le Soupirail K: Pierre Fattori, Patrick
Godaert S: Annie Charrier, Michèle Quevroy M: Mort Shuman D: Charlotte Alexandra,
Hiram Keller, Rita Maiden. Frankreich, 1976/1999, 35mm, Farbe, 93 min.
Französisch mit engl. UT ★
Nachdem sie sich als Schriftstellerin etabliert hatte, sorgte Catherine             SAMSTAG
Breillat mit ihrem Regiedebüt für einen Skandal – die Uraufführung                  18.1. / 20.30
erfolgte erst 1999. Breillats provokanter Erstling legt ihre spezifischen             • In Anwesen-
thematischen Interessen (insbesondere am Tabubruch) bloß und                        heit von
                                                                                    Catherine Breillat
offenbart ein völlig eigenständiges kinematografisches Talent: Aus
der scheinbar ereignislosen Geschichte mit romantischen Allüren                     FREITAG
über den Sommerurlaub einer 14-jährigen im ländlichen Frankreich                    14.2. / 18.30
der 1960er wird rasch eine erfrischend schamlose und rasiermesser-
scharfe Untersuchung weiblicher Teenager-Sexualität. Die mürrische
Alice masturbiert aus Langeweile, provoziert ihre Eltern und be-
schließt, einen jungen Mann zu verführen. Breillats rücksichtslos ex-
plizite Darstellung von Sexualität war für das damalige Mainstream-
Kino zu transgressiv und spaltete auch seither die Geister: Was Geg-
ner*innen als »philosophische Pornografie« abtaten, erklärten ihre
Befürworter*innen zu Kino aus dem Geist von Bataille. (J. M.)

Tapage nocturne (Nächtliche Ruhestörung)
R, B: Catherine Breillat K: Jacques Boumendil S: Annie Charrier M: Serge
Gainsbourg D: Dominique Laffin, Marie-Hélène Breillat, Bertrand Bonvoisin.
Frankreich, 1979, 35mm, Farbe, 97 min. Französisch mit engl. UT ★
Mit ihrem zweiten Film beseitigte Breillat alle Zweifel daran, ob ihre              SONNTAG
kinematografischen Erforschungen der Sexualität aus zutiefst per-                    19.1. / 18.45
sönlichen Erfahrungen, wenn nicht sogar autobiografisch gespeist
sind. Solange, die Hauptfigur von Tapage nocturne ist eine Regisseu-                 MONTAG
rin, die in einen wahnwitzigen Wirbel aus widerstreitenden künstleri-               10.2. / 20.30
schen und sexuellen Impulsen geraten ist und darum kämpft, nicht
vollends mitgerissen zu werden. Zwar ist Solange verheiratet und
schläft regelmäßig mit ihrem Gatten, aber nachts streift sie auf der
Suche nach sexuellen Zufallsbegegnungen durch Paris und findet
manchmal bis zu drei Liebhaber pro Nacht (Top-Cameo: Warhol-Kult-
darsteller Joe Dallesandro). Ihre hartnäckige und ermüdende Suche
nach Erfüllung spiegelt sich in der Wiederholungsstruktur des Films
und ist die Blaupause für Breillats berühmt-berüchtigtste Filme zum
Thema, Romance und Anatomie d’enfer. (J. M.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                          16
La grande bouffe (Das große Fressen)
R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Rafael Azcona und Francis Blanche (Dialoge)
K: Mario Vulpiani S: Claudine Merlin, Gina Pignier M: Philippe Sarde D: Marcello
Mastroianni, Michel Piccoli, Philippe Noiret, Ugo Tognazzi, Andrea Ferreol.
Frankreich/Italien, 1973, 35mm, Farbe, 130 min. Französisch mit engl. UT ★
Vier ihres Lebens überdrüssige Freunde ziehen sich in eine abge-                      SONNTAG
schottete Villa zurück, um in einer Genussorgie zugrunde zu gehen.                    19.1. / 20.45
Ferreris berühmtestes Werk und ein legendärer »Skandalfilm«, dabei
so unsensationalistisch inszeniert wie nur denkbar: In ganz entspann-                 FREITAG
tem Rhythmus (Ferreri-Hauskomponist Philippe Sarde steuert eine                       14.2. / 20.30
gutgelaunte Todes-Rumba bei, die den Untergangstakt vorgibt) wird
die Idee der Überflussgesellschaft nicht bloß als Metapher bemüht,                     Courtesy Istituto
sondern ganz buchstäblich in Szene gesetzt, bis einem die Dekadenz                    Luce Cinecittà
im Hals stecken bleibt, während die Körperfunktionen im Konsum-
rausch versagen (Buñuel: »ein hedonistisches Monument«). Der Ekel
des Exzesses wird dabei mit paradoxer Eleganz zelebriert, in allen
Aspekten der mise en scène, von Fotografie über Dekor bis zum
Schauspiel – für die unter eigenen Vornamen auftretende Star-
Freundesgruppe war der potenziell unappetitliche Dreh sichtlich ein
Freudenfest. Auch das, natürlich, ein »Skandal«. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                             17
I Love You
R: Marco Ferreri B: Enrico Oldoini, Marco Ferreri, Didier Kaminka K: William
Lubtchansky S: Ruggero Mastroianni D: Christopher Lambert, Eddy Mitchell,
Flora Barillaro. Frankreich/Italien, 1986, 35mm, Farbe, 101 min.
Französisch mit engl. UT ★
Jahrzehnte bevor Spike Jonzes Her für das »zeitgemäße« Porträt von                     MONTAG
Liebessehnsucht in der Welt künstlicher Avatare preisgekrönt wurde,                    20.1. / 18.30
hatte Marco Ferreri das Konzept schon – in bewährt absurder Ver-
dichtung – auf den Punkt gebracht: Bei ihm ist es ein elektronischer                   Courtesy
Schlüsselanhänger mit Frauengesicht, der vom Himmel gefallen ist                       Cineteca
                                                                                       Nazionale
und seinem Finder »I Love You« zuhaucht, wenn er pfeift. Der gelang-
weilte Reisebüro-Angestellte Michel (Christopher Lambert) verfällt
dem Fetisch, dessen Liebesversprechen seiner Eitelkeit schmeichelt –
und dessen einfache Befriedigung ihm echte Beziehungen ersetzt,
was zu hinreißend bizarren Begegnungen führt. Ferreris amüsierter
Umgang mit der sozialen Entfremdung und regressiver Männlichkeit
war selten so entspannt wie in diesem verfrühten Alterswerk, das
er mit 58 Jahren veröffentlichte und das sich im Finale als bewusste
Yuppie-Ära-Variation auf Dillinger è morto entpuppt. (C. H.)

Parfait amour! (Eine perfekte Liebe)
R, B: Catherine Breillat K: Laurent Dailland S: Agnès Guillemot
D: Isabelle Renauld, Francis Renaud, Laura Saglio, Alain Soral, Serge Toubiana.
Frankreich, 1996, 35mm, Farbe, 110 min. Französisch mit engl. UT ★
Hinter dem teuflischen Titel Parfait amour! verbirgt sich ein direkter                  MONTAG
Anschlag auf die bürgerliche Sexualmoral, serviert als Anatomie                        20.1. / 20.30
eines Mordes. Genau genommen: die langsame, geduldige, methodi-
sche, geradezu chirurgische Anatomie eines unsagbar grausamen                          MITTWOCH
Sexualmordes. Breillat eröffnet gnadenlos mit der Nachstellung der                     19.2. / 20.30
Tat durch die Polizei, bevor sie in der Zeit zurückspringt, um die Ur-
sachen zu analysieren. Der aufdringliche Spätzwanziger Christophe
beginnt eine Affäre mit Frédérique, Ende Dreißig, geschieden und
Mutter zweier Kinder. Die beiden verfallen einander hemmungslos,
doch sukzessive offenbart sich Christophes wahrer Charakter: ego-
zentrisch, eifersüchtig, gequält und unsicher wie ein Kind – unreif für
eine ernsthafte Beziehung. Breillat erzählt das mörderische Scheitern
als buchstäbliche Interpretation der Dualität von Eros und Thanatos:
Es ist ihre gründlichste Auseinandersetzung mit der wiederkehrenden
Idee des Tötens als (einzig) logischem Ausgang einer Romanze. (J. M.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                              18
Parfait amour!

36 Fillette (Lolita ’90)
R: Catherine Breillat B: Catherine Breillat und Roger Salloch nach Breillats Roman
K: Laurent Dailland S: Yann Dedet M: Maxime Schmitt D: Delphine Zentout,
Etienne Chicot, Jean-Pierre Léaud, Jean-François Stévenin. Frankreich, 1988,
35mm, Farbe, 88 min. Französisch mit engl. UT ★
Lili, eine frühreife und vorlaute 14-jährige, lernt im Urlaub einen                  MITTWOCH
Schürzenjäger in der Midlife-Crisis kennen: Er will Sex, doch ihr ver-               22.1. / 18.30
queres Verlangen – sie kann es nicht erwarten, ihre Jungfräulichkeit
loszuwerden, ist aber zugleich abgestoßen – macht aus dem geplan-                    SAMSTAG
ten One-Night-Stand eine mehrtägige Auseinandersetzung, die zwi-                     15.2. / 18.30
schen Erniedrigung und Verständnis schwankt. Während Lili ihren
Verehrer abwechselnd erotisch lockt und verbal demütigt, wird jene
Zerbrechlichkeit spürbar, die in ihm Gefühle weckt. Catherine Breillat,
spezialisiert auf die Zuspitzung sexueller Machtkämpfe, entwickelt
die Dynamik ihrer Tragikomödie über nüchtern inszenierte, genau
beobachtete Begegnungen. Anfangs trifft Lili auf einen Künstler-
typen, gespielt von Jean-Pierre Léaud, einst Darsteller des auf -
sässigen Teenagers Antoine Doinel. Mit dessen Ratschlägen kann
sie herzlich wenig anfangen: Nicht nur diese filmhistorische Geste
beweist Breillats charakteristisch subversiven Humor. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                            19
Romance
R, B: Catherine Breillat K: Giorgos Arvanitis S: Agnès Guillemot M: Raphaël Tidas,
DJ Valentin D: Caroline Ducey, Sagamore Stévenin, François Berléand, Rocco
Siffredi. Frankreich, 1999, 35mm, Farbe, 98 min. Französisch mit dt. UT
Die Lehrerin Marie lebt mit Paul zusammen, der ihre Liebe erwidert,                   SONNTAG
aber sich weigert, mit ihr zu schlafen. Unbefriedigt macht sich Marie                 26.1. / 18.45
auf die Suche nach sexuellen Abenteuern: vom Fremden (Pornostar
Rocco Siffredi), den sie in einer Bar aufliest, bis zu ihrem Vorgesetz-                DONNERSTAG
ten, mit dem sie Bondage-Erfahrungen sammelt. Als Paul schließlich                    20.2. / 18.30
doch ein einziges Mal mit ihr schläft, wird sie schwanger … mit uner-
warteten Folgen. Mit Romance wurde Breillat verspätet, aber schlag-
artig auch international bekannt – und zur Vorreiterin einer Arthouse-
Welle von »tabubrecherischen« Kunstfilmen mit unsimulierten Sex-
szenen, die kaum je wieder mit Breillats quasidokumentarischer
Direktheit und Seriosität präsentiert wurden (zugleich verrät nicht
nur der provokante Showdown Breillats Sinn für Humor). Der
Kontrast zwischen Ton (poetischer Voice-Over) und Bild (prosaische
Erotik und absurde Fantasien) ist in keinem anderen Breillat-Film so
ausgeprägt: ein ästhetisches Manifest. (C. H.)

Touche pas à la femme blanche
(Berühre nicht die weiße Frau)
R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Rafael Azcona K: Étienne Becker S: Ruggero
Mastroianni M: Philippe Sarde D: Marcello Mastroianni, Catherine Deneuve, Michel
Piccoli. Frankreich/Italien, 1974, 35mm, Farbe, 108 min. Französisch mit engl. UT ★
Ferreris größte Starparade – prominent besetzt bis in die kleinsten                   SONNTAG
Rollen – entstand spontan und spottbillig. Um das Freundesquartett                    26.1. / 20.45
Mastroianni-Tognazzi-Piccoli-Noiret nach der Glückserfahrung von
Le grande bouffe wieder zusammenzubringen, ließ sich Ferreri von                      SAMSTAG
der riesigen Baugrube mitten in Paris inspirieren, die durch den Ab-                  22.2. / 20.45
riss der alten Markthallen von Les Halles aufklaffte. Er machte sie zur
Prärie und ließ dort Custer’s Last Stand nachspielen. Mit herzhaft-                   Courtesy Istituto
absurdem Anachronismus werden dabei Vietnam und französische                          Luce Cinecittà
Kolonialkriege beschworen, während die Akteure (u. a. Mastroianni
als alberner Hardliner-General und Piccoli als Medienscharlatan
Buffalo Bill) sich parodistisch austoben. Den »Revisionismus« von
Spätwestern wie Robert Altmans Buffalo Bill and the Indians läßt
Ferreri dabei schon vorab alt aussehen. Ein Pflichtfilm für alle, die
Western lieben – oder hassen. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                            20
Romance

À propos de Nice, la suite
(À propos de Nice – wie es weiterging)
R, B: Catherine Breillat, Costa-Gavras, Claire Denis, Raymond Depardon, Abbas
Kiarostami, Pavel Lungin, Raúl Ruiz K: Jacques Bouquin, Nathalie Crédou, Laurent
Dailland, Denis Evstigneev, Agnès Godard S: Anne Belin, Katya Chelli, Roger Ikhlef,
Natacha Krylatov, Nelly Quettier D: Grégoire Colin, Laura Del Sol, Arielle Dombasle,
Parviz Kimiavi. Frankreich, 1995, 35mm, Farbe, 105 min. Französisch mit engl. UT ★
Ein Episodenfilm zur Feier des 65. Geburtstags von Jean Vigos Meis- MONTAG
terwerk À propos de Nice. Sieben prominente Filmemacher*innen 27.1. / 18.30
fassen die französische Küstenstadt erneut ins Auge, um hinter deren
scheinbar gemütlichen und sonnigen Fassaden die wirklichen sozia-
len und politischen Zustände herauszuarbeiten – ganz gemäß Vigos
ursprünglicher Intention: »Diese soziale Dokumentation unterschei-
det sich von klassischen Dokumentarfilmen und Wochenschauen
durch einen Standpunkt, den alleine der Schöpfer definiert.« Wie bei
den meisten Kollektivfilmen sind die individuellen Beiträge recht
unterschiedlich geraten – auch weil einige Episoden das Thema do-
kumentarisch angehen, während andere auf Fiktion setzen – aber alle
Regisseurinnen und Regisseure, Breillat inklusive, bleiben ihrer jewei-
ligen Handschrift treu. (J. M.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                             21
La casa del sorriso (Das Haus der Freuden)
R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Liliane Betti, Antonino Marino K: Franco Di
Giacomo S: Dominique B. Martin M: Bruno Guarnera D: Ingrid Thulin, Dado Ruspoli,
Enzo Cannavale. Italien, 1991, 35mm, Farbe, 94 min. Italienisch mit engl. UT ★
Ein später Triumph für Ferreri war sein Berlinale-Sieg mit diesem an-                   MONTAG
rührenden und doch völlig unsentimentalen Film über das Alter, der                      27.1. / 20.30
Themen seines großen Frühwerks El cochecito wieder aufgreift. Ingrid
Thulin brilliert in ihrer letzten Rolle als ehemalige Schönheitskönigin                 MITTWOCH
Adeline (»Miss Lächeln« 1947), die im Altersheim mit einem verheira-                    26.2. / 20.30
teten Musikprofessor den zweiten Frühling erlebt. Ihr leidenschaftli-
ches Liebesleben lässt den melonenförmigen Wohnwagen am Ge-                             Courtesy Istituto
lände wackeln – und zieht den Neid der Mitbewohner*innen auf sich,                      Luce Cinecittà
während die Heimleitung mit Intoleranz reagiert. Ferreri interessiert
sich dabei nicht für den Tabubruch, sondern für den menschlichen
Faktor, wobei die Wärme seiner Charakterisierung im Gegensatz zur
Kälte des Systems steht: Wie Leo McCareys Meisterwerk Make Way for
Tomorrow oder einige Filme von Ozu Yasujirō erzählt Ferreri mit un-
barmherziger Klarheit davon, wie sich die kapitalistische Weltord-
nung derjenigen entledigt, die ihr nicht mehr nützlich sind. (C. H.)

Sale comme un ange (Schmutziger Engel)
R, B: Catherine Breillat K: Laurent Dailland, Bernard Tissier S: Agnès Guillemot
M: Olivier Manoury D: Claude Brasseur, Lio, Nils Tavernier, Roland Amstutz, Claude-
Jean Philippe. Frankreich, 1991, 35mm, Farbe, 105 min. Französisch mit engl. UT ★
Sechs Jahre nachdem sie am Drehbuch von Maurice Pialats Kultkrimi                       MITTWOCH
Police mitarbeitete, schrieb und inszenierte Breillat ihre ganz eigene                  29.1. / 20.30
hardboiled-Geschichte über einen alternden, einsamen und ver-
bitterten Pariser Polizisten, der nur seinem eigenen Moralkodex folgt                   MONTAG
und sich in einen Graubereich jenseits von Gesetz und Ethik manöv-                      24.2. / 18.30
riert. Der schroffe, kaltherzige Inspektor Deblache (Claude Brasseur)
redet nur mit Männern und schläft nur mit Prostituierten – bis ihm
von seinem abgebrühten Juniorpartner dessen Frau Barbara vorge-
stellt wird: Auch sie ist kein Unschuldsengel … Sale comme un ange
führt zwischen überfüllten Polizeiposten und beengenden Wohnun-
gen die kriminellen und erotischen Verwicklungen parallel, mit sin-
gulären Resultaten: Unter Breillats kaltem, unnachgiebigem, klinisch
genauem Blick entpuppen sich die intriganten Machenschaften
als Zurschaustellung männlicher Impotenz – physisch wie psycho-
logisch. (J. M.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                               22
La carne (Fleisch)
R: Marco Ferreri B: Liliane Betti, Massimo Bucchi, Paolo Costella, Marco Ferreri
K: Ennio Guarnieri S: Ruggero Mastroianni D: Sergio Castellitto, Francesca Dellera,
Philippe Léotard. Italien, 1991, 35mm, Farbe, 90 min. Italienisch mit engl. UT ★
Der Barpianist Paolo (Sergio Castellitto) hat sich von seiner gierigen                  DONNERSTAG
Frau scheiden lassen und leidet darunter, seine beiden Kinder nur                       30.1. / 20.30
selten zu sehen. Als eines Abends die üppige Schönheit Francesca
(Francesca Dellera) in sein Leben tritt, kehrt die Lebensfreude wieder:                 MITTWOCH
Paolo lässt kurzerhand Arbeit, Freunde und Familie im Stich, während                    19.2. / 18.30
er sich mit der Geliebten (und Massen von Lebensmitteln) in ein Haus
am Strand zurückzieht, wo sie den Freuden des Fleisches huldigen,                       Courtesy Istituto
während sie über die Dinge des Lebens philosophieren. Doch nicht                        Luce Cinecittà
nur das Sexualleben verläuft anders, als Paolo sich das vorstellt.
Ferreri hatte kurz zuvor Platos »Symposium« fürs Fernsehen adap-
tiert, in diesem Kultfilm greift er dessen Themen auf, um sie in eine
moderne Farce (mit Castellitto als idealem Ferreri-Protagonisten)
umzudeuten, wobei er selbst die größten Provokationen – darunter
Blasphemie, Unterwerfungs-Sex und Kannibalismus – mit anste-
ckend guter Laune und leichter Hand in Szene setzt. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                               23
La donna scimmia (Die Affenfrau)
R: Marco Ferreri B: Rafael Azcona, Marco Ferreri K: Aldo Tonti S: Mario Serandrei
M: Teo Usuelli D: Ugo Tognazzi, Annie Girardot, Achille Majeroni.
Italien/Frankreich, 1964, 35mm, sw, 93 min. Italienisch mit engl. UT ★
Der Tunichtgut Antonio (Ugo Tognazzi) entdeckt in der Ausspeisung                    FREITAG
eines Klosters die scheue Maria (Annie Girardot), die sich vor der Welt              31.1. / 18.30
versteckt, weil ihr Körper und Gesicht stark behaart sind. Antonio
»rettet« Maria aus dem Konvent und heiratet sie, um sie als Jahr-                    SAMSTAG
marktsattraktion auszubeuten – als sensationelle »Affenfrau«: primitiv,              15.2. / 20.30
(fast) nackt und »gefährlich« … Kein anderer Film von Ferreri fügt sich
so perfekt in das Wesen der Commedia all’italiana, die hier einen                    Courtesy
fruchtbaren Boden für seinen zersetzenden Humor bietet: Trotz aller                  Cineteca
                                                                                     Nazionale
schändlichen Gier ist Antonio der erste, der Maria als Mensch behan-
delt, was zu einer so bizarren wie tief empfunden Liebesbeziehung
und unvorhersehbaren Wendungen führt. Der beißende Witz trifft
auf eine erstaunliche emotionale Wärme, hochkomische Ideen mün-
den in humanistische Traurigkeit: die Fülle der Tonlagen des Ferreri-
Universums als perfekt ausbalancierte Anekdote, die Tognazzi und
Girardot absolute Glanzleistungen erlaubt. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                            24
Abus de faiblesse (Missbrauch)
R, B: Catherine Breillat K: Alain Marcoen S: Pascale Chavance M: Didier Lockwood
D: Isabelle Huppert, Kool Shen. Frankreich/Belgien/Deutschland, 2013, 35mm,
Farbe, 105 min. Französisch mit engl. UT ★
Ein Schlaganfall verändert alles. Die krampfartigen Bewegungen fan-                FREITAG
gen in den Füßen an, arbeiten sich langsam den Körper entlang nach                 31.1. / 20.30
oben bis ins schmerzverzerrte Gesicht von Maud (Isabelle Huppert):
Im Spital muss sie langsam lernen, den Körper wieder »normal« und                  MONTAG
funktional zu bewegen. Maud braucht Hilfe beim Wiedereinstieg ins                  17.2. / 20.30
Leben, aber von ihrer Familie bekommt sie keine Unterstützung.
Stattdessen taucht der ominöse Betrüger Vilko (der Rapper Kool
Shen) in ihrem Leben auf. Es entsteht eine Konstellation der gegen-
seitigen Abhängigkeit, anhand der sich Breillat stärker als je zuvor der
Ambivalenz von Machtverhältnissen widmet. Dabei bleibt immer un-
klar, wer von beiden die Fäden zieht. Dieser berührende und zugleich
verstörende Film basiert auf Breillats eigenen Erfahrungen und ist bis
dato ihr letzter geblieben. (I. M.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                          25
Anatomie de l’enfer (Anatomie der Hölle)
R, B: Catherine Breillat nach ihrem Roman Pornocratie K: Giorgos Arvanitis,
Guillaume Schiffman S: Pascale Chavance D: Amira Casar, Rocco Siffredi,
Alexandre Belin. Frankreich/Portugal, 2004, 35mm, Farbe, 77 min.
Französisch mit engl. UT ★
Eine namenlose Frau (Amira Casar) ist in einer Schwulendisco ge-                   SAMSTAG
strandet, wo sie sich in der Toilette die Pulsadern aufschneidet. Doch             1.2. / 18.30
sie wird von einem (ebenfalls namenlosen) Discobesucher (Rocco
Siffredi) vor dem Tode gerettet und macht ihm trotz seines abschät-                DONNERSTAG
zigen Auftretens ein Angebot: Sie wird ihn bezahlen, wenn er sie                   20.2. / 20.30
nachts besucht, um sie mit »neutralem« Blick zu beobachten. Indem
sie ihren Körper und dessen Sekrete darbietet, will sie sich selbst ent-
decken. Breillats wohl radikalster Entwurf: ein Meta-Kino-Konstrukt
von malerischer Schönheit, dabei praktisch handlungslos – stattdes-
sen wird der Akt des Sehens in aller Nacktheit »durchgespielt« und
der Kuleschow-Effekt in pseudopornografischem Zusammenhang
demonstriert. Statt einer Studie des Begehrens entwirft Breillat dabei
mit tiefem Pessimismus eine Art erotischen Endpunkt des body
horror-Genres in Form eines philosophischen Traktats (die Gedanken
des Mannes spricht die Regisseurin höchstselbst). Ein einzigartiges
Kunst-Stück. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                          26
La dernière femme / L’ultima donna (Die letzte Frau)
R: Marco Ferreri B: Rafael Azcona, Marco Ferreri, Dante Matelli
K: Luciano Tovoli S: Enzo Meniconi M: Philippe Sarde D: Gérard Depardieu,
Ornella Muti, Michel Piccoli. Frankreich/Italien, 1976, 35mm, Farbe, 108 min.
Italienisch mit engl. UT ★
Der zwangsbeurlaubte Ingenieur Gérard (Gérard Depardieu) küm-                        SAMSTAG
mert sich um seinen einjährigen Sohn, seit ihn seine zur Feministin                  1.2. / 20.30
gewordene Frau wegen seiner patriarchalen Ideale verlassen hat. Als
Gérard die schöne, doch unsichere Kindergärtnerin Valerie (Ornella                   SONNTAG
Muti) kennenlernt, beginnt eine neue Beziehung, deren Höhe- und                      23.2. / 20.45
Tiefpunkte im Schnelldurchlauf erlebt werden: Das Scheitern an den
eigenen Ansprüchen und Sehnsüchten gipfelt in einem radikalen Akt.                   Courtesy Istituto
Ebenso radikal (und tragikomisch) ist Ferreris satirische Schilderung                Luce Cinecittà
der Geschlechterverhältnisse und männlicher Unzulänglichkeit vor
dem Hintergrund maximaler Tristesse, beschworen durch herbst-
liche Stimmungen und Satellitenstadt-Entfremdung. Im Gegensatz
zur Opulenz von La grande bouffe ist das Stilmittel seines nächsten
angeblichen »Skandalerfolgs« die Reduktion, gipfelnd in offensiver
Nacktheit, vor allem Depardieus: eine Entblößung, die weit über
das Körperliche hinausgeht – in die Ängste der verunsicherten
Seele. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                            27
Brève traversée (Kurze Überfahrt)
R, B: Catherine Breillat K: Eric Gautier S: Pascale Chavance M: Patrick Chevalier,
D’Julz, Marc Filipi D: Sarah Pratt, Gilles Guillain, Marc Filipi. Frankreich, 2001,
35mm, Farbe, 84 min. Französisch mit engl. UT ★
Der 16-jährige Franzose Thomas ist noch Jungfrau, als er die Ärmel-                        SONNTAG
kanal-Fähre für Sprachferien in Großbritannien besteigt. Dort trifft er                    2.2. / 18.45
auf die etwa doppelt so alte Engländerin Alice, die eben ihren Mann
verlassen hat. Die beiden kommen sich näher und schließlich verführt                       MITTWOCH
Alice den Jungen zum One-Night-Stand. Inhaltlich quasi der »Bruder-                        26.2. / 18.30
film« zu Breillats À ma sœur! und vergleichbar virtuos inszeniert,
dabei aber in gänzlich anderem Register: eine Art comedy of man-                           Courtesy
ners, gebaut aus langen, beobachtenden Einstellungen, die dem Paar                         Cinémathèque
                                                                                           française
ruhig, mit größter Genauigkeit durch das Niemandsland-Interieur
eines Schiffs folgt – bis zur zynischen Pointe. Nicht nur darin erweist
sich Brève traversée in gewisser Weise als Gegenstück zu einem ganz
anderen Film, nämlich dem großen Klassiker des britischen Liebes-
verzichts, David Leans Brief Encounter, dessen Titel und schlagend
simple Struktur Breillat beschwört, um kühl alle Erwartungen auflau-
fen zu lassen. (C. H.)

Diario di un vizio (Tagebuch einer Manie)
R: Marco Ferreri B: Liliane Betti, Marco Ferreri unter Mitarbeit von Riccardo
Ghione K: Mario Vulpiani S: Ruggero Mastroianni M: Victorio Pezzolla, Gato
Barbieri D: Jerry Calà, Sabrina Ferilli, Valentino Macchi. Italien, 1993, 35mm,
Farbe, 89 min. Italienisch mit engl. UT ★
Chronik einer bedeutungslosen Existenz: Der studierte Philosoph                            MONTAG
Benito Balducci muss sich als Vertreter von Putzmitteln (vor allem                         3.2. / 18.30
zur Toilettenreinigung) durchschlagen, während er sich mit erotoma-
nischen Gedanken ablenkt. Doch er packt alles in sein Lebenswerk:                          Courtesy Istituto
ein Tagebuch, in dem sich die nutzlosen Details seiner anonymen                            Luce Cinecittà
Existenz mit den (auch nicht allzu erhabenen) Höhenflügen seiner
Fantasie vermischen. Die Stakkato-Abfolge dieser Prämisse erlaubt
Marco Ferreri, in seinem vorletzten Film noch einmal in absoluter Frei-
heit die Absurditäten des Daseins zu erforschen: ein rasantes Arran-
gement von kurzen Szenen, in denen die Grenze von (Wunsch-)
Traum und Wirklichkeit fließend geworden ist. Was Benito in Wirklich-
keit sucht, ist der sinnliche Genuss des Lebens – den er zwangsläufig
versäumt, weil er damit beschäftigt ist, ihn einzufangen. Die unver-
schämt fröhliche Bilanz eines ständigen Scheiterns. (C. H.)

JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri                                  28
Sie können auch lesen