CATHERINE BREILLAT MARCO FERRERI - JÄNNER BIS 26. FEBRUAR 2020 - Österreichisches Filmmuseum
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10. JÄNNER BIS 26. FEBRUAR 2020 CATHERINE BREILLAT MARCO FERRERI GERD KROSKE Deutschlandbilder IN PERSON Siegfried A. Fruhauf www.filmmuseum.at
Willkommen im Österreichischen Filmmuseum Das Österreichische Filmmuseum widmet sich seit 1964 der Samm- lung, Bewahrung, Erforschung und Vermittlung des Mediums Film in all seinen Aspekten. Das beinhaltet ganz zentral die Ausstellung und Vermittlung von Film – als Kunstform, Kulturtechnik und Zeitdokument – in unserem Kinosaal, dem »Unsichtbaren Kino« in der Albertina. Wir zeigen Werke aus der Geschichte des Films grundsätzlich im jeweiligen Originalformat und in den weltweit bestmöglich erhalte- nen Filmkopien (35mm bzw. 16mm). Werke, die ursprünglich auf Video bzw. digital hergestellt oder präsentiert wurden, werden digi- tal projiziert. In seltenen Fällen präsentieren wir auf Film hergestellte Werke digital: Dies geschieht jeweils aus kuratorischen oder konser- vatorischen Gründen und wird speziell ausgewiesen. Filme werden bei uns grundsätzlich in ihrer originalen Sprachfas- sung gezeigt und gegebenenfalls untertitelt. Für unsere internationa- len Gäste weisen wir Vorführungen in englischer Sprache bzw. Unter- titelfassung gesondert aus (siehe Legende S. 2). Screenings in English or with English subtitles are marked with this symbol ★ INHALT Allgemeine Informationen 2 Catherine Breillat / Marco Ferreri 3 Operate – Performatives Kino 35 In Person. Siegfried A. Fruhauf 36 Simon Wiesenthal im Interview 40 Gerd Kroske. Deutschlandbilder 42 Treibgut. Filme des Roten Wien 51 Europamaschine. Paradise Lost and Found 52 Schule im Kino 54 Zyklisches Programm. Was ist Film 29–42 55 Spielplan. Alle Filme von 10. Jänner bis 26. Februar 2020 59 Dank/Impressum 63 Innerhalb eines Themas sind die Filme in der Reihenfolge ihrer Programmierung geordnet.
ALLGEMEINE INFORMATIONEN SPIELORT/VEREINSSITZ 1010 Wien, Augustinerstraße 1 TICKETS Kassaöffnungszeiten: Montag bis Freitag ab 15 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen geöffnet ab einer Stunde vor Beginn der ersten Vorführung. Bei großem Andrang werden ab 30 Minuten vor Beginn nur mehr Karten für die unmittelbar bevorstehende Vorführung verkauft. Einzelkarte für Mitglieder sowie Kinder und Jugendliche bis 18: 6 Euro Ermäßigung für Studierende mit Mitgliedschaft: 5 Euro bzw. 3 Euro für Zyklus Zehnerblock (für Mitglieder): 45 Euro Jahresmitgliedschaft: 13,50 Euro Partnermitgliedschaft: 23 Euro Einzelkarte inklusive Tagesmitgliedschaft: 10,50 Euro Informationen zur Fördernden Mitgliedschaft auf Seite 63 und auf unserer Website www.filmmuseum.at RESERVIERUNGEN T +43/1/533 70 54 oder www.filmmuseum.at. Reservierte Karten müssen spätestens 30 Minuten vor Beginn der jeweiligen Vorstellung abgeholt werden. BÜRO/BIBLIOTHEK 1010 Wien, Hanuschgasse 3, Stiege 5, 2. Stock Bibliothek: Mo & Mi, 12–18 Uhr; Katalog online unter www.filmmuseum.at Videosichtungsplatz für Studienzwecke: Mi 12–18 Uhr (gegen Voranmeldung) Büro: Mo bis Do 10–18 Uhr, Fr 10–13 Uhr, T 01/533 70 54, E-Mail office@filmmuseum.at SAMMLUNGEN 1190 Wien, Heiligenstädter Straße 175 (Hof), T 01/533 70 54 -232 ABKÜRZUNGEN R Regie B Drehbuch K Kamera S Schnitt M Musik D Darsteller UT Untertitel • Veranstaltungen mit Gästen oder Einführungen ★ English language or subtitles TEXTE VON Christoph Huber, Michael Loebenstein, Jurij Meden, Ivana Miloš, Philipp Rohrbach, Joachim Schätz, Gerald Weber, Constantin Wulff, Ingo Zechner JÄNNER/FEBRUAR 2020 2
12. JÄNNER BIS 26. FEBRUAR 2020 Catherine Breillat /Marco Ferreri CINETECA NAZIONALE Sowohl die französische Filmemacherin Catherine Breillat (*1948) wie Dillinger è morto auch der italienische Regisseur Marco Ferreri (1928–1997) sind als (1969, Marco Ferreri) Urheber*innen von »Skandalfilmen« bekannt. Zweifelsohne gehörte die Provokation zu ihrem Metier und prägte die Wahrnehmung ihrer Arbeit: Unvergessen etwa der Anblick Ferreris, wie er mit seinen welt- berühmten Stars nach der umstrittenen Premiere von La grande bouffe (Das große Fressen, 1973) auf den Stufen des Festival-Palais von Cannes steht und einem Publikum, das ihn teilweise beschimpft und bespuckt, glücklich lächelnd Kusshände zuwirft. Aber Ferreri interessierte nicht der Tabubruch, ihm ging es um die Beschreibung des modernen Lebens in der kapitalistischen Welt, womit er quasi automatisch bei der Form der Groteske landete – tatsächlich hat kaum ein anderer Film die Idee der Konsumgesell- JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 3
schaft und ihrer unvermeidlichen Selbstzerstörung so wörtlich umge- setzt wie La grande bouffe (darin lag seine eigentliche Provokation). Im Fokus von Ferreris unverwechselbarer Ästhetik – er selbst sprach von einem »physiologischen Kino« – standen dabei stets die Ge- schlechterverhältnisse, die er aus männlicher Perspektive subversiv erforschte: Konfrontiert mit dem Zerbröckeln eines überkommenen Patriarchats, fliehen seine (fast durchwegs männlichen) Protagonis- ten vor der Realität in verschiedenste Formen der Regression, oft mit radikalem Ausgang. Seine schonungslose Haltung zum eigenen Ge- schlecht charakterisierte Ferreri anhand eines Bonmots, indem er sich selbst als »50 Prozent Misogynist und 50 Prozent Feminist« beschrieb. Dieselbe Radikalität – wenn auch in völlig anderer Ausprägung und aus resolut weiblichem Blickwinkel – kennzeichnet das Werk von Catherine Breillat, die sich mit Ferreri auch in der unbedingten politi- schen Unkorrektheit einer gleichermaßen leidenschaftlichen wie zynischen Vision trifft. Ist Ferreri dabei eher ein lustvoller Sensualist, so hat Breillat in einem Interview, das zum Erscheinen ihres Films Romance (1999) veröffentlicht wurde, ihre Absicht dahingehend er- klärt, dass sie einen Film machen wollte, der »brennt wie Eis«. Selten hat eine Filmemacherin ihr Credo so knapp und poetisch – und dabei völlig treffend – auf den Punkt gebracht. Das Kino Breillats brennt tat- sächlich wie Eis und im Herzen aller Filme, die sie geschrieben und in- szeniert hat, vereinigen sich scheinbar gegensätzliche Kräfte und Ideen – Feuer und Eis, die Metaphysik und das Alltägliche, Sex und Tod. Die in der Landgemeinde Bressuire geborene Breillat verließ im Alter von 17 Jahren ihr strenges, katholisches Elternhaus und ging nach Paris, wo sie ihren ersten Roman schrieb und sofort Aufsehen im nationalen Kulturbetrieb erregte: Wegen seiner sexuellen Freizügig- keit wurde das Buch erst ab 18 freigegeben. Breillat schrieb über Dinge, über die sonst niemand schrieb – so wie sie später als Regisseurin diese Dinge zeigen würde, wie sie sonst niemand zeigte, und zwar auf eine Art, die unverschämt persönlich war und unbe- irrbar explizit. Etwa das ungezügelte Verlangen eines Teenager- Mädchens nach dem ersten Sex, egal mit wem, inklusive erotischer Fantasien wie den in Nahaufnahme gezeigten Versuch, sich einen zerstückelten Regenwurm in die Vagina zu schieben – zu sehen in ihrem Debütfilm Une vraie jeune fille (Ein wirklich junges Mädchen), den sie 1976 fertigstellte, der aber erst 1999 gezeigt werden konnte, JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 4
im selben Jahr, als Breillat mit Romance ihren internationalen Durch- Une vraie bruch feierte und als designierte »Provokateurin« und Künstlerin jeune fille (1976/ 1999, Catherine auch über die Landesgrenzen hinaus entdeckt wurde. Breillat) Dabei arbeitete sich Breillat über die Jahre obsessiv – aber nicht ausschließlich, was Werke wie der hintersinnige Historienfilm Une vieille maîtresse (Die letzte Mätresse, 2007) belegen – an Tabuthemen und sexuellen Erfahrungen ab. Ihre Protagonistinnen (männliche Hauptfiguren sind in ihrer Filmografie eine rare Ausnahme) werden von einem unkontrollierbaren Drang getrieben. Es geht um Sex jen- seits aller herkömmlichen Moralvorstellungen, wieder und wieder, alle Altersgrenzen überschreitend. Gewalt als Wunscherfüllung. Ver- langen als Todeswunsch. Sex ist bei Breillat keine Destillation (oder Reduktion) von Liebe, er wird zur Liebe selbst. Für sie gibt es keine Tabus, aber bei aller Drastik ihrer Darstellungen von Sex und Gewalt behandelt sie ihre transgressiven Sujets mit einer erstaunlichen Delikatesse – sie bewegt sich in die Gegenrichtung zu den ausbeute- rischen Tendenzen des Exploitationkinos (und, in gemilderter Form, des Mainstream-Films). Breillats Figuren brennen nicht nur vor Leidenschaft, sie werden buchstäblich von deren Flammen verzehrt. Sie suchen nach Augen- blicken der Selbstvergessenheit, wenn ihr Fleisch mit dem Fleisch JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 5
der oder des Geliebten verschmilzt – um jeden Preis. In dieser Hin- sicht steht Breillat im französischen – und im europäischen – Kino alleine da, sie ist vielmehr die Blutsschwester von David Cronenberg und Ōshima Nagisa, zwei von ihr über alle Maßen verehrten Filme- machern. Und doch hat Breillat eine Art antipodischen Antikonformismus- Seelenverwandten im Mailänder Marco Ferreri, der ansonsten im europäischen und italienischen Kino ebenso alleine dasteht. Auch seine Figuren sind von Obsessionen und unerfüllbaren Sehnsüchten getrieben – sein vorletzter Film heißt nochmal programmatisch Diario di un vizio (Tagebuch einer Manie, 1993) – und überschreiten dabei die gesellschaftlichen Normen. Wie bei Breillat führt die Auf - lehnung von Ferreris Figuren dabei oft in die Absurdität, doch ist sie bei ihm völlig anders gepolt: Nicht französische Philosophie, son- dern der Geist der Commedia all’italiana liegt über seinem Werk, selbst wo es in apokalyptische Dimensionen vorstößt. Der vormalige Spirituosenvertreter Ferreri war in den 1950ern zu einer kleinen Schlüsselfigur im italienischen Kino geworden, debütierte aber in Spanien, in fruchtbarer Zusammenarbeit mit dem Autor Rafael Azcona (der im kommenden März als ein Hausautor des großen spanischen Regisseurs Luis García Berlanga wieder im Filmmuseum gewürdigt wird). Mit Azcona entwarf Ferreri spanische Commedia-Pendants wie El cochecito (Der Rollstuhl, 1960), bevor er nach Italien zurückkehrte und eine Reihe von Meisterstücken des Genres vorlegte, die zugleich schon seinen ganz idiosynkratischen Zugang zeigten – schon das erste, Una storia moderna: L’ape regina (Die Bienenkönigin, 1963), trug Ferreri den Ruf eines »Skandalregisseurs« ein. Ferreris Hang zur anarchischen Geste paarte sich mit bitterbösen Gesellschaftsbe- schreibungen sowie pessimistischen und sarkastischen, dabei aber immer auch mitfühlenden Beziehungsbildern, die zugleich Röntgen- bilder einer Epoche von zunehmender Entfremdung im Wohlstand sind. Es ist kein Zufall, dass viele Starschauspieler*innen von Ferreri wiederholt zu Höchstleistungen ihrer Karriere geführt wurden: Annie Girardot, Catherine Deneuve, Ornella Muti oder Hanna Schygulla ebenso wie Gérard Depardieu und Michel Piccoli. Insbesondere mit Ugo Tognazzi und Marcello Mastroianni – der bei Ferreri eine sonst ungeahnte Verwundbarkeit erkennen ließ – führte die langjährige Kollaboration und Freundschaft zu unvergleichlichen Resultaten. JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 6
Marco Ferreri, Catherine Breillat Doch trotz der großen Namen war es Ferreris Signatur, die prä- gend blieb, gerade als La grande bouffe und La dernière femme (Die letzte Frau, 1976) für Empörung wie Bewunderung sorgten. Im Rück- blick ist die Aufregung längst verblasst, aber was bleibt, ist wie bei allen Filmen Ferreris die Stichhaltigkeit seiner sozialen Analyse und vor allem der sinnliche Sog seiner eigenwilligen, aber wirkmächtigen Inszenierungsweise. Dillinger è morto (Dillinger ist tot, 1969) scheint heute nicht nur wie die Essenz des Ferreri-Stils, sondern wie ein Modellfilm für das Kunstkino der kommenden Dekaden, dem Ferreri bis zu seinem verfrühten Tod eine ganze Reihe von Hauptwerken schenkte, auch wenn sie nicht mehr dieselben Reaktionen auslösten: Die Werkschau ist auch eine Gelegenheit, späte Triumphe wie das programmatisch betitelte Drama Il futuro è donna (Die Zukunft heißt Frau, 1984) – eine Art feministischer Umkehrung der Bienenkönigin – oder den Berlinale-Sieger La casa del sorriso (Das Haus der Freuden, 1991) zu entdecken. (J. M. /C. H.) Catherine Breillat wird am 17. und 18. Jänner im Filmmuseum zu Gast sein. Die Retrospektive findet in Zusammenarbeit mit der Cineteca Nazionale, dem Istituto Luce Cinecittà und der Cinémathèque suisse sowie mit Unterstützung des Istituto Italiano di Cultura di Vienna statt. JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 7
Dillinger è morto (Dillinger ist tot) R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Sergio Bazzini K: Mario Vulpiani S: Mirella Mercio M: Teo Usuelli D: Michel Piccoli, Anita Pallenberg, Annie Girardot. Italien, 1969, 35mm, Farbe, 95 min. Italienisch mit engl. UT ★ Der reinste Ausdruck von Ferreris Vision – als visionärer Film, der fast SONNTAG alles, was sich modernes Kunstkino nennt, überschattet. Ein (schein- 12.1. / 18.45 barer) Routine-Abend im Leben des Gasmasken-Konstrukteurs Glauco (atemberaubend anti-schauspielernd: Michel Piccoli). Die Dinge des SONNTAG (Wohlstands-)Lebens: Kochen und Essen, Medienkonsum, Spiele- 2.2. / 20.30 reien mit den Besitztümern. Wie der Pistole, die in eine Zeitung mit der Todesnachricht von John Dillinger eingewickelt ist. Was dem Film Courtesy mit derselben Non-Sequitur-Methode zum Titel verhilft, die ihn zur Cineteca Nazionale unangestrengten Provokation macht: Surrealismus ganz aus Rea- lismus geboren (und ihn allegorisch aushebelnd – in der kühnen Ruhe ist Ferreri Wahlverwandter von Buñuel). Fast ohne Dialog, oft in Echtzeit wird die Leere des Daseins beschworen, ohne eine Sekunde Langeweile aufkommen zu lassen: Der sinnliche Sog und das berau- schende Farbenspiel haben hypnotische Wirkung. Gipfelpunkt: ein »revolutionärer« Befreiungsschlag als verstörende Entgrenzung durch Regression. Zivilisationszersetzung nach 1968: die pure Anar- chie, mit paradoxer Unaufgeregtheit serviert. (C. H.) Una storia moderna: L’ape regina (Die Bienenkönigin) R: Marco Ferreri B: Rafael Azcona, Marco Ferreri nach einem Einakter von Goffredo Parise K: Ennio Guarnieri S: Lionello Massobrio M: Teo Usuelli D: Ugo Tognazzi, Marina Vlady, Walter Giller, Linda Sini, Riccardo Fellini. Italien/Frankreich, 1963, 35mm, sw, 92 min. Italienisch mit dt. UT Der erfolgreiche Autohändler Alfonso (Ugo Tognazzi) entschließt SONNTAG sich auf Anraten eines Paters zur respektablen Familiengründung mit 12.1. / 20.45 der hübschen, katholisch-ehrbar erzogenen Regina (Marina Vlady). Tatsächlich ist ihr sexueller Appetit nach der Hochzeit kaum zu zü- SAMSTAG geln: Doch Reginas Lust und List hat nur ein Ziel – die Fortpflanzung. 8.2. / 18.30 Kaum ist sie schwanger, weist sie den von den Liebesanstrengungen ausgezehrten Gatten strikt zurück: ein schwerer Schlag für dessen Courtesy Männlichkeit. Commedia all’italiana in famoser Ferreri-Variation: Cineteca Nazionale Lachen, bis der Arzt kommt (der nur mehr den Tod feststellen kann). Das subversive Sex-Lustspiel wurde in Italien zum Zensurfall: Ferreris erster »Skandalfilm«. Der grandiose Mime Tognazzi wird dem Regis- seur lange als wenig schmeichelhaftes Alter Ego dienen. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 8
Una storia moderna: L’ape regina El cochecito (Der Rollstuhl) R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Rafael Azcona nach einer Erzählung von Azcona K: Juan Julio Baena S: Pedro del Rey M: Miguel Asins Arbó D: José Isbert, Pedro Porcel, José Luis López Vázquez. Spanien, 1960, 35mm, sw, 85 min. Spanisch mit dt./frz. UT Don Anselmo (der große Charakterdarsteller José Isbert), einst Minis- MONTAG ter, verlebt seinen Ruhestand mit der Familie seines geizigen Rechts- 13.1. / 18.30 anwaltssohnes in leiser Verbitterung: Als Familienoberhaupt hat er nichts mehr zu sagen, also verbringt Don Anselmo seine Zeit lieber MITTWOCH mit seinem gelähmten Freund Lucca und dessen Bekannten, allesamt 12.2. / 20.30 Rollstuhlfahrer. Bald setzt sich Don Anselmo in den Kopf, einen moto- risierten Krankenfahrstuhl wie Lucca zu bekommen, um »dazuzuge- Courtesy hören«. Erst spielt er seiner Umgebung dafür Theater vor, aber als das Cinémathèque suisse nichts fruchtet, greift er zu anderen Mitteln. Marco Ferreris Regiekar- riere begann in Spanien mit bissigen Satiren, in denen er parallel zur Commedia all’italiana gesellschaftliche Zustände und menschliche Schwächen pointiert schilderte. Höhepunkt seiner spanischen Phase ist der makabre Kultklassiker El cochecito, in dem Ferreri mit be- stechendem Blick die Welt der »Respektabilität« seziert und Einsam- keit so schalkhaft wie einfühlsam porträtiert. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 9
L’harem (Der Harem) R, B: Marco Ferreri K: Luigi Kuveiller S: Enzo Micarelli M: Ennio Morricone D: Carroll Baker, Gastone Moschin, William Berger, Renato Salvatori. Italien/Frankreich, 1967, 35mm, Farbe, 96 min. Italienisch mit engl. UT ★ Am Morgen ihrer geplanten Hochzeit mit Geschäftsmann Gianni MONTAG macht die schöne Margherita (Carroll Baker) einen Rückzieher: Sie 13.1. / 20.30 kann und will sich zwischen ihren drei Geliebten nicht entscheiden. Also macht sie Urlaub in Dubrovnik – und holt das Männer-Trio nach, Courtesy das ihr als Harem dienen soll. Die Herren lassen sich auf das Spiel ein, Cineteca Nazionale aber wie lange können Machos mit »verkehrten« Verhältnissen um- gehen? Ferreri stellt die Rollenbilder satirisch auf den Kopf, um mit äußerster Konsequenz von der Unfähigkeit zum Wandel zu erzählen. In die Komik kriecht jene beiläufige Bitterkeit, mit der Ferreri sukzes- sive die Moderne und ihre Beziehungsbilder immer gnadenloser durchleuchten wird: Die »skandalöse« Verstörung seines Kinos ist in Wahrheit nur die schockierende Klarheit seiner Kritik. L’harem kleidet sie in ein audiovisuelles Fest: Mit dem Einzug der Farbe wird der male- rische Aspekt von Ferreris Filmen überdeutlich, untermalt von einem der ungewöhnlichsten Soundtracks Ennio Morricones. (C.H.) Il seme dell’uomo (Die Saat des Menschen) R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Sergio Bazzini K: Mario Vulpiani S: Enzo Micarelli M: Teo Usuelli D: Marzio Margine, Anne Wiazemsky, Annie Girardot. Italien/Frankreich, 35mm, 1969, Farbe, 105 min. Italienisch mit engl. UT ★ Eine Katastrophe hat den Großteil der Menschheit ausgelöscht. Das MITTWOCH junge Paar Cino und Dora wird zur Überlebenshoffnung. Sie werden 15.1. / 18.30 in die Sonderzone hinter dem Kaugummiautomaten – nicht nur die Katastrophe bleibt unerklärt! – verfrachtet und kommen in ein Haus Courtesy am Meer (vor dem Marco Ferreri höchstselbst als Leiche thront). Im Cineteca Nazionale TV laufen Bilder der brennenden Welt, während das Pärchen lernt, vom Vorgefundenen zu überleben. Bis versprengte Autoritäten eintreffen und deklarieren, dass es Doras Pflicht ist, schwanger zu werden, was sie im Angesicht der Apokalypse verweigert. Da taucht unerwartet eine Kontrahentin auf … Eine mit postapokalyptischen Genre-Tupfern getarnte Weiterführung der finster-absurden Ferreri-Zustandsbilder von Gesellschaft und Mann-Frau-Beziehungen (u. a. taucht die Pop- Art-Pistole aus Dillinger è morto wieder auf). Die drohende allegori- sche Schwere läuft dabei gezielt ins Leere: Wenn hier etwas siegt, dann nicht die Menschheit, sondern nur die Frechheit. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 10
Liza (Allein mit Giorgio) R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Jean-Claude Carrière, Ennio Flaiano nach Flaianos Novelle Malampus K: Mario Vulpiani S: Giuliana Trippa M: Philippe Sarde D: Marcello Mastroianni, Catherine Deneuve, Corinne Marchand, Michel Piccoli. Italien/Frankreich, 1972, 35mm, Farbe, 96 min. Französisch mit dt. UT Zeichner Giorgio (Marcello Mastroianni) hat sich mit seinem Hund auf MITTWOCH eine einsame Insel zurückgezogen. Eines Tages taucht unerwartet 15.1. / 20.30 Liza (Catherine Deneuve) auf, die von der Yacht ihres Geliebten geflo- hen ist: Der Beginn einer bizarren Beziehung, die (vorläufig) darin MONTAG kulminiert, dass Liza auf den Hund eifersüchtig wird, ihn beseitigt 10.2. / 18.30 und glücklich dessen Rolle übernimmt … Eine Art Urlaubsfilm, in dem Ferreri vor entspanntem Mittelmeer-Flair mit seinem Star-Paar eine Courtesy mildere Variante seiner mehrdeutigen Allegorien über gesellschaft- Cinémathèque suisse lich anerzogene Verhaltensmuster und absurde Befreiungsversuche durchspielt. Die befremdliche Melancholie bei den kurzen Landauf- halten zwischendurch führt immer wieder zurück ins irritierende Ferreri-Zwischenreich, wo die Grenze zwischen unterspieltem Ernst und ironischer Übertreibung unsichtbar wird. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 11
Chiedo asilo (Mein Asyl) R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Gérard Brach, Roberto Benigni K: Pasquale Rachini S: Mauro Bonanni M: Philippe Sarde D: Roberto Benigni, Dominique Laffin, Chiara Moretti. Italien/Frankreich, 1979, 35mm, Farbe, 111 min. Italienisch mit engl. UT ★ Roberto Benigni wurde in seiner ersten Hauptrolle von Ferreri zu DONNERSTAG seiner subtilsten und besten Leistung geführt: Kindergarten-Erzieher 16.1. / 18.30 Roberto versucht in Bolognas Vorstadt mit unkonventionellen Metho- den, den Kindern Kreativität und unverstelltes Erleben zu ermög- DONNERSTAG lichen, als Gegenpol zur zunehmend reglementierten Gesellschaft 13.2. / 20.45 und ihren freudlosen Betonfassaden. So bringt er die Kleinen in die Fabriken, wo die Eltern arbeiten oder einen Esel in den Unterrichts- Courtesy Istituto raum, damit sie Direktkontakt mit einem Tier haben (durch die Straßen Luce Cinecittà paradiert indes ein Riesenroboter aus einer Anime-Serie: »Der Esel hat gegen das Fernsehen verloren …«). Dass Roberto selbst kein ver- antwortungsvoller Erwachsener ist, hat ihm die Hoffnung bewahrt. Ferreris Quasi-Kinderfilm: verspielt und bei aller nachdenklichen Am- bivalenz der Aufbruch in eine hoffnungsvollere Phase. (C. H.) Storie di ordinaria follia / Tales of Ordinary Madness R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Sergio Amidei nach Erections, Ejaculations, Exhibitions, and General Tales of Ordinary Madness von Charles Bukowski K: Tonino Delli Colli S: Ruggero Mastroianni M: Philippe Sarde D: Ben Gazzara, Ornella Muti, Susan Tyrrell. Italien/Frankreich, 1981, 35mm, Farbe, 107 min. Englisch mit dt./ frz. UT ★ »When Hemingway put his brains on the wall, that was style …«, do- DONNERSTAG ziert eingangs der Säufer-Dichter Charles Serking (exzellent: Ben 16.1. / 20.45 Gazzara mit einem spöttischen Glanz in den Augen, als wäre die Welt nur ein kosmischer Witz). In den Elendsvierteln von Los Angeles SONNTAG hängt er in Säuferkneipen ab und sucht sexuelle Abenteuer. Marco 16.2. / 20.30 Ferreris Adaption von Charles Bukowskis autobiografischen Stories ist eine Art Niederlage auf fremden Terrain: Wo sich in seinen Filmen Courtesy sonst auch scheinbar disparate Versatzteile organisch zum Ganzen Cinémathèque suisse fügen, bleiben die bei Bukowski entlehnten Episoden wie für sich al- leine stehen – die augenfällig scheinende Verbindung von Autor und Auteur will nicht aufgehen. Aber als Einzelstücke leuchten hier Höhe- punkte in Ferreris Werk, von der perversen Stalker-Episode mit Susan Tyrell am Anfang über die kunstvolle Stilisierung Ornella Mutis zur un- glücklichen Huren-Madonna bis zum in räumlicher Schönheit erstrah- lenden Finale am Strand. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 12
CINETECA NAZIONALE Storia di Piera (Die Geschichte der Piera) R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Piera Degli Esposti und Dacia Maraini nach dem Buch von Degli Esposti und Maraini K: Ennio Guarnieri S: Ruggero Mastroianni M: Philippe Sarde D: Isabelle Huppert, Hanna Schygulla, Marcello Mastroianni. Italien/Frankreich/BRD, 1983, 35mm, Farbe, 107 min. Italienisch mit engl. UT ★ Verfilmung des autobiografischen Entwicklungsromans der Aktrice FREITAG Piera Degli Esposti, die vor allem für ihre Bühnenauftritte berühmt ist, 17.1. / 18.30 aber auch im Kino reüssierte, etwa als Mutter in Nanni Morettis Sogni d’oro oder als legendäre Sekretärin Giulio Andreottis in Il divo. Pieras MONTAG Kinderjahre in der Provinz Latina sind durch das exzentrische Ver- 17.2. / 18.30 halten ihrer nymphomanen Mutter (Hanna Schygulla) geprägt. Der nachgiebige Vater (Marcello Mastroianni), ein Angestellter der Kom- Courtesy munistischen Partei, verliert dabei zusehends die Ausgeglichenheit – Cineteca Nazionale und schließlich seinen Job. Während die erwachsene Piera (Isabelle Huppert) ihre ersten sexuellen Erfahrungen macht, gibt sie die Schule auf, um sich als Schneiderin die Schauspielkarriere zu finan- zieren. Der erste Film in Ferreris feministischem Diptychon der 1980er demonstriert eine Rückkehr zur Gelassenheit: Was anderen zur inzestuösen Kolportage-Geschichte geworden wäre, wird bei ihm zur bittersüßen Erzählung einer Emanzipation. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 13
À ma sœur! (Meine Schwester) R, B: Catherine Breillat K: Giorgos Arvanitis S: Pascale Chavance M: Fabrice Nguyen Thai, Jean-Paul Jamot D: Anaïs Reboux, Roxane Mesquida, Arsinée Khanjian, Libero De Rienzo. Frankreich/Italien, 2001, 35mm, Farbe, 86 min. Französisch mit engl. UT ★ Zwei Teenager-Schwestern verbringen die Ferien mit ihren Eltern am FREITAG Meer. Die Urlaubslangeweile wird kompensiert, indem das Duo auf 17.1. / 20.30 Streifzügen durch den Ort ausgiebig über Sex diskutiert, insbeson- • In Anwesen- dere Jungfräulichkeit – genauer genommen: deren Verlust. Die jün- heit von Catherine Breillat gere, dickliche Anaïs will von einem Fremden entjungfert werden, damit die Sache schmerzlos erledigt ist, die hübsche, schlanke Elena SONNTAG will auf die große Liebe warten. Als Elena mit einem italienischen 9.2. / 18.45 Studenten zu flirten beginnt, folgt bald die Probe aufs Exempel, vom Nachbarbett aus beobachtet von Anaïs, was die Rivalität zwischen den Schwestern weiter steigert. Breillats dynamischste und kühnste Auseinandersetzung mit erwachender weiblicher Sexualität behan- delt nicht nur die geschlechtlichen Beziehungen als ein Schlachtfeld: Ihre politisch unkorrekten Thesen zur Initiationserfahrung werden mit filmischer Virtuosität verstörend zugespitzt – zu einer Art finalem Horror-Triumph. Vielleicht Breillats Meisterwerk. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 14
L’uomo dei cinque palloni / Break-Up R: Marco Ferreri D: Rafael Azcona, Marco Ferreri K: Aldo Tonti M: Teo Usuelli S: Renzo Lucidi D: Marcello Mastroianni, Catherine Spaak, William Berger, Ugo Tognazzi. Italien/Frankreich, 1965/67, 35mm, Farbe und sw, 85 min. Italienisch mit engl. UT ★ Dasein und Beruf von Bonbonfabrikant Mario (Marcello Mastroianni) SAMSTAG sind auf maximale Produktivität getrimmt. Bis der egozentrische 18.1. / 18.30 Erfolgsmensch von einer Werbegeschenk-Idee abgelenkt wird. Als er Luftballons aufbläst, erfasst ihn eine Besessenheit: exakt den Punkt SONNTAG erreichen, bis zu dem sich der Ballon füllen lässt, bevor er platzt. Die 16.2. / 18.45 Obsession wird so allmächtig, dass seine ganze Existenz aus den Fugen gerät. Unter Ferreris großen Meisterwerken das unbekann- Courtesy teste, weil es von Produzent Carlo Ponti zuerst unterdrückt und zum Swedish Film Institute Episodenfilmteil zusammengeschnitten wurde – mit der Begrün- dung, es würde Mastroiannis Karriere ruinieren. Tatsächlich war der (brillant unterspielende) Italo-Superstar kaum je so unsympathisch und doch so verletzlich wie in dieser vieldeutigen Allegorie (Impo- tenzangst? Kapitalismuskritik? Konsumterror?), in der Ferreri das Grauen der Gegenwart im Geiste des Surrealismus – samt psychede- lischer Farb-Einlage – als humoristische Höllenfahrt gestaltet. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 15
Une vraie jeune fille (Ein wirklich junges Mädchen) R, B: Catherine Breillat nach ihrem Roman Le Soupirail K: Pierre Fattori, Patrick Godaert S: Annie Charrier, Michèle Quevroy M: Mort Shuman D: Charlotte Alexandra, Hiram Keller, Rita Maiden. Frankreich, 1976/1999, 35mm, Farbe, 93 min. Französisch mit engl. UT ★ Nachdem sie sich als Schriftstellerin etabliert hatte, sorgte Catherine SAMSTAG Breillat mit ihrem Regiedebüt für einen Skandal – die Uraufführung 18.1. / 20.30 erfolgte erst 1999. Breillats provokanter Erstling legt ihre spezifischen • In Anwesen- thematischen Interessen (insbesondere am Tabubruch) bloß und heit von Catherine Breillat offenbart ein völlig eigenständiges kinematografisches Talent: Aus der scheinbar ereignislosen Geschichte mit romantischen Allüren FREITAG über den Sommerurlaub einer 14-jährigen im ländlichen Frankreich 14.2. / 18.30 der 1960er wird rasch eine erfrischend schamlose und rasiermesser- scharfe Untersuchung weiblicher Teenager-Sexualität. Die mürrische Alice masturbiert aus Langeweile, provoziert ihre Eltern und be- schließt, einen jungen Mann zu verführen. Breillats rücksichtslos ex- plizite Darstellung von Sexualität war für das damalige Mainstream- Kino zu transgressiv und spaltete auch seither die Geister: Was Geg- ner*innen als »philosophische Pornografie« abtaten, erklärten ihre Befürworter*innen zu Kino aus dem Geist von Bataille. (J. M.) Tapage nocturne (Nächtliche Ruhestörung) R, B: Catherine Breillat K: Jacques Boumendil S: Annie Charrier M: Serge Gainsbourg D: Dominique Laffin, Marie-Hélène Breillat, Bertrand Bonvoisin. Frankreich, 1979, 35mm, Farbe, 97 min. Französisch mit engl. UT ★ Mit ihrem zweiten Film beseitigte Breillat alle Zweifel daran, ob ihre SONNTAG kinematografischen Erforschungen der Sexualität aus zutiefst per- 19.1. / 18.45 sönlichen Erfahrungen, wenn nicht sogar autobiografisch gespeist sind. Solange, die Hauptfigur von Tapage nocturne ist eine Regisseu- MONTAG rin, die in einen wahnwitzigen Wirbel aus widerstreitenden künstleri- 10.2. / 20.30 schen und sexuellen Impulsen geraten ist und darum kämpft, nicht vollends mitgerissen zu werden. Zwar ist Solange verheiratet und schläft regelmäßig mit ihrem Gatten, aber nachts streift sie auf der Suche nach sexuellen Zufallsbegegnungen durch Paris und findet manchmal bis zu drei Liebhaber pro Nacht (Top-Cameo: Warhol-Kult- darsteller Joe Dallesandro). Ihre hartnäckige und ermüdende Suche nach Erfüllung spiegelt sich in der Wiederholungsstruktur des Films und ist die Blaupause für Breillats berühmt-berüchtigtste Filme zum Thema, Romance und Anatomie d’enfer. (J. M.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 16
La grande bouffe (Das große Fressen) R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Rafael Azcona und Francis Blanche (Dialoge) K: Mario Vulpiani S: Claudine Merlin, Gina Pignier M: Philippe Sarde D: Marcello Mastroianni, Michel Piccoli, Philippe Noiret, Ugo Tognazzi, Andrea Ferreol. Frankreich/Italien, 1973, 35mm, Farbe, 130 min. Französisch mit engl. UT ★ Vier ihres Lebens überdrüssige Freunde ziehen sich in eine abge- SONNTAG schottete Villa zurück, um in einer Genussorgie zugrunde zu gehen. 19.1. / 20.45 Ferreris berühmtestes Werk und ein legendärer »Skandalfilm«, dabei so unsensationalistisch inszeniert wie nur denkbar: In ganz entspann- FREITAG tem Rhythmus (Ferreri-Hauskomponist Philippe Sarde steuert eine 14.2. / 20.30 gutgelaunte Todes-Rumba bei, die den Untergangstakt vorgibt) wird die Idee der Überflussgesellschaft nicht bloß als Metapher bemüht, Courtesy Istituto sondern ganz buchstäblich in Szene gesetzt, bis einem die Dekadenz Luce Cinecittà im Hals stecken bleibt, während die Körperfunktionen im Konsum- rausch versagen (Buñuel: »ein hedonistisches Monument«). Der Ekel des Exzesses wird dabei mit paradoxer Eleganz zelebriert, in allen Aspekten der mise en scène, von Fotografie über Dekor bis zum Schauspiel – für die unter eigenen Vornamen auftretende Star- Freundesgruppe war der potenziell unappetitliche Dreh sichtlich ein Freudenfest. Auch das, natürlich, ein »Skandal«. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 17
I Love You R: Marco Ferreri B: Enrico Oldoini, Marco Ferreri, Didier Kaminka K: William Lubtchansky S: Ruggero Mastroianni D: Christopher Lambert, Eddy Mitchell, Flora Barillaro. Frankreich/Italien, 1986, 35mm, Farbe, 101 min. Französisch mit engl. UT ★ Jahrzehnte bevor Spike Jonzes Her für das »zeitgemäße« Porträt von MONTAG Liebessehnsucht in der Welt künstlicher Avatare preisgekrönt wurde, 20.1. / 18.30 hatte Marco Ferreri das Konzept schon – in bewährt absurder Ver- dichtung – auf den Punkt gebracht: Bei ihm ist es ein elektronischer Courtesy Schlüsselanhänger mit Frauengesicht, der vom Himmel gefallen ist Cineteca Nazionale und seinem Finder »I Love You« zuhaucht, wenn er pfeift. Der gelang- weilte Reisebüro-Angestellte Michel (Christopher Lambert) verfällt dem Fetisch, dessen Liebesversprechen seiner Eitelkeit schmeichelt – und dessen einfache Befriedigung ihm echte Beziehungen ersetzt, was zu hinreißend bizarren Begegnungen führt. Ferreris amüsierter Umgang mit der sozialen Entfremdung und regressiver Männlichkeit war selten so entspannt wie in diesem verfrühten Alterswerk, das er mit 58 Jahren veröffentlichte und das sich im Finale als bewusste Yuppie-Ära-Variation auf Dillinger è morto entpuppt. (C. H.) Parfait amour! (Eine perfekte Liebe) R, B: Catherine Breillat K: Laurent Dailland S: Agnès Guillemot D: Isabelle Renauld, Francis Renaud, Laura Saglio, Alain Soral, Serge Toubiana. Frankreich, 1996, 35mm, Farbe, 110 min. Französisch mit engl. UT ★ Hinter dem teuflischen Titel Parfait amour! verbirgt sich ein direkter MONTAG Anschlag auf die bürgerliche Sexualmoral, serviert als Anatomie 20.1. / 20.30 eines Mordes. Genau genommen: die langsame, geduldige, methodi- sche, geradezu chirurgische Anatomie eines unsagbar grausamen MITTWOCH Sexualmordes. Breillat eröffnet gnadenlos mit der Nachstellung der 19.2. / 20.30 Tat durch die Polizei, bevor sie in der Zeit zurückspringt, um die Ur- sachen zu analysieren. Der aufdringliche Spätzwanziger Christophe beginnt eine Affäre mit Frédérique, Ende Dreißig, geschieden und Mutter zweier Kinder. Die beiden verfallen einander hemmungslos, doch sukzessive offenbart sich Christophes wahrer Charakter: ego- zentrisch, eifersüchtig, gequält und unsicher wie ein Kind – unreif für eine ernsthafte Beziehung. Breillat erzählt das mörderische Scheitern als buchstäbliche Interpretation der Dualität von Eros und Thanatos: Es ist ihre gründlichste Auseinandersetzung mit der wiederkehrenden Idee des Tötens als (einzig) logischem Ausgang einer Romanze. (J. M.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 18
Parfait amour! 36 Fillette (Lolita ’90) R: Catherine Breillat B: Catherine Breillat und Roger Salloch nach Breillats Roman K: Laurent Dailland S: Yann Dedet M: Maxime Schmitt D: Delphine Zentout, Etienne Chicot, Jean-Pierre Léaud, Jean-François Stévenin. Frankreich, 1988, 35mm, Farbe, 88 min. Französisch mit engl. UT ★ Lili, eine frühreife und vorlaute 14-jährige, lernt im Urlaub einen MITTWOCH Schürzenjäger in der Midlife-Crisis kennen: Er will Sex, doch ihr ver- 22.1. / 18.30 queres Verlangen – sie kann es nicht erwarten, ihre Jungfräulichkeit loszuwerden, ist aber zugleich abgestoßen – macht aus dem geplan- SAMSTAG ten One-Night-Stand eine mehrtägige Auseinandersetzung, die zwi- 15.2. / 18.30 schen Erniedrigung und Verständnis schwankt. Während Lili ihren Verehrer abwechselnd erotisch lockt und verbal demütigt, wird jene Zerbrechlichkeit spürbar, die in ihm Gefühle weckt. Catherine Breillat, spezialisiert auf die Zuspitzung sexueller Machtkämpfe, entwickelt die Dynamik ihrer Tragikomödie über nüchtern inszenierte, genau beobachtete Begegnungen. Anfangs trifft Lili auf einen Künstler- typen, gespielt von Jean-Pierre Léaud, einst Darsteller des auf - sässigen Teenagers Antoine Doinel. Mit dessen Ratschlägen kann sie herzlich wenig anfangen: Nicht nur diese filmhistorische Geste beweist Breillats charakteristisch subversiven Humor. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 19
Romance R, B: Catherine Breillat K: Giorgos Arvanitis S: Agnès Guillemot M: Raphaël Tidas, DJ Valentin D: Caroline Ducey, Sagamore Stévenin, François Berléand, Rocco Siffredi. Frankreich, 1999, 35mm, Farbe, 98 min. Französisch mit dt. UT Die Lehrerin Marie lebt mit Paul zusammen, der ihre Liebe erwidert, SONNTAG aber sich weigert, mit ihr zu schlafen. Unbefriedigt macht sich Marie 26.1. / 18.45 auf die Suche nach sexuellen Abenteuern: vom Fremden (Pornostar Rocco Siffredi), den sie in einer Bar aufliest, bis zu ihrem Vorgesetz- DONNERSTAG ten, mit dem sie Bondage-Erfahrungen sammelt. Als Paul schließlich 20.2. / 18.30 doch ein einziges Mal mit ihr schläft, wird sie schwanger … mit uner- warteten Folgen. Mit Romance wurde Breillat verspätet, aber schlag- artig auch international bekannt – und zur Vorreiterin einer Arthouse- Welle von »tabubrecherischen« Kunstfilmen mit unsimulierten Sex- szenen, die kaum je wieder mit Breillats quasidokumentarischer Direktheit und Seriosität präsentiert wurden (zugleich verrät nicht nur der provokante Showdown Breillats Sinn für Humor). Der Kontrast zwischen Ton (poetischer Voice-Over) und Bild (prosaische Erotik und absurde Fantasien) ist in keinem anderen Breillat-Film so ausgeprägt: ein ästhetisches Manifest. (C. H.) Touche pas à la femme blanche (Berühre nicht die weiße Frau) R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Rafael Azcona K: Étienne Becker S: Ruggero Mastroianni M: Philippe Sarde D: Marcello Mastroianni, Catherine Deneuve, Michel Piccoli. Frankreich/Italien, 1974, 35mm, Farbe, 108 min. Französisch mit engl. UT ★ Ferreris größte Starparade – prominent besetzt bis in die kleinsten SONNTAG Rollen – entstand spontan und spottbillig. Um das Freundesquartett 26.1. / 20.45 Mastroianni-Tognazzi-Piccoli-Noiret nach der Glückserfahrung von Le grande bouffe wieder zusammenzubringen, ließ sich Ferreri von SAMSTAG der riesigen Baugrube mitten in Paris inspirieren, die durch den Ab- 22.2. / 20.45 riss der alten Markthallen von Les Halles aufklaffte. Er machte sie zur Prärie und ließ dort Custer’s Last Stand nachspielen. Mit herzhaft- Courtesy Istituto absurdem Anachronismus werden dabei Vietnam und französische Luce Cinecittà Kolonialkriege beschworen, während die Akteure (u. a. Mastroianni als alberner Hardliner-General und Piccoli als Medienscharlatan Buffalo Bill) sich parodistisch austoben. Den »Revisionismus« von Spätwestern wie Robert Altmans Buffalo Bill and the Indians läßt Ferreri dabei schon vorab alt aussehen. Ein Pflichtfilm für alle, die Western lieben – oder hassen. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 20
Romance À propos de Nice, la suite (À propos de Nice – wie es weiterging) R, B: Catherine Breillat, Costa-Gavras, Claire Denis, Raymond Depardon, Abbas Kiarostami, Pavel Lungin, Raúl Ruiz K: Jacques Bouquin, Nathalie Crédou, Laurent Dailland, Denis Evstigneev, Agnès Godard S: Anne Belin, Katya Chelli, Roger Ikhlef, Natacha Krylatov, Nelly Quettier D: Grégoire Colin, Laura Del Sol, Arielle Dombasle, Parviz Kimiavi. Frankreich, 1995, 35mm, Farbe, 105 min. Französisch mit engl. UT ★ Ein Episodenfilm zur Feier des 65. Geburtstags von Jean Vigos Meis- MONTAG terwerk À propos de Nice. Sieben prominente Filmemacher*innen 27.1. / 18.30 fassen die französische Küstenstadt erneut ins Auge, um hinter deren scheinbar gemütlichen und sonnigen Fassaden die wirklichen sozia- len und politischen Zustände herauszuarbeiten – ganz gemäß Vigos ursprünglicher Intention: »Diese soziale Dokumentation unterschei- det sich von klassischen Dokumentarfilmen und Wochenschauen durch einen Standpunkt, den alleine der Schöpfer definiert.« Wie bei den meisten Kollektivfilmen sind die individuellen Beiträge recht unterschiedlich geraten – auch weil einige Episoden das Thema do- kumentarisch angehen, während andere auf Fiktion setzen – aber alle Regisseurinnen und Regisseure, Breillat inklusive, bleiben ihrer jewei- ligen Handschrift treu. (J. M.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 21
La casa del sorriso (Das Haus der Freuden) R: Marco Ferreri B: Marco Ferreri, Liliane Betti, Antonino Marino K: Franco Di Giacomo S: Dominique B. Martin M: Bruno Guarnera D: Ingrid Thulin, Dado Ruspoli, Enzo Cannavale. Italien, 1991, 35mm, Farbe, 94 min. Italienisch mit engl. UT ★ Ein später Triumph für Ferreri war sein Berlinale-Sieg mit diesem an- MONTAG rührenden und doch völlig unsentimentalen Film über das Alter, der 27.1. / 20.30 Themen seines großen Frühwerks El cochecito wieder aufgreift. Ingrid Thulin brilliert in ihrer letzten Rolle als ehemalige Schönheitskönigin MITTWOCH Adeline (»Miss Lächeln« 1947), die im Altersheim mit einem verheira- 26.2. / 20.30 teten Musikprofessor den zweiten Frühling erlebt. Ihr leidenschaftli- ches Liebesleben lässt den melonenförmigen Wohnwagen am Ge- Courtesy Istituto lände wackeln – und zieht den Neid der Mitbewohner*innen auf sich, Luce Cinecittà während die Heimleitung mit Intoleranz reagiert. Ferreri interessiert sich dabei nicht für den Tabubruch, sondern für den menschlichen Faktor, wobei die Wärme seiner Charakterisierung im Gegensatz zur Kälte des Systems steht: Wie Leo McCareys Meisterwerk Make Way for Tomorrow oder einige Filme von Ozu Yasujirō erzählt Ferreri mit un- barmherziger Klarheit davon, wie sich die kapitalistische Weltord- nung derjenigen entledigt, die ihr nicht mehr nützlich sind. (C. H.) Sale comme un ange (Schmutziger Engel) R, B: Catherine Breillat K: Laurent Dailland, Bernard Tissier S: Agnès Guillemot M: Olivier Manoury D: Claude Brasseur, Lio, Nils Tavernier, Roland Amstutz, Claude- Jean Philippe. Frankreich, 1991, 35mm, Farbe, 105 min. Französisch mit engl. UT ★ Sechs Jahre nachdem sie am Drehbuch von Maurice Pialats Kultkrimi MITTWOCH Police mitarbeitete, schrieb und inszenierte Breillat ihre ganz eigene 29.1. / 20.30 hardboiled-Geschichte über einen alternden, einsamen und ver- bitterten Pariser Polizisten, der nur seinem eigenen Moralkodex folgt MONTAG und sich in einen Graubereich jenseits von Gesetz und Ethik manöv- 24.2. / 18.30 riert. Der schroffe, kaltherzige Inspektor Deblache (Claude Brasseur) redet nur mit Männern und schläft nur mit Prostituierten – bis ihm von seinem abgebrühten Juniorpartner dessen Frau Barbara vorge- stellt wird: Auch sie ist kein Unschuldsengel … Sale comme un ange führt zwischen überfüllten Polizeiposten und beengenden Wohnun- gen die kriminellen und erotischen Verwicklungen parallel, mit sin- gulären Resultaten: Unter Breillats kaltem, unnachgiebigem, klinisch genauem Blick entpuppen sich die intriganten Machenschaften als Zurschaustellung männlicher Impotenz – physisch wie psycho- logisch. (J. M.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 22
La carne (Fleisch) R: Marco Ferreri B: Liliane Betti, Massimo Bucchi, Paolo Costella, Marco Ferreri K: Ennio Guarnieri S: Ruggero Mastroianni D: Sergio Castellitto, Francesca Dellera, Philippe Léotard. Italien, 1991, 35mm, Farbe, 90 min. Italienisch mit engl. UT ★ Der Barpianist Paolo (Sergio Castellitto) hat sich von seiner gierigen DONNERSTAG Frau scheiden lassen und leidet darunter, seine beiden Kinder nur 30.1. / 20.30 selten zu sehen. Als eines Abends die üppige Schönheit Francesca (Francesca Dellera) in sein Leben tritt, kehrt die Lebensfreude wieder: MITTWOCH Paolo lässt kurzerhand Arbeit, Freunde und Familie im Stich, während 19.2. / 18.30 er sich mit der Geliebten (und Massen von Lebensmitteln) in ein Haus am Strand zurückzieht, wo sie den Freuden des Fleisches huldigen, Courtesy Istituto während sie über die Dinge des Lebens philosophieren. Doch nicht Luce Cinecittà nur das Sexualleben verläuft anders, als Paolo sich das vorstellt. Ferreri hatte kurz zuvor Platos »Symposium« fürs Fernsehen adap- tiert, in diesem Kultfilm greift er dessen Themen auf, um sie in eine moderne Farce (mit Castellitto als idealem Ferreri-Protagonisten) umzudeuten, wobei er selbst die größten Provokationen – darunter Blasphemie, Unterwerfungs-Sex und Kannibalismus – mit anste- ckend guter Laune und leichter Hand in Szene setzt. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 23
La donna scimmia (Die Affenfrau) R: Marco Ferreri B: Rafael Azcona, Marco Ferreri K: Aldo Tonti S: Mario Serandrei M: Teo Usuelli D: Ugo Tognazzi, Annie Girardot, Achille Majeroni. Italien/Frankreich, 1964, 35mm, sw, 93 min. Italienisch mit engl. UT ★ Der Tunichtgut Antonio (Ugo Tognazzi) entdeckt in der Ausspeisung FREITAG eines Klosters die scheue Maria (Annie Girardot), die sich vor der Welt 31.1. / 18.30 versteckt, weil ihr Körper und Gesicht stark behaart sind. Antonio »rettet« Maria aus dem Konvent und heiratet sie, um sie als Jahr- SAMSTAG marktsattraktion auszubeuten – als sensationelle »Affenfrau«: primitiv, 15.2. / 20.30 (fast) nackt und »gefährlich« … Kein anderer Film von Ferreri fügt sich so perfekt in das Wesen der Commedia all’italiana, die hier einen Courtesy fruchtbaren Boden für seinen zersetzenden Humor bietet: Trotz aller Cineteca Nazionale schändlichen Gier ist Antonio der erste, der Maria als Mensch behan- delt, was zu einer so bizarren wie tief empfunden Liebesbeziehung und unvorhersehbaren Wendungen führt. Der beißende Witz trifft auf eine erstaunliche emotionale Wärme, hochkomische Ideen mün- den in humanistische Traurigkeit: die Fülle der Tonlagen des Ferreri- Universums als perfekt ausbalancierte Anekdote, die Tognazzi und Girardot absolute Glanzleistungen erlaubt. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 24
Abus de faiblesse (Missbrauch) R, B: Catherine Breillat K: Alain Marcoen S: Pascale Chavance M: Didier Lockwood D: Isabelle Huppert, Kool Shen. Frankreich/Belgien/Deutschland, 2013, 35mm, Farbe, 105 min. Französisch mit engl. UT ★ Ein Schlaganfall verändert alles. Die krampfartigen Bewegungen fan- FREITAG gen in den Füßen an, arbeiten sich langsam den Körper entlang nach 31.1. / 20.30 oben bis ins schmerzverzerrte Gesicht von Maud (Isabelle Huppert): Im Spital muss sie langsam lernen, den Körper wieder »normal« und MONTAG funktional zu bewegen. Maud braucht Hilfe beim Wiedereinstieg ins 17.2. / 20.30 Leben, aber von ihrer Familie bekommt sie keine Unterstützung. Stattdessen taucht der ominöse Betrüger Vilko (der Rapper Kool Shen) in ihrem Leben auf. Es entsteht eine Konstellation der gegen- seitigen Abhängigkeit, anhand der sich Breillat stärker als je zuvor der Ambivalenz von Machtverhältnissen widmet. Dabei bleibt immer un- klar, wer von beiden die Fäden zieht. Dieser berührende und zugleich verstörende Film basiert auf Breillats eigenen Erfahrungen und ist bis dato ihr letzter geblieben. (I. M.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 25
Anatomie de l’enfer (Anatomie der Hölle) R, B: Catherine Breillat nach ihrem Roman Pornocratie K: Giorgos Arvanitis, Guillaume Schiffman S: Pascale Chavance D: Amira Casar, Rocco Siffredi, Alexandre Belin. Frankreich/Portugal, 2004, 35mm, Farbe, 77 min. Französisch mit engl. UT ★ Eine namenlose Frau (Amira Casar) ist in einer Schwulendisco ge- SAMSTAG strandet, wo sie sich in der Toilette die Pulsadern aufschneidet. Doch 1.2. / 18.30 sie wird von einem (ebenfalls namenlosen) Discobesucher (Rocco Siffredi) vor dem Tode gerettet und macht ihm trotz seines abschät- DONNERSTAG zigen Auftretens ein Angebot: Sie wird ihn bezahlen, wenn er sie 20.2. / 20.30 nachts besucht, um sie mit »neutralem« Blick zu beobachten. Indem sie ihren Körper und dessen Sekrete darbietet, will sie sich selbst ent- decken. Breillats wohl radikalster Entwurf: ein Meta-Kino-Konstrukt von malerischer Schönheit, dabei praktisch handlungslos – stattdes- sen wird der Akt des Sehens in aller Nacktheit »durchgespielt« und der Kuleschow-Effekt in pseudopornografischem Zusammenhang demonstriert. Statt einer Studie des Begehrens entwirft Breillat dabei mit tiefem Pessimismus eine Art erotischen Endpunkt des body horror-Genres in Form eines philosophischen Traktats (die Gedanken des Mannes spricht die Regisseurin höchstselbst). Ein einzigartiges Kunst-Stück. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 26
La dernière femme / L’ultima donna (Die letzte Frau) R: Marco Ferreri B: Rafael Azcona, Marco Ferreri, Dante Matelli K: Luciano Tovoli S: Enzo Meniconi M: Philippe Sarde D: Gérard Depardieu, Ornella Muti, Michel Piccoli. Frankreich/Italien, 1976, 35mm, Farbe, 108 min. Italienisch mit engl. UT ★ Der zwangsbeurlaubte Ingenieur Gérard (Gérard Depardieu) küm- SAMSTAG mert sich um seinen einjährigen Sohn, seit ihn seine zur Feministin 1.2. / 20.30 gewordene Frau wegen seiner patriarchalen Ideale verlassen hat. Als Gérard die schöne, doch unsichere Kindergärtnerin Valerie (Ornella SONNTAG Muti) kennenlernt, beginnt eine neue Beziehung, deren Höhe- und 23.2. / 20.45 Tiefpunkte im Schnelldurchlauf erlebt werden: Das Scheitern an den eigenen Ansprüchen und Sehnsüchten gipfelt in einem radikalen Akt. Courtesy Istituto Ebenso radikal (und tragikomisch) ist Ferreris satirische Schilderung Luce Cinecittà der Geschlechterverhältnisse und männlicher Unzulänglichkeit vor dem Hintergrund maximaler Tristesse, beschworen durch herbst- liche Stimmungen und Satellitenstadt-Entfremdung. Im Gegensatz zur Opulenz von La grande bouffe ist das Stilmittel seines nächsten angeblichen »Skandalerfolgs« die Reduktion, gipfelnd in offensiver Nacktheit, vor allem Depardieus: eine Entblößung, die weit über das Körperliche hinausgeht – in die Ängste der verunsicherten Seele. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 27
Brève traversée (Kurze Überfahrt) R, B: Catherine Breillat K: Eric Gautier S: Pascale Chavance M: Patrick Chevalier, D’Julz, Marc Filipi D: Sarah Pratt, Gilles Guillain, Marc Filipi. Frankreich, 2001, 35mm, Farbe, 84 min. Französisch mit engl. UT ★ Der 16-jährige Franzose Thomas ist noch Jungfrau, als er die Ärmel- SONNTAG kanal-Fähre für Sprachferien in Großbritannien besteigt. Dort trifft er 2.2. / 18.45 auf die etwa doppelt so alte Engländerin Alice, die eben ihren Mann verlassen hat. Die beiden kommen sich näher und schließlich verführt MITTWOCH Alice den Jungen zum One-Night-Stand. Inhaltlich quasi der »Bruder- 26.2. / 18.30 film« zu Breillats À ma sœur! und vergleichbar virtuos inszeniert, dabei aber in gänzlich anderem Register: eine Art comedy of man- Courtesy ners, gebaut aus langen, beobachtenden Einstellungen, die dem Paar Cinémathèque française ruhig, mit größter Genauigkeit durch das Niemandsland-Interieur eines Schiffs folgt – bis zur zynischen Pointe. Nicht nur darin erweist sich Brève traversée in gewisser Weise als Gegenstück zu einem ganz anderen Film, nämlich dem großen Klassiker des britischen Liebes- verzichts, David Leans Brief Encounter, dessen Titel und schlagend simple Struktur Breillat beschwört, um kühl alle Erwartungen auflau- fen zu lassen. (C. H.) Diario di un vizio (Tagebuch einer Manie) R: Marco Ferreri B: Liliane Betti, Marco Ferreri unter Mitarbeit von Riccardo Ghione K: Mario Vulpiani S: Ruggero Mastroianni M: Victorio Pezzolla, Gato Barbieri D: Jerry Calà, Sabrina Ferilli, Valentino Macchi. Italien, 1993, 35mm, Farbe, 89 min. Italienisch mit engl. UT ★ Chronik einer bedeutungslosen Existenz: Der studierte Philosoph MONTAG Benito Balducci muss sich als Vertreter von Putzmitteln (vor allem 3.2. / 18.30 zur Toilettenreinigung) durchschlagen, während er sich mit erotoma- nischen Gedanken ablenkt. Doch er packt alles in sein Lebenswerk: Courtesy Istituto ein Tagebuch, in dem sich die nutzlosen Details seiner anonymen Luce Cinecittà Existenz mit den (auch nicht allzu erhabenen) Höhenflügen seiner Fantasie vermischen. Die Stakkato-Abfolge dieser Prämisse erlaubt Marco Ferreri, in seinem vorletzten Film noch einmal in absoluter Frei- heit die Absurditäten des Daseins zu erforschen: ein rasantes Arran- gement von kurzen Szenen, in denen die Grenze von (Wunsch-) Traum und Wirklichkeit fließend geworden ist. Was Benito in Wirklich- keit sucht, ist der sinnliche Genuss des Lebens – den er zwangsläufig versäumt, weil er damit beschäftigt ist, ihn einzufangen. Die unver- schämt fröhliche Bilanz eines ständigen Scheiterns. (C. H.) JÄNNER/FEBRUAR 2020 Catherine Breillat/Marco Ferreri 28
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