Chrillys Goldpreis-Report Juni 2021
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Chrillys Goldpreis-Report Juni 2021 Dr. Chrilly Donninger, Chefredakteur&Abgabetermin Feldwebel Petra Mittelbach, Afrika Korrespondentin Ing. Norbert Bobits, Essen&Trinken&Leben Mag. Anni Donninger, Illustration&Lektorat Inhaltsverzeichnis: Contergan und die Stimme: Der Contergan Skandal war eine Mischung aus Profitgier, staatlicher Inkompetenz und ärztlicher Blindheit. Es ist aber auch die Geschichte von mutigen Menschen, die ihre Verantwortung wahr ge- nommen haben. Die Stimme gehört dem Sänger Thomas Quasthoff. Das Cholesterinmärchen, andere Fettgerüchte und die geschmalzene Antwort darauf. Ing. Norbert Bobits singt ein Loblied auf das Schmalzbrot und erklärt, warum man es ohne gesundheit- liche Bedenken einfach genießen sollte. DR Kongo- ein Land kommt nicht zur Ruhe von Petra Mittelbach Die Afrikakorrespondentin berichtet aus erster Hand vom Vulkanausbruch im Kongo und seinen Fol- gen für das Leben. Das Land kommt aber nicht nur wegen der Vulkane nicht zur Ruhe. Die Schatten der Kolonialen Vergangenheit vermischen sich mit neuen Begehrlichkeiten. Operation Halbschwer: Der Herausgeber berichtet wie er vom Super- in das Halbschwer Gewicht wechselte. Er findet: Abneh- men ist leicht, das Problem ist das Gewicht zu halten. Das Geschwätz der Welt. Das alte Ehepaar schwätzt über das Geschwätz der Welt. Der Chief kann die Seniora mit einem Koran Zitat davon überzeugen, dass es das immer schon gegeben hat. Man philosophiert über das Schöne Le- ben und ist sich wie immer fast einig.
„In Deutschland leben 80 Millionen Behinderte. Ich habe den Vorteil, dass man es mir ansieht.“ (Thomas Quasthoff) Contergan und die Stimme: Man sieht es dem am 9. November 1959 geborenen Sänger sofort an, weil er als „Contergan-Baby“ geboren wurde und ganze 1,36m groß ist. Man hört es jedoch nicht. Quasthoff kann über Wagner, Schu- bert, Jazz-Standards bis zu kongenialen Improvisationen mit Bobby McFerrin so ziemlich alles singen. Musikalische Grenzen und Schubladen sind ihm fremd. Diese Zugangsweise handhabt er bereits als kleiner Bub. Die Omas und Tanten rührte er mit Heintjes Mama zu Tränen. Für die kunstsinnigen Bekannten des Vaters hatte er Schubert und Mozart im Repertoire. Der Papa liebäugelte in seiner Jugend selbst mit einer Sängerkarriere. Der Schwiegervater stimmte der Hochzeit nur zu, wenn er einen ordentlichen Beruf ausübe. Er er- griff den ordentlichsten aller ordentlichen Deutschen Berufe und wurde Beamter. Er musste den Bub nie zum Singen anhalten. Tom- my war der geborene Sänger. Die Fa. Chemie Grünenthal im nordrhein-westfälischen Stolberg wurde 1946 gegründet. Zu Beginn spezialisierte man sich auf die Produktion von Penicillin. Um sich ein zweites Standbein zu schaf- fen entwickelte man ab 1954 den Wirkstoff Thalidomid und brachte am 1. Oktober 1957 das Medika- ment Contergan auf dem Markt. Grünenthal empfahl das Medikament bei Nervosität, leichter sexueller Erregbarkeit der Frau, klimakterischen Beschwerden, Schlafstörungen, Affektlabilität, Angst und Kon- taktschwäche. In Folge wurde es auch bei Schwangerschaftsübelkeit verschrieben. Laut Werbung war es so harmlos wie ein Pfefferminz Bonbon. Es wurde dementsprechend in Apotheken frei gekauft. Contergan traf den Nerv der Zeit. Es war der Beginn des Wirtschaftswunders. Das Motto hieß „frisch und fröhlich in die neuen Zeiten“, die Geister und Traumata der Vergangenheit spukten jedoch noch immer herum. Man vertrieb sie mit diesem Wundermittel und konnte am nächsten Tag voller Taten- drang das Bruttonationalprodukt steigern. In einer an Ärzte und Apotheker gerichteten Werbeeinschal- tung hieß es. „Festigkeit und Vertrauen bedürfen im Organischen eines symtonen Vegetativums, dessen Vorausset- zungen sind aber auch stärkender Schlaf, frisches Erwachen und gelassene Klarheit beim Tagewerk. Wer fest in sich ruht, wird durch das Wechselhafte allen Geschehens, durch das heute besonders gülti- ge „panta rhei“ nicht schwankend und ängstlich. Ein unschädliches Medikament sichert diese Bestän- digkeit auch in schwierigen Situationen. Contergan und Contergan-forte führen ohne Nebeneffekte je nach der Dosis eine sichere Beruhigung oder schnelle Schlafbereitschaft herbei. Die ungiftige Substanz ist ohne Geschmack und frei von Barbituraten, Alkaloiden und Brom. Ihre Anwendung empfiehlt sich besonders in der Pädiatrie und Geriatrie“. Als Contergan eingeführt wurde, gab es in der BRD weder ein Arzneimittelgesetz noch ein Gesund- heitsministerium. Der erste Anlauf zu einem Arzneimittelgesetz datiert aus dem Jahr 1901. Es gab im- mer wieder neue Entwürfe, die jedoch vom einflussreichen Bundesverband der Pharmazeutischen In-
dustrie torpediert werden konnten. Nach dem Krieg stand das Wirtschaftsministerium unter Ludwig Er- hard auf der Bremse. In der DDR wurde 1949 ein derartiges Gesetz beschlossen. Gesundheitsagenden waren auf Bundes- und Länderebene dem Innenministerien zugeordnet. Contergan wurde zum dominierenden Schlaf- und Beruhigungsmittel. Im Jänner 1961 nahmen es 5 Millionen Deutsche regelmäßig ein. Man verwendete es auch als moderner „Mohnzuzler“. Contergan- Sirup erhielt den Spitznamen „Kino-Saft“. Eltern verabreichten es ihren Kindern, bevor sie ins Kino gingen. Es wurde in Lizenz in Japan, Großbritannien, Kanada und Schweden herstellt. Der schwedische Li- zenznehmer war die Firma Astra, die 1999 nach der Fusion mit der englischen Zeneca zu AstraZeneca wurde. In Österreich war das Mittel Rezeptpflichtig, in der DDR wurde es auf Betreiben des renom- mierten Pharmazeuten Prof. Friedrich Jung nicht zugelassen. Jung sah keine medizinische Notwendig- keit für ein weiteres Schlafmittel. Es beunruhigte ihn die chemische Ähnlichkeit mit der Glutamin- säure, die als stark Fötusschädigend bekannt war. In den USA beantragte der Lizenznehmer Richardson Merrell die Zulassung bei der Food and Drugs Adminis- tration (FDA). Die zuständige Referentin Dr. Frances Kelsey stellte die Ampel jedoch auf rot. Sie wurde für diese mutige Haltung von Präsident Kennedy ausge- zeichnet. Die FDA hatte – für damalige Verhältnisse - strenge Zulassungsbedingungen, es benötigte dennoch einiger Zivilcourage, sich den Wünschen der Pharmain- dustrie zu widersetzen. Richardson-Merrel hatte in den oberen Etagen der FDA interveniert, Frances Kelsey blieb jedoch stur. Contergan erwies sich im Tier- versuch mit Ratten als ungefährlich. Allerdings machte es Ratten munter und nicht schläfrig. Es hatte offensichtlich andere Auswirkungen auf den Stoffwechsel als beim Menschen. Man konnte auch später die schweren Schädigungen der Föten bei Ratten und Mäusen nicht nachweisen. Sehr wohl jedoch bei Kaninchen und Affen. Wie Prof. Jung in der DDR hatte Kelsey auch wegen der chemischen Verwandt- schaft mit Glutaminsäure Bedenken. Richardson-Merrel hatte trotz roter Ampel unter dem Vorwand von medizinischen Studien einige Mengen an Contergan im Umlauf gebracht. Präsident Kennedy rief die Bevölkerung anlässlich der Auszeichnung persönlich auf, das Mittel unverzüglich aus der Hausapo- theke zu entfernen. Es gab in den USA 13 dokumentierte Gerichtsverfahren, die alle mit einem außer- gerichtlichen Vergleich endeten. In Schweden waren es dokumentierte 132 Fälle, in der DDR 9. Die Mütter hatten sich Contergan im Westen besorgt. Die Zahlen für die BRD schwanken. Laut der Disser- tation von Beate Kirk waren es 5.000, Thomas Quasthoff spricht in seiner Autobiografie von 12.000. Gesetzlich anerkannt wurden 2.500 Fälle. Bei Contergan hat man Menschen mit Stummel-Armen und Beinen im Kopf. Der medizinische Fachausdruck ist Phokomelie. Es leitet sich vom Altgriechischen Wort Phoke für den Seehund ab. Man spricht daher auch von Robbengliedrigkeit. Die Art der Fehlbil- dung hängt vom Zeitpunkt der Einnahme ab. Man hat einen Fehlbildungs-Kalender erstellt. Kritisch ist das 2. Schwangerschaftsmonat. Es wird jenes Organ geschädigt, das innerhalb dieser Periode gerade gebildet wird. Es kommt nicht auf die Dosis an. Es reichte eine zum falschen Zeitpunkt eingenommene Tablette. Der erste dokumentierte Fall im Jahr 1959 betraf den Sohn eines Frauenarztes. Er hatte seiner Gattin Contergan verschrieben. Das Neugeborene hatte einen zugewachsenen Gehörgang und Augen- Fehlbildungen. Der Arzt wandte sich an die Fa. Grünenthal, ob die Fehlbildung etwas mit der Pille zu tun haben könnte. Die Antwort war „Das ist vollkommen ausgeschlossen“.
Grünenthal hatte nur bei Ratten die akute Toxizität untersucht. Es war tatsächlich praktisch unmöglich, mit Contergan Selbstmord zu begehen. Die Werbebotschaft „vollkommen ungiftig“ bezog sich auf die- sen Sachverhalt. Über die sogenannte Teratogenität, die Auswirkungen auf den Fötus, gab es von Sei- ten Grünenthals keine Untersuchungen. „Kann nicht sein“ hatte keinerlei medizinische Basis. Prof. Jung und Frances Kelsey haben sich nicht grundlos gegen die Zulassung ausgesprochen. Es gab mehre- re Anfragen dieser Art, die immer auf dieselbe Art und Weise abgeschmettert wurden. Wenn die Fehlbildung ein lebenswichtiges Organ betraf, dann kam es zur Totgeburt bzw. das Neugebo- rene verstarb unmittelbar nachher. Die Robbengliedrigkeit ist eine schwere Behinderung, sie wirkt sich jedoch kaum auf die Lebenserwartung aus. Die 2.500 anerkannten Fälle erfassen daher nur die Überle- benden, bei denen ein eindeutiger Zusammenhang mit Contergan festgestellt werden konnten. Es gab damals keine Daten zu Missbildungen bei Neugeborenen. Man wollte es auch nicht wissen. Es tobte Ende der 1950er Jahre eine heftige politische Debatte über die von der Adenauer Regierung forcierte nukleare Aufrüstung der BRD. Ein Argument der Gegner war die erhöhte Rate von Missbildungen durch atomare Versuche. Die Gesundheitsbehörden waren angewiesen, den Gegnern in dieser sensiblen Frage keine Munition zu liefern. Diese Debatte hat den Blick auf die eigentliche Ursache vernebelt. Es gab bereits 1959 eine wissenschaftliche Publikation über eine totale Phokomelie. Der Autor erwähnte, dass ihm ein derartig ausgeprägter Fall auch aus der Literatur nicht bekannt war. Die Missbildungen waren 1960 und 61 nach dem Motto „so was ist mir in den 30 Jahren zuvor nie untergekommen“ ein Gesprächsthema am Rande von Kinderärzte Kongressen. Es kam jedoch nicht auf die offizielle Tages- ordnung. Die Erklärung waren meist die Kernwaffenversuche. Dass Radioaktivität zu Missbildungen führt, war allgemein bekannt. Auf die Idee „dann müsste es das auch in der DDR geben“ ist lange Zeit niemand gekommen. Ein auch offizielles Thema waren durch Contergan verursachte Nervenschäden. Der Neurologe Ralf Voss fragt erstmals im Oktober 1959 bei der Fa. Grünenthal an, ob der Wirkstoff Thalidomid zu Ner- venschäden führen kann. Die Antwort war „ist vollkommen ungiftig“. Voss lässt jedoch nicht locker, er berichtet im April 1960 am Neurologenkongress in Düsseldorf von seinen Untersuchungen. Im Feb. 1961 legt er weitere Studien vor. Der Leiter der Neurologischen Abteilung der Univ. Klinik Köln be- stätigt seine Ergebnisse und spricht von einem eigenen Krankheitsbild der „Contergan Polyneuritis“. Die meist älteren Patienten verlieren einerseits die Wahrnehmung in Händen und Füssen, andererseits haben sie das Gefühl, auf Glasscherben zu gehen. Voss berichtet, dass diese Schädigung auch nach Ab- setzung des Medikaments nicht zurückgeht. In den meisten Unikliniken wird die Verabreichung von Contergan untersagt. Am 16. August 1961 erscheint im SPIEGEL ein erster Contergan Artikel. Er be- zieht sich auf die inzwischen weitgehend gesicherte Contergan-Polyneuritis und nicht auf die Fehlbil- dungen bei Neugeborenen. Die Fa. Grünenthal kann diesen Zusammenhang nicht mehr abstreiten. Man argumentiert zwar, die Pa- tienten seien durch Überdosierung und in Kombination mit Alkohol-Missbrauch selber Schuld, aber man vertritt nicht mehr die These von der „vollkommenen Ungiftigkeit“. Man beantragt auf Anraten der Rechtsabteilung die Einführung einer Rezeptpflicht, gegen die man sich lange mit allen Mittel gewehrt hat. In Nordrhein-Westfalen und Hessen tritt die Rezeptpflicht am 1. August 1961 in Kraft. In Bayern, Schleswig-Holstein und anderen Bundesländern scheitert sie jedoch am Beamten-Mikado. Per 1. Au- gust trat das längst überfällige Arzneimittelgesetz in Kraft. Die Verabschiedung wird oft mit Contergan in Zusammenhang gebracht. Das ist nicht richtig. Nachdem die Pharmazeutische Industrie ein derarti- ges Gesetz 60 Jahre lang bekämpft hatte, war sie nun selbst daran interessiert.
Es zeichnete sich im Europäischen Wirtschaftsraum EWR (der Vorläufer der EU) die Verabschiedung einer einheitlichen Verordnung ab. Man wollte durch ein möglichst liberales Gesetz Tatsachen schaf- fen. Das Gesetz war zahnlos und reichte bei weitem nicht an die Regeln der FDA heran. Im Grunde gab es nur eine Registrierungspflicht. Es war den Firmen weiterhin überlassen, auf welche Art und Weise sie ein neues Medikament überprüfen. Bei den Verhandlungen waren auch die Apotheker eingebunden. Die hatten nur eine Forderung: Ein möglichst umfassendes Verkaufsmonopol. Die Ärzteschaft forderte den Nachweis, dass ein neues Medikament wirksam ist, konnte sich damit jedoch nicht durchsetzen. Aber selbst dieses Minimalgesetz war ein Fortschritt. Als die verheerenden Auswirkungen von Con- tergan im Nov. 1961 bekannt wurden, hatte das neugeschaffene Gesundheitsministerium nicht die ge- ringste Ahnung, in welchen Medikamenten der Wirkstoff Thalidomid überhaupt vorkam. Es gab unter anderem auch das Thalidomid-hältige Grippemittel Grippex. Die Bayrischen Gesundheitsbehörden argumentierten: Durch das neue Arzneimittelgesetz seien sie für die Rezeptpflicht nicht mehr zuständig, die Bundesbehörde war gegen- teiliger Meinung und so geschah in vielen Bundesländern gar nichts. Nachdem 70% des Umsatzes auf den Freiverkauf fielen und man in der Ärzteschaft inzwischen wegen der Nervenschäden hellhörig geworden war, hätte ein rechtzeitiges Eingreifen der Behörden einiges Leid verhin- dern können. Der eigentliche Contergan-Skandal wurde vom Rechtsanwalt Karl-Her- mann Schulte-Hillen ins Rollen gebracht. Sein Sohn Jan kommt im Frühjahr 1961 behindert zur Welt. Das Kind seiner Schwester hat diesel- ben Missbildungen. Schulte-Hillen beginnt zu recherchieren und stößt zunächst auf eine Mauer des Schweigens. Die Behörden wissen von nichts, er klappert die Dorfgasthäuser ab. „Nee, noch nicht gehört“. Er zeigt das Bild seines Sohnes. „Ah, ja, da gibt es einen“. Er sucht die Familie auf, es schlägt ihm Scham und Misstrauen entgegen. Schulte-Hillen sammelt trotzdem Dutzende Fälle. Er wendet sich damit an den Hamburger Kinderarzt und Humangenetiker Widukind Lenz. Lenz hat 1958 eine Habilitation zum Zusammenhang zwischen Alter der Eltern, Geburts- rangordnung und die Häufigkeit von Missbildungen verfasst. Er hat zu diesem Zweck eine umfangreiche Datenbank angelegt und ist wohl der Einzige, der empirisch-statistisch beurteilen kann, ob es sich um eine signifikante Häufung handelt. Die bisherigen Beobachtungen von Ärz- ten waren von der Sorte „so was ist mir noch nie untergekommen“. Er war auch in der Kernwaffen-De- batte der Meinung, dass dies keine nennenswerten Effekte auf Missbildungen haben könne. Letztend- lich war jedoch der entscheidende Unterschied zu anderen Ärzten: Er war ein „Widukind“ (Herzog Wi- dukind war der Anführer der Sachsen im Kampf gegen Karl d. Großen). Lenz besorgte sich die Daten von Hamburger Kliniken. Dass es sich um eine signifikante Zunahme handelte, war sofort klar. Wesentlich schwieriger war der Nachweis, dass Contergan die Ursache dafür war. Er setzte sich mit betroffenen Müttern in Verbindungen und konnte in 14 Fällen die Einnahme von Contergan in der kritischen Schwangerschaftsperiode nachweisen. Er untersuchte aber auch Fälle mit gesunden Kindern. Diese Mütter hatten kein Contergan genommen. Er referierte auf der Westfälischen Kinderärztetagung am 17. Nov. 1961 seine Ergebnis. In seinem Beitrag sprach er nur „von der Sub- stanz“. Das Wort Contergan oder Thalidomid kommt nicht vor. Aber es wusste jeder im Saal, was ge- meint war. Am Bemerkenswertesten sind die Schlussbemerkungen seines Vortrages:
„Ein ätiologischer Zusammenhang zwischen der Aufnahme der Substanz und den Missbildungen ist durch nichts bewiesen. Vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus wäre es daher verfrüht, darüber zu sprechen. Ein Zusammenhang ist aber denkbar. Als Mensch und Staatsbürger kann ich es daher nicht verantworten, meine Beobachtungen zu verschweigen. Angesichts der unübersehbaren menschlichen, psychologischen, juristischen und finanziellen Konsequenzen habe ich daher nach Rücksprache mit ei- nem Pädiater und einem Pharmakologen der Herstellerfirma meine Beobachtungen mitgeteilt und mei- ne persönliche Meinung zum Ausdruck gebracht, dass die sofortige Zurückziehung des Mittels erfor- derlich sei, bis seine Unschädlichkeit nachgewiesen ist … Jeder Monat Verzögerung in der Aufklärung bedeutet die Geburt von vielleicht 50 bis 100 entsetzlich verstümmelten Kindern“. Ärzte der Univ. Klinik Münster waren zu ähnlichen Ergebnissen wie Lenz gekommen. Der Ärztliche Leiter befand jedoch, dass der Zusammenhang zu wenig abgesichert sei um mit einem derartig massi- ven Vorwurf an die Öffentlichkeit zu gehen. Man beschloss die Sache weiter zu studieren. Unabhängig von Lenz kam der Australische Arzt William Griffith McBride zu derselben Schlussfolge- rung. Er teilte dies in einem Leserbrief der renommierten englischen Medizinzeitschrift „The Lancet“ mit. Der Leserbrief wurde im Dez. 1961 abgedruckt. Das war die erste wissenschaftliche Publikation zu diesem Thema. Auf Einladung des zuständigen Düsseldorfer Innenministeriums kam es am 24. Nov. 1961 zum Showdown zwischen Vertretern von Grünenthal und Lenz. Lenz forderte die unverzügliche Zurückziehung, die Beamten schlossen sich dem an. Grünenthal drohte mit einer Amtshaftungsklage. Grünenthal geriet bei Widukind Lenz jedoch an den Falschen. Er wandte sich an die Redaktion „Der Welt am Sonntag“. Diese veröffentlichte am 26. November einen Artikel „Missgeburten durch Tablet- ten? Alarmierender Verdacht eines Arztes gegen ein weitverbreitetes Medikament“. Lenz hat mit diesem Schritt gegen den damaligen Verhaltenskodex von Ärzten verstoßen. Man disku- tierte derartige Angelegenheiten innerhalb der eigenen Kaste, man informierte den Hersteller, aber man wandte sich nicht an den Pöbel. Er wurde für diesen Schritt von Kollegen – unter dem Vorwand er würde nur Schwangere verunsichern – heftig kritisiert. Grünenthal zog am 27. November das Präparat zurück. Astra tat dies in Schweden am 12. Dezember. Die Schwedischen Medien berichteten ebenfalls groß über den Skandal. Allerdings war es für sie ein Skandal in Deutschland, es wurde in den Berichten der Deutsche Handelsname „Contergan“ und nicht der schwedische „Neurosedyn“ verwendet. Die schwedischen Behörden agierten wie die Deutschen: Man erklärte sich für nicht zuständig und es kam zu weiteren – leicht vermeidbaren – Fällen. In Deutschland wurde am 14. Nov. 1961 das Bundesministerium für Gesundheit geschaffen. Erste Ge- sundheitsministerin war die Juristin Elisabeth Schwarzhaupt. Der bereits 85-Jährige Konrad Adenauer war darüber doppelt verärgert. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Aufnahme einer Frau in seine Regierung. Für Adenauer war die Schaffung eines eigenen Gesundheitsministeriums so nötig wie ein Kropf. Er musste nach einem Aufstand der CDU-Frauen klein beigeben. Elisabeth Schwarz- haupt hat sich am Ende ihrer Amtszeit im Jahr 1965 über diese Situation bitter beschwert „Wenn ich die Haltung weiter Kreise meiner eigenen Fraktion und auch maßgeblicher Herren der Bundesregie- rung sehe, die die Gesundheitspolitik gewissermaßen als Sache von Sektierern abtun, dann frage ich mich ernstlich, ob die Gründung des Bundesgesundheitsministeriums nicht besser unterblieben wäre“. Wobei man allerdings auch dazu sagen muss, dass Schwarzhaupt auf diesem Gebiet keinerlei Erfah- rung hatte. Das Verantwortungs-Ping-Pong zwischen Bund und Ländern hat die Lage der Contergan- Kinder weiter verschlimmert. So waren die Prothesen für Kriegsinvalide konstruiert. Es gab For- schungsanträge für die Entwicklung speziell angepasster Prothesen. Es fühlte sich aber niemand für die Bewilligung zuständig. Die Länder verwiesen auf den Bund, der Bund auf die Länder.
Papa Quasthoff konstruierte mit Hilfe eines befreundeten Tischlers eine eigene Prothese, mit der Tom- my unter Anleitung der Mama gehen lernte. Sie lockte ihn mit Schokolade. Wenn du die haben willst, musst du zu mir herkommen. Mit der staatlichen Prothese war das vollkommen unmöglich. Schwarzhaupt war der Meinung, dass die bestehende Fürsorgeverordnungen ausreichend seien und lehnte eine eigene Regelung für Contergan-Kinder ab. Das war fern jeder Realität. Nach heftiger Kritik ruderte sie auch zurück. Thomas Quasthoff kam wie die meisten anderen Kinder nach der Geburt in eine Heilanstalt. Diese war primär eine Absonderungseinrichtung nach dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“. Die medizinische Behandlung war katastrophal. Die Eltern haben ihn auch wieder heraus genommen. Viele andere Kinder waren weniger glücklich und vegetierten in diesen Anstalten vor sich hin. Das nächste große Problem war die Schulpflicht. Obwohl der Bub geistig hoch begabt war, ver- weigerte man ihm in der frommen Bischofsstadt Hildesheim (diese sarkastische Bemerkung stammt von Quasthoff) die Aufnahme in die Regelschule. Er kam in ein Internat in dem auch viele geistig be- hinderte Kinder untergebracht waren. Die Internatsleiterin war eine ausgeprägte Sadistin, die man sich auch als KZ-Kommandantin gut vorstellen kann. Die Eltern durften Tommy am Wochenende abholen und sorgten für seine Bildung. Im Zuge der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung Ende der 1960er Jahre kam es selbst in der frommen Bischofsstadt zu Veränderungen. Tommy durfte die normale Schu- le besuchen. Im Gymnasium war der Mief unter den Talaren noch nicht verschwunden, der Lateinleh- rer faselte noch immer was von Mens sana in corpore sano „ein gesunder Geist in einem gesunden Kör- per“. Ich kenne den Ausspruch aus eigener Schulerfahrung. Dass er aus einem Stück des Satirikers Ju- venal stammt und eine gänzlich andere Bedeutung hat, hat die „humanistisch Gebildeten“ nie gestört. Parallel zum Gym absolvierte er bei der Sopranistin Charlotte Lehmann eine intensive musikalische Ausbildung. Er brillierte im Schulchor. Bis dieser zu einer Norwegen-Tournee aufbrach und er mit der Begründung „man könne das den anderen Schülern nicht zumuten“ nicht mitfahren durfte. Tatsächlich konnte er damals weitgehend für sich selbst sorgen, sich selbst anziehen, waschen … Nur wenn er mit seinen 1,36 etwas nicht erreichen konnte, musste man ihm behilflich sein. Nach der Matura/Abitur wollte er die Gesangsausbildung an der Musikhochschule in Hannover absolvieren. Hochschulchef Ja- kobi weist seine Bewerbung mit der Begründung „Die Deutsche Studienordnung setzt für ein Gesangs- studium zwingend die Beherrschung mindestens eines Instruments, nämlich des Klaviers, voraus“ brüsk zurück. Als sich ein Professor anbietet Quasthoff als Gasthörer anzunehmen, untersagt dies Jako- bi per Dienstanweisung. Der Traum von der Gesangskarriere scheint sich wie beim Papa in Luft aufzu- lösen. Quasthoff beginnt Jus zu studieren und verdient sich sein Geld als Sprecher beim NDR. Er nimmt aber weiterhin Stunden bei Charlotte Lehmann und tritt mit seinem älteren Bruder Michael in Kabaretts, in Jazzbands und überall dort auf, wo man auf die Deutsche Studienordnung weniger Wert legt. Das sind nun auch im Alter die Bretter auf denen er sich wohl fühlt. Er benötigt nun auch kein Podest mehr, damit er auf Augenhöhe mit seiner Gesangspartnerin steht. Über Gesangswettbewerbe schafft er es ins Geschäft zu kommen. Die Schwierigkeit bestand nicht darin den Wettbewerb zu gewinnen, sondern überhaupt zugelassen zu werden. Er konnte keine formale Ausbildung vorweisen. Das Bild zeigt ihm als Gewinner des Mozart-Gesangswettbewerbes in Würz- burg 1987 neben Lioba Braun, die bei den Frauen am Stockerl stand. Quasthoff betont in seiner Biogra- fie: Wahrscheinlich hätte ich es nicht so weit gebracht, wenn immer alles glatt gegangen wäre. Der
Groll gegen den Hochschulleiter Jacobi ist jedoch geblieben. Quasthoff bezeichnet ihn als blasierten Knochen mit den Manieren eines elbischen Junkers. Bei allem Selbstbewusstsein vermied er die Mitwirkung in einer Oper. Er fürchtete, dass er mit seiner Statur lächerlich wirkt bzw. die Regisseure ihn als Krüppel-Gag verwenden. Der Dirigent Sir Simon Rattle versuchte ihm lange von einem Opernauftritt zu überzeugen. Ausschlaggebend war jedoch der Kommentar seines „verrückten“ australischen Freundes Tony Shalit: „What happens?“ schlägt Freund Tony alle Bedenken in den Wind. Er sitzt in meinem Hotelzimmer und zieht genüsslich an einer Tüte schwarzem Afghanen „Remember all the fat old tenors, die hinter- hersteigen young girls like Aida or Desdemona. That is the real ugly stuff. Not you, little big man“. Sir Simon drückt es etwas vornehmer aus. Wenn das Abenteuer Oper schief geht könne er ja noch im- mer zu seinem Metier als Schubert-Sänger zurück kehren. Die Stellungnahme des neu geschaffenen Gesundheitsministeriums zu Contergan ließ lange auf sich warten. Nachdem Grünenthal das Mittel zurück gezogen hatte, hielt man eigene Stellungnahmen und Maßnahmen für nicht mehr notwendig. Im Nachhinein begründete man diese Zurückhaltung mit „man wollte Anträge auf Schwangerschaftsunterbrechungen vermeiden“. Das chronisch unterbesetzte und wenig qualifizierte Ministerium zeichnete sich aber auch in anderen Bereichen nicht durch übermäßi- gen Tatendrang aus (siehe Forschungsanträge zur Entwicklung von Prothesen). In Bayrischen Apothe- ken wurde der Wirkstoff Thalidomid als Homöopathische Anfertigung weiter verkauft. Diese wurden im Februar 1963 durch einen eigenen Erlass der Bayrischen Gesundheitsbehörden untersagt. Die Staatsanwaltschaft Aachen errichtet im August 1962 die „Sonderkommission Contergan“. Die Ver- handlung gegen die führenden Mitarbeiter von Grünenthal wird jedoch erst im Mai 1968 eröffnet. Im Falle der Contergan Polyneuritis wirft man den Angeklagten fahrlässige und vorsätzliche Körperverlet- zung, bei den Missbildungen Fahrlässigkeit vor. Grünenthal hat ein Heer von 30 Anwälten engagiert, die auch nach politischen Gesichtspunkten ausgewählt wurden. Das Verfahren gegen den Hauptverant- wortlichen Geschäftsführer wird nach kurzer Zeit aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Am Ende bleiben nur Verantwortliche aus der 2. Etage über. Im Schweden kommt es im Oktober 1969 zu einem Vergleich zwischen Astra und der Elternvereinigung der Geschädigten Kinder. So endet auch das Deutsche Verfahren im April 1970. Grünenthal zahlt „freiwillig“ ohne ein Schuldeingeständnis ab- zulegen 100 Millionen DM in einem Fonds ein. Das Gericht beendet das Verfahren wegen „minderer Schuld“ der Angeklagten. Die Begründung für diesen Beschluss liest sich sehr eigenartig. Den feder- führenden Kaufleuten fehlte das Pharmakologische Wissen, um die Folgen ihrer Handlung abschätzen zu können. Die Pharmakologen waren aus dem Schneider, weil sie in der Firma wenig zu sagen hatten. Es war jeder ein bisserl Schuld, aber niemand richtig verantwortlich. Es waren aber auch die Gesetze für diese Art von Vergehen nicht gemacht. 1972 tritt auf Betreiben von Justizminister Gerhard Jahn (SPD) das Gesetz über die Einrichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ in Kraft. Dieses Gesetz wird sehr widersprüchlich beurteilt. Es übernimmt der Staat die Haftung. Das verbessert die Situation der Betroffenen. Bereits im Jahr 1997 (ich habe keine neueren Zahlen gefunden) betrug der Staatliche Anteil an den Aufwendungen für Ren- ten und Heilverfahren 450 Millionen Euro. Die von Grünenthal zur Verfügung gestellten 100 Millionen waren schnell aufgebracht. Das Gesetz verbesserte jedoch auch die Position von Grünenthal. Es waren noch immer Verfahren von Eltern anhängig, die dem ursprünglichen Vergleich nicht zugestimmt hat-
ten. Diese Verfahren wurden mit dem Inkraftsetzen des Gesetzes für nichtig erklärt. Grünenthal hatte sie vom Hals. Man hätte auch Grünenthal – das bis heute sehr gut im Geschäft ist – zur weiteren Kos- tenübernahme verpflichten können. Die damalige Lösung hatte auch viele Mängel und Lücken. So wurden die Renten lange nicht valorisiert. Wenn es jemanden gelang trotz Behinderung einen Beruf zu ergreifen, erloschen seine Ansprüche. Wenn sich heraus stellt, dass er es nicht schafft, steht es als Schwerstbehinderter vor dem Nichts. Gegenüber dem Standpunkt von Ministerin Schwarzhaupt „Es genügt die normale Opferfürsorge“ ist das Gesetz von Jahn aber ein wichtiger Fortschritt. Schwarz- haupt hat sich später bei den Eltern für diese Haltung und für die mangelnde Effizienz ihres Ministeri- ums entschuldigt. Viele Eltern waren erleichtert, dass sie nun finanziell besser abgesichert waren. Viele waren jedoch auch wütend und verbittert. Man hatte sich vom Verfahren auch Gerechtigkeit erwartet. Das bedeutete konkret: Eine Verurteilung der Grünenthal Geschäftsführung. Diese verließen den Gerichtssaal im ju- ristischen Sinn mit einer weißen Weste. Es endeten die Verfahren in allen Ländern auf diese Weise. Die Pharmafirmen kauften sich von ihrer Schuld frei. Das ist nicht nur bei Contergan der übliche Lauf der Dinge. Literaturverzeichnis und verwendete Quellen: Thomas Quasthoff: Die Stimme, Autobiografie. List Verlag. 8. Auflage 2019 Ich bin bei den Recherchen zu Contergan zufällig auf dieses Buch gestoßen und dachte mir „Sich durch die wissenschaftliche Literatur durchackern ist mühsam, aber man stößt auch auf solche Nuggets“. Beate Kirk: Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffes Thalidomid. Greifswalder Schriften zur Geschichte der Pharmazie und Sozialpharmazie. 1999. Das Buch ist die gut lesbare Dissertation der Autorin. Die direkt mit Contergan zusammenhängenden Fakten und Zitate wurden hauptsächlich aus diesem Buch – in Originalschreibweise - übernommen. Thomas Großbölting, Niklas Lenhard-Schramm (Hg.): Contergan – Hintergrund und Folgen eines Arz- neimittelskandals. Vandenhoeck&Ruprecht 2017. Ein Tagungsband zu diesem Thema. Öd zu lesende Deutsche Wissenschaft. Siehe „Durchackern“. Der Contergan-Skandal - Missbildungen bei Kindern - Doku 2016 ARD Sehenswerte Dokumentation, allerdings mit historischen Ungenauigkeiten. Der Selbstmord von Mari- lyn Monroe wird zeitlich falsch eingeordnet. ZDF-History Die großen Skandale der Medizin Der Beitrag geht detaillierter auf den Prozess ein. Es verschwimmen allerdings die Grenzen zwischen Spielfilm und Dokumentation.
„Hübsch ist es zwar, wenn ein Künstler nicht zu fett wird, aber unbedingt nötig ist's gerade nicht, wenn er so mager bleibt.“ (Wilhelm Raabe) Das Cholesterinmärchen, andere Fettgerüchte und die geschmalzene Antwort darauf. Bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts galt der Fettgehalt von Fleisch noch als qualitätsbestimmendes Merkmal. Sieht man sich die Preisentwicklung an, wurde für fettes Bauchfleisch oder Rückenspeck noch genau so viel bezahlt, wie für mageres Karree oder den Schinken. Ab den 60er Jahren begann Fett massiv an Wert zu verlieren, so dass bereits in den 70ern der Durchschnittspreis fetter Teilstücke unserer geschätzten Nutztiere nur mehr bei einem Drittel dessen der mageren lag. Vordergründig lag diese Entwicklung darin, dass man nach den entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegsjahren – jetzt endlich im Aufschwung und somit im vermeintlichen Wohlstand angekommen - menschliche Nahrung nicht mehr nach ihrem Nährwert beurteilen musste. Vollkommen entfremdet vom eigentlichen Sinn der Nahrung wurde begonnen darauf Wert zu legen, mit Nahrungsmitteln möglichst nicht zu viel Nährwert aufzunehmen. Um dies anschaulich zu machen, wurde eine - für eine Aussage über den tatsächlichen Nährwert für den menschlichen Organismus übrigens vollkommen unbrauchbare – Hausnummerneinheit bemüht: der Brennwert, angegeben in Kalorien oder Joule. Dieser Brennwert wird übrigens dadurch ermittelt, dass das darauf zu untersuchende Produkt – sei es Wurst, Käse, Holz oder Stroh – in einer speziellen Gerätschaft - dem Bombenkalorimeter - verbrannt und die freiwerdende Wärmeenergie gemessen wird, was mit den tatsächlichen Vorgängen in unserem Stoffwechsel gar nichts zu tun hat. Weder verbrennt in unserem Körper etwas, noch verwertet der Körper immer alles, was ihm angeboten wird gleich.[1] Nichtsdestotrotz wurde und wird an allen – für die Industrie wirtschaftlich interessanten – Ecken und Enden für eine „kalorienbewusste“ Ernährung geworben, wodurch das Fett aufgrund seiner thermischen Eigenschaften im Laborversuch – es brennt eben lang und heiß – als besonders kalorienreich entlarvt und zum einem der übelsten Dickmacher unserer Nahrung diskreditiert wurde. „Wer Fett isst, wird fett“ ist ein noch immer gängiger Irrglaube, wird doch das aufgenommene Fett vom Körper nicht so wie es ist, direkt im Wohlstandsbäuchlein oder einer der beiden Gesäßhälften abgelagert.
Vielmehr wird es im Zuge des Stoffwechsels in seine Bestandteile - die Fettsäuren - zerlegt, die ihrerseits sozusagen als Bausteine für verschiedene Gewebe und körpereigene Verbindungen, wie etwa Hormone, die wichtige Steuerfunktionen im Körper übernehmen, Verwendung finden. Vor allem ist der Körper bei der Herstellung dieser Steuersubstanzen auf mehrfach ungesättigte Fettsäuren angewiesen, die er nicht selber synthetisieren kann – man spricht also von essentiellen Fettsäuren. Besonders Schweinefett liegt im Gehalt an essentiellen Fettsäuren mit dem immer so hoch gepriesenen Olivenöl bei einem Wert um die 10% etwa gleich auf! Andere tierische Fette, wie beispielsweise Putenfett, rangieren deutlich darunter. Aus ernährungsphysiologischer Sicht ist auch deutlich erkennbar, dass Schweinefett insgesamt eine äußerst günstige Fettsäurezusammensetzung aufweist, was es für den menschlichen Verzehr sehr wertvoll macht. [2] So weit, so gut. Doch die hervorragenden ernährungsphysiologischen Eigenschaften werden noch immer medial in den Schatten gestellt, in dem Schweinefett unterstellt wird, es enthielte das grausgrimmige Schreckgespenst des Cholesterins, das dem Konsumenten suggeriert, er werde nach dem Verzehr zu vieler Schmalzbrote oder eines saftigen Schopfbratens ein lebenslanges Siechtum aus Schlaganfällen und Herzinfarkten in Kauf nehmen müssen. Glücklicherweise ist dem nicht so! Schweinefett enthält zwar, so wie alle tierischen Fette Cholesterin, ist aber mit einem Gehalt von ca. 80mg/100g bei weitem das cholesterinärmste Fett. Rindertalg und Geflügelfett weisen Gehalte von rund 90mg/100g auf. Ein Großteil des Cholesterins, das jeden Tag im Stoffwechsel gebraucht wird (ca. 800mg pro Tag) – ja, der Stoffwechsel braucht Cholesterin! – wird vom Körper selbst in Leber und Darm synthetisiert, nur etwa ein Viertel des Bedarfs werden mit der Nahrung gedeckt. Während früher das Nahrungscholesterin für die möglichen Schadwirkungen verantwortlich gemacht wurde, weiß man heute, dass die Ursachen in einer meist genetisch bedingten Fehlfunktion der Körperzellen liegen. Zusammengefasst kann man sagen, dass diese Fehlfunktion bewirkt, dass eine gewisse Cholesterinart von der Zelle nicht aufgenommen werden kann und die Zelle selber verstärkt Cholesterin synthetisiert, wodurch es zu einer Anreicherung des Überschusses im Blut, Ablagerungen in den Blutgefäßen und dadurch zu Gefäßverengungen kommt. Da der überwiegende Anteil des Cholesterins eben vom Körper gebildet wird, hat die Vermeidung von Cholesterin in der Nahrung unglücklicherweise höchstens einen geringfügigen Effekt auf die Cholesterinwerte im Blut, weshalb auch Vegetarier oder Menschen, die aus anderen unerfindlichen Gründen Schweinfleisch meiden nicht vor Schäden gefeit sind. Zudem wirkt der Gehalt an mehrfach ungesättigten Fettsäuren des Schweinefetts auch noch cholesterinsenkend! Forscher des Instituts für Ernährung und Stoffwechselerkrankungen in Laßnitzhöhe (Stmk.) führten klinische Studie durch, in der Probanden sechs Wochen lang eine Diät mit hohem Schweinefleischanteil einzuhalten hatten. Dabei zeigte sich zusammengefasst, dass Schweinfleisch entgegen mannigfacher Behauptung nachweislich für diätetische Zwecke geeignet, sogar zu empfehlen ist! Der regelmäßige Konsum von Schweinefleisch hatte nicht nur auf die Blutfette
und Cholesterinwerte sondern auch auf wichtige Mineralstoffe, Spurenelemente und Fettsäuren eine positive Wirkung. Nicht ganz gendergerecht ist übrigens die unterschiedliche Wirkung auf Männer und Frauen. Bei Frauen mit normalem Cholesterin konnte keine signifikante Veränderung des Gesamtcholesterin, jedoch ein positiver Einfluss auf das Verhältnis von LDL- zu HDL-Cholesterin festgestellt werden. Bei Männern hingegen bewirkte die Schweinefleischdiät eine nachweisliche Senkung des Gesamtcholesterins um 5,4% eine Senkung des LDL- Cholesterins um 15,8%. Zusätzlich konnte geschlechtsunabhängig eine signifikante Verbesserung der gesundheitlichen Parameter, die im Laufe der Studie ebenfalls regelmäßig überprüft wurden (Blutbild, Leber- und Nierenfunktionsparameter etc.) festgestellt werden. [3] Will er sich also eine Jause ohne schlechtem Gewissen gönnen, so lasse der Ernährungsbewusste den griechischen Bauernsalat mit Olivenöl den Griechen und greife zu einem dick bestrichenen Schmalzbrot mit Zwiebel und einem Krügel Bier! Literatur: 1:HARGROVE JL: „History of the calorie in nutrition“. Journal of Nutrition Nr.136, S.2957-2961 2006 2: WEILER, HOFÄCKER: „Schweinefett – Bedeutung für Genuß und Gesundheitswert“, Universität Hohenheim und Laborärztliche Gemeinschaftspraxis Ludwigsburg, 2006 3: Lindschinger, M., Klein, A., Nadlinger, K. & Spath- Dreyer, I. (o.D.). „Evaluierung des Einflusses von regelmäßigem Verzehr von Schweinefleisch auf den Gesamt-Cholesterinspiegel, auf HDL- Cholesterin, LDL-Cholesterin, oxidiertes Cholesterin, Triglyceride.“ o.D.
„Hoffen bringt niemanden um“ (Sprichwort aus dem Kongo) DR Kongo- ein Land kommt nicht zur Ruhe von Petra Mittelbach In einem der ältesten Nationalparks Afrikas, dem Virunga Nationalpark im Osten der DR Kongo befindet sich, unweit der Stadt Goma (Hauptstadt von Nord-Kivu) der 3.470 Meter hohe Vulkan Nyiragongo. Jedes Jahr zieht es einige hundert Touristen aus aller Welt in den Virunga NP, um einerseits die seltenen Berggorillas zu bestaunen und andererseits den Nyiragongo zu besteigen und auch, um einen Blick auf den im inneren brodelnden Lava-See zu werfen, der ca 200 Meter im Durchmesser hat. Mich haben Reiseberichte aus dem Virunga NP fasziniert und daher habe ich bereits 2019 eine Tour in den Virunga NP gebucht. Corona bedingt musste ich diese Tour jedoch auf Februar 2022 verschieben. Die Wanderungen hinauf gelten als sicher und werden flankiert von gut bewaffneten Rangern und Einheimischen, die sich als Träger des Gepäcks dringend benötigtes Einkommen verschaffen. Am Abend des 22.Mai kurz nach 20 Uhr kamen die ersten Schreckensnachrichten, als die kongolesische Naturschutzbehörde ICCN über die sozialen Netzwerke verkündete, dass dem Vulkan glühende Lichter entweichen und sich in Goma, einer Millionenstadt am Kivu See und nur wenige Kilometer vom Vulkan entfernt Schwefelgeruch ausbreitet. Kurz danach brach durch einen Spalt an der Ostseite des Vulkans Lava aus, die Richtung Virunga NP floss. Danny, mein Kontakt in Goma schickte mir die Nachricht, dass die Situation sehr ernst ist. Nachdem sich später an der Westseite ein weiterer Spalt am Krater öffnete und die Lava direkt Richtung Goma floss gaben die Behörden die Weisung zur Evakuierung der Stadt. Tausende Menschen machten sich auf, um sich in Ruanda, das in der Nacht noch die Grenzen öffnete- in Sicherheit zu bringen, kehrten aber am nächsten Tag zurück, nachdem der Lavastrom wenige hundert Meter vor der Landebahn des Flughafens stoppte. Diesmal ging es für den Flughafen Goma glimpflich aus. Als der Nyiragongo Vulkan 2002 ausbrach verschüttete die Lava die Hälfte der 3,5 km langen Start- und Landebahn des Flughafens und verfehlte die Kerosin Tanks nur um wenige Meter. Die Menschen schrieben das Glück im Unglück dem lieben Gott zu.
Die Halbierung einer Flugpiste kann einen Kongolesen nicht erschüttern. Der strategisch wichtige Flughafen blieb mit halber Landebahn in Betrieb. Passagiere schlängelten sich nun in Minibussen an meterhohen Lavabergen vorbei, wenn sie zur Maschine wollten. Von den jeweiligen Piloten wurden Meisterleistungen verlangt, damit sie möglichst steil über den 6 Meter hohen erkalteten Lavahaufen gen Himmel abheben konnten statt im Markt von Goma unterhalb der Startbahn zu landen. Dort ist bereits ein Flugzeugfriedhof mit unzähligen anderen Trümmern der Maschinen, deren Piloten nicht so geschickt waren, mit der Maschine abzuheben. Auf den Wracks turnen Kinder, Ziegen dösen im Schatten und Frauen der in Goma stationierten Blauhelme hängen dort ihre Wäsche auf. Im Auftrag der Welthungerhilfe und internationalen Hilfsgeldern wurde die Piste von 2009-2015 von 2.000 Metern auf wieder 2.665 Meter verlängert, wozu 330.000 Kubikmeter Lavagestein, dass sich bis zu 5 Meter hoch türmte abgetragen werden musste. Die Anflüge nach Goma sind trotzdem abenteuerlich, denn die Maschinen können nur vom Süden her landen, weil im Norden der Vulkan ist. Daher düsen die Flieger knapp über die Hausdächer von Goma. Während Passagiere, die zum ersten mal in Goma landen Panik bekommen, laufen die Kinder Gomas ob des Spektakels auf die Straße und winken, einige Frauen nennen ihre Kinder nach Flugzeugtypen. Der Name Douglas ist beliebt. Der Flughafen wird hauptsächlich von der UN- Blauhelmmission MONUSCO (Mission zur Stabilisierung des Kongo, einer der größten friedenssichernden Einsätze der vereinten Nationen) als Militärbasis genutzt und der kongolesischen Armee FARDC dient er als Waffenlager. MONUSCO hat den Flughafen mit einer 3
Meter hohen und 8 km langen mit Stacheldraht bewehrten Mauer gesichert. Warum sich die UNO aber nicht an der Instandsetzung der Piste beteiligt hat, sondern das der Welthungerhilfe überließ versteht bis heute niemand. Der diesjährige Ausbruch des Nyiragongo ließ das Schlimmste befürchten, denn tagelang nach dem Ausbruch gab es im Stadtgebiet von Goma Seismizitäten und Bodenverformungen, die darauf schließen ließen, dass das Magma aus dem Vulkan sich unter der Stadt verteilt hat mit der Gefahr, jederzeit auszubrechen oder den Kivu See zu erreichen. In den Tiefen unterhalb von 250 Metern des 2.700 km2 großen Kivu Sees befinden sich 225 km3 Kohlenstoffdioxid, 75 km3 Methan und Schwefelwasserstoff, was als tickende Zeitbombe gilt. Sollte dieses Gas, durch ein Beben oder Vulkanausbruch entweichen, würde das den Supergau der Region bedeuten. Denn sämtlicher Sauerstoff würde dadurch der Luft entzogen werden und alle Lebewesen rund um den See würden sofort ersticken. Die Gase kämen sprudelnd an die Oberfläche, so als hätte man soeben eine Sektflasche geöffnet. Ähnliches ist 1986 am Nyos-See in Kamerun erfolgt. Damals starben 1.800 Menschen. Wegen der Befürchtung der Destabilisierung des Gases durch die unterirdische Lava (limnischer Ausbruch im Jargon der Spezialisten) ließ die Regierung wenige Tage nach dem Ausbruch vierhunderttausend Menschen evakuieren, was einer humanitären Katastrophe gleichkam. Viele Menschen waren zu Fuß unterwegs, mussten unter freiem Himmel, ohne Wasser und Nahrung kampieren, da die Aufnahmemöglichkeiten in den Nachbarstädten nicht auf die vielen Menschen vorbereitet waren. Vom ersten Tag dieses Exodus an waren Agenturen, Fonds und Programme der MONUSCO mobilisiert, um die Menschen mit dem nötigsten, vor allem mit Wasser, zu versorgen, auch das Welternährungsprogramm hat mit Verteilungen begonnen. Zum Glück konnten mittlerweile einige Menschen wieder geordnet zurückkehren. Der Flughafen von Goma wurde wieder geöffnet und die Menschen versuchen, im Chaos, den der Ausbruch hinterlassen hat zum Alltag zurück zu finden. Die Regierung ließ den 12. Juni zum Nationalen Tag der Solidarität mit Goma ausrufen, worüber ein katholischer Pater aus Goma schimpfend argumentierte, dass die Herren aus Kinshasa Geld sammeln, um sich Spesen und Luxushotels in Goma zu leisten. Sie werden mit Kameras kommen, um sich beim Verteilen von ein paar Säcken Reis filmen zu lassen. Um vieles kümmert sich niemand. Die tagelangen Erdbeben ruinierten die Kleintierzüchter, da ihre Erzeugnisse, z.Bsp. Eier, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten kaputt gingen und verfaulten. Auch kam es im Zuge der Vulkankrise zu einer Häufung von Fehlgeburten, Schlaganfällen, Angstzuständen, Konflikten um Grundbesitz. Viele Menschen leben vom Kaffeeanbau, die Ernte findet derzeit statt, es gibt Probleme bei der Verarbeitung, Fermentierung und Trocknung der Ernte, was sich auf die Qualität des Kaffees auswirkt und den Preis senkt. Schwierig ist es für die Menschen, deren ganzes Gab und Gut samt Nutztieren zur Eigenversorgung von der Lava verschluckt wurde. Laut Regierungsbericht gab es zwar nur 30 Todesopfer, allerdings
wurden mehr als 3.000 Häuser, darunter 6 Schulen, unter einem mehrere Kilometer großen Lavateppich vernichtet. Ca 8.200 Menschen verloren durch den diesjährigen Vulkanausbruch ihr Zuhause. Mangels bisher fehlender Städtepolitik steht derzeit zur Entscheidung, ob Wiederaufbau oder Verlegung des betroffenen Stadtteils ins 12 Kilometer entfernte Sake. Es sind schwierige Entscheidungen zur künftigen Landnutzung in Goma, einer Stadt, eingeklemmt zwischen dem Kivu- See, der ruandischen Grenze, dem Vulkan und dem Virunga- Nationalpark. Mit Platz für offiziell 600.000 Menschen und einer tatsächlichen Bevölkerung in Höhe von 1,6 Millionen. Unterstützt von der Weltbank soll nun ein Städtebauplan und ein Aktionsplan erstellt werden. So furchteinflößend der Nyiragongo für die Menschen von Goma ist, so fasziniert sind Vulkanologen. Haroun Tazieff erklärte bereits 1963: Jede Nacht, wenn er in den Himmel schaute, sah er über der schwarzen Silhouette des Nyiragongo ein kontinuierliches Leuchten, und dass sich am Grund des Vulkans etwas Unbekanntes befand. Dieses Leuchten hatte Jahrzehnte vorher begonnen und keiner wusste, woran es lag. Erst als sich Tazieff dem Krater näherte stellte er fest, dass im Vulkan, 500 Meter unter dem Kraterrand, flüssige Lava vor sich hin brodelt, es steigen Blasen auf und es knistert. Die Lava ist in Ihrer extrem dünnflüssigen Konsistenz etwas Besonderes, sagt der italienische Professor für Vulkanologie Dario Tedesco, der sich derzeit in Goma aufhält. Es gibt keine ähnliche Lava auf dem ganzen Planeten. Die Lava erreicht eine Fließfähigkeit von bis zu 100 km pro Stunde, wenn sie den Hang herabrast, wodurch sie so gefährlich ist. Im Nyiragongo herrschen permanente Eruptionen der Lava, einem Hexenkessel gleich, ein Phänomen, welches den Vulkan so einzigartig, aber auch so unberechenbar macht. Denn dadurch gibt es, anders als bei erloschen Vulkanen so gut wie keine Hinweise, ob und wann der Vulkan ausbricht. Früher befand sich am Krater eine Forschungsstation, welche aber von Rebellen zerstört wurde. Einige Ranger des Virunga NP sind wechselnd auf dem Vulkan und passen auf die wenigen Touristen und Forscherteams , die einen Blick in den Höllen- schlund werfen, auf. Die vier Touristen, welche während des Ausbruchs die Nacht oberhalb des Nyiragongo auf dem Kraterrand verbrachten sind wohlauf und wurden unter der Fürsorge der Parkverwaltung in Sicherheit gebracht. Weitaus prägender als die Folgen von Vulkanausbrüchen ist die leidvolle Geschichte des Kongo für Millionen von Kongolesen, die bisher jegliches Leid erfahren mussten. Unter dem Joch des belgischen Königs Leopold II. und in der Folge des belgischen Protektorats bis zur Unabhängigkeit 1960 wurden unter den Augen der Welt unglaubliche Grausamkeiten an der Bevölkerung des Kongo begangen. Wer sich in die Abgründe der leidvollen Geschichte des Kongo vertieft, kommt nicht umhin, in Belgien auf Spurensuche zu gehen. Das von Leopoldt II 1898 erbaute ehemalige Kolonialmuseum in Tervuren, einem kleinen Vorort von Brüssel diente dem Zweck, ein Bild vom tapferen Europäer zu vermitteln, der die Zivilisierung in die Wildnis brachte. Es beherbergt heute das Musee Royal de l'Africque Central mit einer atemberaubenden Sammlung kunsthistorischen Diebesgutes aus der ehemaligen Kolonie (80% des afrikanischen Kulturerbes befindet sich noch immer in Europa). Auf Gedenk-Tafeln wird an die 1500 Belgier erinnert, die starben. Leider kein Wort des Bedauerns über die Millionen getöteter
Kongolesen. Auch keine Aussage dazu, dass Leopoldt II rund 300 Kongolesen, nahezu nackt, im Zoo vorführen ließ. Viele dieser Menschen erlagen später im kalten Winter einer Lungenentzündung. Die Geschichte des Kongo ist seit jeher eng mit seinem Kampf um seine unermesslichen Rohstoff- reserven verknüpft und setzt sich auf dramatische Weise bis heute fort. Am Anfang war es Leopold II, der ab 1885 den Kautschuk und das Elfenbein im Kongo mit äußerster Brutalität ausbeutete und jedem, der nicht genug lieferte, die Hände abhacken ließ. Später dann waren es die Rohstoffe des sogenannten Kupfergürtels und die Minen der Provinz Katanga. Diese Begehrlichkeiten sind auch Patrice Lumumba, der den Kongo 1960 in die Unabhängig- keit führte, zum Verhängnis geworden. Lumumbas geschichts- trächtige Rede am Tag der Unabhängigkeit am 30.Juni 1960, in der er mit den Belgiern abrechnete und ankündigte, der hemmungslosen Ausbeutung der Rohstoffe seines Landes ein Ende bereiten zu wollen war gleichzeitig sein Todesurteil. Ein Ende der Ausbeutung der Bodenschätze des Kongo war ein Schreckensszenario für die ehemalige Kolonialmacht, die Bergbauunion und die Konzessionäre. Moise Tsombe, westlich orientierter Politiker und Verbündeter der belgischen Minengesellschaft betrieb die Sezession der rohstoffreichen Provinz Katanga und verteidigte die Minen mit mehr als tausend Söldnern gegen Lumumba. Dieser war die UN- Truppen
überdrüssig und bat Moskau um Hilfe. Daraufhin griffen die Belgier mit amerikanischer Hilfe ein und putschten Mobuto, Staatschef der alten kongolesischen Armee, an die Macht. Lumumba, dem ein Hang zum Kommunismus in Zeiten des kalten Krieges nachgesagt wurde, wurde nach Katanga deportiert und am 17. Januar 1961 von belgischen Agenten und des amerikanischen Geheim- dienstes ermordet. Im Zuge der weiteren Auseinandersetzungen gewann Mobuto die Oberhand und zwang Tsombe ins Exil. Zurück blieb eine bunt gemischte Truppe von Tsombes Söldnern, darunter der berühmt berüchtigte Deutsche Siegfried Müller, auch bekannt als Kongo-Müller, dessen Jeep ein Totenkopf zierte. (Bekenntnisse eines Mörders) Mit äußerster Brutalität rangen Tsombes Söldner den Aufstand der Simba (Gefolgsleute Lumumbas) nieder und galten wegen ihrer ungehemmten Mordlust als weiße Riesen oder Les Affreux (die Schrecklichen), die später den Osten rund um Bukavu zur unabhängigen Söldnerrepublik erklärten. Sie mussten sich aber der zehnfachen Macht der Streitkräfte Mobutos geschlagen geben und flüchteten nach Ruanda. Mobuto Sese Seko, Markenzeichen eine Mütze aus Leopardenfell, war ab 1965 anschließend 32 Jahre an der Macht und ließ den Kongo in Zaire umbenennen. USA und Belgien als Abnehmer der enormen Bodenschätze unterstützten Mobuto weiterhin. Mobuto und sein weit verzweigter Familienclan bedienten sich ungehemmt an den Reichtümern seines Landes. Mobuto stand an der Spitze der wohl korruptesten Machteliten der Welt. Es wurde berichtet, dass Mobuto beim Kauf einer Villa an der französischen Reviera sofort den Preis in Höhe von 5 Millionen akzeptierte und erst später nachfragte, ob es sich um belgische Francs oder um USD, die damals vierzigmal soviel wert waren, handelte. Durch Verstaatlichung und Enteignung zugunsten seines Clans kam es zum Rückgang der Produktivität im Land. Mit Ende des Ostblocks wurde Mobutos Regime für den Westen als Bollwerk gegen den Kommunismus in Afrika nicht mehr interessant. Mindestens 150 Milliarden zahlte der CIA an Mobuto und seine Entourage. Das Land hatte Milliarden Dollar Staatsschulden angehäuft. 1991 nach dem Ende des kalten Krieges ging es mit dem Mobuto-Regime langsam dem Ende entgegen. Die kongolesische Armee, bewusst unterfinanziert und in desolatem Zustand gehalten, meuterte. Es kam zu millionenfachen Massen- protesten, die Inflationsrate stieg auf 1000 %. Der Mobuto-Clan und der im Volksmund König der Diebe genannte Mobuto wurde von einer mehrere tausend Mann starken Präsidialgarde vorm eigenen Volk beschützt. Während des Genozids 1994 in Ruanda flohen Millionen von Hutu, darunter viele Mörder, mit dem geraubten Gut der Ermordeten in den Ostkongo. Zeitweilig sollen 2- 3 Millionen Hutu im Grenzgebiet gelebt haben. Dort bedrohten viele von Ihnen die dort seit dem 18. Jahrhundert in der Gegend von Mulenge lebenden Tutsi-Viehzüchter.
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