CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel
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Thomas Richter CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert Bausteine zur Biographie MICHAEL IMHOF VERLAG
Inhaltsverzeichnis 6 Zum Geleit Klaus Herzog, Carl-Heinz Heuer 7 Vorwort Thomas Richter 237 III In der Diktatur. 1933–1945 9 I Prägung und Suche. 1894–1927 237 III.1 Entscheidungen. 1933 9 I.1 Gründer, Brauer und Juristen – 256 III.2 Dr. Johannes Ludwig Schmitt Jugend in der ›Prinzregentenzeit‹ 267 III.3 Im offiziellen Kunstbetrieb 18 I.2 Wege des Künstlers 279 III.4 Innere Emigration? 36 I.3 Die Schweizer Jahre 292 III.5 Erfolge – Aufträge, Projekte. 1939–1942 71 I.4 Intermezzi – München, Italien und zurück 306 III.6 Die Schauspielerin Bettina Mittelstädt 86 I.5 Eine Frau, ein Kind, eine Existenz? 320 III.7 Alte Meister und Ruinen – Aschaffenburg. 1942 98 I.6 Kunst und Kunstmarketing 104 I.7 Die Wiener Jahre. 1925–1928 130 I.8 Abtrennungen – Schad und Serner 335 IV Im Nachkriegsdeutschland. 1947–1964 139 II Leben im Zentrum der Epoche – 335 IV.1 Das Spruchkammerverfahren 1947 Berlin. 1928–1942 345 IV.2 Bewältigungen 353 IV.3 Zusammenbruch und okkulte Riten 139 II.1 Schauplatz Berlin! 360 IV.4 Kein Anschluss – Christian Schad und 145 II.2 Marktgeschehen die Nachkriegsmoderne 155 II.3 Frauenbilder 379 IV.5 Intellektuelle Refugien 159 II.4 Politisches? 166 II.5 Der Salon der Frau Dr. Haustein 174 II.6 Neue Sachlichkeit 385 V Später Durchbruch. 1964–1982 183 II.7 Erotisches und Anderes 193 II.8 Facetten – männliche und 385 V.1 Ausstellungen und das Wiederaufgreifen weibliche Homosexualität der Schadographie 205 II.9 Typisierungen des Weiblichen 397 V.2 Das Politische – am Ende doch? 211 II.10 Schads Berliner Okkultismus 407 V.3 Selbstmusealisierung – Rückgriffe auf 220 II.11 Völkische Esoterik die 1920er Jahre 229 II.12 Ambitionen 412 V.4 »Christian Schad ist eine tantrische Gottheit« – Händler, Sammler, Forscher, Promotoren 420 V.5 Christian Schad – eine ›erzählte‹ Künstlerpersönlichkeit 429 Anhang 430 Archive 431 Abgekürzt zitierte Literatur 462 Register 474 Abbildungsnachweis 5
Zum Geleit Vorwort Das Leben mit ihm und für ihn war und ist mein Lebensinhalt. Es war ein Genuss, mit ihm zu leben […]. Wir haben uns gut ergänzt. Ich war abgehärteter als er. Was ich am Theater gesucht hatte, die totale Vereinigung von Seele, Geist und Körper, habe ich in ihm gefunden. C hristian Schad, der Dadaist, der Schöpfer der Schadographie, der Meister der Neuen Sach- lichkeit – das sind die Kategorien, die man mit die- Fachdisziplinen außerhalb der Kunstwissenschaft. Dem Autor ist bewusst, dass das Eindringen in fremde Terrains, etwa der Zeit- und Sozialgeschichte, der Phi- Bettina Schad im Interview mit der Aschaffenburger Tageszeitung »Main-Echo«, 12. Juli 2001 sem Künstler heute allgemein verbindet. In zahlrei- losophie oder des Gebiets neureligiöser Strömungen, chen Ausstellungen und Publikationen der letzten Gefahren in sich birgt. Die im Text vorgebrachten vier Jahrzehnte wiederholt, fügt die hier erstmals Exkurse sind daher nicht als Kommentare zu aktuell B ettina Schad (1921–2002), die der Stadt Aschaf- fenburg im Jahr 2000 den Nachlass ihres Man- nes zum Geschenk machte, war eine außergewöhn- Aschaffenburg hat sich die Erforschung des Werkes von Christian Schad und dessen Vermittlung zur Aufgabe gemacht. Zum Vermögen der Stiftung gehören mehr umfassend erfolgte Auswertung des in Aschaffenburg erhaltenen schriftlichen Nachlasses diesem Bild neue, ergänzende Erkenntnisse hinzu. Diese führen gestellten Forschungsfragen gedacht. Vielmehr steht auch hier das interdisziplinäre Angebot im Vorder- grund. Der Leser wird somit nicht auf alle aufgewor- liche und beeindruckende Persönlichkeit. Mit Ener- als 3.200 Werke ebenso wie der gesamte private Nach- den Künstler in den Jahrzehnten zwischen Erstem fenen Fragen letztgültige Antworten finden. Mein gie, Charme und eleganter Nachdrücklichkeit ver- lass einschließlich der Bibliothek des Künstlers. Ihr Auf- Weltkrieg und den frühen 1980er Jahren in seinem Dank geht vor allem an die Lektorin des Buches, folgte sie ihr Ziel, dem weltweit anerkannten Künst- trag, dieses kulturelle Erbe der Öffentlichkeit zugänglich privaten, öffentlichen und professionellen Umfeld Dr. Wanda Löwe, Berlin, die mit Klarheit und der nö- ler Christian Schad in seiner Wahlheimat ein blei- zu machen, wird durch die seit 2008 erfolgende He- deutlicher als bisher als Handelnden in gesellschaft- tigen Unerbittlichkeit über unseren gemeinsamen bendes Denkmal zu setzen. Gern haben wir sie auf rausgabe der Werkverzeichnisse und nun durch die Er- lichen Zusammenhängen vor Augen. Anspruch auf Transparenz und Objektivität wachte. diesem Weg begleitet und unterstützt. Wir gedenken öffnung des Christian Schad Museums erfüllt. Jeder Versuch einer vergleichenden Parallelführung Im Laufe der Vorbereitungen gingen Sichtung und In- ihrer heute, da das ihrem Mann gewidmete Museum Wir danken allen für das Projekt politisch Handelnden von künstlerischem Werk und gesellschaftlichem ventarisierung des Archivbestands Hand in Hand. Neue Wirklichkeit geworden ist, in Dankbarkeit. auf kommunaler wie staatlicher Ebene sowie den öf- Umfeld kann stets nur als Annäherung verstanden Funde und zusätzliche Informationen wurden unter Christian Schad und Aschaffenburg. Im Herbst 1942 fentlichen und privaten Förderern und Unterstützern, werden. Zudem sei nicht verschwiegen, dass dieses anderem in Archiven in Berlin und München getätigt. kam der Künstler für einen Porträtauftrag in die da- ohne deren weitsichtiges Zusammenspiel und Enga- methodische Unterfangen dem Bestreben des Künst- Sie festigten und korrigierten das Bild. Ich bin Anja Lip- mals etwa 45.000 Einwohner zählende Stadt am Un- gement die Umsetzung nicht möglich gewesen wäre. lers und der Stifterin seines Nachlasses, Bettina Schad, pert M.A. für die Bändigung der Materialflut sowie Dr. termain. Er fasste hier schnell Fuß. Aus Bekanntschaf- Stellvertretend hervorgehoben seien der Bezirk Unter- gewissermaßen zuwiderläuft. Beide haben über Jahr- Bettina Keß, Würzburg, für die externen Recherchen ten wurden Freundschaften, und schon im folgenden franken, Bezirkstagspräsident Erwin Dotzel, Prof. Dr. zehnte sehr viel Kraft darauf verwendet, die stringente zu besonderem Dank verpflichtet. Sorgfältige Recher- Jahr traf er die Entscheidung, die von Krieg und Zer- Klaus Reder, die Bayerische Landesstiftung, Abgeord- Erzählung vom voraussetzungslosen ›Epochenkünst- chen bezogen auf das Inventar und die Bildredaktion störung verwüstete Hauptstadt Berlin zu verlassen neter Peter Winter, MdL, sowie die Landesstelle für die ler Christian Schad‹ zu formen und zu verbreiten. Ei- verdanke ich Christine Fröhlich, Anna-Sophie Karl und und sich ganz in der noch ruhig und abseits des Ge- nichtstaatlichen Museen in Bayern, namentlich Dr. ne kritischere Öffentlichkeit und der Fortschritt in- Carolin Remlein. Hinweise steuerten Dr. Alexandra von schehens gelegenen Provinz niederzulassen: »Es ist Astrid Pellengahr und Dr. Stefan Kley. Von Beginn an terdisziplinärer Ansätze in der Kunstwissenschaft for- dem Knesebeck, Bonn, und Dr. Nicole Brandmüller- schon viel angenehmer in einer kleinen Stadt zu le- machten sich der Verwalter der Stiftung, Kulturamts- dern und ermöglichen heute indes einen differen- Pfeil, Schnaitach, bei. Die Gestaltung lag bei Anna Wess ben, besonders in der jetzigen Zeit. […] In Deutsch- leiter Burkard Fleckenstein, und der Direktor der Mu- zierteren Blick. Das Aschaffenburger Archiv bietet da- im Michael Imhof Verlag in guten Händen. land ist es auch gerade umgekehrt, wie in Frankreich. seen, Dr. Thomas Richter, um das Projekt in besonde- zu Grundlagen, ohne dass deren Darstellung den An- Mein Dank gilt allen Verantwortlichen in Politik und Hier wird Kultur in der Provinz gemacht, dort in Paris rem Maße verdient. Ihnen wie auch dem Baureferen- spruch einer abschließenden Bewertung erheben Verwaltung der Stadt Aschaffenburg, die dieses Projekt und die Provinz hat kaum etwas zu sagen. Berlin ist ten Jürgen Herzing und Bauamtsleiter Walter Hart- könnte. Ziel ist es vielmehr, zukünftiger Forschung von Beginn an positiv begleitet und die Ergebnisse kein produktives Pflaster: Sand, Sand! Ich arbeite hier mann sowie den Beiräten der Stiftung, Dr. Heinrich verwertbare Informationen an die Hand zu geben der wissenschaftlichen Bearbeitung ermöglicht haben. leicht und unbeschwert, was in Berlin nicht so ein- Binder und Dr. Stephan Schiller, gilt unser nachdrück- und dem interessierten Museumsbesucher eine ver- Ohne die öffentlichen und privaten Förderer, die die fach ist« (Christian Schad, Brief an Bettina Mittelstädt, licher Dank. Schließlich gebührt dieser dem Architek- tiefte Beschäftigung mit diesem Thema anzubieten. Finanzierung des neuen Museums zu einem großen 13. April 1943). Wie viele ahnte der Künstler nicht, ten des Museums, Walter Böhm, Dettelbach/Iphofen. Als Textgrundlage und ›Storyboard‹ zur ersten Dauer- Anteil ermöglichten, wäre der Wunsch Bettina Schads, dass gegen Ende des Krieges auch Aschaffenburg zum Ihm ist im Aschaffenburger Jesuitenkolleg eine über- ausstellung angelegt, tragen Gliederung und Argumen- dieses Haus zu errichten, ein Traum geblieben. Ort größter Zerstörungen werden sollte. zeugende architektonische Struktur innerhalb der tation des Buches daher noch deutlich die Züge einer Schließlich gilt meinem hoch engagierten Museums- Nach dem Krieg stieß seine Partnerin Bettina Mittelstädt limitierenden Vorgaben eines historischen Ensembles Materialsammlung. Im zweiten Band werden erstmals team mein herzlicher Dank – dieses neue Museum zu ihm, und beide heirateten im Jahr 1947. Im selben gelungen, die zukünftig die Menschen in der Stadt eigene Texte Christian Schads als Auswahl aus dessen ist mit Kreativität und hohem persönlichem Einsatz Jahr wurde Schads Kopie der Stuppacher Madonna Mat- wie deren Gäste von nah und fern begeistern wird. umfangreichem literarischem Schaffen vorgestellt. Hin- aller geplant und eingerichtet worden. Unermüdlich thias Grünewalds feierlich der Stadt übergeben. Das zu kommt die vollständige Herausgabe seiner »Bildle- im Entstehungsprozess für die musealen Belange Werk zählt heute zu den großen Sehenswürdigkeiten Klaus Herzog genden«, die zu Lebzeiten des Künstlers nicht zustande ringend, seien stellvertretend Martin Höpfner und der Aschaffenburger Stiftskirche. Das Ehepaar plante Oberbürgermeister und Kulturreferent kam. Mein Dank für die aufwändige editorische Vor- Sabine Denecke genannt. Dieses Buch und vieles zunächst nur für wenige Monate voraus. Doch aus dem der Stadt Aschaffenburg arbeit gilt Elisabetta Lecchi M.A., Brescia/Würzburg. andere wäre ohne den entschlossenen Einsatz Anja Provisorium und der Zuflucht wurden Jahrzehnte eines Schads Zeitzeugenschaft zentraler Epochen der deut- Lipperts M.A. nicht möglich gewesen. glücklichen und produktiven Aufenthalts. Prof. Dr. Carl-Heinz Heuer schen Geschichte, seine ausgreifenden, im weitesten Die im Jahr 2000 von Bettina Schad gegründete nicht- für den Beirat der Christian-Schad-Stiftung Sinne geistesgeschichtlich orientierten Interessen brin- selbstständige Stiftung in der Verwaltung der Stadt Aschaffenburg gen die Betrachtung in Berührung mit zahlreichen Thomas Richter 6 7
I Prägung und Suche. 1894–1927 I.1 Gründer, Brauer und Juristen – Jugend in der ›Prinzregentenzeit‹ C hristian Ernst Karl Schad kam am 21. August 1894 auf der Waldecker Höhe in dem über der oberbayerischen Stadt Miesbach gelegenen Anwesen dete Unternehmen seiner Frau durch deren Geschick und Tatkraft zur bedeutendsten Brauerei Südbayerns und zum größten Betrieb dieser Art außerhalb der Re- seiner Großeltern zur Welt. Marie Schads (1871–1954) Vertrauen in den Hausarzt der Familie hatte den Ge- burtsort ihres ersten Kindes bestimmt. Das Jahr über lebte die junge Frau mit ihrem Ehemann, dem re- nommierten Notar Dr. Carl Schad (1866–1940), in München. Er, ein in Nürnberg geborener Protestant, sie, die in der Region verwurzelte Katholikin, ließen das Kind am 30. September 1894 römisch-katholisch taufen. Schriftliche Vereinbarungen regelten unter 2 Carl Schad mit seinem Sohn, beiden die Aspekte religiöser Erziehung.1 Christian um 1900, CSSA 3524/2017b wuchs in den folgenden Jahren gemeinsam mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Margarethe (1896– 1981) in vermögenden Verhältnissen auf, verlebte ei- ne glückliche, von Kindermädchen umsorgte Kind- heit und Jugend im Kreis einer musischen Belangen gegenüber aufgeschlossenen Familie.2 Marie Schads Vater Carl Anton Fohr (1834–1889) stammte aus einer Mannheimer Hoteliersfamilie. Er war zunächst als Bergingenieur im Rheinland tätig gewesen und stieg später zum Generaldirektor der Oberbayerischen Aktiengesellschaft für Kohlenberg- bau auf, deren Betriebsstätten in und um Miesbach in dieser Zeit gut 1.200 Menschen beschäftigten. Als tatkräftiger Gründer unter anderem mit dem bayeri- 3 Christian Schad und seine schen Technikpionier Oskar von Miller (1855–1934) Schwester Margarethe, um 1900, befreundet, war Fohr am 16. September 1882 an der CSSA 3524/2017 weltweit ersten Kraftstromübertragung zwischen dem ▶▶ 4 Christian Schads Geburts- Bergwerk Miesbach und dem Münchner Glaspalast haus, die Villa Fohr in Miesbach, beteiligt.3 Fohr war seit 1866 mit Susanna Aloisia um 1910, CSSA 613/2010 Waitzinger (1844–1901) verheiratet, die aus einer be- ▶▶ 5 Marie Schad mit ihrem güterten Miesbacher Brauereidynastie stammte. Nach Sohn, 1894, CSSA 611/2010 Fohrs Tod entwickelte sich das bereits 1816 gegrün- 1 Es existieren drei Verträge über religiöse Kindererziehung bensabend in Kreuth am Tegernsee, Stadtarchiv Miesbach, ◀◀ 1 Christian Schad, v. »März 1893«, 09.07.1894, 02.09.1895, CSSA 1845/2017. schriftl. Auskunft v. 14.10.2015, vgl. Keß 2016, S. 5. 2 Sie heiratete später den in Augsburg niedergelassenen Notar 3 Maier [G.] 1997, S. 7f., 10, 14; Konvolute von Unterlagen Die Münchner Frauenkirche Kurt Karl Edler von Weidenbach (1884–1960). Der Ehe ent- zur Familienforschung: 1905–1968, CSSA 596/2013, und im Gegenlicht, um 1910, stammten die Kinder Elisabeth und Wolff von Weiden- 1934–1938, CSSA 596.3/2013. CSSA 3506/2017 bach. Margarethe von Weidenbach verbrachte ihren Le- 9
I PRÄGUNG UND SUCHE. 1894–1927 I.3 DIE SCHWEIZER JAHRE ◀◀ 90 Christian Schad, ▶ 92 Christian Schad, Boui-Boui, Holzschnitt, Avant le ballet, Holzschnitt, 1915, CSSA 794.3/2009 1916, CSSA 796.1/2009 ◀ 91 Christian Schad, ▶▶ 93 Christian Schad, Apachencafé, Holzschnitt, Marietta, Öl/Lw., 1916, 1916, CSSA 807/2009 CSSA 79/2003 Café des Banques« in der Bahnhofstraße 70, das sich Marietta! die im Medium des Holzschnitts und einiger weniger hen, nun aber erfolgte die Annäherung an das Innere 180 in einem repräsentativen, 1902/03 von den Architek- Marietta! Lithographien wie »Passions« oder »L’Ennui« er- quasi en face, mit direktem, unbestechlichem Blick ten Otto Pfleghard (1869–1958) und Max Haefeli sen. probte expressive Formensprache in die Malerei und auf das Gegenüber. Schad erinnerte sich später an 174 Marietta!177 (1869–1941) erbauten Gebäude befand. Hier wie verließ zugleich den Boden religiöser Themen und diese Zeit und seine künstlerischen Absichten: »Ich andernorts fand Schad Anregungen und verarbeitete In diese Zeit fiel die Begegnung der beiden reservier- alltäglicher urbaner Beobachtungen. Er wandte sich wollte das Sichtbare so überdeutlich machen, daß da- alltägliche Eindrücke. So bildete etwa das täglich dort ten Bohemiens mit der Diseuse Marietta, »für deren nun mehr und mehr dem Thema des Porträts zu, das durch die Rätselhaftigkeit des Seins offensichtlicher aufspielende Salonorchester die Vorlage für einen Reiz und Wesen«, wie Schad bemerkt, »wir beide et- für sein zukünftiges Werk tonangebend bleiben sollte: werde und die Oberfläche fragwürdiger.«182 Das in Holzschnitt im ersten Heft des »Sirius«. Aber auch die was übrig hatten«.178 Marietta oder Marietta di Mo- die Schilderung des menschlichen Gegenübers im Angriff genommene Porträt der Künstlerin »Marietta« Kaschemmen der Stadt fanden Eingang in die Bildwelt naco, bürgerlich Marie Kirndörfer (1893–1981), hatte Spannungsverhältnis seiner menschlichen Höhen diente ihm 1916 als ein erstes Experimentierfeld sei- des jungen Künstlers, etwa in den Szenen »Café de in München als Künstlermodell begonnen und war und Abgründe. ner Gestaltungsabsichten. Daneben verband alle drei nuit« oder »Apachencafé«, benannt nach dem Milieu- später mit Texten von Klabund (eigentlich Alfred Wie viele seiner Zeitgenossen, etwa Kandinsky, Jaw- eine Liaison: »Serner hatte mit Marietta das, was – begriff für Zuhälter. Die Bühnen und Variétés fanden Henschke, 1890–1928), Johannes R. Becher (1891– lensky, Kubin, Alfons Mucha (1860–1939) oder Wil- wenn jung – man problemlos mit einem amüsanten, ihren Widerhall in Blättern wie »Avant le ballet« oder 1958) und anderen im »Simplicissimus« erfolgreich helm Morgner (1891–1917), der in Berlin seine »astra- reizvollen Mädchen hat […]. Später 1916 malte ich 175 179 »Ensemble«. Das Leben in den Cafés, die flüchtigen gewesen. Wie viele entfloh sie den kriegsbedingten len Kompositionen« entwickelte, aber auch Kollegen Marietta, weil sie mir gefiel und weil ihre Stellung zu Affären, geschlossen aus Langeweile, »beziehungslos«, Hungerjahren in die Schweiz und trat am 2. Juni wie Francis Picabia (1879–1953), Constantin Brâncuşi mir der analog war, die sie damals zu Serner hatte. wie Schad später bemerkte, boten ihm Ausgangspunk- 1915 erstmals in Zürich im »Cabaret Bonbonnière« (1876–1957) oder der Kunsttheoretiker Ricciotto Ca- Voilà les affinités.«183 In ihrem Porträt begegnen zum te für seine Arbeit. Serner erscheint demgegenüber auf, einem der rund 60 seit der Jahrhundertwende nudo (1877–1923) in Paris, suchte Schad dem als see- einen noch die kristallinen, dem französischen Ku- mitunter etwas glutvoller. An Tristan Tzara schreibt neu etablierten Kleinkunst- und Filmtheater der lenlos empfundenen ›Materialismus‹, wie er die Kunst bismus entlehnten Brechungen von Körper und Per- er: »Ce serais très chic, si vous voulez venir à Genève. Stadt, in dem allabendlich im ersten Stock über dem des 19. Jahrhunderts dominiert habe, etwas Seelisch- spektive. Darüber hinaus treten aber auch bereits Ele- Les femmes ici sont merveilleuses. Elles laissent s’ac- »Grand Café des Banques« die Türen geöffnet wur- Geistiges entgegenzusetzen und eine neue Kunst in mente hervor, welche die sich anschließende Dada- coster sans façon. Et elles sont … Venez, venez!!!«176 den. In dem ihr gewidmeten Gemälde übertrug Schad das Leben des modernen, urbanen 20. Jahrhunderts Periode ankündigen: Versatzstücke, Schriftfetzen, die 181 zu überführen. Zunächst war dies in seinen Arbei- Vermischung von Klang, Musik, Wort und Situation. ten mit Hilfe narrativer Szenen, korrespondierender Die von Schad gewählten Inschriften evozieren das 174 Quintus Miller, Pfleghard und Haefeli, in: Architektenle- Holzschnitt, 31,5 × 23,5 cm, CSSA 807/2009; vgl. Kluge Zustände und symbolhafter Kompositionen gesche- seinerzeit bekannte melancholisch-kritische Chanson xikon der Schweiz, S. 418f. 1967, S. 27. 175 Christian Schad, »Orchester«, 1915, Holzschnitt, 176 Walter Serner, Brief an Tristan Tzara v. 30.09.1919, 17,8 × 12,2 cm, CSSA 782.3/2009; ders., »Café de nuit«, CSSA 3806/2017 (Abschrift), Original in Paris, Bibliothèque 1915, Holzschnitt, 42 × 27 cm, CSSA 1036/2009; ders., littéraire Jacques Doucet, FD tzr.c.3.770 ms.sign.hs. 180 Christian Schad, »Passions«, 1915, Lithographie, 182 Christian Schad, Über Dada und so weiter, Typoskript, »Avant le ballet«, 1915, Holzschnitt, 44 × 31,5 cm, 177 Serner 1964, [S. 5], CSSA 216/2008. 48 × 32,5 cm, CSSA 790.1/2009; ders., »L’Ennui«, 1916, Li- 24.02.1966, CSSA 1137/2013, abgedruckt in Bd. 2, S. 133f. CSSA 31/2003; ders., »Ensemble«, 1915, Holzschnitt, 178 Schad [Ch.] 1999, S. 19. thographie, 54,5 × 53 cm, CSSA 1039/2009. 183 Christian Schad, Brief an Doris Hahn v. 27.10.1965, 27 × 20,8 cm, CSSA 783/2009; ders., »Apachencafé«, 1916, 179 Klabund 1920. 181 Dazu ausführlich von Beyme 2005, S. 87–91. CSSA 1982/2017. 44 45
I PRÄGUNG UND SUCHE. 1894–1927 I.7 DIE WIENER JAHRE. 1925–1928 ten Ehemann, den Tenor der Wiener Staatsoper, Trajan »So malt man heute die Frau« ▶▶ 226 Christian Schad, sum« erschien.558 Der Kontakt zu der jungen Frau war Porträt der Baronin Erzsébet Grosavescu (1895–1927), erst mit krankhafter Eifer- über ihren Münchner Lehrer, den Pianisten Joseph Marton Hatvany, Titelbild sucht verfolgt und ihm dann heimtückisch durch das Als Resultat der skeptischen Wiener Presse blieben von: Jugend 32, 1927, Nr. 30, Pembaur, zustande gekommen, den Schad schon Ohr in den Kopf geschossen. Alle Details dieser Bezie- das Käuferinteresse und auch der Widerhall bei po- CSSA 6028/2016 1922 porträtiert hatte.559 Über sein Modell, das aus hung wurden genüsslich durch den Blätterwald ge- tentiellen Wiener Auftraggebern weitgehend aus. Da- einer in Wien ansässigen italienisch-österreichischen trieben. Die Tat, brutal und skandalös, bot auf der an- gegen lief die Aufmerksamkeitsmaschinerie über das Familie stammte, äußerte Schad sich später eher ab- deren Seite manchem auch vermeintliche Einblicke Medium der illustrierten Blätter recht gut. 1927 malte fällig. In mokantem Ton beschrieb er sie als fröm- in seelische Abgründe, wo offensichtlich eine »dämo- Schad das Porträt der Pianistin Anna Gabbioneta, das melnd-lasziv, ehrgeizig, jedoch letztlich erfolglos und 225 Christian Schad, nische Gewalt« auf diese Frau eingewirkt hatte. Als noch im selben Jahr als Titel des Wiener Magazins Anna Gabbioneta, Öl/Lw., in der künstlerischen Diaspora endend.560 Gleichwohl ein Musterbeispiel gruppendynamischer Prozesse ver- »Moderne Welt« und ganzseitig in »Reclams Univer- Wien, 1927, Privatbesitz pflegte er mit Anna Gabbioneta auch in Berlin Um- breitete sich bald das Mitleid mit der Angeklagten, gang und fertigte Jahre später ein graphologisches was schließlich zu einer spektakulären Wendung des Profil von ihr an, das allerdings ebenfalls wenig Falles führte. Schad interessierten indes nicht die Be- schmeichelhaft ausfiel.561 Seit 1929 lebte die junge gleitumstände, sondern weit mehr die Aura der passiv Frau ständig in Mailand. Dort erhielt sie als Pianistin und unbeteiligt wirkenden Angeklagten. Er wohnte Arbeit beim italienischen Rundfunk. Sie berichtete dem Prozess bei und fertigte im Gerichtssaal mehrere ihm darüber in seine »Berliner Residenz«: »[…] eine 227 Christian Schad, Zeichnungen von ihr an.554 In der Nacht auf den Anna Gabbioneta, Titelbild ausgezeichnete Stelle in einer Sektion für alte, italie- 26. Juni 1927 wurde das Geschworenenurteil verkün- von: Moderne Welt 8, 1926/27, nische Musik […]. Ansonsten hoffe ich auf eine bal- H. 23, CSSA 6036/2016 det: Grosavescu wurde »aufgrund von Sinnesverwir- dige Gelegenheit, um wieder nach Deutschland zu rung zum Zeitpunkt der Tat« infolge einer kurz zuvor kommen. Wenn man ein Mischling ist, wie ich, lebt erlittenen Fehlgeburt freigesprochen: »Laute Bravorufe man in einem ewigen Zwiespalt und kann sich doch ertönten nach der Verkündigung des Urteils. […] Vor nicht für das eine oder andere Land gänzlich ent- dem Gerichtsgebäude kam es zu turbulenten Szenen scheiden. Hier ist auch keine Möglichkeit der Entfal- besonders bei gleichzeitiger Reproduktion in der ›Ju- 555 und Kundgebungen für die Freigesprochene.« Der tung, weil in allem politische Momente mitspie- gend‹ für Sie verhältnismäßig leicht verkäuflich sein Fall, der die konträren Kräfte bedingungsloser Hingabe len.«562 müsste.« Das Ehepaar Hatvany, das damals in der und roher Gewalt als zwei Seiten ein und desselben Im Fall des Porträts der Erzsébet Marton Hatvany, der Wiener Hermesvilla im Lainzer Tiergarten logierte, Charakters offenbarte, stieß auch in der Fachwelt auf Gattin des jüdischen Exilschriftstellers Lajos Freiherr war bereits entsprechend unterrichtet. Schad ging auf großes Interesse. In seiner Studie »Irrwege des Eros« Hatvany (1880–1961), bietet die erhaltene Korres- den Handel ein und sagte zu, »das Porträt in einer räumte Erich Wulffen (1862–1936), der damals popu- pondenz dagegen interessante Einblicke in die sei- Woche« fertigzustellen.564 Im nächsten Schreiben läre Pionier in der Anwendung psychologischer For- nerzeit üblichen Produktionsgegebenheiten populärer wurden die Erwartungen »für diese Rekordarbeit« spe- schung im Bereich der Kriminologie, im Jahr 1929 künstlerischer Arbeiten, denn das Bildnis der Baronin zifiziert. Zunächst sollte »jedenfalls die künstlerische dem Fall Nelly Grosavescu breiten Raum ein. Er zitierte entstand als Auftragsarbeit für eine Sondernummer Auffassung dementsprechend auf repräsentative dabei ausführlich die in der Verhandlung verlesenen der Zeitschrift »Jugend« über das Thema »Die Schöne Schönheit eingestellt sein […]. Was das Abdruckho- 563 psychiatrischen Gutachten über die »energische Frau Frau«. Schad erhielt das Angebot per Eilbrief aus norar betrifft, so möchten wir Ihnen mit Rücksicht von männlichem Einschlag, mit sehr eigenwilligem, München am 19. April 1927 und wurde gebeten, »in auf Ihr besonderes Entgegenkommen das bisherige skrupellosem, etwas gefährlichen Wesen und von gro- ziemlich grosser Schnelligkeit« bereits zum 30. des Honorar verdoppeln, also M. 150.- anbieten. Es wäre ßer Gemütsreizbarkeit, daher minderwertig und Psy- Monats ein fertiges Ölbild zur Reproduktion für den uns sehr angenehm, wenn Sie sich im Format eini- 556 chopathin«. Schad faszinierten die Persönlichkeits- Titel des Magazins abzuliefern: »Ob Herr Baron Hat- germassen an unser Zeitschriftenformat halten könn- strukturen gesellschaftlicher Außenseiter ebenso wie vany selbst als Käufer für das Porträt in Frage käme, ten, wobei eventuell zu überlegen wäre, ob man im die vermeintlich wissenschaftliche Herleitung cha- können wir natürlich nicht sagen, glauben aber, dass oberen Teil einen neutralen Hintergrund so weit fort- rakterlicher Anomalien aus physiologischen Beobach- ein derartiges Bild jedenfalls Aufsehen erregen und führen könnte, dass die Schrift ›Jugend‹ noch auf die tungen. Auch mit kriminologischen Verfahrensweisen und den Viten diverser Gewaltverbrecher hat er sich zeitweise intensiv beschäftigt.557 Diese Studientiefe und -breite findet zahlreichen Niederschlag in seinem 558 Moderne Welt 8, 1926/27, H. 23 (2. Maiheft 1927), 563 Das Gemälde »Baronin Hatvany«, geb. Elisabeth Böske CSSA 6036/2016; Reclams Universum 44, 1927/28, H. 40 Marton, erschien dann als Titelbild der »Jugend« (32, 1927, Werk, wie im Weiteren noch zu zeigen sein wird. (28.06.1928), Abb. n. S. 884, CSSA 6009/2016. Die Redak- Nr. 30 [23.07.1927]), Schad [Ch.] WVZ I, S. 136, Nr. 88; AK tion von »Reclams Universum« hatte Schad 1927 nach Pu- Mailand 1970, Nr. 39, o. Pag., CSSA 17/2012. Anonym [Lo- blikationen in der »Jugend« zur Mitarbeit eingeladen, vgl. la Plesz?], A Modern Holbein, a szép asszonyok festöje, in: den Briefwechsel CSSA 5704–5715/2016. Színházi Élet 19, Dez. 1929, Nr. 50, S. 19, , CSSA 6013/2016 zeigte »Baronin Hatvany« 555 Bericht im »Prager Tagblatt« v. 26.06.1927, S. 1. Schads Studienobjekten vgl. auch S. 117f., 223f. 561 Vgl. S. 119, 225. und »Lola Plesz«. 556 Wulffen 1929, S. 235–246, Zitat S. 244 (nicht in der Schad- 562 Anna Gabbioneta, Brief an Christian Schad v. 09.09.1929, 564 Redaktion der »Jugend«, Brief an Christian Schad v. Bibliothek vorhanden). Zu Wulffen: Volkmar Sigusch, Art. CSSA 3421/2017; sie lebte damals in Mailand in der Via 19.04.1927, CSSA 5725/2016; Schads Zusage v. 20.04.1927, Wulffen, Erich, in: Sigusch/Grau 2009, S. 783–788. Monteresole 18. CSSA 5726/2016. 118 119
II Leben im Zentrum der Epoche – Berlin. 1928–1942 II.1 Schauplatz Berlin! A ls Christian Schad im April 1928 seinen Wohn- sitz in Berlin nahm, hatte sich innerhalb einer Generation die Bevölkerung in dieser Stadt fast ver- mann Karl Fiering etablierte »Romanische Café«. Man zählte 49 Sprechbühnen, drei Opernhäuser, 75 Ka- baretts, Varietés und Kleinkunstbühnen. Zu den rund doppelt und war auf über vier Millionen Menschen 550 Cafés kamen 220 Bars und Tanzlokale. Neben angewachsen. Es erschienen 45 Morgenzeitungen, dem aufkommenden Tonfilm war das Radio die große zwei am Mittag, 14 weitere am Abend. Rund 200 Ver- Neuerung der Zeit. 1923 war in Berlin die erste deut- lage teilten sich den Markt der Presse und Buchpu- sche Rundfunksendung ausgestrahlt worden, zwi- blikationen, darunter die Häuser so herausragender schen 1924 und 1933 stieg die Zahl der Radioemp- Verlegerpersönlichkeiten wie Ernst Rowohlt (1887– fänger im Reich von 10.000 auf 4,3 Millionen.3 In ei- 1960), Samuel Fischer (1859–1934) oder Bruno Cas- nigen Restaurants hatten Künstler Gelegenheit aus- sirer (1872–1941). Von großer Bedeutung für Schads zustellen, wie etwa im Restaurant »Schlichter« in der Interesse an Publizität und als Einnahmequelle war der gigantische neue Absatzmarkt für Unterhaltungs- literatur. In Berlin waren die großen Medienhäuser Ullstein, Mosse und Scherl tätig. Ein neues Feld sollte ihm zukünftig zudem die moderne Filmindustrie Ber- lins bieten. Allein 37 Filmgesellschaften zogen ein Heer junger Talente in die Hauptstadt, wo jährlich rund 250 abendfüllende Spielfilme in 363 Filmthea- tern gezeigt wurden.1 Schad fand in diesem Milieu Modelle wie auch Auftraggeberinnen und heiratete später eine dieser zum Film strebenden Elevinnen, die junge Berliner Schauspielerin Bettina Mittelstädt (1921–2002). Schad verarbeitete vielfach Impressio- nen aus dem Theaterleben in Zeichnungen wie »Pro- be« oder »Ballettpause« (1930), das eine junge Tän- zerin mit zwei zudringlichen Interessenten zeigt.2 Dreh- und Angelpunkt der 1920er Jahre war der Ber- liner Westen mit dem Zentrum um die Gedächtnis- kirche, Kurfürsten- und Tauentzienstraße, wo sich die ▶▶ 247 Christian Schad, Porträt großen Uraufführungskinos befanden – Ufa-Palast, Gloria-Palast – sowie die bedeutendsten Cafés als Maria Fidelius, Titelbild von: Scherl’s Magazin, März 1932, Treffpunkte der Kulturszene, das »Regina«, das »Café CSSA 6014/2016 Möhring« und allen voran das 1916 von dem Kauf- ◀◀ 246 Christian Schad, 1 Schebera 1988, S. 6. Bearb.); ders., »Ballettpause«, 1930, Federzeichnung, Porträt Hanna, Titelbild von: 2 Zu Mittelstädt vgl. S. 306–319. Christian Schad, »Probe«, 29 × 15 cm, Privatbesitz, Fotografie: CSSA 2939/2017, Die Woche, Oktober 1934, um 1928/30, Federzeichnung, 10,5 × 8 cm, Privatbesitz, Heesemann-Wilson 1978, S. 317, Nr. 241. CSSA 6031/2016 Aukt.kat. München 2013, Nr. 67, Schad [Ch.] WVZ V (in 3 Herbert 2017, S. 247; Schebera 1988, S. 6f., 9. 139
I I I I N D E R D I K TAT U R . 1 9 3 3 – 1 9 4 5 III.3 IM OFFIZIELLEN KUNSTBETRIEB Richter (1887–1948) setzte sich 1937 ein weiterer be- eingefroren und die seit dem November-Pogrom fällige ▶ 461 Das Haus der Deutschen Kunst zur Eröffnung der ersten kennender Nationalsozialist an die Spitze des Vereins, »Juden-Kontribution« bezahlt worden war, verkaufte »Großen Deutschen Kunstaus- der diesen »betontermaßen zum Vorkämpfer des Kul- der Senior 1938 auch sein Privatanwesen in bester Lage stellung«, 18.07.1937 turwillens des Führers« machen wollte. 13 Künstler am Lützowplatz 9 an den Verein Berliner Künstler. Für traten unter Protest aus.196 Schad blieb. den ihm gebotenen Betrag von RM 370.000 durfte er daraufhin mit seiner Familie ausreisen.199 Egon Sally Fürstenberg starb bald darauf im Amsterdamer Exil, Der Verein Berliner Künstler sein Sohn und Gesellschafter der Firma, Paul Fürsten- am Lützowplatz berg, emigrierte mit seiner Familie von dort in die USA. Das Gebäude am Lützowplatz ging im Luftkrieg in den Im Zuge von Adolf Hitlers und Albert Speers (1905– Jahren 1943 und 1944 mit der gesamten Ausstattung 1981) »Germania-Planungen« musste das Vereinsdo- unter. Zuvor konnte dort 1941 noch die Hundertjahr- mizil am Berliner Tiergarten aufgegeben werden. Eine feier des Vereins als große Propagandaschau von dem neue standesgemäße Unterkunft fand der Verein 1938 neuen Vorsitzenden Franz Eichhorst (1885–1948) und in einem repräsentativen Gebäude. Das Unternehmen seinem Stellvertreter Reinhold Koch-Zeuthen (1889– des jüdischen Kaufmanns Egon Sally Fürstenberg 1949) inszeniert werden.200 Schad war in dieser Aus- (1860–1942), Seniorchef des Leder- und Galanteriewa- stellung mit seinem erfolgreichen Porträt »Isabella« ren führenden, 1864 gegründeten Kaufhauses Albert (1934) vertreten (Abb. 498). Es war 1937 in München 197 Rosenhain in der Leipziger Straße 72–74 war 1936 auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« präsen- »arisiert« worden. Die Liegenschaft wurde von einer tiert worden und konnte nun über den Verein für konkurrierenden Firma (Reiwinkel – Das Haus der Ge- RM 1.000 an den Sammler Bernhard Toppenthal aus schenke) übernommen und anschließend liquidiert.198 »Saarlautern« (eigtl. Kaiserslautern) veräußert wer- Nachdem die Pässe der Familie Fürstenberg eingezo- den.201 Toppenthal, vormals Geschäftsführer, war jetzt gen, ihr Vermögen in einer »Treuhand-Gesellschaft« der arische Inhaber der 1919 von den Brüdern Hugo und John Sternheimer gegründeten und 1935 gleich- falls »arisierten« Türkischen Tabak- und Cigarettenfa- brik Jyldis in der Pavillonstraße in Saarlouis.202 Die »Große Deutsche Kunst- Die Frage, was offizielle »Nazi-Kunst« gewesen sein jetzt an: Er nahm 1937 in München an der von Adolf ausstellung« in München 1937 mag, haben viele Forscher in den vergangenen Jahren Hitler eröffneten ersten »Großen Deutschen Kunst- recht unterschiedlich beantwortet. Neben den nach ausstellung« teil.204 In Saal 35 im Haus der Deutschen Selten hat Schad sich später über seine Arbeit in den Motiv und Inhalt eindeutigen Propagandawerken öff- Kunst, des von Paul Ludwig Troost (1878–1934) neu Jahren 1933–1945 geäußert. Meist blieb er dabei all- net sich aus heutiger Sicht ein weites Feld von Sujets, errichteten Prestigebaus an der Prinzregentenstraße, gemein: »Während der Hitlerzeit gehörte ich zwar Stiladaptationen und Genres, die erst im jeweiligen zeigte der Künstler dort neben der 1943 in Berlin ver- nicht zu den verbotenen Künstlern, aber ich habe Kontext ihre ursprüngliche Tendenz offenbaren. Et- brannten »Pariser Stadtlandschaft« (»Paris, Place nicht viel gemalt; einige private Porträts, soweit ich was klarer wird das Bild, wenn man nach der insti- St. Jacques«, 1929) das Gemälde »Isabella« aus dem Zeit hatte. […] Natürlich hätte ich in die offizielle Na- tutionellen Einbindung der Kunst und des Künstlers Jahr 1934 (Abb. 498).205 Dieses Bildnis einer jungen zi-Kunst einsteigen können. Aber das wollte ich nicht, in die Politik des NS-Staates fragt. Für einen Künstler Frau offenbarte im Besonderen den restaurativen Zug, denn dann muß man bei einem solchen Regime ganz wie Christian Schad schienen nach der ersten Aner- der schon am Ende der Weimarer Republik Einzug in mitmachen. Aber das kam für mich garnicht in Frage. kennung in einzelnen Ausstellungen unter dem neu- die populäre Kunst gehalten hatte: fein, gerade, etwas In dieser Zeit war es unmöglich, irgend etwas Ernst- ◀◀ 460 Verein Berliner Künstler, en Regime die Weichen jedenfalls gestellt und der keusch.206 Im Ausstellungssaal des neuen Kunsttem- haftes anzufangen […].«203 Haus am Lützowplatz, 1945 ihm sinnvoll erscheinende nächste Schritt bot sich pels hing »Isabella« neben Blumenstillleben von 196 Langner 1991, S. 106f. heimers Unternehmen wurde 1947 restituiert, vgl. mit 204 Worauf Heesemann-Wilson als Erste hingewiesen hat: Hee- gaben von Zeitschriften der »NS-Kulturgemeinde«, der 1934 197 Aly u. a. 2009, S. 578f. Lit. und Nachweisen (Stand 19.08.2016). 1996, S. 205; AK Paris/New York 2002, S. 192; Schad [Ch.] Deutsche Kultur«, mit Titeln wie »Kunst und Volk« oder werbebetriebe in Berlin 1930–1945, (Stand 29.07.2016). 25.09.1978 mit Amine Haase anlässlich des Besuchs zur sind belegt bei Schuster [P.-K.] 1987, S. 237. Bestätigung Zu den Gemälden vgl. Schad [Ch.] WVZ I, S. 164, Nr. 104, 199 Langner 1991, S. 110. Vorbereitung ihres Buches »Gespräche mit Künstlern«, un- der Annahme durch den geschäftsführenden Direktor Karl S. 175, Nr. 113, S. 188, Nr. 131. 200 Langner 1991, S. 110–114. veröffentlichtes Typoskript, S. 2, CSSA 943/2016,; redigier- Kolb v. 07.07.1937, CSSA 5967/2016. 206 Als Beispiel für ein zeittypisches Frauenbildnis kehrt es 201 Heesemann-Wilson 1978, S. 292; AK Berlin 1941b, Nr. 114, te, veröffentlichte Fassung: Schad [Ch.]/Haase [A.] 1981, 205 Haus der Kunst, Historisches Archiv, GDK1937-0624, GDK noch in Überblickswerken der jüngeren Zeit wieder, etwa CSSA 777/2019. S. 138, CSSA 156/2008; vgl. Schad [Ch.] WVZ I, S. 61, 1937-0624. AK München 1937, S. 70, Nr. 624, 626 (ohne in Davidson 1992, Bd. 2, S. 407, Abb. 116, Hinweis bei Keß 202 Brief mit Verkaufsanzeige bzgl. »Isabella« vom Verein Ber- Anm. 191. Abb.), CSSA 772/2019. Der Katalog zur »Großen Deutschen 2016, S. 19. liner Künstler v. 24.06.1941, CSSA 593.10/2013; Stern- Kunstausstellung« befand sich in einem Konvolut mit Aus- 268 269
I I I I N D E R D I K TAT U R . 1 9 3 3 – 1 9 4 5 III.5 ERFOLGE – AUFTRÄGE, PROJEKTE. 1939–1942 stellungen wie »Frauen in Not« (1931) hatten darauf »Der Deutsche Mensch« und Kriegsverherrlichungskunst die Anerkennung des Pu- Bezug genommen. Vom Verein Berliner Künstler war die kleine »Inge Meyer« blikums gewonnen hatte. Auch der Lübecker Kunst- 1930 gemeinsam mit dem Verein Berliner Künstle- verlag Ludwig Möller war darauf aufmerksam gewor- rinnen die Ausstellung »Das Kind« organisiert wor- Reine Mutterschaft reiner Frauen. In der NS-Zeit galt den.352 Möller nahm »Inge« in sein Programm auf den. Amüsiert stellte der Kritiker Max Osborn in der selbst das öffentliche Rauchen der »deutschen Frau« und druckte fortan großformatige Kunstblätter sowie »Vossischen Zeitung« dazu in biblischem Ton fest: als verpönt. Die ehedem gewohnte Freizügigkeit in Postkarten davon. Der Absatz gestaltete sich erfreu- »Vor einiger Zeit hieß die Parole ›Frau von heute‹. Cafés und Bars wurde »nicht als deutsche ›Sitte des lich, 1944 wurden landesweit 533 Kunstblätter und Nun wurde eine neue ausgegeben: ›Das Kind‹ – und Hauses‹, sondern als jüdisches Vagabundentum« dif- 27.713 Karten verkauft, was Schad, der mit zehn Pro- siehe, als die Zeit erfüllt war, brachten die Mitglieder famiert, solches Tun als Treiben von »aufs Parkett ver- zent beteiligt war, immerhin etwa die Hälfte eines lu- je ein Kinderbild zur Welt.«349 Das Thema Mutter- pflanzte[n] Zigeuner[n]« gebrandmarkt.350 1941 ent- krativen Gemäldeverkaufs eintrug: RM 409,97. Diese schaft war somit durchaus aktuell. Gleiches galt für stand in diesem geistigen Klima Schads unverfäng- zwischen 1941 und 1946 ausbezahlten Honorare tru- das autarke Kinderbildnis. Es war daher keineswegs lich-süßliches Kinderbildnis »Inge« (Inge Meyer),351 gen zur Finanzierung seines Lebensunterhalts bei, eine Erfindung der neuen Machthaber. Gleichwohl das sich für ihn als Glücksfall erweisen sollte, da die und Schad versuchte, weitere Werke in Möllers Pro- 504 Christian Schad, Porträt wussten diese es für ihre Zwecke in neuer Weise zu Bildrechte an dem bald recht populären Idealbild duktion aufnehmen zu lassen, was aber aufgrund der Inge, 1941, CSSA 1071/2018 ◀◀ 505 Christian Schad bei instrumentalisieren. eines deutschen Mädchens ihm fortan – und bis in zunehmenden Papierknappheit nicht mehr gelang.353 die Nachkriegszeit hinein – regelmäßige Einnahmen »Inge« blieb nicht das einzige Kindesbildnis, vielmehr der Arbeit am Bildnis »Inge«, verschafften. Schad hatte mit Kalkül das Pastell 1941 1941, CSSA 672/2010 entstanden in dieser Zeit zahlreiche weitere wie ◀ 506 Christian Schad, Porträt in der Ausstellung »Der deutsche Mensch« in der »Klaus Johnen« oder »Annemarie« (1941).354 Berliner Kunsthalle untergebracht, wo es neben völ- Inge Meyer, zeitgenössische kischen Trachtenträgern, Hitlerjungen, NS-Bonzen Reproduktion (Kunstblatt), 1941, und der üblichen Handgranaten schwingenden CSSA 2645/2017 Projekt eines Kinderbuchs. 1942 In der reformorientierten Zeit nach dem Ersten Welt- krieg hatten sich zahlreiche Disziplinen dem Thema 509–512 Christian Schad, der Kindheit zugewandt, nicht zuletzt auch einzelne Vier Porträts unbekannter Kinder, Kunstwissenschaftler wie Max Sauerlandt.355 Außer- 1934/35, CSSA 380/2011, halb der Möglichkeiten, die eigenes Erleben ihm ge- CSSA 369/2011, CSSA 371/2011, CSSA 392/2011 boten hätten, spürte auch der Künstler Christian Schad der Kinderseele und ihren Äußerungen durch Beobachtung und von geistig-theoretischer Seite aus nach. Er wollte dabei keinesfalls erzieherisch wirken. Den gesamten Bereich der traditionellen (Schul)bil- dung betrachtete der Maler vielmehr als »Kastration« 507 Christian Schad, des Geistes. Doch beschäftigte Schad sich mit dem Porträt Annemarie, Pastell, 1941, Privatbesitz Thema gleichwohl auf Basis wissenschaftlicher Pu- blikationen, etwa mit den Schriften der Graphologin Minna Becker (1887–1973) und, ausgehend von den terstellte Idee von unbeeinflusster ›Ursprünglichkeit‹. Lehren Rudolf Steiners, mit den Forschungen des Me- Das Kind war für ihn eine Art Denkfigur innerhalb diziners Fischl Schneersohn, die sich mit der Phantasie seiner esoterischen Utopie. Mit Margit Petermann, und dem »Schöpfertum« des Kindes auseinandersetz- der Herausgeberin des »Spiegelbilds«, und dem vor- ten.356 Es ging dem Künstler dabei weniger um Kinder maligen Hauptschriftleiter des »Deutschen Kultur- als Persönlichkeiten oder um ihre soziale Lebenswelt, warts« und jetzigen Lektor des Verlags Georg Bitter & sondern um eine der Kindheit als Daseinsform un- Co., Herbert Alexander Stützer (1909–1994), besprach 508 Christian Schad, Porträt Klaus Johnen, Pastell, 1941, Privatbesitz 352 AK Berlin 1941a, S. 24, Nr. 165. Adressbuch Lübeck 1930: 353 Sehr umfangreiche Korrespondenz zwischen 1941 und »Ludwig Möller, Inhaber Wilhelm Möller und Ludwig 1946 im Schad-Archiv, die genannte Abrechnung v. 349 Max Osborn, Das Kind. Ausstellung des Künstlerinnen- der Arbeit an diesem Kinderbildnis: CSSA 672/2010; erhal- Resch. Kunsthandlung – Gemälde – Origin.-Graphik. Stän- 31.11.1944: CSSA 78/2017. Vereins, in: Vossische Zeitung v. 11.11.1930, zit. n. Lam- ten sind zudem Porträtfotografien des Kindes, die Ent- dig wechselnde Kunstausstellungen. Eigene Werkstätte für 354 Christian Schad, »Klaus Johnen«, 1941, Pastell, verschollen, mert 1993, S. 179 m. Anm. 64. wurfszeichnung sowie Drucke des Motivs: CSSA 26/2009, stilgerechte Einrahmungen. Mühlenstrasse 45.« Frdl. Aus- Fotografie: CSSA 2671/2017; ders., »Annemarie«, 1941, 350 Der SA-Mann v. 18.09.1937, zit. n. Adam 1992, S.155f. CSSA 49/2013; ferner Postkarten: CSSA 2645/2017. kunft v. Kerstin Letz, Archiv der Hansestadt Lübeck v. Pastell, verschollen, Fotografie: CSSA 2672/2017. 351 Eine Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 × 17,5 cm, wohl von 17.02.2017. 355 Sauerlandt 1923, CSSA 1967/2011. Bettina Schad, zeigt Christian Schad an der Staffelei bei 356 Becker [M.] 1926, CSSA 534/2008. 296 297
I I I . 7 A LT E M E I S T E R U N D R U I N E N – A S C H A F F E N B U R G . 1 9 4 2 ▶▶ 569 Christian Schad, schen recht angelegen war, diesen Porträtauftrag zu III.7 Alte Meister und Ruinen – Aschaffenburg. 1942 Porträt Rosika (Rose-Erika) erfüllen, schickte er eine Postkarte der kleinen »Inge« Lenich, Pastell, 1943, Privatbesitz an den Baron als ein Exempel seiner Kunstfertigkeit. Obgleich eine Antwort aus Aschaffenburg noch aus- stand, machte er sich, vorsorglich mit allen Maluten- W ährend das Paar im Verlauf des Jahres 1942 in der immer stärker von Kriegshandlungen betroffenen Reichshauptstadt um die Bedingungen ein Öl Portrait [G]rösse ca 40 : 50 cm nehme ich RM 1000.-. Für ein Pastell in derselben Grösse RM 600.- […].« 461 Der Baron lehnte dies mit Hinweis silien ausgestattet, auf den Weg nach München, um von dort aus gegebenenfalls nach Aschaffenburg zu reisen. Schließlich einigte man sich auf das Geschäft seiner beruflichen Existenz rang, wurde im weit ent- auf die Kriegsumstände ab. Schad antwortete: »[…] und auf den 28. Oktober 1942 als den Tag der Anreise. fernten, noch unzerstörten Aschaffenburg ein Herr es ist bedauerlich, dass ihre Frau nicht nach Berlin Zu diesem Zeitpunkt ahnte Schad nicht, dass dieser der besseren Gesellschaft auf den Berliner Maler kommen kann, denn das wäre für die Arbeit die ein- Auftrag zehn Monate später zum Anlass seiner voll- aufmerksam. Die nordbayerische, in der Nähe Frank- fachste Lösung gewesen. Allerdings ist die Unter- ständigen Übersiedelung an den bayerischen Unter- furts gelegene Stadt zählte damals rund 45.000 Ein- kunftsfrage in Berlin sehr schwierig[;] bliebe also nur, main werden sollte.464 wohner. Joseph Waldemar Kurt Freiherr Gorup von dass ich nach Aschaffenburg käme, doch würde dies In der kleinen Stadt sprach sich die Ankunft des be- Besánez (1883–1966) sah Kristina Söderbaums Por- den Preis des Bildes erheblich verteuern[;] sollten Sie kannten Berliner Malers rasch herum. Bald folgten trät in einer Ausgabe des »Silberspiegels« und fragte das wünschen, so wäre ich Ihnen für eine baldige Aufträge aus der Schicht der Begüterten, etwa der Fa- daraufhin zunächst brieflich bei dem Künstler an, Mitteilung dankbar.«462 Schad rechnete damals mit milie Stadelmann, wo Schad dann ab April 1943 auch ob dieser ihm wohl etwas Ähnliches verkaufen kön- etwa zehn Tagen Arbeit an einem Pastell und mit etwa wohnen sollte,465 oder der Familien Lenich und Ge- ne. Erst etwas später reifte in dem Baron der Gedanke, drei bis vier Wochen bei einem Ölgemälde. Für das meinhardt, Desch, Götz und vieler anderer. Schad dass der offensichtlich berühmte Porträtist aus der Pastell würde er, wie er dem Baron mitteilte, nun porträtierte den Aschaffenburger Standortkomman- Reichshauptstadt doch auch das Bildnis von Ellen RM 800 zuzüglich der Reise- und Aufenthaltsspesen danten Kurt von Hünersdorff (1891–1983) und ver- konnten, fertigte der Künstler eine Reihe von Natur- Ruth (1901–1990), seiner Ehefrau, malen könnte.460 berechnen. Im September 1942 sah Schad dann für kehrte als kultivierter und weit gereister Künstler und Landschaftsstudien an. Obwohl naturverbunden, Der Maler gab sich zunächst reserviert: »Sehr geehrter den Oktober anlässlich einer Reise nach Bayern mit freundschaftlich in den Kreisen der besseren Gesell- war die Landschaft nie Schads eigentliches Thema: 466 Herr Baron, es freut mich, dass Ihnen meine Bilder mehrmonatigem Aufenthalt in der Valepp und bei schaft. Für Interessenten, die sich nicht zur Inves- »Der Mensch ist das Wichtigste und Geheimnisvoll- gefallen haben. Ich wäre gern bereit Ihre Frau zu ma- seiner Mutter am Lenbachplatz in München die Mög- tition in ein Porträtgemälde oder -pastell entschließen ste. Für mich ist er das Bedeutendste auf der Erde. Die 463 len; allerdings müsste sie nach Berlin kommen. Für lichkeit, die Baronin zu malen. Da es ihm inzwi- ◀◀ 567 Christian Schad, Porträt Ellen Ruth Freifrau Gorup von Besánez, Öl/Lw., 1942, MSA 1199/2015 ◀ 568 Christian Schad, Porträt Joseph Waldemar Kurt Freiherr ▶ 570 Soiree in Aschaffenburg, Gorup von Besánez, Öl/Lw., u. a. mit Mitgliedern 1943, MSA 1200/2015 der Familien Gorup von Besanez, Stadelmann und von Hünersdorff, um 1943/44, CSSA 14/2009 460 Bildnisse von Christian Schad, in: Der Silberspiegel 8, 461 Christian Schad, Brief an Joseph Waldemar Kurt Freiherr Feb. 1942, S. 60f. Joseph Waldemar Kurt Freiherr Gorup Gorup von Besánez v. 15.03.1942, CSSA 6205/2016. von Besánez, Brief an Christian Schad v. 03.03.1942, 462 Christian Schad, Brief an Joseph Waldemar Kurt Freiherr 464 Schad [B.] 1994, S. 25–32; Ratzka 2001; Richter [Th.] 2008. CSSA 6201/2016. Vgl. Rothfuss-Stein 1994, S. 71 sowie Gorup von Besánez v. 05.04.1942, CSSA 6211/2016. 465 SSAA Einwohnermeldekarte der Stadt Aschaffenburg, Röske 1994, S. 43. 463 Christian Schad, Brief an Joseph Waldemar Kurt Freiherr Schad, Christian. Gorup von Besánez v. 03.09.1942, CSSA 6223/2016. 466 Schad [Ch.] WVZ I, S. 201–210, Nr. 144–157. 320 321
IV IM NACHKRIEGSDEUTSCHLAND. 1947–1964 I V. 4 K E I N A N S C H L U S S – C H R I S T I A N S C H A D U N D D I E N A C H K R I E G S M O D E R N E zieht man die Angleichung ans andere Geschlecht Spätexpressionismus und ▶ 652 Christian Schad, Clemens Brentano, Öl/Holz, mit Puderquaste und Lippenstift. […] Man blickt aus Gedankenbilder – Rekonstruktionen 1954, MSA 11658 Belladonnenaugen schmachtend und träumerisch. ▶▶ 653 Christian Schad, der Erinnerung Man lebt hier etwas nach der Literatur. Oscar Wilde Notturno (Porträt Bildhauer Otto und sein Dorian Gray sind die Schutzgeister und Schads Gemälde, insbesondere die Auftragsporträts Gentil), Mischtechnik/Hartfaser, Hausgötter, denen man Weihrauch streut. Echtheit wie etwa jenes von »Ilse Eppig« (1954), werden jetzt 1952, MSA 19/1952 und Imitation der Inversion mischen sich hier so selt- von einem hellfarbigen, nervös-fleckigen Gestus be- sam, daß man davon verwirrt wird und geneigt ist, stimmt, einer etwas unmotiviert erscheinenden Wild- 181 das ganze für eine Komödie zu halten.« heit, einem Auslassen und Andeuten von Elementen Auch andere Archetypen wie der antike Kore-Perse- des Raumes, der Kleidung etc. Diese Kunst erinnert phone-Mythos dienten Schad nun zur Darstellung an seine Münchner ›Salonporträts‹ der frühen 1920er der Zerrissenheit menschlicher Existenz.182 Die Tem- Jahre, angepasst an formale Neuerungen und neue pera-Arbeit des Jahres 1950 zeigt die junge Frau in technische Möglichkeiten einer Tempera- und Wachs- den Fängen eines übermächtigen Dämons, der ohne malerei. In dieser Weise entstehen auch starkfarbige 649 Christian Schad, Porträt Ilse direkte Berührung den Weg ihrer Bewegung und Ent- Stadtansichten wie »Im Park« (1954) oder »Stiftskir- Eppig, Wachstempera/Holz, wicklung steuert. Die Figur des Mädchens ist in dop- che« (1954), in welchen gleichfalls formale Reminis- 1954, Privatbesitz pelter Bewegung und Ansicht als Rückenakt und si- zenzen kubistischer Brechungen und Durchdringun- multan enface gezeichnet. Sie erweist sich als sowohl gen aus seiner Schweizer Zeit zu beobachten sind. Die dem Diesseits wie der Unterwelt zugehöriges Wesen, Bilder dieser Zeit enthalten, zumal wenn die Linie ihre Zwiegespaltenheit zeigt sich in der polyfokalen härter geriet, einen dezidiert »expressionistischen« Gesichtsbildung. Dasselbe Thema griff der Künstler Ausdruck, wie beispielsweise das Porträt des Inten- 1954 bei dem Resopalbild gleichen Titels erneut auf. danten des Darmstädter Staatstheaters Rudolf Sellner Nun sind es Silhouetten von »Schemen« der Frau, die (1905–1990) aus dem Jahr 1958, das der Dargestellte Radlauf« eingeschlafen beim Schachspiel, während geht zurück auf die Collagen der Dada-Periode und aus der leblosen Kälte des Hades zu ihrer Mutter De- als entschiedener Verfechter entschlackter, radikaler sein Bart durch die steinerne Tischplatte gewachsen auf die Bilderfindungen der neusachlichen Veristen, meter in die mit Narzissen bestandenen Felder der Erneuerung als Geschenk des Künstlers ablehnte.185 ist. Das dunkle Kreuz steht für Brentanos Hinwen- mit welchen diese einst die politische und gesell- Menschenwelt wechselt – analog zu dem antiken My- Rückbesinnungen finden nun jedoch nicht nur in dung zum Katholizismus, die Schad natürlich kritisch schaftliche Reizüberflutung der Weltmetropole Berlin thos vom Wechsel der Jahreszeiten, gemessen am je- formaler Hinsicht statt, sondern auch dem Inhalt sah und als dem Werk des Dichters abträglich erach- abzubilden versuchten. 650 Christian Schad, Im Park 187 weiligen Aufenthaltsort der Zeus-Tochter. Ein drittes nach. Dies offenbaren die aus erzählenden und sym- tete. Erinnert fühlt man sich bei diesem Gewitter Mit dem 1952 entstandenen Gemälde »Notturno«, (Die Kirchenruine im Schöntal), Werk in Privatbesitz wiederholt schließlich die erste bolischen Motivkombinationen zusammengestellten Mischtechnik/Hartfaser, 1954, an Eindrücken und Erinnerungen an den »physika- der ersten jener »Portrait-Komposition[en]«, wie Bet- Fassung, betont bei dem in durchsichtiger Bekleidung Bilder wie das Porträt des 1842 in Aschaffenburg ver- MSA 47/1982 lischen Transzendentalismus« der Mailänder Futuris- tina Schad sie nannte, war erstmals der esoterische 186 erscheinenden Mädchen indessen den erotischen As- storbenen Dichters Clemens Brentano (1778–1842). ten und ihre Vorstellung, dass sich in den Bildern Symbolismus im Bereich der Porträtkunst offenbar pekt.183 Dem 1954 vollendeten Auftragswerk der Stadt Aschaf- Materie, Raum und eine Art ›Weltlogos‹ immerfort geworden. Bei diesem Bildnis eines persönlichen In eine ähnliche Richtung deuten Gestaltungs- und fenburg für den Musiksaal der neuerbauten Schule, durchdringen und miteinander interagieren. Wie Freundes und Anhängers ähnlicher Vorstellungen, Stilmittel bei Schads postumem Porträt des Dichters die den Namen des Dichters trägt, haftet unter mo- Schad es tat, so beriefen sich auch jene Künstler in des Aschaffenburger Bildhauers Otto Gentil, verband Salomo Friedlaender, zu dessen künstlerischer Dar- dernistischem Schleier etwas Didaktisches an. Schads ihrer Zeit auf die Quellen okkulter Lehren wie die sich der beruhigte, formal als Rückgriff auf Schads 188 stellung ihn Doris Hahn angeregt hatte (Abb. 687). Bildnis, das nach der Vorlage des nach 1837 im Druck Idee der »Gedankenbilder«. neusachliche Porträtkunst zu wertende Gestus mit In ihm sah er den ernsthaften Philosophen, »Kantia- weit verbreiteten Gemäldes der Schweizer Malerin Schads berauschte, feinnervige Bildkompositionen den okkulten Bilderwelten seiner Phantasie.190 Bedeu- ner« auf der einen, wie den anonymen Verfasser gro- Emilie Linder (1797–1867) entstand, umgeben Motive der frühen Schweizer Jahre scheinen nun im Umriss tungsoffen spielt Schad mit Elementen fernöstlicher tesker Persiflagen auf der anderen Seite: »Hier, wo er und Chiffren, Orte, Personen, Symbole und Szenen, beruhigter, im Kolorit offensiver auch durch die Poren Religionsmystik und des Taoismus sowie mit persön- sich als Anonymer gibt, erscheint sein Wesen am die in Beziehung zu Brentano und seinen Werken ste- dieses neu-alten Bilderkosmos hindurch. Diese aus lichen Auffassungen über die Künstlernatur Gentils, deutlichsten: Ein klares Nebeneinander von Sachli- hen: das Geburts- und Sterbehaus in Frankfurt und assoziierten Motiven aus Leben und Werken des Dich- dessen Figur er als Alter Ego eine verhüllte, nächtliche chem und Groteskem, und das Hereingreifen des in Aschaffenburg, Märchenfiguren wie die »Staren- 651 Christian Schad, ters bestehende Kompositionsweise griff Schad später Erscheinung an die Seite stellte, zwischen Spuk und Porträt Gustav Rudolf Sellner, Phantastischen in eine scheinbar geordnete Welt.«184 königin Aglaster«, »Prinz Mäuseohr«, das »Goldfisch- Tempera/Hartfaser, 1958, mehrfach wieder auf, etwa bei dem genannten Lite- Commedia dell’arte changierend. Das Porträt offen- chen« und viele andere; unten sitzt der »alte Müller CSSA 1200/2009 ratenporträt »Mynona«, aber auch bei »Paul Scheer- bart eine Zwienatur, gefangen zwischen Realität und bart« (Abb. 688) oder bei seinem Selbstporträt »Die Wunschexistenz, zwischen Blume und Dorne, Verlo- 189 Umgebung« (1967/68). Die dabei geübte Technik ckung und Bedrohung. der analogen Anordnung eigenständiger Bildmotive 181 Moreck 1931, S. 148, CSSA 179/2008. 1954, Resopal, 28,8 × 19,4 cm, CSSA 132/2003, Schad [Ch.] 182 Wohl nur beiläufig beschäftigte Schad sich mit den seiner- WVZ I, S. 324, Nr. 265. zeit aktuellen Schulen des Denkens, etwa mit dem Exis- 184 Christian Schad, Bildlegende Nr. 36, »Mynona«, Typo- 187 Bilddeutung von Bettina Schad [o. J.], CSSA 5811/2018. 190 Vgl. beispielsweise das Gemälde »Notturno (Porträt Otto tenzialismus. Sartre 1946a, CSSA 703/2008; Sartre 1946b, skript, 1976/77, CSSA 1013/2013, abgedruckt in Bd. 2, 188 Vgl. dazu S. 61, 63f. Gentil)«, 1952, Schad [Ch.] WVZ I, S. 230f., Nr. 177; Röske CSSA 1681/2011; Sartre 1949, CSSA 1533/2011. S. 80. 189 Röske 1994, S. 51; Ratzka 2001, S. 370–377, 381. Vgl. auch 1994, S. 49f. 183 Christian Schad, »Persephone I«, 1950, Tempera auf Papier, 185 Schad [Ch.] WVZ I, S. 258, Nr. 208. Schads eigenen Text zu diesem Bild, Typoskript, um 50,2 × 32,8 cm, MSA 518/2018; ders., »Persephone II«, 186 Schad [Ch.] WVZ I, S. 247f., Nr. 195. 1954/55, CSSA 605.9/2013. 368 369
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