CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel

Die Seite wird erstellt Lisa Langer
 
WEITER LESEN
CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel
Thomas Richter

       CHRISTIAN SCHAD
Künstler im
20. Jahrhundert

Bausteine zur Biographie

MICHAEL IMHOF VERLAG
CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel
Inhaltsverzeichnis

 6    Zum Geleit
      Klaus Herzog, Carl-Heinz Heuer

 7    Vorwort
      Thomas Richter

                                                        237   III In der Diktatur. 1933–1945
 9    I      Prägung und Suche. 1894–1927
                                                        237   III.1 Entscheidungen. 1933
  9   I.1    Gründer, Brauer und Juristen –             256   III.2 Dr. Johannes Ludwig Schmitt
             Jugend in der ›Prinzregentenzeit‹          267   III.3 Im offiziellen Kunstbetrieb
 18   I.2    Wege des Künstlers                         279   III.4 Innere Emigration?
 36   I.3    Die Schweizer Jahre                        292   III.5 Erfolge – Aufträge, Projekte. 1939–1942
 71   I.4    Intermezzi – München, Italien und zurück   306   III.6 Die Schauspielerin Bettina Mittelstädt
 86   I.5    Eine Frau, ein Kind, eine Existenz?        320   III.7 Alte Meister und Ruinen – Aschaffenburg. 1942
 98   I.6    Kunst und Kunstmarketing
104   I.7    Die Wiener Jahre. 1925–1928
130   I.8    Abtrennungen – Schad und Serner            335   IV Im Nachkriegsdeutschland.
                                                                 1947–1964
139   II     Leben im Zentrum der Epoche –              335   IV.1 Das Spruchkammerverfahren 1947
             Berlin. 1928–1942                          345   IV.2 Bewältigungen
                                                        353   IV.3 Zusammenbruch und okkulte Riten
139   II.1   Schauplatz Berlin!                         360   IV.4 Kein Anschluss – Christian Schad und
145   II.2   Marktgeschehen                                         die Nachkriegsmoderne
155   II.3   Frauenbilder                               379   IV.5 Intellektuelle Refugien
159   II.4   Politisches?
166   II.5   Der Salon der Frau Dr. Haustein
174   II.6   Neue Sachlichkeit                          385   V     Später Durchbruch. 1964–1982
183   II.7   Erotisches und Anderes
193   II.8   Facetten – männliche und                   385   V.1   Ausstellungen und das Wiederaufgreifen
             weibliche Homosexualität                               der Schadographie
205   II.9   Typisierungen des Weiblichen               397   V.2   Das Politische – am Ende doch?
211   II.10 Schads Berliner Okkultismus                 407   V.3   Selbstmusealisierung – Rückgriffe auf
220   II.11 Völkische Esoterik                                      die 1920er Jahre
229   II.12 Ambitionen                                  412   V.4   »Christian Schad ist eine tantrische Gottheit« –
                                                                    Händler, Sammler, Forscher, Promotoren
                                                        420   V.5   Christian Schad – eine ›erzählte‹
                                                                    Künstlerpersönlichkeit

                                                        429   Anhang
                                                        430   Archive
                                                        431   Abgekürzt zitierte Literatur
                                                        462   Register
                                                        474   Abbildungsnachweis

                                                                                                               5
CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel
Zum Geleit                                                                                                                      Vorwort

    Das Leben mit ihm und für ihn war und ist mein Lebensinhalt. Es war ein Genuss, mit ihm zu leben […].
Wir haben uns gut ergänzt. Ich war abgehärteter als er. Was ich am Theater gesucht hatte, die totale Vereinigung
                                von Seele, Geist und Körper, habe ich in ihm gefunden.
                                                                                                                                C    hristian Schad, der Dadaist, der Schöpfer der
                                                                                                                                     Schadographie, der Meister der Neuen Sach-
                                                                                                                                lichkeit – das sind die Kategorien, die man mit die-
                                                                                                                                                                                           Fachdisziplinen außerhalb der Kunstwissenschaft.
                                                                                                                                                                                           Dem Autor ist bewusst, dass das Eindringen in fremde
                                                                                                                                                                                           Terrains, etwa der Zeit- und Sozialgeschichte, der Phi-
                  Bettina Schad im Interview mit der Aschaffenburger Tageszeitung »Main-Echo«, 12. Juli 2001                    sem Künstler heute allgemein verbindet. In zahlrei-        losophie oder des Gebiets neureligiöser Strömungen,
                                                                                                                                chen Ausstellungen und Publikationen der letzten           Gefahren in sich birgt. Die im Text vorgebrachten
                                                                                                                                vier Jahrzehnte wiederholt, fügt die hier erstmals         Exkurse sind daher nicht als Kommentare zu aktuell

B    ettina Schad (1921–2002), die der Stadt Aschaf-
     fenburg im Jahr 2000 den Nachlass ihres Man-
nes zum Geschenk machte, war eine außergewöhn-
                                                                Aschaffenburg hat sich die Erforschung des Werkes von
                                                                Christian Schad und dessen Vermittlung zur Aufgabe
                                                                gemacht. Zum Vermögen der Stiftung gehören mehr
                                                                                                                                umfassend erfolgte Auswertung des in Aschaffenburg
                                                                                                                                erhaltenen schriftlichen Nachlasses diesem Bild
                                                                                                                                neue, ergänzende Erkenntnisse hinzu. Diese führen
                                                                                                                                                                                           gestellten Forschungsfragen gedacht. Vielmehr steht
                                                                                                                                                                                           auch hier das interdisziplinäre Angebot im Vorder-
                                                                                                                                                                                           grund. Der Leser wird somit nicht auf alle aufgewor-
liche und beeindruckende Persönlichkeit. Mit Ener-              als 3.200 Werke ebenso wie der gesamte private Nach-            den Künstler in den Jahrzehnten zwischen Erstem            fenen Fragen letztgültige Antworten finden. Mein
gie, Charme und eleganter Nachdrücklichkeit ver-                lass einschließlich der Bibliothek des Künstlers. Ihr Auf-      Weltkrieg und den frühen 1980er Jahren in seinem           Dank geht vor allem an die Lektorin des Buches,
folgte sie ihr Ziel, dem weltweit anerkannten Künst-            trag, dieses kulturelle Erbe der Öffentlichkeit zugänglich      privaten, öffentlichen und professionellen Umfeld          Dr. Wanda Löwe, Berlin, die mit Klarheit und der nö-
ler Christian Schad in seiner Wahlheimat ein blei-              zu machen, wird durch die seit 2008 erfolgende He-              deutlicher als bisher als Handelnden in gesellschaft-      tigen Unerbittlichkeit über unseren gemeinsamen
bendes Denkmal zu setzen. Gern haben wir sie auf                rausgabe der Werkverzeichnisse und nun durch die Er-            lichen Zusammenhängen vor Augen.                           Anspruch auf Transparenz und Objektivität wachte.
diesem Weg begleitet und unterstützt. Wir gedenken              öffnung des Christian Schad Museums erfüllt.                    Jeder Versuch einer vergleichenden Parallelführung         Im Laufe der Vorbereitungen gingen Sichtung und In-
ihrer heute, da das ihrem Mann gewidmete Museum                 Wir danken allen für das Projekt politisch Handelnden           von künstlerischem Werk und gesellschaftlichem             ventarisierung des Archivbestands Hand in Hand. Neue
Wirklichkeit geworden ist, in Dankbarkeit.                      auf kommunaler wie staatlicher Ebene sowie den öf-              Umfeld kann stets nur als Annäherung verstanden            Funde und zusätzliche Informationen wurden unter
Christian Schad und Aschaffenburg. Im Herbst 1942               fentlichen und privaten Förderern und Unterstützern,            werden. Zudem sei nicht verschwiegen, dass dieses          anderem in Archiven in Berlin und München getätigt.
kam der Künstler für einen Porträtauftrag in die da-            ohne deren weitsichtiges Zusammenspiel und Enga-                methodische Unterfangen dem Bestreben des Künst-           Sie festigten und korrigierten das Bild. Ich bin Anja Lip-
mals etwa 45.000 Einwohner zählende Stadt am Un-                gement die Umsetzung nicht möglich gewesen wäre.                lers und der Stifterin seines Nachlasses, Bettina Schad,   pert M.A. für die Bändigung der Materialflut sowie Dr.
termain. Er fasste hier schnell Fuß. Aus Bekanntschaf-          Stellvertretend hervorgehoben seien der Bezirk Unter-           gewissermaßen zuwiderläuft. Beide haben über Jahr-         Bettina Keß, Würzburg, für die externen Recherchen
ten wurden Freundschaften, und schon im folgenden               franken, Bezirkstagspräsident Erwin Dotzel, Prof. Dr.           zehnte sehr viel Kraft darauf verwendet, die stringente    zu besonderem Dank verpflichtet. Sorgfältige Recher-
Jahr traf er die Entscheidung, die von Krieg und Zer-           Klaus Reder, die Bayerische Landesstiftung, Abgeord-            Erzählung vom voraussetzungslosen ›Epochenkünst-           chen bezogen auf das Inventar und die Bildredaktion
störung verwüstete Hauptstadt Berlin zu verlassen               neter Peter Winter, MdL, sowie die Landesstelle für die         ler Christian Schad‹ zu formen und zu verbreiten. Ei-      verdanke ich Christine Fröhlich, Anna-Sophie Karl und
und sich ganz in der noch ruhig und abseits des Ge-             nichtstaatlichen Museen in Bayern, namentlich Dr.               ne kritischere Öffentlichkeit und der Fortschritt in-      Carolin Remlein. Hinweise steuerten Dr. Alexandra von
schehens gelegenen Provinz niederzulassen: »Es ist              Astrid Pellengahr und Dr. Stefan Kley. Von Beginn an            terdisziplinärer Ansätze in der Kunstwissenschaft for-     dem Knesebeck, Bonn, und Dr. Nicole Brandmüller-
schon viel angenehmer in einer kleinen Stadt zu le-             machten sich der Verwalter der Stiftung, Kulturamts-            dern und ermöglichen heute indes einen differen-           Pfeil, Schnaitach, bei. Die Gestaltung lag bei Anna Wess
ben, besonders in der jetzigen Zeit. […] In Deutsch-            leiter Burkard Fleckenstein, und der Direktor der Mu-           zierteren Blick. Das Aschaffenburger Archiv bietet da-     im Michael Imhof Verlag in guten Händen.
land ist es auch gerade umgekehrt, wie in Frankreich.           seen, Dr. Thomas Richter, um das Projekt in besonde-            zu Grundlagen, ohne dass deren Darstellung den An-         Mein Dank gilt allen Verantwortlichen in Politik und
Hier wird Kultur in der Provinz gemacht, dort in Paris          rem Maße verdient. Ihnen wie auch dem Baureferen-               spruch einer abschließenden Bewertung erheben              Verwaltung der Stadt Aschaffenburg, die dieses Projekt
und die Provinz hat kaum etwas zu sagen. Berlin ist             ten Jürgen Herzing und Bauamtsleiter Walter Hart-               könnte. Ziel ist es vielmehr, zukünftiger Forschung        von Beginn an positiv begleitet und die Ergebnisse
kein produktives Pflaster: Sand, Sand! Ich arbeite hier         mann sowie den Beiräten der Stiftung, Dr. Heinrich              verwertbare Informationen an die Hand zu geben             der wissenschaftlichen Bearbeitung ermöglicht haben.
leicht und unbeschwert, was in Berlin nicht so ein-             Binder und Dr. Stephan Schiller, gilt unser nachdrück-          und dem interessierten Museumsbesucher eine ver-           Ohne die öffentlichen und privaten Förderer, die die
fach ist« (Christian Schad, Brief an Bettina Mittelstädt,       licher Dank. Schließlich gebührt dieser dem Architek-           tiefte Beschäftigung mit diesem Thema anzubieten.          Finanzierung des neuen Museums zu einem großen
13. April 1943). Wie viele ahnte der Künstler nicht,            ten des Museums, Walter Böhm, Dettelbach/Iphofen.               Als Textgrundlage und ›Storyboard‹ zur ersten Dauer-       Anteil ermöglichten, wäre der Wunsch Bettina Schads,
dass gegen Ende des Krieges auch Aschaffenburg zum              Ihm ist im Aschaffenburger Jesuitenkolleg eine über-            ausstellung angelegt, tragen Gliederung und Argumen-       dieses Haus zu errichten, ein Traum geblieben.
Ort größter Zerstörungen werden sollte.                         zeugende architektonische Struktur innerhalb der                tation des Buches daher noch deutlich die Züge einer       Schließlich gilt meinem hoch engagierten Museums-
Nach dem Krieg stieß seine Partnerin Bettina Mittelstädt        limitierenden Vorgaben eines historischen Ensembles             Materialsammlung. Im zweiten Band werden erstmals          team mein herzlicher Dank – dieses neue Museum
zu ihm, und beide heirateten im Jahr 1947. Im selben            gelungen, die zukünftig die Menschen in der Stadt               eigene Texte Christian Schads als Auswahl aus dessen       ist mit Kreativität und hohem persönlichem Einsatz
Jahr wurde Schads Kopie der Stuppacher Madonna Mat-             wie deren Gäste von nah und fern begeistern wird.               umfangreichem literarischem Schaffen vorgestellt. Hin-     aller geplant und eingerichtet worden. Unermüdlich
thias Grünewalds feierlich der Stadt übergeben. Das                                                                             zu kommt die vollständige Herausgabe seiner »Bildle-       im Entstehungsprozess für die musealen Belange
Werk zählt heute zu den großen Sehenswürdigkeiten                                                               Klaus Herzog    genden«, die zu Lebzeiten des Künstlers nicht zustande     ringend, seien stellvertretend Martin Höpfner und
der Aschaffenburger Stiftskirche. Das Ehepaar plante                                 Oberbürgermeister und Kulturreferent       kam. Mein Dank für die aufwändige editorische Vor-         Sabine Denecke genannt. Dieses Buch und vieles
zunächst nur für wenige Monate voraus. Doch aus dem                                                  der Stadt Aschaffenburg    arbeit gilt Elisabetta Lecchi M.A., Brescia/Würzburg.      andere wäre ohne den entschlossenen Einsatz Anja
Provisorium und der Zuflucht wurden Jahrzehnte eines                                                                            Schads Zeitzeugenschaft zentraler Epochen der deut-        Lipperts M.A. nicht möglich gewesen.
glücklichen und produktiven Aufenthalts.                                                           Prof. Dr. Carl-Heinz Heuer   schen Geschichte, seine ausgreifenden, im weitesten
Die im Jahr 2000 von Bettina Schad gegründete nicht-                           für den Beirat der Christian-Schad-Stiftung      Sinne geistesgeschichtlich orientierten Interessen brin-
selbstständige Stiftung in der Verwaltung der Stadt                                                            Aschaffenburg    gen die Betrachtung in Berührung mit zahlreichen                                                    Thomas Richter

6                                                                                                                                                                                                                                                  7
CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel
I Prägung und Suche. 1894–1927

                                    I.1 Gründer, Brauer und Juristen –
                                    Jugend in der ›Prinzregentenzeit‹

                                    C     hristian Ernst Karl Schad kam am 21. August
                                          1894 auf der Waldecker Höhe in dem über der
                                    oberbayerischen Stadt Miesbach gelegenen Anwesen
                                                                                                      dete Unternehmen seiner Frau durch deren Geschick
                                                                                                      und Tatkraft zur bedeutendsten Brauerei Südbayerns
                                                                                                      und zum größten Betrieb dieser Art außerhalb der Re-
                                    seiner Großeltern zur Welt. Marie Schads (1871–1954)
                                    Vertrauen in den Hausarzt der Familie hatte den Ge-
                                    burtsort ihres ersten Kindes bestimmt. Das Jahr über
                                    lebte die junge Frau mit ihrem Ehemann, dem re-
                                    nommierten Notar Dr. Carl Schad (1866–1940), in
                                    München. Er, ein in Nürnberg geborener Protestant,
                                    sie, die in der Region verwurzelte Katholikin, ließen
                                    das Kind am 30. September 1894 römisch-katholisch
                                    taufen. Schriftliche Vereinbarungen regelten unter
  2 Carl Schad mit seinem Sohn,
                                    beiden die Aspekte religiöser Erziehung.1 Christian
   um 1900, CSSA 3524/2017b
                                    wuchs in den folgenden Jahren gemeinsam mit seiner
                                    zwei Jahre jüngeren Schwester Margarethe (1896–
                                    1981) in vermögenden Verhältnissen auf, verlebte ei-
                                    ne glückliche, von Kindermädchen umsorgte Kind-
                                    heit und Jugend im Kreis einer musischen Belangen
                                    gegenüber aufgeschlossenen Familie.2
                                    Marie Schads Vater Carl Anton Fohr (1834–1889)
                                    stammte aus einer Mannheimer Hoteliersfamilie. Er
                                    war zunächst als Bergingenieur im Rheinland tätig
                                    gewesen und stieg später zum Generaldirektor der
                                    Oberbayerischen Aktiengesellschaft für Kohlenberg-
                                    bau auf, deren Betriebsstätten in und um Miesbach
                                    in dieser Zeit gut 1.200 Menschen beschäftigten. Als
                                    tatkräftiger Gründer unter anderem mit dem bayeri-
    3 Christian Schad und seine     schen Technikpionier Oskar von Miller (1855–1934)
Schwester Margarethe, um 1900,      befreundet, war Fohr am 16. September 1882 an der
              CSSA 3524/2017
                                    weltweit ersten Kraftstromübertragung zwischen dem

 ▶▶ 4 Christian Schads Geburts-
                                    Bergwerk Miesbach und dem Münchner Glaspalast
haus, die Villa Fohr in Miesbach,   beteiligt.3 Fohr war seit 1866 mit Susanna Aloisia
      um 1910, CSSA 613/2010        Waitzinger (1844–1901) verheiratet, die aus einer be-

   ▶▶ 5 Marie Schad mit ihrem
                                    güterten Miesbacher Brauereidynastie stammte. Nach
    Sohn, 1894, CSSA 611/2010       Fohrs Tod entwickelte sich das bereits 1816 gegrün-

                                    1   Es existieren drei Verträge über religiöse Kindererziehung        bensabend in Kreuth am Tegernsee, Stadtarchiv Miesbach,

         ◀◀ 1 Christian Schad,
                                        v. »März 1893«, 09.07.1894, 02.09.1895, CSSA 1845/2017.           schriftl. Auskunft v. 14.10.2015, vgl. Keß 2016, S. 5.
                                    2   Sie heiratete später den in Augsburg niedergelassenen Notar   3   Maier [G.] 1997, S. 7f., 10, 14; Konvolute von Unterlagen
     Die Münchner Frauenkirche          Kurt Karl Edler von Weidenbach (1884–1960). Der Ehe ent-          zur Familienforschung: 1905–1968, CSSA 596/2013, und
       im Gegenlicht, um 1910,          stammten die Kinder Elisabeth und Wolff von Weiden-               1934–1938, CSSA 596.3/2013.
             CSSA 3506/2017             bach. Margarethe von Weidenbach verbrachte ihren Le-

                                                                                                                                                                 9
CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel
I PRÄGUNG UND SUCHE. 1894–1927                                                                                                                                                                                                                                                                 I.3 DIE SCHWEIZER JAHRE

                                                                                                                                    ◀◀ 90 Christian Schad,           ▶ 92 Christian Schad,
                                                                                                                                    Boui-Boui, Holzschnitt,     Avant le ballet, Holzschnitt,
                                                                                                                                    1915, CSSA 794.3/2009          1916, CSSA 796.1/2009

                                                                                                                                    ◀ 91 Christian Schad,          ▶▶ 93 Christian Schad,
                                                                                                                                    Apachencafé, Holzschnitt,       Marietta, Öl/Lw., 1916,
                                                                                                                                    1916, CSSA 807/2009                      CSSA 79/2003

Café des Banques« in der Bahnhofstraße 70, das sich             Marietta!                                                                                                                       die im Medium des Holzschnitts und einiger weniger                 hen, nun aber erfolgte die Annäherung an das Innere
                                                                                                                                                                                                                                                       180
in einem repräsentativen, 1902/03 von den Architek-             Marietta!                                                                                                                       Lithographien wie »Passions« oder »L’Ennui«                  er-   quasi en face, mit direktem, unbestechlichem Blick
ten Otto Pfleghard (1869–1958) und Max Haefeli sen.                                                                                                                                             probte expressive Formensprache in die Malerei und                 auf das Gegenüber. Schad erinnerte sich später an
                                               174
                                                                Marietta!177
(1869–1941) erbauten Gebäude befand.                 Hier wie                                                                                                                                   verließ zugleich den Boden religiöser Themen und                   diese Zeit und seine künstlerischen Absichten: »Ich
andernorts fand Schad Anregungen und verarbeitete               In diese Zeit fiel die Begegnung der beiden reservier-                                                                          alltäglicher urbaner Beobachtungen. Er wandte sich                 wollte das Sichtbare so überdeutlich machen, daß da-
alltägliche Eindrücke. So bildete etwa das täglich dort         ten Bohemiens mit der Diseuse Marietta, »für deren                                                                              nun mehr und mehr dem Thema des Porträts zu, das                   durch die Rätselhaftigkeit des Seins offensichtlicher
aufspielende Salonorchester die Vorlage für einen               Reiz und Wesen«, wie Schad bemerkt, »wir beide et-                                                                              für sein zukünftiges Werk tonangebend bleiben sollte:              werde und die Oberfläche fragwürdiger.«182 Das in
Holzschnitt im ersten Heft des »Sirius«. Aber auch die          was übrig hatten«.178 Marietta oder Marietta di Mo-                                                                             die Schilderung des menschlichen Gegenübers im                     Angriff genommene Porträt der Künstlerin »Marietta«
Kaschemmen der Stadt fanden Eingang in die Bildwelt             naco, bürgerlich Marie Kirndörfer (1893–1981), hatte                                                                            Spannungsverhältnis seiner menschlichen Höhen                      diente ihm 1916 als ein erstes Experimentierfeld sei-
des jungen Künstlers, etwa in den Szenen »Café de               in München als Künstlermodell begonnen und war                                                                                  und Abgründe.                                                      ner Gestaltungsabsichten. Daneben verband alle drei
nuit« oder »Apachencafé«, benannt nach dem Milieu-              später mit Texten von Klabund (eigentlich Alfred                                                                                Wie viele seiner Zeitgenossen, etwa Kandinsky, Jaw-                eine Liaison: »Serner hatte mit Marietta das, was –
begriff für Zuhälter. Die Bühnen und Variétés fanden            Henschke, 1890–1928), Johannes R. Becher (1891–                                                                                 lensky, Kubin, Alfons Mucha (1860–1939) oder Wil-                  wenn jung – man problemlos mit einem amüsanten,
ihren Widerhall in Blättern wie »Avant le ballet« oder          1958) und anderen im »Simplicissimus« erfolgreich                                                                               helm Morgner (1891–1917), der in Berlin seine »astra-              reizvollen Mädchen hat […]. Später 1916 malte ich
              175                                                           179
»Ensemble«.         Das Leben in den Cafés, die flüchtigen      gewesen.          Wie viele entfloh sie den kriegsbedingten                                                                     len Kompositionen« entwickelte, aber auch Kollegen                 Marietta, weil sie mir gefiel und weil ihre Stellung zu
Affären, geschlossen aus Langeweile, »beziehungslos«,           Hungerjahren in die Schweiz und trat am 2. Juni                                                                                 wie Francis Picabia (1879–1953), Constantin Brâncuşi               mir der analog war, die sie damals zu Serner hatte.
wie Schad später bemerkte, boten ihm Ausgangspunk-              1915 erstmals in Zürich im »Cabaret Bonbonnière«                                                                                (1876–1957) oder der Kunsttheoretiker Ricciotto Ca-                Voilà les affinités.«183 In ihrem Porträt begegnen zum
te für seine Arbeit. Serner erscheint demgegenüber              auf, einem der rund 60 seit der Jahrhundertwende                                                                                nudo (1877–1923) in Paris, suchte Schad dem als see-               einen noch die kristallinen, dem französischen Ku-
mitunter etwas glutvoller. An Tristan Tzara schreibt            neu etablierten Kleinkunst- und Filmtheater der                                                                                 lenlos empfundenen ›Materialismus‹, wie er die Kunst               bismus entlehnten Brechungen von Körper und Per-
er: »Ce serais très chic, si vous voulez venir à Genève.        Stadt, in dem allabendlich im ersten Stock über dem                                                                             des 19. Jahrhunderts dominiert habe, etwas Seelisch-               spektive. Darüber hinaus treten aber auch bereits Ele-
Les femmes ici sont merveilleuses. Elles laissent s’ac-         »Grand Café des Banques« die Türen geöffnet wur-                                                                                Geistiges entgegenzusetzen und eine neue Kunst in                  mente hervor, welche die sich anschließende Dada-
coster sans façon. Et elles sont … Venez, venez!!!«176          den. In dem ihr gewidmeten Gemälde übertrug Schad                                                                               das Leben des modernen, urbanen 20. Jahrhunderts                   Periode ankündigen: Versatzstücke, Schriftfetzen, die
                                                                                                                                                                                                                 181
                                                                                                                                                                                                zu überführen.         Zunächst war dies in seinen Arbei-          Vermischung von Klang, Musik, Wort und Situation.
                                                                                                                                                                                                ten mit Hilfe narrativer Szenen, korrespondierender                Die von Schad gewählten Inschriften evozieren das
174 Quintus Miller, Pfleghard und Haefeli, in: Architektenle-         Holzschnitt, 31,5 × 23,5 cm, CSSA 807/2009; vgl. Kluge                                                                    Zustände und symbolhafter Kompositionen gesche-                    seinerzeit bekannte melancholisch-kritische Chanson
    xikon der Schweiz, S. 418f.                                       1967, S. 27.
175 Christian Schad, »Orchester«, 1915, Holzschnitt,            176   Walter Serner, Brief an Tristan Tzara v. 30.09.1919,
    17,8 × 12,2 cm, CSSA 782.3/2009; ders., »Café de nuit«,           CSSA 3806/2017 (Abschrift), Original in Paris, Bibliothèque
    1915, Holzschnitt, 42 × 27 cm, CSSA 1036/2009; ders.,             littéraire Jacques Doucet, FD tzr.c.3.770 ms.sign.hs.                                                                     180 Christian Schad, »Passions«, 1915, Lithographie,               182 Christian Schad, Über Dada und so weiter, Typoskript,
    »Avant le ballet«, 1915, Holzschnitt, 44 × 31,5 cm,         177   Serner 1964, [S. 5], CSSA 216/2008.                                                                                           48 × 32,5 cm, CSSA 790.1/2009; ders., »L’Ennui«, 1916, Li-         24.02.1966, CSSA 1137/2013, abgedruckt in Bd. 2, S. 133f.
    CSSA 31/2003; ders., »Ensemble«, 1915, Holzschnitt,         178   Schad [Ch.] 1999, S. 19.                                                                                                      thographie, 54,5 × 53 cm, CSSA 1039/2009.                      183 Christian Schad, Brief an Doris Hahn v. 27.10.1965,
    27 × 20,8 cm, CSSA 783/2009; ders., »Apachencafé«, 1916,    179   Klabund 1920.                                                                                                             181 Dazu ausführlich von Beyme 2005, S. 87–91.                         CSSA 1982/2017.

44                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           45
CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel
I PRÄGUNG UND SUCHE. 1894–1927                                                                                                                                                                                                                                              I.7 DIE WIENER JAHRE. 1925–1928

ten Ehemann, den Tenor der Wiener Staatsoper, Trajan               »So malt man heute die Frau«                                                             ▶▶ 226 Christian Schad,      sum« erschien.558 Der Kontakt zu der jungen Frau war
                                                                                                                                                          Porträt der Baronin Erzsébet
Grosavescu (1895–1927), erst mit krankhafter Eifer-                                                                                                                                      über ihren Münchner Lehrer, den Pianisten Joseph
                                                                                                                                                           Marton Hatvany, Titelbild
sucht verfolgt und ihm dann heimtückisch durch das                 Als Resultat der skeptischen Wiener Presse blieben                                   von: Jugend 32, 1927, Nr. 30,    Pembaur, zustande gekommen, den Schad schon
Ohr in den Kopf geschossen. Alle Details dieser Bezie-             das Käuferinteresse und auch der Widerhall bei po-                                                CSSA 6028/2016      1922 porträtiert hatte.559 Über sein Modell, das aus
hung wurden genüsslich durch den Blätterwald ge-                   tentiellen Wiener Auftraggebern weitgehend aus. Da-                                                                   einer in Wien ansässigen italienisch-österreichischen
trieben. Die Tat, brutal und skandalös, bot auf der an-            gegen lief die Aufmerksamkeitsmaschinerie über das                                                                    Familie stammte, äußerte Schad sich später eher ab-
deren Seite manchem auch vermeintliche Einblicke                   Medium der illustrierten Blätter recht gut. 1927 malte                                                                fällig. In mokantem Ton beschrieb er sie als fröm-
in seelische Abgründe, wo offensichtlich eine »dämo-               Schad das Porträt der Pianistin Anna Gabbioneta, das                                                                  melnd-lasziv, ehrgeizig, jedoch letztlich erfolglos und
                                                                                                                            225 Christian Schad,
nische Gewalt« auf diese Frau eingewirkt hatte. Als                noch im selben Jahr als Titel des Wiener Magazins        Anna Gabbioneta, Öl/Lw.,
                                                                                                                                                                                         in der künstlerischen Diaspora endend.560 Gleichwohl
ein Musterbeispiel gruppendynamischer Prozesse ver-                »Moderne Welt« und ganzseitig in »Reclams Univer-        Wien, 1927, Privatbesitz                                     pflegte er mit Anna Gabbioneta auch in Berlin Um-
breitete sich bald das Mitleid mit der Angeklagten,                                                                                                                                      gang und fertigte Jahre später ein graphologisches
was schließlich zu einer spektakulären Wendung des                                                                                                                                       Profil von ihr an, das allerdings ebenfalls wenig
Falles führte. Schad interessierten indes nicht die Be-                                                                                                                                  schmeichelhaft ausfiel.561 Seit 1929 lebte die junge
gleitumstände, sondern weit mehr die Aura der passiv                                                                                                                                     Frau ständig in Mailand. Dort erhielt sie als Pianistin
und unbeteiligt wirkenden Angeklagten. Er wohnte                                                                                                                                         Arbeit beim italienischen Rundfunk. Sie berichtete
dem Prozess bei und fertigte im Gerichtssaal mehrere                                                                                                                                     ihm darüber in seine »Berliner Residenz«: »[…] eine
                                                                                                                                                                227 Christian Schad,
Zeichnungen von ihr an.554 In der Nacht auf den                                                                                                            Anna Gabbioneta, Titelbild    ausgezeichnete Stelle in einer Sektion für alte, italie-
26. Juni 1927 wurde das Geschworenenurteil verkün-                                                                                                     von: Moderne Welt 8, 1926/27,     nische Musik […]. Ansonsten hoffe ich auf eine bal-
                                                                                                                                                             H. 23, CSSA 6036/2016
det: Grosavescu wurde »aufgrund von Sinnesverwir-                                                                                                                                        dige Gelegenheit, um wieder nach Deutschland zu
rung zum Zeitpunkt der Tat« infolge einer kurz zuvor                                                                                                                                     kommen. Wenn man ein Mischling ist, wie ich, lebt
erlittenen Fehlgeburt freigesprochen: »Laute Bravorufe                                                                                                                                   man in einem ewigen Zwiespalt und kann sich doch
ertönten nach der Verkündigung des Urteils. […] Vor                                                                                                                                      nicht für das eine oder andere Land gänzlich ent-
dem Gerichtsgebäude kam es zu turbulenten Szenen                                                                                                                                         scheiden. Hier ist auch keine Möglichkeit der Entfal-            besonders bei gleichzeitiger Reproduktion in der ›Ju-
                                                       555
und Kundgebungen für die Freigesprochene.«                   Der                                                                                                                         tung, weil in allem politische Momente mitspie-                  gend‹ für Sie verhältnismäßig leicht verkäuflich sein
Fall, der die konträren Kräfte bedingungsloser Hingabe                                                                                                                                   len.«562                                                         müsste.« Das Ehepaar Hatvany, das damals in der
und roher Gewalt als zwei Seiten ein und desselben                                                                                                                                       Im Fall des Porträts der Erzsébet Marton Hatvany, der            Wiener Hermesvilla im Lainzer Tiergarten logierte,
Charakters offenbarte, stieß auch in der Fachwelt auf                                                                                                                                    Gattin des jüdischen Exilschriftstellers Lajos Freiherr          war bereits entsprechend unterrichtet. Schad ging auf
großes Interesse. In seiner Studie »Irrwege des Eros«                                                                                                                                    Hatvany (1880–1961), bietet die erhaltene Korres-                den Handel ein und sagte zu, »das Porträt in einer
räumte Erich Wulffen (1862–1936), der damals popu-                                                                                                                                       pondenz dagegen interessante Einblicke in die sei-               Woche« fertigzustellen.564 Im nächsten Schreiben
läre Pionier in der Anwendung psychologischer For-                                                                                                                                       nerzeit üblichen Produktionsgegebenheiten populärer              wurden die Erwartungen »für diese Rekordarbeit« spe-
schung im Bereich der Kriminologie, im Jahr 1929                                                                                                                                         künstlerischer Arbeiten, denn das Bildnis der Baronin            zifiziert. Zunächst sollte »jedenfalls die künstlerische
dem Fall Nelly Grosavescu breiten Raum ein. Er zitierte                                                                                                                                  entstand als Auftragsarbeit für eine Sondernummer                Auffassung dementsprechend auf repräsentative
dabei ausführlich die in der Verhandlung verlesenen                                                                                                                                      der Zeitschrift »Jugend« über das Thema »Die Schöne              Schönheit eingestellt sein […]. Was das Abdruckho-
                                                                                                                                                                                                  563
psychiatrischen Gutachten über die »energische Frau                                                                                                                                      Frau«.         Schad erhielt das Angebot per Eilbrief aus        norar betrifft, so möchten wir Ihnen mit Rücksicht
von männlichem Einschlag, mit sehr eigenwilligem,                                                                                                                                        München am 19. April 1927 und wurde gebeten, »in                 auf Ihr besonderes Entgegenkommen das bisherige
skrupellosem, etwas gefährlichen Wesen und von gro-                                                                                                                                      ziemlich grosser Schnelligkeit« bereits zum 30. des              Honorar verdoppeln, also M. 150.- anbieten. Es wäre
ßer Gemütsreizbarkeit, daher minderwertig und Psy-                                                                                                                                       Monats ein fertiges Ölbild zur Reproduktion für den              uns sehr angenehm, wenn Sie sich im Format eini-
              556
chopathin«.         Schad faszinierten die Persönlichkeits-                                                                                                                              Titel des Magazins abzuliefern: »Ob Herr Baron Hat-              germassen an unser Zeitschriftenformat halten könn-
strukturen gesellschaftlicher Außenseiter ebenso wie                                                                                                                                     vany selbst als Käufer für das Porträt in Frage käme,            ten, wobei eventuell zu überlegen wäre, ob man im
die vermeintlich wissenschaftliche Herleitung cha-                                                                                                                                       können wir natürlich nicht sagen, glauben aber, dass             oberen Teil einen neutralen Hintergrund so weit fort-
rakterlicher Anomalien aus physiologischen Beobach-                                                                                                                                      ein derartiges Bild jedenfalls Aufsehen erregen und              führen könnte, dass die Schrift ›Jugend‹ noch auf die
tungen. Auch mit kriminologischen Verfahrensweisen
und den Viten diverser Gewaltverbrecher hat er sich
zeitweise intensiv beschäftigt.557 Diese Studientiefe
und -breite findet zahlreichen Niederschlag in seinem                                                                                                                                    558 Moderne Welt 8, 1926/27, H. 23 (2. Maiheft 1927),            563 Das Gemälde »Baronin Hatvany«, geb. Elisabeth Böske
                                                                                                                                                                                             CSSA 6036/2016; Reclams Universum 44, 1927/28, H. 40             Marton, erschien dann als Titelbild der »Jugend« (32, 1927,
Werk, wie im Weiteren noch zu zeigen sein wird.
                                                                                                                                                                                             (28.06.1928), Abb. n. S. 884, CSSA 6009/2016. Die Redak-         Nr. 30 [23.07.1927]), Schad [Ch.] WVZ I, S. 136, Nr. 88; AK
                                                                                                                                                                                             tion von »Reclams Universum« hatte Schad 1927 nach Pu-           Mailand 1970, Nr. 39, o. Pag., CSSA 17/2012. Anonym [Lo-
                                                                                                                                                                                             blikationen in der »Jugend« zur Mitarbeit eingeladen, vgl.       la Plesz?], A Modern Holbein, a szép asszonyok festöje, in:
                                                                                                                                                                                             den Briefwechsel CSSA 5704–5715/2016.                            Színházi Élet 19, Dez. 1929, Nr. 50, S. 19, , CSSA 6013/2016 zeigte »Baronin Hatvany«
555 Bericht im »Prager Tagblatt« v. 26.06.1927, S. 1.                  Schads Studienobjekten vgl. auch S. 117f., 223f.                                                                  561 Vgl. S. 119, 225.                                                und »Lola Plesz«.
556 Wulffen 1929, S. 235–246, Zitat S. 244 (nicht in der Schad-                                                                                                                          562 Anna Gabbioneta, Brief an Christian Schad v. 09.09.1929,     564 Redaktion der »Jugend«, Brief an Christian Schad v.
    Bibliothek vorhanden). Zu Wulffen: Volkmar Sigusch, Art.                                                                                                                                 CSSA 3421/2017; sie lebte damals in Mailand in der Via           19.04.1927, CSSA 5725/2016; Schads Zusage v. 20.04.1927,
    Wulffen, Erich, in: Sigusch/Grau 2009, S. 783–788.                                                                                                                                       Monteresole 18.                                                  CSSA 5726/2016.

118                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  119
CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel
II Leben im Zentrum der Epoche –
                                        Berlin. 1928–1942

                                     II.1 Schauplatz Berlin!

                                     A    ls Christian Schad im April 1928 seinen Wohn-
                                          sitz in Berlin nahm, hatte sich innerhalb einer
                                     Generation die Bevölkerung in dieser Stadt fast ver-
                                                                                                     mann Karl Fiering etablierte »Romanische Café«. Man
                                                                                                     zählte 49 Sprechbühnen, drei Opernhäuser, 75 Ka-
                                                                                                     baretts, Varietés und Kleinkunstbühnen. Zu den rund
                                     doppelt und war auf über vier Millionen Menschen                550 Cafés kamen 220 Bars und Tanzlokale. Neben
                                     angewachsen. Es erschienen 45 Morgenzeitungen,                  dem aufkommenden Tonfilm war das Radio die große
                                     zwei am Mittag, 14 weitere am Abend. Rund 200 Ver-              Neuerung der Zeit. 1923 war in Berlin die erste deut-
                                     lage teilten sich den Markt der Presse und Buchpu-              sche Rundfunksendung ausgestrahlt worden, zwi-
                                     blikationen, darunter die Häuser so herausragender              schen 1924 und 1933 stieg die Zahl der Radioemp-
                                     Verlegerpersönlichkeiten wie Ernst Rowohlt (1887–               fänger im Reich von 10.000 auf 4,3 Millionen.3 In ei-
                                     1960), Samuel Fischer (1859–1934) oder Bruno Cas-               nigen Restaurants hatten Künstler Gelegenheit aus-
                                     sirer (1872–1941). Von großer Bedeutung für Schads              zustellen, wie etwa im Restaurant »Schlichter« in der
                                     Interesse an Publizität und als Einnahmequelle war
                                     der gigantische neue Absatzmarkt für Unterhaltungs-
                                     literatur. In Berlin waren die großen Medienhäuser
                                     Ullstein, Mosse und Scherl tätig. Ein neues Feld sollte
                                     ihm zukünftig zudem die moderne Filmindustrie Ber-
                                     lins bieten. Allein 37 Filmgesellschaften zogen ein
                                     Heer junger Talente in die Hauptstadt, wo jährlich
                                     rund 250 abendfüllende Spielfilme in 363 Filmthea-
                                     tern gezeigt wurden.1 Schad fand in diesem Milieu
                                     Modelle wie auch Auftraggeberinnen und heiratete
                                     später eine dieser zum Film strebenden Elevinnen,
                                     die junge Berliner Schauspielerin Bettina Mittelstädt
                                     (1921–2002). Schad verarbeitete vielfach Impressio-
                                     nen aus dem Theaterleben in Zeichnungen wie »Pro-
                                     be« oder »Ballettpause« (1930), das eine junge Tän-
                                     zerin mit zwei zudringlichen Interessenten zeigt.2
                                     Dreh- und Angelpunkt der 1920er Jahre war der Ber-
                                     liner Westen mit dem Zentrum um die Gedächtnis-
                                     kirche, Kurfürsten- und Tauentzienstraße, wo sich die

▶▶ 247 Christian Schad, Porträt
                                     großen Uraufführungskinos befanden – Ufa-Palast,
                                     Gloria-Palast – sowie die bedeutendsten Cafés als
    Maria Fidelius, Titelbild von:
   Scherl’s Magazin, März 1932,
                                     Treffpunkte der Kulturszene, das »Regina«, das »Café
               CSSA 6014/2016        Möhring« und allen voran das 1916 von dem Kauf-

      ◀◀ 246 Christian Schad,        1   Schebera 1988, S. 6.                                            Bearb.); ders., »Ballettpause«, 1930, Federzeichnung,
   Porträt Hanna, Titelbild von:     2   Zu Mittelstädt vgl. S. 306–319. Christian Schad, »Probe«,       29 × 15 cm, Privatbesitz, Fotografie: CSSA 2939/2017,
     Die Woche, Oktober 1934,            um 1928/30, Federzeichnung, 10,5 × 8 cm, Privatbesitz,          Heesemann-Wilson 1978, S. 317, Nr. 241.
              CSSA 6031/2016             Aukt.kat. München 2013, Nr. 67, Schad [Ch.] WVZ V (in       3   Herbert 2017, S. 247; Schebera 1988, S. 6f., 9.

                                                                                                                                                          139
CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel
I I I I N D E R D I K TAT U R . 1 9 3 3 – 1 9 4 5                                                                                                                                                                                                                                            III.3 IM OFFIZIELLEN KUNSTBETRIEB

Richter (1887–1948) setzte sich 1937 ein weiterer be-                eingefroren und die seit dem November-Pogrom fällige                                                  ▶ 461 Das Haus der Deutschen
                                                                                                                                                                            Kunst zur Eröffnung der ersten
kennender Nationalsozialist an die Spitze des Vereins,               »Juden-Kontribution« bezahlt worden war, verkaufte
                                                                                                                                                                            »Großen Deutschen Kunstaus-
der diesen »betontermaßen zum Vorkämpfer des Kul-                    der Senior 1938 auch sein Privatanwesen in bester Lage                                                        stellung«, 18.07.1937
turwillens des Führers« machen wollte. 13 Künstler                   am Lützowplatz 9 an den Verein Berliner Künstler. Für
traten unter Protest aus.196 Schad blieb.                            den ihm gebotenen Betrag von RM 370.000 durfte er
                                                                     daraufhin mit seiner Familie ausreisen.199 Egon Sally
                                                                     Fürstenberg starb bald darauf im Amsterdamer Exil,
Der Verein Berliner Künstler                                         sein Sohn und Gesellschafter der Firma, Paul Fürsten-

am Lützowplatz                                                       berg, emigrierte mit seiner Familie von dort in die USA.
                                                                     Das Gebäude am Lützowplatz ging im Luftkrieg in den
Im Zuge von Adolf Hitlers und Albert Speers (1905–                   Jahren 1943 und 1944 mit der gesamten Ausstattung
1981) »Germania-Planungen« musste das Vereinsdo-                     unter. Zuvor konnte dort 1941 noch die Hundertjahr-
mizil am Berliner Tiergarten aufgegeben werden. Eine                 feier des Vereins als große Propagandaschau von dem
neue standesgemäße Unterkunft fand der Verein 1938                   neuen Vorsitzenden Franz Eichhorst (1885–1948) und
in einem repräsentativen Gebäude. Das Unternehmen                    seinem Stellvertreter Reinhold Koch-Zeuthen (1889–
des jüdischen Kaufmanns Egon Sally Fürstenberg                       1949) inszeniert werden.200 Schad war in dieser Aus-
(1860–1942), Seniorchef des Leder- und Galanteriewa-                 stellung mit seinem erfolgreichen Porträt »Isabella«
ren führenden, 1864 gegründeten Kaufhauses Albert                    (1934) vertreten (Abb. 498). Es war 1937 in München
                                                    197
Rosenhain in der Leipziger Straße 72–74                   war 1936   auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« präsen-
»arisiert« worden. Die Liegenschaft wurde von einer                  tiert worden und konnte nun über den Verein für
konkurrierenden Firma (Reiwinkel – Das Haus der Ge-                  RM 1.000 an den Sammler Bernhard Toppenthal aus
schenke) übernommen und anschließend liquidiert.198                  »Saarlautern« (eigtl. Kaiserslautern) veräußert wer-
Nachdem die Pässe der Familie Fürstenberg eingezo-                   den.201 Toppenthal, vormals Geschäftsführer, war jetzt
gen, ihr Vermögen in einer »Treuhand-Gesellschaft«                   der arische Inhaber der 1919 von den Brüdern Hugo
                                                                     und John Sternheimer gegründeten und 1935 gleich-
                                                                     falls »arisierten« Türkischen Tabak- und Cigarettenfa-
                                                                     brik Jyldis in der Pavillonstraße in Saarlouis.202

                                                                     Die »Große Deutsche Kunst-                                                                                                              Die Frage, was offizielle »Nazi-Kunst« gewesen sein               jetzt an: Er nahm 1937 in München an der von Adolf

                                                                     ausstellung« in München 1937                                                                                                            mag, haben viele Forscher in den vergangenen Jahren               Hitler eröffneten ersten »Großen Deutschen Kunst-
                                                                                                                                                                                                             recht unterschiedlich beantwortet. Neben den nach                 ausstellung« teil.204 In Saal 35 im Haus der Deutschen
                                                                     Selten hat Schad sich später über seine Arbeit in den                                                                                   Motiv und Inhalt eindeutigen Propagandawerken öff-                Kunst, des von Paul Ludwig Troost (1878–1934) neu
                                                                     Jahren 1933–1945 geäußert. Meist blieb er dabei all-                                                                                    net sich aus heutiger Sicht ein weites Feld von Sujets,           errichteten Prestigebaus an der Prinzregentenstraße,
                                                                     gemein: »Während der Hitlerzeit gehörte ich zwar                                                                                        Stiladaptationen und Genres, die erst im jeweiligen               zeigte der Künstler dort neben der 1943 in Berlin ver-
                                                                     nicht zu den verbotenen Künstlern, aber ich habe                                                                                        Kontext ihre ursprüngliche Tendenz offenbaren. Et-                brannten »Pariser Stadtlandschaft« (»Paris, Place
                                                                     nicht viel gemalt; einige private Porträts, soweit ich                                                                                  was klarer wird das Bild, wenn man nach der insti-                St. Jacques«, 1929) das Gemälde »Isabella« aus dem
                                                                     Zeit hatte. […] Natürlich hätte ich in die offizielle Na-                                                                               tutionellen Einbindung der Kunst und des Künstlers                Jahr 1934 (Abb. 498).205 Dieses Bildnis einer jungen
                                                                     zi-Kunst einsteigen können. Aber das wollte ich nicht,                                                                                  in die Politik des NS-Staates fragt. Für einen Künstler           Frau offenbarte im Besonderen den restaurativen Zug,
                                                                     denn dann muß man bei einem solchen Regime ganz                                                                                         wie Christian Schad schienen nach der ersten Aner-                der schon am Ende der Weimarer Republik Einzug in
                                                                     mitmachen. Aber das kam für mich garnicht in Frage.                                                                                     kennung in einzelnen Ausstellungen unter dem neu-                 die populäre Kunst gehalten hatte: fein, gerade, etwas
                                                                     In dieser Zeit war es unmöglich, irgend etwas Ernst-               ◀◀ 460 Verein Berliner Künstler,                                     en Regime die Weichen jedenfalls gestellt und der                 keusch.206 Im Ausstellungssaal des neuen Kunsttem-
                                                                     haftes anzufangen […].«203                                         Haus am Lützowplatz, 1945                                            ihm sinnvoll erscheinende nächste Schritt bot sich                pels hing »Isabella« neben Blumenstillleben von

196 Langner 1991, S. 106f.                                               heimers Unternehmen wurde 1947 restituiert, vgl. mit                                                                                204 Worauf Heesemann-Wilson als Erste hingewiesen hat: Hee-           gaben von Zeitschriften der »NS-Kulturgemeinde«, der 1934
197 Aly u. a. 2009, S. 578f.                                             Lit. und Nachweisen  (Stand 19.08.2016).                                                                                                  1996, S. 205; AK Paris/New York 2002, S. 192; Schad [Ch.]         Deutsche Kultur«, mit Titeln wie »Kunst und Volk« oder
    werbebetriebe in Berlin 1930–1945,  (Stand 29.07.2016).                                  25.09.1978 mit Amine Haase anlässlich des Besuchs zur                                                                                   sind belegt bei Schuster [P.-K.] 1987, S. 237. Bestätigung        Zu den Gemälden vgl. Schad [Ch.] WVZ I, S. 164, Nr. 104,
199 Langner 1991, S. 110.                                                Vorbereitung ihres Buches »Gespräche mit Künstlern«, un-                                                                                der Annahme durch den geschäftsführenden Direktor Karl            S. 175, Nr. 113, S. 188, Nr. 131.
200 Langner 1991, S. 110–114.                                            veröffentlichtes Typoskript, S. 2, CSSA 943/2016,; redigier-                                                                            Kolb v. 07.07.1937, CSSA 5967/2016.                           206 Als Beispiel für ein zeittypisches Frauenbildnis kehrt es
201 Heesemann-Wilson 1978, S. 292; AK Berlin 1941b, Nr. 114,             te, veröffentlichte Fassung: Schad [Ch.]/Haase [A.] 1981,                                                                           205 Haus der Kunst, Historisches Archiv, GDK1937-0624, GDK            noch in Überblickswerken der jüngeren Zeit wieder, etwa
    CSSA 777/2019.                                                       S. 138, CSSA 156/2008; vgl. Schad [Ch.] WVZ I, S. 61,                                                                                   1937-0624. AK München 1937, S. 70, Nr. 624, 626 (ohne             in Davidson 1992, Bd. 2, S. 407, Abb. 116, Hinweis bei Keß
202 Brief mit Verkaufsanzeige bzgl. »Isabella« vom Verein Ber-           Anm. 191.                                                                                                                               Abb.), CSSA 772/2019. Der Katalog zur »Großen Deutschen           2016, S. 19.
    liner Künstler v. 24.06.1941, CSSA 593.10/2013; Stern-                                                                                                                                                       Kunstausstellung« befand sich in einem Konvolut mit Aus-

268                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      269
CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel
I I I I N D E R D I K TAT U R . 1 9 3 3 – 1 9 4 5                                                                                                                                                                                                                      III.5 ERFOLGE – AUFTRÄGE, PROJEKTE. 1939–1942

stellungen wie »Frauen in Not« (1931) hatten darauf              »Der Deutsche Mensch« und                                                                                                              Kriegsverherrlichungskunst die Anerkennung des Pu-
Bezug genommen. Vom Verein Berliner Künstler war                 die kleine »Inge Meyer«                                                                                                                blikums gewonnen hatte. Auch der Lübecker Kunst-
1930 gemeinsam mit dem Verein Berliner Künstle-                                                                                                                                                         verlag Ludwig Möller war darauf aufmerksam gewor-
rinnen die Ausstellung »Das Kind« organisiert wor-               Reine Mutterschaft reiner Frauen. In der NS-Zeit galt                                                                                  den.352 Möller nahm »Inge« in sein Programm auf
den. Amüsiert stellte der Kritiker Max Osborn in der             selbst das öffentliche Rauchen der »deutschen Frau«                                                                                    und druckte fortan großformatige Kunstblätter sowie
»Vossischen Zeitung« dazu in biblischem Ton fest:                als verpönt. Die ehedem gewohnte Freizügigkeit in                                                                                      Postkarten davon. Der Absatz gestaltete sich erfreu-
»Vor einiger Zeit hieß die Parole ›Frau von heute‹.              Cafés und Bars wurde »nicht als deutsche ›Sitte des                                                                                    lich, 1944 wurden landesweit 533 Kunstblätter und
Nun wurde eine neue ausgegeben: ›Das Kind‹ – und                 Hauses‹, sondern als jüdisches Vagabundentum« dif-                                                                                     27.713 Karten verkauft, was Schad, der mit zehn Pro-
siehe, als die Zeit erfüllt war, brachten die Mitglieder         famiert, solches Tun als Treiben von »aufs Parkett ver-                                                                                zent beteiligt war, immerhin etwa die Hälfte eines lu-
je ein Kinderbild zur Welt.«349 Das Thema Mutter-                pflanzte[n] Zigeuner[n]« gebrandmarkt.350 1941 ent-                                                                                    krativen Gemäldeverkaufs eintrug: RM 409,97. Diese
schaft war somit durchaus aktuell. Gleiches galt für             stand in diesem geistigen Klima Schads unverfäng-                                                                                      zwischen 1941 und 1946 ausbezahlten Honorare tru-
das autarke Kinderbildnis. Es war daher keineswegs               lich-süßliches Kinderbildnis »Inge« (Inge Meyer),351                                                                                   gen zur Finanzierung seines Lebensunterhalts bei,
eine Erfindung der neuen Machthaber. Gleichwohl                  das sich für ihn als Glücksfall erweisen sollte, da die                                                                                und Schad versuchte, weitere Werke in Möllers Pro-
                                                                                                                                 504 Christian Schad, Porträt
wussten diese es für ihre Zwecke in neuer Weise zu               Bildrechte an dem bald recht populären Idealbild                                                                                       duktion aufnehmen zu lassen, was aber aufgrund der
                                                                                                                                 Inge, 1941, CSSA 1071/2018

                                                                                                                                 ◀◀ 505 Christian Schad bei
instrumentalisieren.                                             eines deutschen Mädchens ihm fortan – und bis in                                                                                       zunehmenden Papierknappheit nicht mehr gelang.353
                                                                 die Nachkriegszeit hinein – regelmäßige Einnahmen                                                                                      »Inge« blieb nicht das einzige Kindesbildnis, vielmehr
                                                                                                                                 der Arbeit am Bildnis »Inge«,
                                                                 verschafften. Schad hatte mit Kalkül das Pastell 1941           1941, CSSA 672/2010                                                    entstanden in dieser Zeit zahlreiche weitere wie

                                                                                                                                 ◀ 506 Christian Schad, Porträt
                                                                 in der Ausstellung »Der deutsche Mensch« in der                                                                                        »Klaus Johnen« oder »Annemarie« (1941).354
                                                                 Berliner Kunsthalle untergebracht, wo es neben völ-
                                                                                                                                 Inge Meyer, zeitgenössische
                                                                 kischen Trachtenträgern, Hitlerjungen, NS-Bonzen                Reproduktion (Kunstblatt), 1941,
                                                                 und der üblichen Handgranaten schwingenden                      CSSA 2645/2017                                                         Projekt eines Kinderbuchs. 1942
                                                                                                                                                                                                        In der reformorientierten Zeit nach dem Ersten Welt-
                                                                                                                                                                                                        krieg hatten sich zahlreiche Disziplinen dem Thema

                                                                                                                                                                           509–512 Christian Schad,     der Kindheit zugewandt, nicht zuletzt auch einzelne
                                                                                                                                                                    Vier Porträts unbekannter Kinder,   Kunstwissenschaftler wie Max Sauerlandt.355 Außer-
                                                                                                                                                                           1934/35, CSSA 380/2011,
                                                                                                                                                                                                        halb der Möglichkeiten, die eigenes Erleben ihm ge-
                                                                                                                                                                    CSSA 369/2011, CSSA 371/2011,
                                                                                                                                                                                     CSSA 392/2011      boten hätten, spürte auch der Künstler Christian
                                                                                                                                                                                                        Schad der Kinderseele und ihren Äußerungen durch
                                                                                                                                                                                                        Beobachtung und von geistig-theoretischer Seite aus
                                                                                                                                                                                                        nach. Er wollte dabei keinesfalls erzieherisch wirken.
                                                                                                                                                                                                        Den gesamten Bereich der traditionellen (Schul)bil-
                                                                                                                                                                                                        dung betrachtete der Maler vielmehr als »Kastration«
                                                                                                                                 507 Christian Schad,
                                                                                                                                                                                                        des Geistes. Doch beschäftigte Schad sich mit dem
                                                                                                                                 Porträt Annemarie, Pastell,
                                                                                                                                 1941, Privatbesitz                                                     Thema gleichwohl auf Basis wissenschaftlicher Pu-
                                                                                                                                                                                                        blikationen, etwa mit den Schriften der Graphologin
                                                                                                                                                                                                        Minna Becker (1887–1973) und, ausgehend von den                 terstellte Idee von unbeeinflusster ›Ursprünglichkeit‹.
                                                                                                                                                                                                        Lehren Rudolf Steiners, mit den Forschungen des Me-             Das Kind war für ihn eine Art Denkfigur innerhalb
                                                                                                                                                                                                        diziners Fischl Schneersohn, die sich mit der Phantasie         seiner esoterischen Utopie. Mit Margit Petermann,
                                                                                                                                                                                                        und dem »Schöpfertum« des Kindes auseinandersetz-               der Herausgeberin des »Spiegelbilds«, und dem vor-
                                                                                                                                                                                                        ten.356 Es ging dem Künstler dabei weniger um Kinder            maligen Hauptschriftleiter des »Deutschen Kultur-
                                                                                                                                                                                                        als Persönlichkeiten oder um ihre soziale Lebenswelt,           warts« und jetzigen Lektor des Verlags Georg Bitter &
                                                                                                                                                                                                        sondern um eine der Kindheit als Daseinsform un-                Co., Herbert Alexander Stützer (1909–1994), besprach

                                                                                                                                 508 Christian Schad,
                                                                                                                                 Porträt Klaus Johnen, Pastell,
                                                                                                                                 1941, Privatbesitz                                                     352 AK Berlin 1941a, S. 24, Nr. 165. Adressbuch Lübeck 1930:    353 Sehr umfangreiche Korrespondenz zwischen 1941 und
                                                                                                                                                                                                            »Ludwig Möller, Inhaber Wilhelm Möller und Ludwig               1946 im Schad-Archiv, die genannte Abrechnung v.
349 Max Osborn, Das Kind. Ausstellung des Künstlerinnen-             der Arbeit an diesem Kinderbildnis: CSSA 672/2010; erhal-                                                                              Resch. Kunsthandlung – Gemälde – Origin.-Graphik. Stän-         31.11.1944: CSSA 78/2017.
    Vereins, in: Vossische Zeitung v. 11.11.1930, zit. n. Lam-       ten sind zudem Porträtfotografien des Kindes, die Ent-                                                                                 dig wechselnde Kunstausstellungen. Eigene Werkstätte für    354 Christian Schad, »Klaus Johnen«, 1941, Pastell, verschollen,
    mert 1993, S. 179 m. Anm. 64.                                    wurfszeichnung sowie Drucke des Motivs: CSSA 26/2009,                                                                                  stilgerechte Einrahmungen. Mühlenstrasse 45.« Frdl. Aus-        Fotografie: CSSA 2671/2017; ders., »Annemarie«, 1941,
350 Der SA-Mann v. 18.09.1937, zit. n. Adam 1992, S.155f.            CSSA 49/2013; ferner Postkarten: CSSA 2645/2017.                                                                                       kunft v. Kerstin Letz, Archiv der Hansestadt Lübeck v.          Pastell, verschollen, Fotografie: CSSA 2672/2017.
351 Eine Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 × 17,5 cm, wohl von                                                                                                                                                    17.02.2017.                                                 355 Sauerlandt 1923, CSSA 1967/2011.
    Bettina Schad, zeigt Christian Schad an der Staffelei bei                                                                                                                                                                                                           356 Becker [M.] 1926, CSSA 534/2008.

296                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 297
CHRISTIAN SCHAD Künstler im 20. Jahrhundert - Thomas Richter - Bausteine zur Biographie - Hugendubel
I I I . 7 A LT E M E I S T E R U N D R U I N E N – A S C H A F F E N B U R G . 1 9 4 2

                                                                                                                                                                  ▶▶ 569 Christian Schad,      schen recht angelegen war, diesen Porträtauftrag zu
III.7 Alte Meister und Ruinen – Aschaffenburg. 1942                                                                                                              Porträt Rosika (Rose-Erika)
                                                                                                                                                                                               erfüllen, schickte er eine Postkarte der kleinen »Inge«
                                                                                                                                                                      Lenich, Pastell, 1943,
                                                                                                                                                                                Privatbesitz   an den Baron als ein Exempel seiner Kunstfertigkeit.
                                                                                                                                                                                               Obgleich eine Antwort aus Aschaffenburg noch aus-
                                                                                                                                                                                               stand, machte er sich, vorsorglich mit allen Maluten-

W       ährend das Paar im Verlauf des Jahres 1942
        in der immer stärker von Kriegshandlungen
betroffenen Reichshauptstadt um die Bedingungen
                                                              ein Öl Portrait [G]rösse ca 40 : 50 cm nehme ich
                                                              RM 1000.-. Für ein Pastell in derselben Grösse
                                                              RM 600.- […].«  461
                                                                                    Der Baron lehnte dies mit Hinweis
                                                                                                                                                                                               silien ausgestattet, auf den Weg nach München, um
                                                                                                                                                                                               von dort aus gegebenenfalls nach Aschaffenburg zu
                                                                                                                                                                                               reisen. Schließlich einigte man sich auf das Geschäft
seiner beruflichen Existenz rang, wurde im weit ent-          auf die Kriegsumstände ab. Schad antwortete: »[…]                                                                                und auf den 28. Oktober 1942 als den Tag der Anreise.
fernten, noch unzerstörten Aschaffenburg ein Herr             es ist bedauerlich, dass ihre Frau nicht nach Berlin                                                                             Zu diesem Zeitpunkt ahnte Schad nicht, dass dieser
der besseren Gesellschaft auf den Berliner Maler              kommen kann, denn das wäre für die Arbeit die ein-                                                                               Auftrag zehn Monate später zum Anlass seiner voll-
aufmerksam. Die nordbayerische, in der Nähe Frank-            fachste Lösung gewesen. Allerdings ist die Unter-                                                                                ständigen Übersiedelung an den bayerischen Unter-
furts gelegene Stadt zählte damals rund 45.000 Ein-           kunftsfrage in Berlin sehr schwierig[;] bliebe also nur,                                                                         main werden sollte.464
wohner. Joseph Waldemar Kurt Freiherr Gorup von               dass ich nach Aschaffenburg käme, doch würde dies                                                                                In der kleinen Stadt sprach sich die Ankunft des be-
Besánez (1883–1966) sah Kristina Söderbaums Por-              den Preis des Bildes erheblich verteuern[;] sollten Sie                                                                          kannten Berliner Malers rasch herum. Bald folgten
trät in einer Ausgabe des »Silberspiegels« und fragte         das wünschen, so wäre ich Ihnen für eine baldige                                                                                 Aufträge aus der Schicht der Begüterten, etwa der Fa-
daraufhin zunächst brieflich bei dem Künstler an,             Mitteilung dankbar.«462 Schad rechnete damals mit                                                                                milie Stadelmann, wo Schad dann ab April 1943 auch
ob dieser ihm wohl etwas Ähnliches verkaufen kön-             etwa zehn Tagen Arbeit an einem Pastell und mit etwa                                                                             wohnen sollte,465 oder der Familien Lenich und Ge-
ne. Erst etwas später reifte in dem Baron der Gedanke,        drei bis vier Wochen bei einem Ölgemälde. Für das                                                                                meinhardt, Desch, Götz und vieler anderer. Schad
dass der offensichtlich berühmte Porträtist aus der           Pastell würde er, wie er dem Baron mitteilte, nun                                                                                porträtierte den Aschaffenburger Standortkomman-
Reichshauptstadt doch auch das Bildnis von Ellen              RM 800 zuzüglich der Reise- und Aufenthaltsspesen                                                                                danten Kurt von Hünersdorff (1891–1983) und ver-                   konnten, fertigte der Künstler eine Reihe von Natur-
Ruth (1901–1990), seiner Ehefrau, malen könnte.460            berechnen. Im September 1942 sah Schad dann für                                                                                  kehrte als kultivierter und weit gereister Künstler                und Landschaftsstudien an. Obwohl naturverbunden,
Der Maler gab sich zunächst reserviert: »Sehr geehrter        den Oktober anlässlich einer Reise nach Bayern mit                                                                               freundschaftlich in den Kreisen der besseren Gesell-               war die Landschaft nie Schads eigentliches Thema:
                                                                                                                                                                                                         466
Herr Baron, es freut mich, dass Ihnen meine Bilder            mehrmonatigem Aufenthalt in der Valepp und bei                                                                                   schaft.         Für Interessenten, die sich nicht zur Inves-       »Der Mensch ist das Wichtigste und Geheimnisvoll-
gefallen haben. Ich wäre gern bereit Ihre Frau zu ma-         seiner Mutter am Lenbachplatz in München die Mög-                                                                                tition in ein Porträtgemälde oder -pastell entschließen            ste. Für mich ist er das Bedeutendste auf der Erde. Die
                                                                                                  463
len; allerdings müsste sie nach Berlin kommen. Für            lichkeit, die Baronin zu malen.           Da es ihm inzwi-

                                                                                                                            ◀◀ 567 Christian Schad,
                                                                                                                            Porträt Ellen Ruth Freifrau
                                                                                                                            Gorup von Besánez, Öl/Lw.,
                                                                                                                            1942, MSA 1199/2015

                                                                                                                            ◀ 568 Christian Schad, Porträt
                                                                                                                            Joseph Waldemar Kurt Freiherr    ▶ 570 Soiree in Aschaffenburg,
                                                                                                                            Gorup von Besánez, Öl/Lw.,                u. a. mit Mitgliedern
                                                                                                                            1943, MSA 1200/2015                        der Familien Gorup
                                                                                                                                                                 von Besanez, Stadelmann
                                                                                                                                                                     und von Hünersdorff,
                                                                                                                                                               um 1943/44, CSSA 14/2009

460 Bildnisse von Christian Schad, in: Der Silberspiegel 8,   461 Christian Schad, Brief an Joseph Waldemar Kurt Freiherr
    Feb. 1942, S. 60f. Joseph Waldemar Kurt Freiherr Gorup        Gorup von Besánez v. 15.03.1942, CSSA 6205/2016.
    von Besánez, Brief an Christian Schad v. 03.03.1942,      462 Christian Schad, Brief an Joseph Waldemar Kurt Freiherr                                                                      464 Schad [B.] 1994, S. 25–32; Ratzka 2001; Richter [Th.] 2008.
    CSSA 6201/2016. Vgl. Rothfuss-Stein 1994, S. 71 sowie         Gorup von Besánez v. 05.04.1942, CSSA 6211/2016.                                                                             465 SSAA Einwohnermeldekarte der Stadt Aschaffenburg,
    Röske 1994, S. 43.                                        463 Christian Schad, Brief an Joseph Waldemar Kurt Freiherr                                                                          Schad, Christian.
                                                                  Gorup von Besánez v. 03.09.1942, CSSA 6223/2016.                                                                             466 Schad [Ch.] WVZ I, S. 201–210, Nr. 144–157.

320                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 321
IV IM NACHKRIEGSDEUTSCHLAND. 1947–1964                                                                                                                                                                                               I V. 4 K E I N A N S C H L U S S – C H R I S T I A N S C H A D U N D D I E N A C H K R I E G S M O D E R N E

zieht man die Angleichung ans andere Geschlecht                  Spätexpressionismus und                                                                                    ▶ 652 Christian Schad,
                                                                                                                                                                         Clemens Brentano, Öl/Holz,
mit Puderquaste und Lippenstift. […] Man blickt aus
                                                                 Gedankenbilder – Rekonstruktionen                                                                               1954, MSA 11658
Belladonnenaugen schmachtend und träumerisch.
                                                                                                                                                                           ▶▶ 653 Christian Schad,
                                                                 der Erinnerung
Man lebt hier etwas nach der Literatur. Oscar Wilde
                                                                                                                                                                     Notturno (Porträt Bildhauer Otto
und sein Dorian Gray sind die Schutzgeister und                  Schads Gemälde, insbesondere die Auftragsporträts
                                                                                                                                                                     Gentil), Mischtechnik/Hartfaser,
Hausgötter, denen man Weihrauch streut. Echtheit                 wie etwa jenes von »Ilse Eppig« (1954), werden jetzt                                                           1952, MSA 19/1952
und Imitation der Inversion mischen sich hier so selt-           von einem hellfarbigen, nervös-fleckigen Gestus be-
sam, daß man davon verwirrt wird und geneigt ist,                stimmt, einer etwas unmotiviert erscheinenden Wild-
                                               181
das ganze für eine Komödie zu halten.«                           heit, einem Auslassen und Andeuten von Elementen
Auch andere Archetypen wie der antike Kore-Perse-                des Raumes, der Kleidung etc. Diese Kunst erinnert
phone-Mythos dienten Schad nun zur Darstellung                   an seine Münchner ›Salonporträts‹ der frühen 1920er
der Zerrissenheit menschlicher Existenz.182 Die Tem-             Jahre, angepasst an formale Neuerungen und neue
pera-Arbeit des Jahres 1950 zeigt die junge Frau in              technische Möglichkeiten einer Tempera- und Wachs-
den Fängen eines übermächtigen Dämons, der ohne                  malerei. In dieser Weise entstehen auch starkfarbige
                                                                                                                                 649 Christian Schad, Porträt Ilse
direkte Berührung den Weg ihrer Bewegung und Ent-                Stadtansichten wie »Im Park« (1954) oder »Stiftskir-            Eppig, Wachstempera/Holz,
wicklung steuert. Die Figur des Mädchens ist in dop-             che« (1954), in welchen gleichfalls formale Reminis-            1954, Privatbesitz
pelter Bewegung und Ansicht als Rückenakt und si-                zenzen kubistischer Brechungen und Durchdringun-
multan enface gezeichnet. Sie erweist sich als sowohl            gen aus seiner Schweizer Zeit zu beobachten sind. Die
dem Diesseits wie der Unterwelt zugehöriges Wesen,               Bilder dieser Zeit enthalten, zumal wenn die Linie
ihre Zwiegespaltenheit zeigt sich in der polyfokalen             härter geriet, einen dezidiert »expressionistischen«
Gesichtsbildung. Dasselbe Thema griff der Künstler               Ausdruck, wie beispielsweise das Porträt des Inten-
1954 bei dem Resopalbild gleichen Titels erneut auf.             danten des Darmstädter Staatstheaters Rudolf Sellner
Nun sind es Silhouetten von »Schemen« der Frau, die              (1905–1990) aus dem Jahr 1958, das der Dargestellte                                                                                    Radlauf« eingeschlafen beim Schachspiel, während                    geht zurück auf die Collagen der Dada-Periode und
aus der leblosen Kälte des Hades zu ihrer Mutter De-             als entschiedener Verfechter entschlackter, radikaler                                                                                  sein Bart durch die steinerne Tischplatte gewachsen                 auf die Bilderfindungen der neusachlichen Veristen,
meter in die mit Narzissen bestandenen Felder der                Erneuerung als Geschenk des Künstlers ablehnte.185                                                                                     ist. Das dunkle Kreuz steht für Brentanos Hinwen-                   mit welchen diese einst die politische und gesell-
Menschenwelt wechselt – analog zu dem antiken My-                Rückbesinnungen finden nun jedoch nicht nur in                                                                                         dung zum Katholizismus, die Schad natürlich kritisch                schaftliche Reizüberflutung der Weltmetropole Berlin
thos vom Wechsel der Jahreszeiten, gemessen am je-               formaler Hinsicht statt, sondern auch dem Inhalt                                                                                       sah und als dem Werk des Dichters abträglich erach-                 abzubilden versuchten.
                                                                                                                                 650 Christian Schad, Im Park                                                187
weiligen Aufenthaltsort der Zeus-Tochter. Ein drittes            nach. Dies offenbaren die aus erzählenden und sym-                                                                                     tete.      Erinnert fühlt man sich bei diesem Gewitter              Mit dem 1952 entstandenen Gemälde »Notturno«,
                                                                                                                                 (Die Kirchenruine im Schöntal),
Werk in Privatbesitz wiederholt schließlich die erste            bolischen Motivkombinationen zusammengestellten                 Mischtechnik/Hartfaser, 1954,                                          an Eindrücken und Erinnerungen an den »physika-                     der ersten jener »Portrait-Komposition[en]«, wie Bet-
Fassung, betont bei dem in durchsichtiger Bekleidung             Bilder wie das Porträt des 1842 in Aschaffenburg ver-           MSA 47/1982                                                            lischen Transzendentalismus« der Mailänder Futuris-                 tina Schad sie nannte, war erstmals der esoterische
                                                                                                                           186
erscheinenden Mädchen indessen den erotischen As-                storbenen Dichters Clemens Brentano (1778–1842).                                                                                       ten und ihre Vorstellung, dass sich in den Bildern                  Symbolismus im Bereich der Porträtkunst offenbar
pekt.183                                                         Dem 1954 vollendeten Auftragswerk der Stadt Aschaf-                                                                                    Materie, Raum und eine Art ›Weltlogos‹ immerfort                    geworden. Bei diesem Bildnis eines persönlichen
In eine ähnliche Richtung deuten Gestaltungs- und                fenburg für den Musiksaal der neuerbauten Schule,                                                                                      durchdringen und miteinander interagieren. Wie                      Freundes und Anhängers ähnlicher Vorstellungen,
Stilmittel bei Schads postumem Porträt des Dichters              die den Namen des Dichters trägt, haftet unter mo-                                                                                     Schad es tat, so beriefen sich auch jene Künstler in                des Aschaffenburger Bildhauers Otto Gentil, verband
Salomo Friedlaender, zu dessen künstlerischer Dar-               dernistischem Schleier etwas Didaktisches an. Schads                                                                                   ihrer Zeit auf die Quellen okkulter Lehren wie die                  sich der beruhigte, formal als Rückgriff auf Schads
                                                                                                                                                                                                                                          188
stellung ihn Doris Hahn angeregt hatte (Abb. 687).               Bildnis, das nach der Vorlage des nach 1837 im Druck                                                                                   Idee der »Gedankenbilder«.                                          neusachliche Porträtkunst zu wertende Gestus mit
In ihm sah er den ernsthaften Philosophen, »Kantia-              weit verbreiteten Gemäldes der Schweizer Malerin                                                                                       Schads berauschte, feinnervige Bildkompositionen                    den okkulten Bilderwelten seiner Phantasie.190 Bedeu-
ner« auf der einen, wie den anonymen Verfasser gro-              Emilie Linder (1797–1867) entstand, umgeben Motive                                                                                     der frühen Schweizer Jahre scheinen nun im Umriss                   tungsoffen spielt Schad mit Elementen fernöstlicher
tesker Persiflagen auf der anderen Seite: »Hier, wo er           und Chiffren, Orte, Personen, Symbole und Szenen,                                                                                      beruhigter, im Kolorit offensiver auch durch die Poren              Religionsmystik und des Taoismus sowie mit persön-
sich als Anonymer gibt, erscheint sein Wesen am                  die in Beziehung zu Brentano und seinen Werken ste-                                                                                    dieses neu-alten Bilderkosmos hindurch. Diese aus                   lichen Auffassungen über die Künstlernatur Gentils,
deutlichsten: Ein klares Nebeneinander von Sachli-               hen: das Geburts- und Sterbehaus in Frankfurt und                                                                                      assoziierten Motiven aus Leben und Werken des Dich-                 dessen Figur er als Alter Ego eine verhüllte, nächtliche
chem und Groteskem, und das Hereingreifen des                    in Aschaffenburg, Märchenfiguren wie die »Staren-               651 Christian Schad,                                                   ters bestehende Kompositionsweise griff Schad später                Erscheinung an die Seite stellte, zwischen Spuk und
                                                                                                                                 Porträt Gustav Rudolf Sellner,
Phantastischen in eine scheinbar geordnete Welt.«184             königin Aglaster«, »Prinz Mäuseohr«, das »Goldfisch-            Tempera/Hartfaser, 1958,
                                                                                                                                                                                                        mehrfach wieder auf, etwa bei dem genannten Lite-                   Commedia dell’arte changierend. Das Porträt offen-
                                                                 chen« und viele andere; unten sitzt der »alte Müller            CSSA 1200/2009                                                         ratenporträt »Mynona«, aber auch bei »Paul Scheer-                  bart eine Zwienatur, gefangen zwischen Realität und
                                                                                                                                                                                                        bart« (Abb. 688) oder bei seinem Selbstporträt »Die                 Wunschexistenz, zwischen Blume und Dorne, Verlo-
                                                                                                                                                                                                                                   189
                                                                                                                                                                                                        Umgebung« (1967/68).             Die dabei geübte Technik           ckung und Bedrohung.
                                                                                                                                                                                                        der analogen Anordnung eigenständiger Bildmotive

181 Moreck 1931, S. 148, CSSA 179/2008.                              1954, Resopal, 28,8 × 19,4 cm, CSSA 132/2003, Schad [Ch.]
182 Wohl nur beiläufig beschäftigte Schad sich mit den seiner-       WVZ I, S. 324, Nr. 265.
    zeit aktuellen Schulen des Denkens, etwa mit dem Exis-       184 Christian Schad, Bildlegende Nr. 36, »Mynona«, Typo-                                                                               187 Bilddeutung von Bettina Schad [o. J.], CSSA 5811/2018.          190 Vgl. beispielsweise das Gemälde »Notturno (Porträt Otto
    tenzialismus. Sartre 1946a, CSSA 703/2008; Sartre 1946b,         skript, 1976/77, CSSA 1013/2013, abgedruckt in Bd. 2,                                                                              188 Vgl. dazu S. 61, 63f.                                               Gentil)«, 1952, Schad [Ch.] WVZ I, S. 230f., Nr. 177; Röske
    CSSA 1681/2011; Sartre 1949, CSSA 1533/2011.                     S. 80.                                                                                                                             189 Röske 1994, S. 51; Ratzka 2001, S. 370–377, 381. Vgl. auch          1994, S. 49f.
183 Christian Schad, »Persephone I«, 1950, Tempera auf Papier,   185 Schad [Ch.] WVZ I, S. 258, Nr. 208.                                                                                                    Schads eigenen Text zu diesem Bild, Typoskript, um
    50,2 × 32,8 cm, MSA 518/2018; ders., »Persephone II«,        186 Schad [Ch.] WVZ I, S. 247f., Nr. 195.                                                                                                  1954/55, CSSA 605.9/2013.

368                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         369
Sie können auch lesen